Auszüge aus Alice Miller's
"Am Anfang war Erziehung"

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Vorwort

Man wirft der Psychoanalyse vor, daß sie allenfalls einer privilegierten Minderheit, und dies nur sehr bedingt, helfen könne. Dieser Vorwurf ist durchaus berechtigt, solange die Früchte der durchgeführten Analysen wirklich nur Eigentum der wenigen Privilegierten bleiben. Das muß aber nicht so sein.

Die Reaktionen auf mein Buch über Das Drama des begabten Kindes lehrten mich, daß der Widerstand gegen das, was ich zu sagen habe, unter Laien keineswegs größer – in der jungen Generation vielleicht sogar kleiner – ist als unter Fachleuten und daß es deshalb sinnvoll und notwendig ist, das durch Analysen von Wenigen gewonnene Wissen nicht in Bibliotheken zu speichern, sondern es der Öffentlichkeit zukommen zu lassen. Diese Einsicht führte mich persönlich zu der Entscheidung, die nächsten Jahre dem Schreiben zu widmen.

Ich möchte hauptsächlich Vorgänge schildern, die sich außerhalb der psychoanalytischen Situation, überall im Leben, abspielen, deren tieferes Verständnis aber auf psychoanalytischer Erfahrung beruht. Das heißt freilich nicht, daß eine fertige Theorie "Auf die Gesellschaft angewendet" würde, denn ich glaube, daß ich nur dann einen Menschen wirklich verstehe, wenn ich hören und fühlen kann, was er mir sagt, ohne mich mit Theorien gegen ihn abzusichern bzw. zu verschanzen. Doch die tiefenpsychologische Arbeit mit anderen und mit sich selber verschafft uns Einblicke in die menschliche Seele, die uns überall im Leben begleiten und unsere Sensibilität auch außerhalb des Sprechzimmers schärfen.

Das Bewußtsein der Öffentlichkeit indessen ist noch weit von der Erkenntnis entfernt, daß das, was dem Kind in den ersten Lebensmonaten passiert, unweigerlich auf die ganze Gesellschaft zurückschlägt, daß Psychosen, Drogensucht, Kriminalität ein verschlüsselter Ausdruck der frühesten Erfahrungen sind. Diese Erkenntnis wird meistens bestritten oder nur intellektuell zugelassen, während die Praxis (die politische, juristische oder psychiatrische) noch stark von mittelalterlichen, an Projektionen des Bösen reichen Vorstellungen beherrscht bleibt, weil der Intellekt die emotionalen Bereiche nicht erreicht. Läßt sich ein emotionales Wissen mit Hilfe eines Buches erreichen? Ich weiß es nicht, aber die Hoffnung, daß durch die Lektüre bei dem einen oder anderen Leser ein innerer Prozeß in Gang kommen könne, scheint mir begründet genug, um es nicht unversucht zu lassen.

Das vorliegende Buch entstand aus meinem Bedürfnis, auf die zahlreichen Leserbriefe zum Drama des begabten Kindes einzugehen, die mir viel bedeutet haben und die ich nicht mehr persönlich beantworten konnte. Daran war auch, aber nicht nur, die zeitliche Überforderung schuld. Ich habe bald gemerkt, daß ich in der Darstellung meiner Gedanken und Erfahrungen der letzten Jahre dem Leser eine größere Ausführlichkeit schulde, weil ich mich nicht auf bestehende Literatur stützen kann. Aus den fachlichen Fragen der Kollegen und den allgemein menschlichen Fragen der Betroffenen (was nicht alternativ zu verstehen ist) haben sich für mich zwei Problemkomplexe herauskristallisiert: einerseits meine Begriffsbestimmung der frühkindlichen Realität, die vom Triebmodell der Psychoanalyse abweicht, andererseits die Notwendigkeit, den Unterschied zwischen Schuldgefühlen und Trauer noch klarer herauszuarbeiten. Damit hängt nämlich die brennende und oft wiederholte Frage der ernsthaft bemühten Eltern zusammen: Was können wir noch für unsere Kinder tun, wenn wir einmal realisiert haben, wie stark wir dem Wiederholungszwang ausgeliefert sind?

Da ich nicht an die Wirksamkeit von Rezepten und Ratschlägen glaube, zumindest wenn es sich um unbewußtes Verhalten handelt, sehe ich meine Aufgabe nicht in Appellen an die Eltern, ihre Kinder anders zu behandeln, als es ihnen möglich ist, sondern im Herausstellen der Zusammenhänge, in der bildhaften und gefühlsverbundenen Information für das Kind im Erwachsenen. Solange dieses nicht merken darf, was ihm geschah, ist ein Teil seines Gefühlslebens eingefroren und seine Sensibilität für die Demütigungen der Kindheit daher abgestumpft.

Alle Appelle an die Liebe, Solidarität und Barmherzigkeit müssen aber erfolglos bleiben, wenn diese wichtige Voraussetzung des mitmenschlichen Fühlens und Verstehens fehlt.

Diese Tatsache ist bei professionellen Psychologen besonders gravierend, weil sie ohne Empathie ihr Fachwissen nicht hilfreich einsetzen können, unabhängig davon, wieviel Zeit sie den Patienten widmen. Das gilt ebenfalls für die Hilflosigkeit der Eltern, denen weder der hohe Bildungsgrad noch die verfügbare Freizeit helfen, ihr Kind zu verstehen, sofern sie sich vom Leiden ihrer eigenen Kindheit emotional distanzieren müssen. Umgekehrt kann eine berufstätige Mutter unter Umständen die Situation ihres Kindes in wenigen Sekunden begreifen, wenn sie innerlich dafür offen und frei ist.

Ich sehe daher meine Aufgabe darin, die Öffentlichkeit für das frühkindliche Leiden zu sensibilisieren, und versuche dies auf zwei verschiedenen Ebenen, wobei ich auf beiden Ebenen das einstige Kind im erwachsenen Leser ansprechen möchte. Im ersten Teil tue ich das mit der Darstellung der "Schwarzen Pädagogik", d.h. der Erziehungsmethoden, mit denen unsere Eltern und Großeltern aufgewachsen sind. Bei manchen Lesern wird das erste Kapitel möglicherweise Gefühle von Zorn und Wut auslösen, die sich als sehr heilsam erweisen können. Im zweiten Teil schildere ich die Kindheiten einer Drogensüchtigen, eines politischen Führers und eines Kindesmörders, die selber als Kinder Opfer von schweren Demütigungen und Mißhandlungen waren. Besonders in zwei Fällen Stütze ich mich auf deren eigene Schilderungen der Kindheit und des späteren Schicksals und möchte dem Leser helfen, diese erschütternden Zeugnisse mit meinem analytischen Ohr aufzunehmen. Alle drei Schicksale bezeugen die verheerende Rolle der Erziehung, ihre Vernichtung des Lebendigen, ihre Gefahr für die Gesellschaft. Auch in der Psychoanalyse, besonders im Triebmodell, lassen sich Spuren der pädagogischen Haltung nachweisen. Die Untersuchung über dieses Thema wurde zunächst als ein Kapitel dieses Buches geplant, mußte aber im Hinblick auf ihren Umfang Gegenstand einer gesonderten Publikation werden, die demnächst erscheinen soll. Dort wird auch die Abgrenzung meiner Gedanken von den einzelnen psychoanalytischen Theorien und Modellen deutlicher werden als in den bisherigen Publikationen.

Das vorliegende Buch ist aus dem inneren Dialog mit den Lesern des Dramas hervorgegangen und als dessen Fortsetzung zu verstehen. Man kann es auch ohne die Kenntnis des Dramas lesen; sollten aber die hier beschriebenen Sachverhalte zu Schuldgefühlen statt zu Trauer führen, dann wäre es ratsam, auch die frühere Arbeit zu kennen. Es wäre auch wichtig und hilfreich, sich bei der Lektüre stets vor Augen zu halten, daß mit Eltern und Kindern nicht bestimmte Personen gemeint sind, sondern bestimmte Zustände, Situationen oder Rechtslagen, die uns alle betreffen, weil alle Eltern einst Kinder gewesen sind und die meisten Kinder von heute einmal Eltern sein werden.

Zum Schluß möchte ich an dieser Stelle einigen Menschen meinen Dank aussprechen, ohne deren Hilfe dieses Buch niemals hätte entstehen können, zumindest nicht in der jetzigen Form.

Was Erziehung eigentlich ist, wurde mir zunächst durch die Erfahrung des vollständigen Gegenteils in meiner zweiten Analyse zum ersten Male voll bewußt. Deshalb gilt mein ganz besonderer Dank meiner zweiten Analytikern, Frau Gertrud Boller-Schwing, der Autorin eines außergewöhnlichen Buches über Erfahrungen mit internierten Patienten (Der Weg zur Seele des Geisteskranken, Rascher, 1940). Ihr war das Sein immer wichtiger als das Verhalten, sie hat mich nie erzogen und nie belehrt, weder direkt noch "zwischen den Zeilen". Gerade aufgrund dieser Erfahrung wurde es mir möglich, auf meine ureigenste Art sehr viel zu lernen und mich für die erzieherische Atmosphäre, die uns umgibt, zu sensibilisieren.

Eine ebenso wichtige Rolle spielten in diesem Erkenntnisprozeß unzählige Gespräche mit meinem Sohn, Martin Miller, in denen er mich immer wieder mit den von mir in der Kindheit verinnerlichten, unbewußten Erziehungszwängen meiner Generation konfrontierte. Dem reichen und klaren Ausdruck seiner Erlebnisse verdanke ich einen Teil meiner eigenen Befreiung von diesen Zwängen, die erst möglich wurde, nachdem ich für die raffinierten, winzigen Nuancen der erzieherischen Haltung hellhörig geworden war. Viele der hier ausgeführten Gedanken habe ich mit meinem Sohn durchdiskutiert, bevor ich sie niederschrieb.

Bei der Herstellung des Manuskriptes war mir die Hilfe von Frau Lisbeth Brunner von unersetzlichem Wert. Sie hat die Arbeit nicht nur getippt, sondern reagierte spontan auf jedes Kapitel mit Interesse und Empathie; sie war somit mein erster Leser.

Schließlich hatte ich das Glück, in Herrn Friedhelm Herborth vom Suhrkamp Verlag einen Lektor zu finden, der mein Anliegen aus der Tiefe verstand, meinem Text niemals Gewalt antun mußte und nur solche sprachlichen Korrekturen vorschlug, die den vollen ursprünglichen Sinn erhielten. Diese Behutsamkeit im Umgang mit dem Wort sowie der Respekt und das Verständnis für die Gedanken des anderen waren für mich bereits beim ersten Buch ein großes, ungewohntes Geschenk.

Der persönlichen Betroffenheit durch das Drama und dem großen Einsatz von Herrn Dr. Siegfried Unseld habe ich zu verdanken, daß meine Arbeiten nicht in einem Fachverlag verschwanden, sondern auch weitere Kreise der sogenannten "Patienten", d.h. der leidenden Menschen, für die sie eigentlich geschrieben worden waren, erreichten. Da die Redaktion der Fachzeitschrift Psyche die Veröffentlichung der ersten der drei Studien ablehnte und da auch andere Verleger damals nicht sonderlich daran interessiert waren, hat das große Verständnis des Suhrkamp Verlages die deutsche Publikation erst ermöglicht.

Erziehung als Verfolgung des Lebendigen

Die schwarze Pädagogik

Die Strafe folgte auf großem Fuß. Zehn Tage lang, zu lang für jedes Gewissen, segnete mein Vater die ausgestreckten, vier Jahre alten Handflächen seines Kindes mit scharfem Stöckchen. Sieben Tatzen täglich auf jede Hand: macht hundertvierzig Tatzen und etwas mehr: es machte der Unschuld des Kindes ein Ende. Was immer im Paradies geschah, mit Adam, Eva, Lilith, Schlange und Apfel, das gerechte biblische Schlagwetter vor der Zeit, das Gebrüll des Allmächtigen und sein ausweisender Finger – ich weiß davon nichts. Es war mein Vater, der mich von dort vertrieb. (Chr. Meckel (1980), S. 59)

Wer sich nach unserer Kindheit erkundigt, will etwas von unserer Seele wissen. Wenn die Frage keine rhetorische Floskel ist und der Frager Geduld hat zum Zuhören, wird er zur Kenntnis nehmen müssen, daß wir mit Grauen lieben und in unerklärlicher Liebe hassen, was uns die größten Schmerzen und Mühen bereitete. (Erika Burkart (1979), S. 372)

Jeder, der einmal Mutter oder Vater war und nicht in einer perfekten Verleugnung lebt, weiß aus eigener Erfahrung, wie schwer es einem Menschen fallen kann, bestimmte Seiten seines Kindes zu tolerieren. Dies einzusehen ist besonders schmerzhaft, wenn wir das Kind lieben, es wirklich in seiner Eigenart achten möchten und es doch nicht können. Großzügigkeit und Toleranz lassen sich nicht mit Hilfe von intellektuellem Wissen erreichen. Falls wir keine Möglichkeit hatten, die uns in der eigenen Kindheit erwiesene Verachtung bewußt zu erleben und zu verarbeiten, geben wir sie weiter. Das bloß intellektuelle Wissen über Gesetze der kindlichen Entwicklung schützt uns nicht vor Ärger oder Wut, wenn das Verhalten des Kindes unseren Vorstellungen oder Bedürfnissen nicht entspricht, geschweige denn, wenn es unsere Abwehrmechanismen bedroht.
Ganz anders ist es bei Kindern: ihnen steht keine Vorgeschichte im Wege, und ihre Toleranz Eltern gegenüber kennt keine Grenzen. Jede bewußte oder unbewußte seelische Grausamkeit der Eltern ist in der Liebe des Kindes sicher vor der Entdeckung geschützt. Was alles einem Kind straflos zugemutet werden kann, läßt sich in den neuesten Geschichten der Kindheit unschwer nachlesen (vgl. z.B. Ph. Ariès, 1960; L. de Mause, 1974; M. Schatzman, 1978; I. Weber-Kellermann, 1979; R. E. Helfer u. C. H. Kempe [Hrsg.], 1978).

Die einstige physische Verstümmelung, Ausbeutung und Verfolgung des Kindes scheint in der Neuzeit immer mehr durch seelische Grausamkeit abgelöst worden zu sein, die außerdem mit dem wohlwollenden Wort "Erziehung" mystifiziert werden konnte. Da die Erziehung bei manchen Völkern schon im Säuglingsalter, in der Phase der symbiotischen Verbindung von Mutter und Kind begann, garantierte diese frühe Konditionierung, daß der wahre Sachverhalt vom Kind kaum entdeckt werden konnte. Die Abhängigkeit des Kindes von der Liebe seiner Eltern macht es ihm auch später unmöglich, die Traumatisierungen zu erkennen, die oft das ganze Leben lang hinter den Idealisierungen der Eltern der ersten Jahre verborgen bleiben. ...

Brutstätten des Hasses (Erziehungsschriften aus zwei Jahrhunderten)

Seit längerer Zeit stelle ich mir die Frage, wie ich in einer anschaulichen und nicht rein intellektuellen Form zeigen könnte, was in vielen Fällen den Kindern am Anfang ihres Lebens angetan wird und welche Konsequenzen dies für die Gesellschaft hat. Wie kann ich erzählen, fragte ich mich oft, was Menschen in ihrer jahrelangen mühsamen Rekonstruktionsarbeit an den Ursprüngen ihres Lebens vorgefunden haben. Zu der Schwierigkeit der Darstellung kommt der alte Konflikt: auf der einen Seite steht meine Schweigepflicht, auf der anderen steht die Überzeugung, daß hier eine Gesetzmäßigkeit vorliegt, die nicht nur wenigen Eingeweihten vorbehalten bleiben sollte. Andererseits kenne ich die Abwehr des nicht analysierten Lesers, die Schuldgefühle, die sich einstellen, wenn von Grausamkeit gesprochen wird und der Weg zur Trauer noch versperrt bleiben muß. Was soll man dann mit diesem traurigen Wissen tun?

Wir sind so gewöhnt, alles, was wir hören, als Vorschriften und Moralpredigten zu empfangen, daß zuweilen auch reine Informationen als Vorwürfe erlebt und deshalb gar nicht aufgenommen werden können. Wir wehren uns mit Recht gegen neue Forderungen, wenn wir zu früh und nicht selten mit Gewalt von Ansprüchen der Moral überfordert wurden. Nächstenliebe, Selbstaufgabe, Opferbereitschaft – wie schön klingen diese Worte, und wieviel Grausamkeit kann sich in ihnen verbergen, allein weil sie dem Menschenkind aufgezwungen werden, und dies schon zu einer Zeit, in der die Voraussetzungen der Nächstenliebe unmöglich vorhanden sein können. Durch den Zwang werden diese Voraussetzungen nicht selten im Keim erstickt, und was dann bleibt, ist eine lebenslange Anstrengung. Sie ist wie ein zu harter Boden, auf dem nichts wachsen kann, und die einzige Hoffnung, die geforderte Liebe doch noch erzwingen zu können, liegt in der Erziehung der eigenen Kinder, bei der man diese wiederum gnadenlos fordern kann.

Aus diesem Grund möchte ich mich jeglichen Moralisierens enthalten. Ich möchte ausdrücklich nicht sagen, daß man dieses oder jenes tun bzw. nicht tun soll, z.B. nicht hassen soll, denn solche Sätze halte ich für nutzlos. Meine Aufgabe sehe ich vielmehr darin, die Wurzeln des Hasses aufzuzeigen, die nur wenige zu erblicken scheinen, und die Erklärung dafür zu suchen, warum es so wenige sind. ...

In den ausgewählten Texten werden m.E. Techniken enthüllt, mit denen man nicht nur "bestimmte Kinder", sondern mehr oder weniger uns alle (aber vor allem unsere Eltern und Ahnen) auf das Nicht-Merken abgerichtet hat.

Ich gebrauche hier das Wort "enthüllt", obwohl diese Schriften nicht geheim, sondern öffentlich verbreitet waren und zahlreiche Auflagen erhielten. Doch ein Mensch der heutigen Generation kann etwas aus ihnen herauslesen, das ihn persönlich angeht und das seinen Eltern noch verborgen blieb. Diese Lektüre kann ihm das Gefühl geben, hinter ein Geheimnis gekommen zu sein, hinter etwas Neues, aber auch Altbekanntes, das bisher sein Leben verschleierte und gleichzeitig bestimmte. So ist es mir persönlich bei der Lektüre der Schwarzen Pädagogik gegangen. Ihre Spuren in den psychoanalytischen Theorien, in der Politik und in den unzähligen Zwängen des Alltags sind mir plötzlich deutlicher aufgefallen. ...

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