Auszüge aus Alice Miller's
"Du sollst nicht merken"

Variationen über das Paradies-Thema

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Wenn Du vor mir stehst und mich ansiehst, was weißt Du von den Schmerzen, die in mir sind, und was weiß ich von Deinen. Und wenn ich mich vor Dir niederwerfen würde und weinen und erzählen, was wüßtest Du von mir mehr als von der Hölle, wenn Dir jemand erzählt, sie ist heiß und fürchterlich. Schon darum sollten wir Menschen voreinander so ehrfürchtig, so nachdenklich (...) stehen, wie vor dem Eingang zur Hölle. ( Franz Kafka)

Vorwort

Der Titel des vorliegenden Buches formuliert ein nirgends ausgesprochenes Gebot, dessen strikte Befolgung dadurch gewährleistet ist, daß es sehr früh in unserer individuellen und kollektiven Geschichte verinnerlicht wurde. Ich versuche, die Wirksamkeit dieses Gebotes im Unbewußten des Einzelnen und der Gesellschaft zu beschreiben, und tue das, ähnlich wie in Das Drama des begabten Kindes und Am Anfang war Erziehung, mit Hilfe allgemein verständlicher Geschichten. Die in diesen beiden früheren Büchern enthaltenen Beispiele bieten vielfältiges zusätzliches Ausgangs- und Anschauungsmaterial für die hier gezogenen theoretischen Schlüsse.
Meinen herzlichen Dank möchte ich denjenigen Kollegen aussprechen, die an der Entwicklung meiner Gedanken kritisch teilnahmen, mir durch die Prüfung meiner Hypothesen im "therapeutischen Alltag", der mir jetzt fehlt, geholfen haben, meine Entdeckungen ernstzunehmen und weitere Schritte zu wagen. Die Versuchung, den eingeschlagenen Weg aufzugeben, war angesichts der Schlüsse, die ich ziehen mußte und die auch in mir Widerstand auslösten, nicht unerheblich.

Aber auch den anderen Kollegen, die meine Gedanken mit Empörung, Befremden, offener Ablehnung oder Angst entgegennahmen, schulde ich einen Dank. Ohne diese Reaktionen hätte ich nicht so deutlich gemerkt, daß ich mich in tabuisierten Regionen befand, und wäre nicht darauf gekommen, die Hintergründe dieser Tabus zu analysieren. Ich verdanke also gerade den negativen Reaktionen mein Verständnis für den gesellschaftlichen Hintergrund der Freudschen Triebtheorie, von der ich mich in diesem Buch distanziere.

Dennoch ist dieses Buch Sigmund Freud (zu seinem 125. Geburtstag) gewidmet. Seiner Entdeckung der Kindheitsgeschichte im Unbewußten des Erwachsenen und des Phänomens der Verdrängung verdanke ich mein Instrumentarium, das von meiner Art zu suchen und zu fragen nicht wegzudenken ist. Die Tatsache, daß es mich heute zu anderen Ergebnissen als Freud vor achtzig Jahren geführt hat, zeigt die Schärfe und Brauchbarkeit dieses Instrumentariums, denn die gesellschaftliche Wirklichkeit hat sich inzwischen gewaltig verändert. Das Phänomen der Verdrängung ist zweifellos gleichgeblieben, aber die Mittel, die dazu verwendet werden, und der Preis, den wir dafür bezahlen, sind an die jeweiligen gesellschaftlichen Normen so gut angepaßt, daß es sie immer wieder neu zu ermitteln gilt.

Einübung im Stummsein

In den Entbindungsstationen der westlichen Welt besteht kaum Aussicht, von Wölfinnen getröstet zu werden. Das Neugeborene, dessen Haut nach der uralten Berührung durch einen weichen, wärmeausstrahlenden, lebendigen Körper schreit, wird in trockenes, lebloses Tuch gewickelt. Es wird, so sehr es auch schreien mag, in einen Behälter gelegt, und dort einer qualvollen Leere ausgeliefert, in der keinerlei Bewegung ist (zum erstenmal in seiner gesamten Körpererfahrung, während der Jahrmillionen seiner Evolution oder seiner Ewigkeit im Uterus). Das einzige Geräusch, das es hören kann, ist das Geschrei anderer Opfer, die die gleiche unaussprechliche Höllenqual leiden. Das Geräusch kann ihm nichts bedeuten. Es schreit und schreit; seine an Luft nicht gewöhnten Lungen werden von der Verzweiflung in seinem Herzen überanstrengt. Keiner kommt. Da es seiner Natur gemäß in die Richtigkeit des Lebens vertraut, tut es das einzige, was es kann: es schreit immer weiter. Schließlich schläft es erschöpft ein – ein zeitloses Leben lang später.

Es erwacht in bewußtloser Angst vor der Stille, der Reglosigkeit. Es schreit. Es flammt von Kopf bis Fuß vor Bedürfnis, vor Sehnsucht, vor unerträglicher Ungeduld. Es schnappt nach Luft und schreit, bis sein Kopf von dem Geräusch angefüllt ist und pulsiert. Es schreit, bis ihm die Brust wehtut, bis seine Kehle wund ist. Es kann den Schmerz nicht länger ertragen; sein Schluchzen wird schwächer und hört auf. Es lauscht. Es öffnet und schließt die Fäuste. Es rollt den Kopf von einer Seite zur anderen. Nichts hilft. Es ist unerträglich. Wieder fängt es zu schreien an, aber seiner überanstrengten Kehle wird das zuviel; es hört bald wieder auf. Es versteift seinen von Sehnsucht gefolterten Körper und erfährt eine Andeutung von Erleichterung. Es wedelt mit den Händen und stößt mit den Füßen. Es hört auf, fähig zu leiden, doch unfähig zu denken, unfähig zu hoffen. Es lauscht. Dann schläft es wieder ein.

Wenn es wieder aufwacht, näßt es die Windeln und wird durch dieses Ereignis von seiner Qual abgelenkt. Schnell jedoch sind das angenehme Gefühl des Nässens und das warme feuchte fließende Gefühl um seinen Unterkörper herum wieder verschwunden. Die Wärme ist jetzt reglos und wird kalt und klamm. Es strampelt, versteift den Körper, schluchzt. Außer sich vor Sehnen, seine leblose Umgebung naß und unbequem, schreit es durch sein Elend hindurch, bis es durch einsamen Schlaf beruhigt wird.
Plötzlich wird es emporgehoben; die Erwartungen dessen, was ihm zuteil werden muß, melden sich wieder. Die nasse Windel wird entfernt. Erleichterung. Lebendige Hände berühren seine Haut. Seine Füße werden hochgehoben, und ein neues, knochentrockenes, lebloses Stück Stoff wird ihm um die Lenden gewickelt. Sofort ist es wieder so, als hätte es die Hände nie gegeben, und die nasse Windel auch nicht. Es gibt keine bewußte Erinnerung, keine Spur von Hoffnung. Das Baby befindet sich in unerträglicher Leere, zeitlos, reglos, ruhig, voll endlosen ungestillten Verlangens. Sein Kontinuum probiert seine Notmaßnahmen aus, doch die sind alle nur geeignet, kurze Ausfälle bei ansonsten richtiger Behandlung zu überbrücken oder Erleichterung herbeizurufen durch jemanden, von dem angenommen wird, daß er sie gewähren will. Für den gegebenen Extremfall hat das Kontinuum keine Lösung. Die Situation ist jenseits seiner immensen Erfahrung. Nach nur einigen Stunden Atmens hat das Baby bereits einen Grad von Entfremdung von seiner Natur erreicht, der jenseits der Rettungskräfte des mächtigen Kontinuums liegt. Die Zeit seines Aufenthaltes im Mutterleib bedeutete aller Wahrscheinlichkeit nach die beste Annäherung an jenes Wohlgefühl, in welchem es der ihm angeborenen Erwartung zufolge das ganze Leben hätte zubringen sollen. Sein Wesen gründet auf der Annahme, daß die Mutter sich angemessen verhält und daß die Motivationen und das darauf abgestimmte Handeln beider einander naturgemäß wechselseitig dienen werden.

Jemand kommt und hebt es sacht in die Höhe. Das Baby lebt auf. Es wird zwar für seinen Geschmack etwas zu zimperlich getragen, aber wenigstens gibt es Bewegung. Jetzt fühlt es sich am richtigen Platz. Alle durchlittene Todesangst ist nicht mehr existent. Es ruht in den umschließenden Armen; und obwohl seine Haut von dem Stoff keine Erleichterungsbotschaft empfängt, keine Nachricht von lebendigem Fleisch dicht an dem seinen, berichten ihm Hände und Mund, daß alles normal sei. Die entschiedene Lebensfreude, die im Kontinuumzustand normal ist, ist fast vollständig. Geschmack und Struktur der Brust sind da, die warme Milch fließt in seinen begierigen Mund, es gibt Herzschlag, welcher ihm ein Bindeglied hätte sein sollen, eine Versicherung des Zusammenhangs mit dem Mutterleib, bewegliche Formen sind sichtbar, die Leben bedeuten. Auch der Ton der Stimme ist richtig. Einzig der Stoff und der Geruch (seine Mutter gebraucht Cologne) lassen etwas vermissen. Es saugt, und wenn es sich satt und rosig fühlt, schlummert es ein.

Beim Aufwachen befindet es sich in der Hölle. Keine Erinnerung, keine Hoffnung, kein Gedanke kann ihm die tröstliche Erinnerung an seinen Besuch bei der Mutter in die Öde seines Fegefeuers bringen. Stunden vergehen und Tage und Nächte. Es schreit, ermüdet, schläft ein. Es wacht auf und näßt die Windeln. Jetzt verbindet sich damit kein Wohlgefühl mehr. Kaum wurde ihm von seinen inneren Organen die Freude der Erleichterung vermittelt, da wird diese schon wieder von stetig anwachsendem Schmerz abgelöst, wenn der heiße, säurehaltige Urin seinen schon wundgeriebenen Körper angreift. Es schreit. Seine erschöpften Lungen müssen schreien, um das scharfe Brennen zu übertönen. Es schreit, bis der Schmerz und das Schreien es erschöpfen, ehe es wieder einschläft.

In seiner Klinik, die keineswegs ein Ausnahmefall ist, wechseln die fleißigen Schwestern alle Windeln nach Zeitplan, ob sie nun trocken, feucht oder schon ganz durchnäßt sind; und sie schicken die Kinder völlig wund nach Hause, wo jemand, der Zeit hat für solche Dinge, sie gesundpflegen muß.

Wenn es in das Zuhause seiner Mutter gebracht wird (das seine kann man es wohl kaum nennen), ist es bereits wohlvertraut mit dem Wesen des Lebens. Auf einer vorbewußten Ebene, die all seine weiteren Eindrücke bestimmen wird, wie sie ihrerseits von diesen ihre Prägung erfährt, kennt es das Leben als unaussprechlich einsam, ohne Reaktion auf die von ihm ausgesandten Signale und voller Schmerz.

Aber noch hat es nicht aufgegeben. Solange Leben in ihm ist, werden die Kräfte seines Kontinuums immer wieder versuchen, ihr Gleichgewicht zurückzuerlangen.
Das Zuhause ist im wesentlichen von der Entbindungsstation nicht zu unterscheiden, bis auf das Wundsein. Die Stunden, in denen der Säugling wach ist, verbringt er in Sehnsucht, Verlangen und in unablässigem Warten darauf, daß "Richtigkeit" im Sinne des Kontinuums die geräuschlose Leere ersetzen möge. Für wenige Minuten des Tages wird sein Verlangen aufgehoben und sein schreckliches auf der Haut kribbelndes Bedürfnis nach Berührung, Gehalten- und Herumgetragenwerden wird erfüllt. Seine Mutter ist eine, die sich nach viel Überlegung dazu entschlossen hat, ihm Zugang zu ihrer Brust zu gewähren. Sie liebt ihn mit einer bis dahin nicht gekannten Zärtlichkeit. Anfangs fällt es ihr schwer, ihn nach dem Füttern wieder hinzulegen, besonders weil er so verzweifelt dabei schreit. Aber sie ist überzeugt davon, daß sie es tun muß, denn ihre Mutter hat ihr gesagt (und sie muß es ja wissen), daß er später einmal verzogen sein und Schwierigkeiten machen wird, wenn sie ihm jetzt nachgibt. Sie will alles richtig machen; einen Augenblick lang fühlt sie, daß das kleine Leben, das sie in den Armen hält, wichtiger ist als alles andere auf Erden.

Sie seufzt und legt ihn sanft in sein Bettchen, das mit gelben Entchen verziert und auf sein ganzes Zimmer abgestimmt ist. Sie hat viel Arbeit hineingesteckt und es mit flauschigen Vorhängen, einem Teppich in der Form eines Riesenpanda, einem weißen Toilettentisch, Badewanne und Wickelkommode eingerichtet. Dazu gehören auch Puder, Öl, Seife, Haarwaschmittel und Haarbürste – alles versehen mit und eingewickelt in besonderen Baby-Farben. An der Wand hängen Bilder von Tierkindern, die als Menschen angezogen sind. Die Kommode ist voll kleiner Unterhemdchen, Strampelanzüge, Schühchen, Mützchen, Handschuhe und Windeln. In ansprechendem Winkel steht oben drauf ein wollenes Spielzeugschaf und eine Vase mit Blumen – die von ihren Wurzeln abgeschnitten wurden, denn die Mutter "liebt" auch Blumen.
Sie glättet dem Baby das Hemdchen und bedeckt es mit einem bestickten Laken und einer Decke, die seine Initialen trägt. Sie nimmt sie mit Befriedigung wahr. Nichts ist ausgelassen worden, um das Babyzimmer perfekt auszustatten, wenngleich sie und ihr junger Ehemann sich all die Möbel, die sie für die anderen Zimmer des Hauses planen, noch nicht leisten können. Sie beugt sich über den Säugling und küßt ihn auf die seidige Wange; dann geht sie zur Tür, während der erste qualvolle Schrei seinen Körper durchschüttelt.

Sacht schließt sie die Tür. Sie hat ihm den Krieg erklärt. Ihr Wille muß über den seinen die Oberhand behalten. Durch die Tür hört sie Töne, als würde jemand gefoltert. Ihr Kontinuum erkennt sie als solche. Die Natur gibt kein eindeutiges Zeichen von sich, daß jemand gefoltert wird, wenn dies nicht wirklich der Fall ist. Es ist genau so ernst, wie es sich anhört.

Sie zögert. Ihr Herz wird zu ihm hingezogen, doch sie widersteht und geht weiter. Er ist soeben frisch gewickelt und gefüttert worden. Deshalb ist sie sicher, daß ihm in Wirklichkeit nichts fehlt; und sie läßt ihn weinen, bis er erschöpft ist.

Er wacht auf und schreit wieder. Seine Mutter blickt kurz durch die Tür, um sich zu vergewissern, daß er richtig liegt; leise, um keine Hoffnung auf ihre Aufmerksamkeit in ihm zu erwecken, schließt sie die Tür wieder. Sie läuft rasch in die Küche zu ihrer Arbeit und läßt diese Tür offen, damit sie das Baby hören kann, falls "ihm irgend etwas zustößt".

Die Schreie des Säuglings gehen in zitterndes Wimmern über. Da niemand antwortet, verliert sich die Antriebskraft seiner Signale in der Verwirrung lebloser Leere, wo schon lange Erleichterung hätte eintreten müssen. Er blickt um sich. Jenseits der Stäbe seines Gitterbettchens gibt es eine Wand. Das Licht ist trüb. Er kann sich nicht umdrehen. Er sieht nur die Gitterstäbe, unbeweglich, und die Wand. Aus einer fernen Welt hört er sinnlose Geräusche. In seiner Nähe ist alles still. Er sieht auf die Wand, bis ihm die Augen zufallen. Wenn sie sich später wieder öffnen, sind Gitterstäbe und Wand genau wie vorher, doch das Licht ist noch trüber. (Aus: J. Liedloff, Auf der Suche nach dem verlorenen Glück, 1980.)

Trennungsschmerz und Autonomie

Was geschieht, wenn ein Mensch nicht das Glück hatte, seine sehr frühe Abhängigkeit von den Eltern und die dazu gehörenden Trennungsängste zu erleben, um sich von den Ansprüchen der verinnerlichten Eltern trennen zu können – sei es, weil er keine Analyse machte, sei es, weil sein Analytiker dieses Glück nicht hatte und es daher auch seinem Analysanden nicht ermöglichen konnte? Diese Menschen bleiben meistens auf Neuinszenierungen der alten Verhältnisse in der passiven oder aktiven Rolle angewiesen. Das ist eine tragische Situation, für die wir allzuschnell moralische Urteile zur Hand haben, und wir werfen sehr leicht diesen Menschen Mangel an Zivilcourage oder gar Feigheit vor. Solche Urteile tragen der Tatsache kaum Rechnung, daß die Ursachen dieser "Feigheit" manchmal in den ersten Wochen oder Tagen eines Lebens wurzeln. An der Problematik des Verführers ließe sich das aufzeigen.

Die Gestalt des Don Juan übt auf Dichter, Musiker und bildende Künstler eine große Faszination aus, und dies mag an der Tatsache liegen, daß sie etwas von ihrem Leben verkörpert. Es handelt sich um die Geschichte und die Motivation des Verführers, der immer wieder eine neue Frau braucht, um in ihr Hoffnungen zu wecken, die er enttäuschen muß. Dieser Mann kann von außen, gewissermaßen von der Perspektive des Opfers, der enttäuschten Frau, erlebt und geschildert werden oder von innen, falls der Künstler die Scheu überwunden hat, sich mit diesem Mann zu identifizieren. Fellinis Casanova könnte als Beispiel für das erste und La città delle donne für das zweite dienen. Die Fähigkeit zur offenen Identifikation mit der Gestalt des Don Juans zeigt sich nicht unbedingt im Gebrauch der Ichform. Der Verführer von Sören Kierkegaard schreibt zwar in der ersten Person, wird aber mit moralisierender Distanz geschildert. Andererseits ist z.B. Frédéric Moreau in der Education sentimentale von Flaubert eine erfundene Romanfigur, und doch spürt man, daß Gustave Flaubert hier – wie auch in der Madame Bovary – z.T. die Qualen seiner eigenen Seele beschreibt.

Der Verführer wird von vielen Frauen geliebt, bewundert, gesucht, weil er mit seiner Haltung in ihnen Hoffnungen und Erwartungen weckt. Es sind die Hoffnungen, daß die in ihnen seit der frühen Kindheit aufgespeicherten, weil unerfüllten Bedürfnisse nach Spiegelung, Echo, Achtung, Respekt, Zuwendung, Verständnis und Austausch nun, durch ihn, erfüllbar sein könnten. Aber der Verführer wird von den Frauen nicht nur geliebt, er wird von ihnen auch gehaßt, weil er ihre Bedürfnisse nicht erfüllen kann und schließlich die Frau verläßt. Sie empfindet diese Enttäuschung als Betrug und als Entwertung ihrer Person, weil sie seine Gründe höchstens spüren, aber nicht verstehen kann, denn er selbst versteht sich nicht. Könnte er das, müßte er nicht die gleiche Inszenierung immer neu wiederholen.

Was ich über das Schicksal des Verführers von meinen Patienten aus ihrer Perspektive gelernt habe, kann ich nur anhand des Flaubertschen Romans anzudeuten versuchen. In allen diesen Fällen war das Damoklesschwert der frühen Kindheit die Zerbrechlichkeit der Mutter, d.h. die Gewißheit, daß jede Weigerung des Kindes eine totale Ablehnung seitens der Mutter, also ihren Verlust zur Folge gehabt hätte. Diese erste Abhängigkeit versucht der Verführer als erwachsener Mann mit seinen Partnerinnen aufzuheben und durch das Verlassen der Frau das Verlassenwerdenkönnen durch die Mutter beim "Nein" des Kindes ungeschehen zu machen. Er schenkt ihr die Bewunderung und die affektive Zuwendung, die er einst auch bekam, und läßt sie dann plötzlich fallen.

Aber diese Umkehrung des passiv Erlittenen in aktives Verhalten schöpft die Problematik nicht aus. Das Besondere, das mir bisher nur bei Flaubert begegnet ist, liegt in dessen wohl unbewußter Einsicht, daß hinter dem, was sich als Freiheit geben möchte, eine tiefe, sehr frühe Abhängigkeit verborgen bleibt. Es ist die Abhängigkeit eines Menschen, der nicht "nein" sagen darf, weil seine Mutter es nicht ertrug und der sich zugleich sein Leben lang verweigert, in der Hoffnung, das nachholen zu können, was ihm bei der Mutter nie möglich war, nämlich sagen zu können: "Ich bin Dein Kind, aber Du hast keinen Anspruch auf meine ganze Person und mein ganzes Leben." Da der Verführer diese Haltung erst als erwachsener Mann mit Frauen annehmen kann, nicht aber in der frühen Mutterbeziehung, können diese Siege die erste Niederlage nicht ungeschehen machen; und da die Siege den Schmerz der ersten Kindheit zudecken, können die alten Wunden nicht heilen. Der Wiederholungszwang wird perpetuiert.

In Frédéric Moreau hat Flaubert einen Menschen geschaffen, den man wohl leicht als feige bezeichnen könnte – einen Mann, dem es nicht gelingen will, sich den Wünschen der Frauen zu entziehen und der sich daher in die Lüge rettet. Die Mutter Frédérics erscheint zwar nur am Rande der Handlung, aber ihre Charakteristik genügt, um zu sehen, daß die verschiedenen Frauen des Romans verschiedene Seiten der Mutter verkörpern. Madame Arnoux ist die idealisierte, aber unzugängliche, Rosanette die naive und anspruchsvolle und Madame Dambreuse schließlich die grausame, demütigende und zugleich verführende, verliebte Mutter. Die Feigheit von Frédéric Moreau ist die Tragik eines narzißtisch mißbrauchten Kindes, er kann sich nicht wehren, außer wenn man ihn offen sadistisch behandelt. In allen anderen Situationen, besonders wenn die Frau schwach und abhängig ist, ist er ihr völlig ausgeliefert. Er kann sich ihr nicht entziehen, er bringt das Geld, das sie braucht, er gibt ihr die Versprechen, auf die sie wartet, auch wenn er sie nicht einlösen wird. Das Interesse der Frau geht dem seiner Bedürfnisse immer vor. Das muß natürlich zu einer Lebenslüge führen, denn man muß seine Wahrhaftigkeit verlieren, wenn man in den entscheidenden Momenten des Lebens nicht "nein" sagen darf.

Möglicherweise spiegelt sich in der Person Frédéric Moreaus die Situation vieler Männer, die als Verführer bezeichnet werden. Die Sehnsucht nach Liebe und Verständnis, nach Verstehen und Verstandenwerden führt den Verführer, den klassischen Don Juan, zu den verschiedenen Frauen, mit denen er aber seine Enttäuschungen nicht offen austragen kann, weil er eine Mutter hatte, die Offenheit nicht ertrug, und er damit keine Erfahrungen machen konnte. So muß er die Frauen, wie einst seine Mutter, mit Hilfe der Lüge schonen, und er flüchtet von einer zur anderen. Da er sich nicht abgrenzen kann, solange die Frau hilflos ist, muß er sie dazu provozieren, mit ihm grausam zu werden, damit er wieder ein Stück Freiheit gewinnen kann. Doch auch diese Provokation kann nicht offen geschehen, sie entsteht gegen seinen Willen und ist ihm selber peinlich, sie ist nun einmal von selber da, in dem Moment, in dem die Frau seine Unaufrichtigkeit entdeckt. Verhält sich die Frau liebevoll, so ist er zerknirscht und voller Schuldgefühle, wird sie aber bei der nächsten Gelegenheit wieder betrügen müssen, um sich ein Stück Illusion der Freiheit, d.h. der Abgrenzung von der Mutter, zu verschaffen. Diese Gelegenheit bekommt er, wenn die Frau mit Rache und Grausamkeit auf seine Unehrlichkeit reagiert. Dann kann er sie verlassen, u.U. für immer, und wird sich einer anderen Frau zuwenden, die zunächst wie alle früheren handelt, von seiner Empfindsamkeit, Einfühlungsgabe, Anpassungsfähigkeit und Hilfsbereitschaft so bezaubert ist, daß sie bereit ist, die anfänglichen Unaufrichtigkeiten um jeden Preis zu übersehen. Aber der Preis steigt immer mehr, sofern die Geliebte im Unbewußten des Verführers ein Substitut der einstigen Mutter ist, die vom kleinen Kind unbedingte Anpassung forderte. Dann wird auch das subtilste Verständnis der Partnerin das Vergangene nicht ungeschehen machen können, und die neue Partnerin wird mit allen unbewußten Mitteln dazu gezwungen werden, grausam und verständnislos zu werden, denn sie kann tatsächlich nicht verstehen, was vor sich geht und warum sie immer wieder belogen wird.

Die Feigheit Frédéric Moreaus ist eine Tragödie, wie wahrscheinlich jede Feigheit. Ob ein Mensch ehrlich werden durfte, hängt vermutlich davon ab, wieviel Wahrheit seine Eltern ertragen konnten und welche Sanktionen sie dem Kind dafür aufgebürdet haben. Gerade anhand der Geschichte Frédéric Moreaus ist es mir aufgegangen, wie untauglich die moralischen Kategorien von Feigheit und Tapferkeit sind und wieviel mehr der Mut im Grunde mit dem Kinderschicksal des Einzelnen zu tun hat.
Wo es darum ging, seine politischen Zweifel zu äußern, auch wenn diese in krassem Gegensatz zu den herrschenden Ansichten standen, durfte z.B. Gustave Flaubert sehr viel Mut entwickeln. Die Schärfe seiner Beobachtungen ist beinahe unübertrefflich, und seine Analyse der Anpassung im politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben spiegelt seine Verachtung für jede Form der Lüge. Hinter dieser Verachtung verbirgt sich aber möglicherweise der unbewußte Schmerz des Kindes, das einst seine scharfen Beobachtungen im Dienste der notwendigen Anpassung verleugnen mußte und für das daher die letzte Ehrlichkeit, nämlich die Offenheit mit dem nächsten Menschen, im Grunde das höchste, aber unerfüllbare Ideal geblieben ist. Denn dieses Ideal zu verwirklichen hätte einst zur Voraussetzung gehabt, vor der eigenen Mutter ehrlich sein zu können und sie verlassen zu dürfen, als die Zeit dafür reif war. Es hätte auch bedeutet, ihr den echten Grund seiner Tränen nicht verheimlichen zu müssen (vgl. G. Flaubert, 1971, S. 656), nicht immer zuerst auf ihre Hilfsbedürftigkeit und ihre Depressionen Rücksicht nehmen und nicht mit der Krankheit für die Freiheit zum Schreiben bezahlen zu müssen. Um zu verstehen, warum all dies Flaubert verwehrt blieb, genügte es Jean Paul Sartres Charakteristik der Mutter Flauberts zu lesen (vgl. J. P. Sartre, 1977, Band 1) oder sich die ehrgeizige, materialistische, bigotte Mutter Frédéric Moreaus vorzustellen. Der Leser des Romans wird sich nicht wundern, daß der Sohn seine Gefühle von ihr fernhalten und sie weder lieben noch hassen kann. Die intensiven Gefühle seiner frühen Kindheit sind ihm nur in der Transposition auf die späteren geliebten und gehaßten Partnerinnen zugänglich. Dieses traurige Schicksal teilt mit Frédéric Moreau nicht nur Gustave Flaubert, sondern eine große Anzahl von Männern.

Frédéric Moreau erzählt am Schluß des Romans, daß er einst als Halbwüchsiger einen großen Blumenstrauß im Garten seiner Mutter pflückte, um ihn "anderen Frauen" zu bringen, den Frauen, die "für Geld Liebe verkauften", aber im letzten Moment floh er vor ihnen aus Angst, "weil er glaubte, daß sie sich über ihn lustig machten" (G. Flaubert, 1971, S. 684/5). Diese Jugenderinnerung, mit ihrem ganzen symbolischen Gehalt verstanden, gibt den Schlüssel nicht nur zur psychologischen Interpretation der Education sentimentale, sondern auch zum Verständnis des Lebens von Gustave Flaubert: Die Blumen aus dem Garten seiner Mutter, die Gesamtheit der Gefühle, die Flaubert mit seiner Mutter verbanden: die Liebe und der Haß, die Sehnsucht nach Zärtlichkeit und die Auflehnung, die Intensität der inneren Welt und die Wut auf das Mißbrauchtwerden, die Bindung und das Bedürfnis nach Freiheit, alles das mußte zurückgehalten werden, durfte nur in Romangestalten leben, führte zu großer Vorsicht den Frauen gegenüber, zu quälenden körperlichen Symptomen und zu einer lebenslangen, aber gefühlsarmen Bindung an die Mutter. ...

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