Auszüge aus Florence Rush's
"Sexueller Kindesmißbrauch"

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Vorwort von Susan Brownmiller

Florence Rush hatte ihr spektakuläres Debut in der Frauenbewegung am 17. April 1971, ein Tag, an den ich mich gut erinnere. Wir von den New York Radical Feminists veranstalteten in gemieteten Räumen der Washington Irving Highschool in New York eine zweitägige Konferenz zum Thema Vergewaltigung, ein Folgetreffen unserer öffentlichen Aussprache im Januar in der Saint-Clement’s-Kirche, bei dem Frauen zum ersten Mal in der Geschichte auf einem offenen Forum von ihrer eigenen Vergewaltigung Zeugnis abgelegt hatten. Unser Speakout war ein emotionales Ereignis gewesen, ein Meilenstein in der Bewußtseinsentwicklung, aber jetzt war es an der Zeit, über das persönliche Zeugnis hinaus zu einer Theorie zu kommen, auf der Erfahrung aufzubauen und aus dem Wissen eine Analyse sexueller Gewalttätigkeit zu erstellen. Mehrere hundert Frauen nahmen an dieser Wochenendkonferenz teil, die sich der Methoden wissenschaftlicher Seminare, der konventionellen Politik, der Sozialarbeit und der Psychologie bediente und so zu einem Modell für viele nachfolgenden feministischen Konferenzen wurde.

Während der Vormittagssitzungen wurden in dem muffigen Auditorium Einzelreferate vorgetragen, am Nachmittag drängten sich Frauen zur Teilnahme an anregenden Workshops in kleinen Klassenzimmern zusammen. Selbstverständlich gab es in der Mittagspause eine Karatevorführung. Rückblickend betrachtet, war es sicher ein kühnes Unternehmen; die Außenwelt war zweifellos völlig perplex. Vergewaltigung war zu jener Zeit ein Wort, das ansonsten intelligente Leute bestenfalls zum Kichern brachte. Außer den Opfern hielten nur wenige dies für ein erforschenswertes, wichtiges Thema. Kein Mensch dachte daran, daß Vergewaltigung möglicherweise einen historischen Hintergrund hatte, und nur eine Handvoll Leute glaubte, sie könnte zu einem internationalen feministischen Schwerpunktthema werden.

Florence Rush gehörte zu unserer Westchester-Abteilung (eigentlich verwendeten wir das Wort "Brigade", aber es war schwer, sich in einem Vorort eine Brigade vorzustellen) sowie zur Older Women’s Liberation. Sie war aktives Mitglied im Ausschuß für Rassengleichheit und von Beruf Sozialarbeiterin in einem Wohnheim für minderjährige und verwahrloste Mädchen. Ich sollte hinzufügen, daß sie Mutter von drei Kindern war – eine, der man den lebenslangen politischen Aktivismus nie zugetraut hätte, und eine der wenigen Frauen reiferen Alters, der der Sprung von der Linken zum Feminismus nicht schwergefallen war – ein Sprung, der unsere Bewegung an Tiefe und Einsicht stärkte. Sie war im Januar zu der öffentlichen Aussprache über Vergewaltigung gekommen, und ihr waren, wie allen von uns, die Augen geöffnet worden. Auf Drängen ihrer guten Freundin Joan Mathews, einer unserer Konferenzorganisatorinnen, erklärte sie sich bereit, auf dem Treffen im April ein Referat zu halten. Gestützt auf ihre Arbeit mit jungen Mädchen, auf ihr Fallstudienarchiv, die wenigen zu diesem Thema erhältlichen Artikel (die meist von Freudianern verfaßt wurden), ihre eigenen Fachkenntnisse und ihren Scharfsinn, entwickelte sie ihre Theorie über den sexuellen Mißbrauch von Kindern.

Heute sagt sie, sie sei nervös gewesen; damals war sie schlicht und einfach phantastisch. Ihr Vortrag war lebendig und aufrüttelnd, ihre Dokumentation war fundiert und beeindruckend. Ich habe an vielen feministischen Zusammenkünften teilgenommen, doch nie zuvor und nie seither habe ich erlebt, daß das gesamte Publikum in einem Beifallssturm auf die Beine sprang. Wir klatschten, wir jubelten. Die meisten von uns werden bis zu jenem Tag wohl kaum über die Tragweite sexuellen Kindesmißbrauchs nachgedacht haben. Nach dem Vortrag dieser ruhigen Frau aus Westchester sollte uns die Bedeutung des Problems für immer eingeprägt bleiben.

Ein Großteil des Materials aus jener frühen Abhandlung ist in stark erweiterter Form in diesem Buch eingeschlossen. Es verselbständigte sich sehr schnell, da die Autorin mit Abdruckgesuchen überhäuft wurde. Der vielfach zitierte und besprochene Beitrag wurde ein Meilenstein im feministischen Denken. Doch während die anderen ihr Material – mit oder ohne Erlaubnis – eifrig zitierten, reifte in ihr die Erkenntnis, daß sie lediglich an der Oberfläche gekratzt hatte, daß sie noch viel mehr sagen wollte.

Eine ganze Bewegung hat gespannt auf dieses Buch gewartet. Florence Rushs Gedanken haben fraglos schon allergrößten Einfluß gewonnen. Es ist nicht zu leugnen, daß das plötzliche landesweite Interesse an dem sexuell mißbrauchten Kind zum großen Teil auf Florence Rushs Anstrengungen zurückgeht, ob es die etablierte Psychiatrie wahrhaben will oder nicht. Sie ist ganz ohne Zweifel die erste Theoretikerin auf diesem Gebiet, die dem Kind in keiner wie auch immer gearteten Form die Schuld gibt. Sie ist auch die erste, die sexuellen Kindesmißbrauch nicht als Einzelvorkommnis betrachtet, sondern als eine verbreitete Praxis, deren gesellschaftliche Duldung weit in die Geschichte zurückreicht.

Dieses Buch zu schreiben, konnte nicht leicht gewesen sein, und für viele wird es nicht leicht zu verdauen sein. Es gibt genug Menschen, die überkommene Traditionen lieber risikolos in Sentimentalität hüllen, als ihnen unumwunden ins Auge zu sehen. Wie Rush uns zeigt, zog selbst Freud es vor, dokumentarische Aufzeichnungen zu ändern, als sich mit gewissen unangenehmen Wahrheiten abzufinden. Die ist ein Buch, das sich vor unangenehmen Wahrheiten nicht scheut. Rush wühlt in der Geschichte, weil sie sie zu entwirren sucht. Sie stellt den heutigen Täter bloß, da sie die Tat ein für allemal abschaffen will. Dieses Buch legt Zeugnis ab von dem Engagement einer Frau für unsere Zivilisation.

Einleitung: Mit der Belästigung aufwachsen

Während meiner langjährigen Tätigkeit als Sozialarbeiterin stellte ich fest, daß die Grundkonstellation für sexuellen Mißbrauch von Kindern in einem männlichen Erwachsenen und einem weiblichen Kind bestand. Die Opfer, mit denen ich in Berührung kam, gehörten im wesentlichen der sozial und wirtschaftlich unterprivilegierten Schicht an, doch als auch andere aus besser gestellten Kreisen in mein Blickfeld traten, wurde mir klar, daß das Problem quer durch alle Gesellschaftsschichten ging. Ja, ich erinnerte mich schmerzlich daran, daß ich selbst, obwohl mit allen Annehmlichkeiten des Mittelschichtdaseins aufgewachsen, als Kind sexuell mißbraucht worden war.

Ich wurde in eine äußerst stabile Familie hineingeboren. Meine Eltern waren aus einer Kleinstadt im zaristischen Rußland ausgewandert, um der unmittelbar bevorstehenden Einberufung meines Vaters in die russische Armee und den Leiden, die Antisemitismus und Armut ihnen aufbürdeten, zu entgehen. Sie waren ziemlich arm, doch waren sie optimistisch und sahen ihrer Zukunft in Amerika mit Zuversicht entgegen. Sie schufteten in den Ausbeuterbetrieben der unteren East Side in New York, bis mein Vater schließlich, dank der Hilfe von Verwandten und dem energischen Einsatz meiner Mutter, für seine Fortbildung das Brooklyn College of Pharmacy besuchte und mit Apothekerexamen abschloß. Er eröffnete ein Drugstore, dann ein weiteres, und hatte schließlich genug Geld beisammen, um sich in eine Maschinenwerkstatt einzukaufen. Mit der Zeit wurde er ein relativ wohlhabender Mann.

Meine zwei älteren Brüder und ich wurden im Sommer in die Ferienkolonie geschickt, was für Kinder aus Einwandererfamilien ein ungewöhnlicher Luxus war, und später gingen wir alle aufs College. Zum Zeitpunkt, da mein Vater vor einigen Jahren starb, kannten sich meine Eltern seit sechzig Jahren.

Im Hause meiner Eltern wurde der Freitagabend festlich begangen. Die Kerzen brannten für den Sabbat, und auf dem Eßzimmertisch war eine Spitzendecke ausgebreitet; für Gäste, die gewöhnlich vorbeikamen, standen verschiedenes Gebäck, Obst, Nüsse, Wein und Tee bereit. Zu unseren regelmäßigen Besuchern zählten auch unser Zahnarzt, den ich Dr. Greenberg nennen werde, und seine Frau. Wie viele andere, erfreute sich auch dieses Paar an der stets herzlichen, ausgelassenen Stimmung, in der Politik erörtert, alte russische und jiddische Lieder gesungen und Geschichten erzählt wurden.

Meine Mutter begleitete mich immer zum Zahnarzt, aber einmal, als ich etwa sieben war, schickte sie mich alleine zu meinem Termin. Die Praxis lag nicht weit von unerer Wohnung entfernt, und damals waren die Straßen von New York noch sicher. An jenem Morgen begrüßte mich Dr. Greenberg freundlich wie immer (ich erinner mich nicht, je eine Schwester oder Sprechtstundenhilfe in seiner überfüllten Praxis gesehen zu haben). Obwohl ich alt und groß genug war, alleine auf den Sitz zu klettern, hob er mich mit großartigem Getue hoch und setzte mich auf den Stuhl. Er band mir das übliche Lätzchen um den Hals und füllte den Becher zu Nachspülen, legte die Instrumente jedoch nicht auf die dafür vorgesehene Schwingplatte, sondern in meinen Schoß. Jedesmal, wenn er ein Instrument nahm, um meinen Mund zu untersuchen, fingerte er irgendwo an meinem Körper herum. Bald fielen ihm schon die Instrumente aus der Hand. Nachdem er sie vom Boden aufgelesen hatte, gelang es ihm, seine Hand unter mein Kleid zu schieben und sich einen Weg zwischen meine Beine zu bahnen. Seine Berührung löste in mir Gefühle der Scham und des Unbehagens aus, und da ich ahnte, daß da etwas ganz und gar nicht stimmte, fing ich an zu weinen. Dr. Greenberg lachte über meine Tränen und hielt mir vor, ich sei ein "albernes Kind", weil ich Angst vor dem Zahnarzt hätte. Aber seine Hände strichen weiterhin über meine Genitalien. Ernsthaft in Panik, begann ich nun, immer lauter zu schluchzen. Schließlich machte ich einen solchen Lärm, daß Dr. Greenberg von mir abließ, seine Hände wusch, mich aussehimpfte, weil ich mich wie ein Baby benähme, und mir ein schönes Geschenk versprach, wenn ich nächstes Mal ein tapferes kleines Mädchen wäre.

Ich rannte so schnell ich konnte nach Hause und erzählte meiner Mutter alles. Sie war im Augenblick konsterniert, fand jedoch ihre Fassung wieder, indem sie sich einzureden versuchte, daß ich log und die ganze Geschichte nur erfunden hätte, um die Zahnarztbehandlung zu umgehen. Es muß ihr sehr viel daran gelegen haben, dies zu glauben, hatten doch meine Zahnarztbesuche bis dahin nie irgendwelche Probleme aufgeworfen. Als ich mich weigerte, zu meinem nächsten Termin zu gehen, entschuldigte sie sich bei Dr. Greenberg, der sich wohlwollend darüber ausließ, wie schwer es für Kinder sei, ihre Angst vor dem Zahnarzt zu überwinden. Er kam weiterhin freitags zu Besuch, aber während ich vorher gesellig und freundlich war und nie ins Bett gehen wollte, zog ich mich nunmehr ohne Druck von außen in mein Zimmer zurück.

Im Rückblick wundere ich mich heute, wie leicht meine beunruhigende Beschuldigung verworfen wurde, besonders im Hinblick auf einen anderen Vorfall. der sich etwa zur gleichen Zeit zutrug. Ich liebte das Drugstore über alles, und wenn Danny, der junge Verkäufer und mein guter Freund, nicht mit Kunden beschäftigt war, tüftelte er für mich die ausgefallensten und originellsten Eisbecher aus, mit Nüssen, Obst, Schlagsahne und verschiedenen Fruchtsirups. Er verwöhnte mich auch mit Schokolade, während er sich gleichfalls bediente und noch ein paar Riegel in seine Taschen stopfte. Eines abends hörte ich, wie sich mein Vater über Bestandsverlust beklagte und in der Hoffnung auf seine Anerkennung erzählte ich ihm von Danny und den Schokoladenriegeln. Zu meiner Bestürzung wurde Danny fristlos entlassen. Warum, frage ich mich, wurde diese Geschichte so ohne weiteres geglaubt und gab Anlaß zum Handeln, während meine Belästigung durch den Zahnarzt erst in Frage gestellt und dann verworfen wurde?

Die Jahre vergingen, und die frühe Jugendzeit brachte den Austausch von Vertraulichkeiten mit engen Freundinnen mit sich. Jane und ich waren unzertrennlich, und neben unseren Plänen für die Zukunft tauschten wir auch Bücher aus der Bibliothek, Krämerladenlippenstifte und Geheimnisse aus. Ich erzählte Jane von Dr. Greenberg. Sie erzählte mir von ihrem Erlebnis mit einem Kaufmann aus der Nachbarschaft. Allerdings hatte sie, vorsichtiger als ich, nie vor anderen wiederholt, was ihr im Hinterraum des Obst- und Gemüseladens widerfahren war.

Wir hielten uns gegenseitig über die Anzahl von Exhibitionisten, die wir sahen, auf dem laufenden, verglichen Abwehrtechniken, derer wir uns bedienten, um in Bussen und in der U-Bahn nicht betatscht, gepackt oder gar malträtiert zu werden, und wir arbeiteten Strategien aus, um uns aus unangenehmen und sogar gefährlichen Situationen herauszuwinden. Zum Beispiel gingen Jane und ich für unser Leben gern ins Kino, doch es verging praktisch keine Vorführung, ohne daß wir die Hand irgendeines fremden Mannes unter unserem Rock hatten. Wir tüftelten also ein System aus. Wer immer von uns beiden gerade belästigt wurde, stand auf und sagte laut: "Ich muß jetzt nach Hause, weil meine Mutter auf mich wartet." Wir pflegten uns dann einen anderen Platz zu suchen, in der Hoffnung, bis zum Ende des Films in Ruhe gelassen zu werden. Wir betrachteten dies einzig und allein als unser Problem, und es kam uns nie in den Sinn, unseren Eltern oder der Polizei davon zu erzählen.*

* In den dreißiger Jahren wurden die Kinosäle so häufig von Kinder suchenden Männern überschwemmt, daß in manchen Vorführungsräumen [zumindest in New York] "Kinderabteilungen" mit Seilen abgetrennt wurden für Jugendliche, die nicht in Begleitung von Erwachsenen waren. Diese Abteilungen standen bisweilen unter der Aufsicht einer Matrone.

In der Folge habe ich zahllose ähnliche und weit schlimmere Geschichten gehört, und ich habe erkennen müssen, daß Kindesbelästigung durch einen geschätzten Freund der Familie oder Verwandten, ebenso durch einen Fremden, absolut nichts Außergewöhnliches ist. Es wird Zeit, daß wir der Tatsache ins Auge sehen: Der sexuelle Mißbrauch von Kindern ist kein gelegentlicher Ausrutscher, sondern ein verheerender Tatbestand des alltäglichen Lebens. ...

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