Auszüge aus Alice Miller's
"Der gemiedene Schlüssel"

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Vorwort

Sooft ich in Biographien von schöpferischen Menschen blättere, finde ich auf den ersten Seiten beiläufige Informationen, die mir bei meiner Arbeit besonders hilfreich sind. Sie beziehen sich auf ein oder mehrere Ereignisse der Kindheit, deren Spuren immer im Werk nachweisbar sind und meistens wie ein roter Faden das ganze Werk durchziehen. Trotzdem werden diese einzelnen Ereignisse vom Biographen selbst kaum beachtet. Man könnte diese Fakten mit einem gefundenen Schlüsselbund vergleichen, für den man keine Verwendung hat, weil man den Besitzer nicht kennt und vermutet, daß er längst ein anderes Haus bewohnt, folglich an den verlorenen Schlüsseln nicht das geringste Interesse mehr haben wird.

Ist es dann berechtigt, wenn ich diese Schlüssel in die Hand nehme und die dazu passenden Türen in alten Häusern ausfindig mache, um dort ein Leben zu entdecken, das lange darauf wartet, erkannt zu werden? Es mag als indiskret empfunden werden, Türen von fremden Häusern zu öffnen und in den Familiengeschichten fremder Menschen zu stöbern. In Anbetracht der Tatsache, daß so viele Menschen ihre Eltern noch zwanghaft verklären, kann mein Tun sogar als ungehörig bezeichnet werden. Es erscheint mir dennoch als unumgänglich. Denn das verblüffende Wissen, das hinter diesen bisher verschlossenen Türen zum Vorschein kommt, trägt wesentlich dazu bei, daß Menschen aus ihrem gefährlichen, folgenschweren Schlaf zu ihrer eigenen Rettung erwachen können.

Über Friedrich Nietzsche:
Das ungelebte Leben und das Werk eines Lebensphilosophen

...

Wären Nietzsches Ideen für den Nationalsozialismus unbrauchbar gewesen, wenn man deren Ursprung verstanden hätte? Ohne jeden Zweifel. Aber hätte die Gesellschaft diesen Ursprung verstehen können, dann wären auch die nationalsozialistischen Ideen kaum denkbar gewesen und hätten auf jeden Fall nicht diese Verbreitung gefunden. Die einfachen, prosaischen Tatsachen der Kindesmißhandlungen finden kein Gehör, obwohl deren Kenntnis der Menschheit vieles erklären und Kriege ersparen könnte. Nur wenn sie in verkleideter, symbolischer Form gereicht werden, können sie auf großes, ungewöhnliches Interesse und emotionales Engagement stoßen. Denn die verkleidete Geschichte ist ja den meisten Menschen bekannt. Aber die symbolische Sprache muß garantieren, daß die Verdrängung nicht aufgehoben wird, daß kein Schmerz erlebt werden muß. Daher wird meine These, daß Nietzsches Werke die ungelebten Gefühle, Bedürfnisse und Tragödien seiner Kindheit spiegeln, vermutlich auf den größten Widerspruch stoßen. Trotzdem ist diese These richtig, und ich werde das im folgenden nachweisen. Doch den Nachweis kann nur nachvollziehen, wer bereit ist, die Perspektive des Erwachsenen für eine Zeitlang zu verlassen, um sich in die Situation eines Kindes einzufühlen und diese voll und ganz ernst zu nehmen.

Was für ein Kind ist hier gemeint? Der Junge, der in der Schule lernt, die normalen menschlichen Gefühle zu unterdrücken und immer so zu tun, als ob er keine hätte? Oder der kleine Junge, der täglich von seiner jungen Mutter, seiner Großmutter und seinen zwei Tanten dazu erzogen wird, ein "rechter" Mann zu werden? Oder der ganz kleine Junge, dessen geliebter Vater "den Verstand verliert" und elf Monate lang in diesem Zustand noch im Haushalt lebt? Oder das noch kleinere Kind, das von diesem geliebten Vater, mit dem es zuweilen spielen darf, aufs strengste bestraft und in dunkle Kammern eingesperrt wird? Es ist eben nicht das eine oder das andere, sondern immer wieder dasselbe Kind, das all das zu ertragen hat, ohne irgendwelche Gefühle ausdrücken zu dürfen, ja, ohne überhaupt fühlen zu dürfen.

Friedrich Nietzsche überlebt diese Kindheit, er überlebt die über hundert Erkrankungen pro Jahr während seiner Gymnasialzeit, die ständigen Kopfschmerzen, die rheumatischen Beschwerden, die die Biographen fleißig nachgezählt haben, ohne nach deren Ursachen zu suchen, und die sie schließlich einer "schwachen Konstitution" zuschrieben. Mit zwölf Jahren schreibt er ein Tagebuch, wie es ein Erwachsener hätte schreiben können, angepaßt, vernünftig, brav. Doch in der Adoleszenz brechen die einst unterdrückten Gefühle aus ihm heraus, es entstehen Werke, von denen andere Jugendliche späterer Generationen erschüttert sein werden. Und als er dann, mit vierzig Jahren, seine Einsamkeit nicht mehr aushält und, da er seine Geschichte und ihre Wurzeln in der Kindheit nicht sehen darf, den Verstand verliert, ist alles klar: die Historiker finden die Ursache des tragischen Endes in der Gonorrhöe, mit der er sich als Jugendlicher angesteckt hat. Im Sinne unserer Moral ist dann auch alles folgerichtig: die gerechte, wenn auch spät einsetzende Strafe für einen Besuch im Bordell in Form einer tödlichen Krankheit.

Das erinnert an die heutigen Spekulationen über Aids-Erkrankungen. Alles scheint bestens aufzugehen, und die bürgerliche Moral ist wiederhergestellt. Aber was die Erzieherinnen und Erzieher Nietzsches konkret mit diesem Kind getan haben, liegt noch nicht so weit zurück, als daß es nicht mehr auffindbar wäre. Junge Studenten könnten diese Geschichte entdecken, die Briefe der Schwester und der Mutter lesen, Dissertationen darüber schreiben und die Situation rekonstruieren, aus der später Werke wie Jenseits von Gut und Böse, Antichrist, Also sprach Zarathustra entstanden sind. Das werden aber nur diejenigen Studenten tun können, die in ihrer Kindheit nicht mißhandelt worden sind oder die ihre Mißhandlungen aufgearbeitet haben und daher für das Leiden geprügelter Kinder offene Ohren und Augen haben. Mit solchen Untersuchungen werden sie wohl kaum Begeisterung bei ihren Professoren wecken. Doch wenn sie darauf verzichten können, werden sie Beweise dafür liefern, daß die an Kindern ausgeübten Verbrechen auf die ganze Menschheit zurückschlagen. Sie werden auch illustrieren können, auf welchen unerwarteten Wegen dies geschieht.

Das Elternhaus

Auf meiner Suche nach den Fakten über Nietzsches frühe Kindheit erfuhr ich folgendes:

Beide Eltern stammten aus Pfarrersfamilien und hatten in ihrer Ahnenkette mehrere Theologen. Der Vater war das jüngste Kind aus der zweiten Ehe seines Vaters, und als er mit dreißig Jahren eine siebzehnjährige Frau heiratete, nahm er seine beiden älteren Schwestern in den Haushalt mit. Ein Jahr nach der Heirat kam Friedrich Nietzsche auf die Welt. Als er zwei Jahre alt war, wurde seine Schwester geboren, kurz darauf sein Bruder, der allerdings mit zwei Jahren, bald nach dem Tod des Vaters, starb. Der Vater Ludwig Friedrich Nietzsche war nach den Berichten ein gefühlvoller, warmherziger Mensch, der seinen Sohn von Anfang an sehr liebte und ihn als Kind häufig bei sich hatte, während er auf dem Klavier spielte und "phantasierte". Diese wichtige Erfahrung und die warmen Gefühle, die der Vater vielleicht seinem Kind entgegenbrachte, mochten dazu beigetragen haben, daß sein Sohn trotz der strengen Erziehung starke Gefühle überhaupt erleben konnte. Doch bestimmte Gefühle waren streng verboten. Es wird zum Beispiel von starken Wutanfällen berichtet, die man dem Kind aber mit Strenge bald abgewöhnen konnte.

Wir erfahren darüber einiges aus der großen Janz-Biographie:

Der Vater beschäftigte sich in seiner freien Zeit gern mit seinem Ältesten, als er erst ein wenig sprechen konnte. Der Sohn störte ihn auch nicht in seinem Studierzimmer, wenn er dem Vater "still und gedankenvoll", wie die Mutter schreibt, bei der Arbeit zusah. Ganz hingerissen war das Kind aber, wenn der Vater am Klavier saß und "phantasierte". Schon als Einjähriger richtete sich der kleine Fritz, wie ihn alle nannten, dann in seinem Wagen auf, horchte mäuschenstill und wandte kein Auge vom Vater. Sonst jedoch war er keineswegs immer ein artiges Kind in den ersten Jahren. Wenn etwas nicht nach seinem Kopfe ging, warf er sich rücklings zu Boden und strampelte vor Wut mit den Beinchen. Aber der Vater muß hiergegen sehr energisch vorgegangen sein; doch wohl blieb der Knabe noch lange eigensinnig und widersetzlich, wenn man ihm etwas verwehrte, was er wünschte, aber er begehrte dann nicht mehr auf, sondern verzog sich wortlos in eine stille Ecke oder auf das Örtchen, wo er seinen Zorn mit sich selbst austrug. (C.-P. Janz 1978, S. 48)

Was auch dieses "Austragen" für einen Biographen bedeuten mag, die Gefühle, die auf dem "Örtchen" liquidiert werden mußten, sind in den späteren Schriften des Philosophen unverkennbar vorzufinden. Vergessen wir nicht, daß auch die Großmutter und zwei junge Tanten mit der Familie wohnten, die neben Haushalt und Wohltätigkeitsgeschäften vor allem die Erziehung des Erstgeborenen im Auge hatten. Als Friedrich noch kaum vier Jahre alt war, erlag sein Vater nach elfmonatigem Leiden einer sehr schweren Erkrankung, vermutlich infolge eines Gehirntumors, die von seinem Sohn später als "Gehirnerweichung" bezeichnet wurde. Es gab in der Familie auch eine Legende von der unfallbedingten Erkrankung des Vaters, weil diese Version die Schande etwas milderte, die eine Gehirnerkrankung für die Familie offenbar bedeutete. Was medizinisch tatsächlich vorlag, ist bis heute nicht restlos geklärt.

Wir können uns als Erwachsene schwer vorstellen, was ein Kind im Alter von kaum vier Jahren empfindet, wenn sein geliebter Vater, hier seine nächste Bezugsperson (denn die Mutter war es damals nicht), plötzlich gehirnkrank wird. Auf jeden Fall ist zumindest eine große Verwirrung nicht wegzudenken: Die bisher mehr oder weniger voraussehbaren Reaktionen des Vaters sind auf einmal nicht mehr kalkulierbar, der große, bewunderte, gescheite Vater ist auf einmal "dumm" geworden, die Umgebung schämt sich vielleicht seiner Antworten, die auch das Kind möglicherweise verachtet, aber diese Verachtung unterdrücken muß, weil es den Vater liebt. Der gleiche Vater war vermutlich stolz auf die Klugheit seines Sohnes, und nun fällt er so früh als Partner aus. Man kann ihm nichts mehr erzählen, ihn nichts mehr fragen, sich nicht mehr an ihm orientieren, nicht mehr mit seinem Echo rechnen, und doch ist er in diesem Zustand noch da.

Kurz nach dem Tod des Vaters stirbt auch der kleine Bruder, und nun bleibt Friedrich als einziges männliches Wesen in einem Frauenhaushalt zurück. Er lebt neben der Großmutter, den zwei Tanten, der Mutter und der jüngeren Schwester. Dies hätte für ihn gut ausgehen können, wenn eine dieser Frauen ihm Zärtlichkeit, Wärme und echte Zuwendung gegeben hätte. Aber all diese Frauen übertrafen sich in dem Bemühen, ihm Selbstbeherrschung und andere christliche Tugenden beizubringen. Der Ursprünglichkeit seiner Phantasie und Echtheit seiner Fragen war ihre angelernte Moral keineswegs gewachsen. So versuchten sie, die unbequeme Neugier des Kindes mit Hilfe strenger Kontrolle und harter Erziehung zum Schweigen zu bringen.

Was kann ein Kind, das diesem Regime so vollständig ausgeliefert ist, anderes tun, als sich anzupassen und seine echten Gefühle mit aller Kraft zu unterdrücken? Das tat auch Friedrich und wurde sehr bald zu einem Musterkind und Musterschüler. Janz berichtet in seiner Nietzsche-Biographie von einer Szene, die das Ausmaß der Selbstverleugnung deutlich illustriert. Von einem starken Regen auf dem Heimweg nach der Schule überrascht, hat das Kind Nietzsche seinen Schritt nicht beschleunigt, sondern ging langsam aufrecht weiter. Als Erklärung sagte der Junge, daß man "beim Verlassen der Schule ruhig und gesittet nach Hause gehen müsse. Das verlange das Reglement." (C.-P. Janz 1978) Welche Dressur mußte wohl diesem Benehmen vorausgegangen sein?

Das Kind beobachtet seine Umgebung und kann nicht verhindern, daß in ihm kritische Gedanken aufsteigen. Diese dürfen aber niemals geäußert und müssen – wie auch alle anderen unfrommen Gedanken – mit aller Kraft unterdrückt werden. Dazu kommt, daß in der Umgebung des Kindes ständig die christlichen Werte der Nächstenliebe und des Mitleids gepredigt werden. Gleichzeitig macht es täglich die Erfahrung, daß mit ihm niemand Erbarmen hat, wenn es geschlagen wird, niemand sieht, daß es leidet. Niemand hilft ihm, obwohl um es herum so viele Personen damit beschäftigt sind, christliche Tugenden auszuüben. Was sind nun diese Tugenden wert? muß sich das Kind immer wieder fragen. Bin ich nicht auch der "Nächste", der Liebe verdient? Aber schon solche Fragen könnten neue Prügel provozieren. Was bleibt also anderes übrig, als auch diese Fragen für sich zu behalten und mit ihnen noch mehr als bisher allein zu bleiben, weil man sie mit niemandem teilen darf?

Aber die Fragen sind nicht verschwunden. Später, viel später, nachdem die Schulen beendet und die Autoritäten, die Professoren, nicht mehr zu fürchten sind, weil Nietzsche selbst Professor geworden ist, brechen die Fragen und unterdrückten Gefühle aus dem 20jährigen Gefängnis aus. Sie verschafften sich inzwischen die Legitimität, indem sie ein Ersatzobjekt gefunden haben. Es sind nicht die wahren Verursacher seiner Wut, nicht die Tanten, nicht die Großmutter, nicht die Mutter, denen Nietzsches Kritik hier gilt, sondern die Werte der Philologie. Trotzdem braucht es Mut dazu, denn es sind Werte, die allen Philologen bisher heilig waren.

Doch Nietzsche greift auch Werte an, die ihm selbst früher teuer waren, die von seiner Umgebung aber nicht respektiert wurden, wie zum Beispiel die "Wahrheit", symbolisiert in der Person des Sokrates. Wie ein junger Mensch in der Pubertät zunächst alles bisher Geliebte ablehnen muß, um neue Werte aufzubauen, tritt Nietzsche, der nie eine pubertäre Revolution erlebte, der als Zwölfjähriger gefällige Eintragungen in sein Tagebuch machte, mit 25 Jahren an, die Kultur, in der er beheimatet war, anzugreifen, zu verspotten, ins Absurde zu verkehren. Und dies nicht mit den Mitteln eines heranwachsenden Jugendlichen, sondern mit Hilfe des hochentwickelten Intellektes eines Philologen und Philosophieprofessors.

Daß diese Sprache Kraft hat und imponiert, ist nur allzu gut begreiflich. Es handelt sich nicht um ein leeres Gerede, das abgedroschene revolutionäre Parolen aufgreift, sondern um eine bei einem Philologen selten anzutreffende Verknüpfung von originellen Gedanken mit heftigen Gefühlen, die unmittelbar einleuchten.

Man ist gewohnt, Nietzsche als einen Vertreter der Spätromantik zu sehen und seine Lebensphilosophie dem Einfluß von Schopenhauer zuzuschreiben. Es ist aber kein Zufall, welche Menschen uns im Erwachsenenalter beeinflussen, und Nietzsches Beschreibung der Euphorie, die er empfand, als er das Hauptwerk Schopenhauers aufschlug und zu lesen begann, zeigt, daß er nicht ohne Grund in ihm eine verwandte Welt entdeckt hat. Wenn er als Jugendlicher in seiner Familie frei hätte sprechen dürfen, dann hätte er möglicherweise weder Schopenhauer noch vor allem die germanischen Helden, Richard Wagner und die "blonde Bestie" gebraucht. Er hätte seine eigenen, differenzierteren Worte gefunden, um zu sagen: Ich ertrage die Ketten nicht, die mir täglich auferlegt werden, meine schöpferischen Kräfte sind in Gefahr, vernichtet zu werden. Ich brauche meine ganze Energie, um sie zu retten, um mich hier zu behaupten. Ich kann euch ja nichts entgegenhalten, das ihr verstehen könnt. In dieser engen, verlogenen Welt kann ich nicht leben. Und doch kann ich euch nicht verlassen. Ich kann euch nicht entbehren, ich bin noch ein Kind, auf euch angewiesen. Deshalb seid ihr so übermächtig, obwohl so schwach im Grunde. Es braucht Heldenmut und übermenschliche Qualitäten, übermenschliche Kraft, um diese Welt zusammenzustampfen, die mich am Leben hindert. Ich habe diese Kraft nicht, ich bin zu schwach und habe Angst, euch weh zu tun, aber ich verachte die Schwäche in mir und die Schwäche in euch, die mich zum Mitleid zwingt. Ich verachte jede Form von Schwäche, die mich am Leben hindert. Ihr habt mein Leben mit Zwängen umstellt, zwischen Schule und Zuhause gibt es nirgends einen Freiraum, außer vielleicht in der Musik, aber das genügt mir nicht. Ich muß Worte gebrauchen können. Ich muß sie herausschreien können. Eure Moral und eure Vernunft sind für mich ein Gefängnis, in dem ich ersticke, und dies am Anfang meines Lebens, in dem ich so vieles zu sagen hätte.

All diese Worte sind in Nietzsches Hals und Kopf steckengeblieben, und kein Wunder, daß er schon in der Kindheit, und vor allem in der Schulzeit, fortdauernd unter schweren Kopfschmerzen, Halsentzündungen und rheumatischen Erkrankungen gelitten hat. Was sich nicht nach außen artikulieren durfte, blieb im Körper als dauernde Spannung wirksam. Später konnten sich die kritischen Gedanken gegen abstrakte Begriffe wie Kultur, Christentum, Banausentum, bürgerliche Werte richten. Da lief man nicht Gefahr, durch die Kritik jemanden umzubringen (denn jedes gut erzogene Kind hat Angst, seine bösen Worte könnten die geliebten Menschen töten). Im Vergleich mit dieser Gefahr ist die Kritik der abstrakten Gesellschaft auch dann harmlos, wenn ihre Vertreter darüber empört sind. Ihnen steht man nicht wie ein hilfloses, schuldiges Kind gegenüber, man kann sich mit Hilfe intellektueller Argumente verteidigen und auch angreifen – Mittel, die einem Kind meist nicht zur Verfügung stehen und auch dem Kind Nietzsche nicht zur Verfügung standen.

Und doch stammen die präzisen Beobachtungen unseres Kultursystems und der christlichen Moral sowie die Heftigkeit der Empörung darüber nicht erst aus der Zeit philosophischer Analysen, sondern aus den ersten Lebensjahren Nietzsches. In dieser Zeit hat er das System beobachtet, damals hat er unter ihm gelitten, als Sklave und Liebender zugleich, damals war er an eine Moral gekettet, die er verachtete, und wurde von Menschen gequält, deren Liebe er brauchte. Gewiß war das nicht die einzig mögliche, aber auch nicht die schlechteste Art, mit dem berechtigten brennenden Zorn fertig zu werden, indem er ihn auf das ganze Christentum richtete, um das Elternhaus zu schonen und die Idealisierung der Eltern aufrechtzuerhalten. Hätte Friedrich Nietzsche nicht die ersten guten Jahre neben seinem Vater verbracht und später nicht die Möglichkeit gehabt, zu musizieren und gute Schulen zu besuchen, wer weiß, was er mit seinem Haß hätte machen müssen? Auf jeden Fall haben seine früh gespeicherten Beobachtungen vielen Menschen geholfen, Dinge zu sehen, die sie bisher nie gesehen haben. Das vom einzelnen Erfahrene und Erlebte kann trotz der subjektiven Quelle Allgemeingeltung haben, weil das früh und minutiös beobachtete System der Familie und der Erziehung die ganze Gesellschaft repräsentiert.

Verwirrung

Doch neben dieser positiven Seite hatte Nietzsches Art der "Bewältigung" seines Kindheitsschicksals eine verheerende, verhängnisvolle Wirkung, weil er das, was ihm am meisten zu schaffen machte, als Waffe gegen die Welt benutzte: die Verwirrung. So wie er zunächst durch die schreckliche Krankheit des Vaters und später immer wieder durch den unerträglichen Widerspruch zwischen gepredigter Moral und faktischem Verhalten aller Bezugspersonen in seiner Familie und in der Schule aufs tiefste verwirrt wurde, so verwirrt er zuweilen den Leser, vermutlich ohne es zu wissen. Dieses Gefühl des Verwirrtseins hatte ich, als ich nach drei Jahrzehnten wieder in Nietzsches Werken zu lesen begann. Vor dreißig Jahren hätte ich diese Gefühle sicherlich übergangen, weil ich nur darauf bedacht gewesen wäre, zu verstehen, was Nietzsche meinte. Jetzt aber ließ ich mich von diesem Gefühl leiten. Da konnte ich feststellen, daß es auch anderen Menschen ähnlich erging, auch wenn sie das Wort "Verwirrung" nicht gebrauchten und den Grund dieser Gefühle nicht einem Wiederholungszwang von Nietzsche, sondern einem Mangel an Bildung, Intelligenz oder Tiefsinn bei sich selbst zuschrieben. Genau diese Haltung lernen wir ja von Kind auf: Wenn die "Großen" (Klügeren) Ungereimtheiten, Widersprüche und Absurditäten mit selbstverständlicher Gebärde verkünden, wie sollten autoritär erzogene Kinder merken, daß dies nicht die höchste Weisheit ist? Sie werden sich alle Mühe geben, sie als solche anzusehen, und werden ihre Zweifel tief vor sich selbst verbergen. So lesen viele Menschen heute die Schriften des großen Nietzsche. Sie nehmen die Verwirrung auf ihr eigenes "Konto" und erweisen ihm die Reverenz, wie er es als Kind mit seinem kranken Vater getan haben mag.

Obwohl ich diese Zusammenhänge erkannte, weil ich das Gefühl der Verwirrtheit zugelassen habe, halte ich dieses Gefühl nicht für meine private Angelegenheit. Ich habe eine Stelle bei Richard Blunck gefunden, der sich vier Jahrzehnte lang mit Nietzsches Schriften und Leben beschäftigte und der meine Erfahrung indirekt bestätigt. Da ein großer Teil seiner Materialiensammlung im Krieg zerstört worden war, konnte er die geplante große Nietzsche-Biographie nicht mehr selbst herausgeben und überließ die weitere Arbeit Curt-Paul Janz. Dort stehen in der Einleitung zur dreibändigen Biographie die folgenden Worte von Richard Blunck:

Wer zum ersten Male, wie wir vor vierzig Jahren, auf ein Buch Nietzsches stößt, spürt sofort, daß hier mehr angefordert wird als der Verstand, daß es hier um mehr geht, als dem Gedanken eines anderen von Voraussetzung zu Folge und von Begriff zu Begriff zu folgen, um zu "Wahrheiten" zu kommen. Er fühlt sich vielmehr in ein ungeheures Kraftfeld geraten, von dem Erschütterungen ausgehen, die weit tieferer Natur sind, als daß man ihnen beikommen könnte mit dem Fangnetz des Verstandes allein. Er wird weniger von Meinungen und Erkenntnissen betroffen als von einem Menschen, der hinter diesen Meinungen und Erkenntnissen steht. Gegen sie wird er sich vielfach zur Wehr setzen, wenn er etwas zu verteidigen hat; aber dem Menschen, der sie ausspricht, und dem Kraftfeld, das er darstellt, wird er sich nie wieder ganz entziehen können. Geht er nur den Meinungen nach, wie sie sich ihm in herrischen Sätzen entgegenstellen, ja bisweilen ihn förmlich überfallen, so wird er bald das Gefühl haben, in einem Labyrinth zu sein, in dessen vielverzweigten Gängen ihm unermeßliche Reichtümer, aber auch das drohende Gesicht des Menschenopfer fordernden Minotaurus erscheinen. Er wird vor den wahrsten Wahrheiten zu stehen vermeinen, die das Herz der Dinge treffen; aber im nächsten Buche heben sich diese wahrsten Wahrheiten selbst auf, und er fühlt sich nur in einen neuen Gang des Labyrinths gestoßen. Dennoch wird er, wenn er wachen Wesens ist und nicht nur tastenden Verstandes, die Gewißheit nie verlieren, dem Leben und seinem eigentlichsten Gesicht näher zu sein als bei jedem anderen Denker. Was sich ihm mitteilt, in aller Widersprüchlichkeit der Ansichten und der Standpunkte, ist eine tiefere und höhere geistige Macht, die nicht gebunden ist an Standpunkte und Wahrheiten, sondern diese immer wieder unterwindet und überwindet im Dienste einer Wahrhaftigkeit, die kein Gesetz kennt als sich selbst und das ewig strömende, sich verwandelnde und neu schaffende Leben.

Eine solche Wahrhaftigkeit aber ist keine Eigenschaft des sammelnden Wissens und ordnenden Verstandes, so wenig sie ihrer entraten mag, sondern eine der sittlichen Persönlichkeit, der Tapferkeit des Herzens und der Unerschrockenheit und Unermüdlichkeit des Geistes. Sie muß gelebt und gelitten sein, wenn sie im Denken jene Wucht erhalten soll, die das Werk Nietzsches zeigt. Und weil sie, verbunden mit der größten Empfänglichkeit für alle Möglichkeiten des europäischen Geistes und zugleich ihrer kritischen Durchdringung, verbunden auch mit der Tiefe der Schau in das Wesen des Menschen und prophetischer Hell- und Weitsicht, sich hier in einem Maße zeigt, wie es die Geschichte des abendländischen Denkens nicht ein zweites Mal bietet, geht uns das Leben und Werk Nietzsches so mächtig an, ein Leben und Werk, das unter der Peitsche dieser Wahrhaftigkeit ein einziger, ruheloser Kampf war gegen eine immer mehr in hoffnungslose Verlogenheit verfallende Zeit, gegen das eigene Glück, den Ruhm und selbst das liebende Herz, eine Tat, deren Reinheit und Notwendigkeit von keiner noch so mißverständlichen oder gar furchtbaren Wirkung getrübt und aufgehoben werden kann. (Richard Blunck, in: C.-P. Janz 1978, S. 10)

Der Autor dieser Zeilen, der im Grunde der Wahrheit sehr nahe war, aber in den Labyrinthen steckenblieb, konnte schon aus Gründen der eigenen Erziehung nicht den lebensgeschichtlichen Ursprüngen dieser Labyrinthe weiter nachgehen, und hätte er es dennoch wagen können, so wäre seine Existenz und Arbeit im Dritten Reich bestimmt höchst gefährdet gewesen. Denn damals war Nietzsche groß in Mode. Seine Verehrung des "barbarischen Helden" wurde wörtlich verstanden und in all ihren entsetzlichen Konsequenzen gelebt. Doch gerade die Art, wie die Nationalsozialisten Nietzsches Einfälle und Formulierungen für ihre Zwecke adaptiert haben, zeigt, wie gefährlich ein Verfahren sein kann, das die letzten Teile einer lebensgeschichtlichen Kette für sich allein betrachtet und für das Entstehen dieser Kette uninteressiert und blind bleibt.

Heute betonen Nietzsches Biographen immer wieder, daß seine Gedanken und sein Leben, wie wohl bei keinem anderen Philosophen, sehr eng miteinander verknüpft seien. Doch es finden sich selten Hinweise auf die Kindheit, obwohl doch ein Leben ohne die Kenntnis der Kindheit unverständlich bleibt. Die Biographie von Curt-Paul Janz, die insgesamt 1977 Seiten umfaßt und erst 1978 erschien, widmet der Kindheit von Nietzsche nach Abzug der Ahnengeschichte weniger als zehn Seiten, weil die Bedeutung der Kindheit für das spätere Leben noch sehr umstritten ist und folglich auf diesem Gebiet noch kaum recherchiert wurde. Die Forscher suchen in allem, was Nietzsche geschrieben hat, nicht lebensgeschichtliche, sondern philosophiegeschichtliche Zusammenhänge. Sogar Nietzsches Leben, seine Krankheit und ihr tragisches Ende sind bisher nie auf dem Hintergrund seiner Kindheit untersucht worden, geschweige denn sein Werk.

Indessen scheint es mir heute unschwer erkennbar, daß Nietzsches Werk ein hoffnungsloser und doch bis zur Geistesauflösung nie aufgegebener Versuch war, sich vom Gefängnis seiner Kindheit, vom Haß auf die ihn erziehenden und quälenden Personen zu befreien. Dieser Haß und die Angst vor ihm mußten um so stärker werden, je weniger es Nietzsche im Leben gelungen ist, sich von den realen Personen, der Mutter und der Schwester, unabhängig zu machen. Es ist bekannt, daß Nietzsches Schwester viele seiner Briefe gefälscht herausgegeben hat, daß sie unermüdlich gegen seine Interessen intrigierte und nicht ruhte, bis seine Beziehung mit Lou von Salomé in die Brüche ging. Sowohl Mutter wie Schwester brauchten Friedrichs Abhängigkeit von ihnen bis zu seinem Ende. Da das einst perfekt erzogene Kind früh gelernt hat, sich nicht zu wehren und statt dessen seine wahren Gefühle zu bekämpfen, konnte der Erwachsene seinen Weg zur realen Befreiung nicht finden. Das Schreiben gab ihm immer wieder die Illusion der Befreiung, weil er auf der symbolischen Ebene tatsächlich Schritte zur Befreiung machte. Er machte sie auch im realen Leben, aber nur sofern es sich nicht um die eigene Familie handelte. Er hatte zum Beispiel den Mut, nachdem er erkrankt war, die Professur in Basel aufzugeben, um das System freier kritisieren zu können. Er wurde frei, das zu schreiben, was er aus einer inneren Notwendigkeit heraus schreiben mußte, ohne sich der Universität anpassen zu müssen. Aber in gewisser Weise war dies immer noch eine Ersatzlösung, solange die dahinterliegende Idealisierung des Elternhauses nicht aufgedeckt werden konnte, weil ihn die wahren, aus seiner Kindheit stammenden Gefühle (der Zorn, die Angst, die Verachtung, die Ohnmacht, die Befreiungswünsche, die Zerstörungswut und die verzweifelte Abhängigkeit von den Verfolgern) nicht in Ruhe ließen und immer neue Ersatzobjekte verlangten.

Die Mutter

In mehreren Briefen an die Freunde Friedrich Nietzsches beschreibt die Mutter den Zustand des Kranken, um den sie sich aufopfernd und wie um ein kleines Kind bemühte, nachdem Nietzsche seine geistigen Kräfte vollständig eingebüßt hatte. An einer Stelle berichtet sie davon, daß Nietzsche mit einem heiteren Gesicht fürchterliche Schreie von sich gab. Ob diese Information zuverlässig ist, kann man nicht wissen, weil Mütter den Gesichtsausdruck ihrer Kinder nicht selten so interpretieren, wie es ihren Wünschen entspricht. Aber wenn die Beobachtung der Mutter korrekt war, dann kann man sich das so erklären, daß hier das ganz kleine Kind endlich in Gegenwart der Mutter so laut schreien durfte, wie es ihm früher nie möglich gewesen war, und daß es die endlich erreichte Toleranz der Mutter genoß. Denn der Schrei eines Erwachsenen ist wohl kaum ohne ein schmerzverzerrtes Gesicht denkbar.

Es gibt Frauen, die mit ihren Kindern freundlicher umgehen können, sobald die Kinder zum Beispiel infolge einer Geistes- oder Gehirnkrankheit nicht mehr zum Denken, das heißt zum Kritischsein fähig sind. Sie sind noch nicht tot, aber sie sind hilflos und ganz von der Mutter abhängig. Wenn eine solche Frau einst vor allem zur Pflichterfüllung erzogen wurde, fühlt sie sich in der aufopfernden Haltung gut und edel. Wenn sie als Kind die eigene Kritik unterdrücken mußte, wird sie sich ärgern, sobald der Sohn oder die Tochter ihr gegenüber kritische Gedanken äußert. Von einem behinderten Kind hingegen fühlt sie sich weniger in Frage gestellt. Dazu wird ihre Aufopferung von der Gesellschaft auch noch bewundert und beachtet. Es ist daher sehr wahrscheinlich, daß Nietzsches Mutter, die bei seiner Geburt achtzehn Jahre alt war und sogar von den wohlwollenden Biographen als kalt, dumm und uninteressiert beschrieben wird, in seinen letzten Jahren, als er seine Freunde nicht mehr erkannte und kaum sprechen konnte, tatsächlich ihren Sohn in aufopfernder Weise umsorgte.

Richard Wagner (Der Vater, die Verführung und die Enttäuschung)

Um die einzelnen Inszenierungen in Nietzsches Leben im Zusammenhang mit seiner Kindheit aufzuzeigen, wäre nicht nur ein sehr genaues Studium seiner Briefe notwendig, auch die bloßen Fakten müßten aus den zahlreichen Fälschungen durch die Schwester erst eruiert werden. Ich könnte mir vorstellen, daß jeder, der sich nicht scheut, den Zusammenhang zur Kindheit herzustellen, sehr viel Neues bei einer solchen Aufgabe entdecken könnte. So könnte man zum Beispiel der Frage nachgehen, ob Nietzsches Beziehung zu Richard Wagner, dem um dreißig Jahre Älteren, nicht eine Neuauflage der verdrängten, tragischen Erfahrungen mit dem plötzlich erkrankten Vater war. Der Umstand, daß sich seine anfängliche Bewunderung und Begeisterung so plötzlich in Enttäuschung, Ablehnung und radikale Abwendung wandelte, legt diese Vermutung nahe. Die Enttäuschung setzte ein, als Wagner "Parzifal" komponierte und für Nietzsche dadurch die Werte des Altgermanischen zugunsten der ihm so suspekten christlichen "verriet". Erst in diesem Moment wurden ihm schwache Seiten an Richard Wagner plötzlich klar bewußt, Seiten, die er bisher in seiner Idealisierung übersehen hatte.

In der umfangreichen Nietzsche-Literatur habe ich vergeblich nach Informationen gesucht, die beschreiben würden, wie das viereinhalbjährige, sehr intelligente Kind die Tatsache der elfmonatigen Gehirnerkrankung seines Vaters erlebt hatte. In Ermangelung der Angaben mußte ich mich also dem späteren Leben zuwenden und hier Anhaltspunkte suchen. Ich meine, daß ich sie in Nietzsches Beziehung zu Richard Wagner gefunden habe. Wie groß auch die Enttäuschung des reifen Mannes Nietzsche am Werk Richard Wagners sein mochte, sie hätte niemals dieses Ausmaß an Spott und Verachtung heraufbeschworen (zumal Wagner Nietzsche persönlich nichts angetan hat und ihm sogar sehr zugetan war), wenn Richard Wagners Persönlichkeit und Musik nicht an den Vater und an die Not seiner frühen Kindheit gemahnt hätten.

Das ganze Werk Richard Wagners und die Atmosphäre in Bayreuth, die ihm in seiner Jugend Heimat bedeutet haben, empfindet Nietzsche von einem bestimmten Zeitpunkt an als eine gigantische Lüge. Das einzige, was er Wagner nicht absprechen kann, ist seine schauspielerische Begabung, die er aber nicht als Kompliment versteht, denn er definiert die Psychologie und die Moral des Schauspielers folgendermaßen:

... Was als wahr wirken soll, darf nicht wahr sein [...] Wagners Musik ist niemals wahr. Aber man hält sie dafür; und so ist es in Ordnung. (Werke III, S. 366)

Da werden, meint er, heilige, edle, große und gute Gefühle vorgespielt, Ideale vorgegaukelt, die mit den wahren Gefühlen eines lebendigen Menschen kaum etwas zu tun haben. Diese findet Nietzsche in Carmen von Bizet, in der Ambivalenz, im "Töten aus Liebe". Er schaut sich die Oper mehrmals mit Begeisterung an. Er erlebt Carmen wie eine Befreiung von der Lüge, die seit den Jugendjahren in Bayreuth, aber auch schon seit der Kindheit an ihm klebte. Und nun ist der Angriff auf seinen einst bewunderten, väterlichen Freund, Richard Wagner, total. Er kann jetzt nichts Gutes mehr an ihm finden und haßt ihn von ganzem Herzen, wie ein tief verletztes Kind. Der Haß wird genährt von der Verzweiflung und Trauer, daß er sich so lange hatte täuschen lassen, daß er so lange jemanden bewundert hatte, der ihm jetzt verachtungswürdig vorkam. Wieso hatte er die hinter der Fassade liegende Schwäche nicht schon früher durchschaut, wie hatte er sich so täuschen lassen können?

Nietzsche erlebt sich als Opfer einer Verführung, die es jetzt mit allen Mitteln zu entlarven gilt. Er hält die anderen für naive Bewunderer und kann nicht begreifen, daß diese weiter nach Bayreuth reisen und sich dort von einer Lüge hypnotisieren lassen, nachdem er selbst sie durchschaut hatte. Dieser Schmerz kommt in seinen Anwürfen gegen Richard Wagner immer wieder zum Vorschein: er möchte die Welt vor einer großen Täuschung bewahren und die Wagnerianer aufrütteln; er möchte sie auf sich selbst und auf ihre eigenen echten Erlebnisse zurückführen, wie dies Zarathustra tut, als er es ablehnt, Jünger zu haben.

Obwohl Nietzsches Angriffe aus der einst unterdrückten Wut auf den Vater und andere Bezugspersonen der Kindheit ihre Intensität beziehen, weisen sie keine logischen Schwächen auf, die ihre Wurzeln im kindlichen Ressentiment verraten würden. Was er über Wagner schreibt und mit Beispielen belegt, ist derart überzeugend (wenn auch vermutlich nicht für Wagnerianer), daß es unabhängig von dem subjektiven, gefühlsbetonten Hintergrund der Beobachtungen Anspruch auf Objektivität behält. Ich meine, daß Nietzsches scharfe Beobachtungsgabe auch schon eine Vorgeschichte in der Beziehung zum Vater hat, dessen Musik das kleine Kind mit der größten Hingabe, Bewunderung und Begeisterung erlebte. Nun war aber dieser Vater nicht nur der Musiker am Klavier, sondern auch der Erzieher, der zwar bestimmte Gefühle (wie eben Begeisterung für sein Spiel) gutheißen konnte, andere aber schwer bestrafte.

Vielleicht gelang es dem Kind, die zwei verschiedenen Seiten des Vaters hinzunehmen und die Strafen zu übersehen, solange er immer wieder zu ihm kommen durfte und dessen Musik in sich aufnehmen konnte. Als aber der Vater krank wurde, als sich das Kind vollständig von einem Tag auf den anderen von ihm fallengelassen fühlte, da hätten die überwältigenden Gefühle der Enttäuschung, der Wut, der Scham über das Verführtworden- und Verlassensein durchbrechen müssen, wenn ... wenn das Kind nicht schon früher gelernt hätte, daß man solche Gefühle nicht zeigen darf. Und wenn es nicht jetzt lauter Erzieherinnen vor sich gehabt hätte ("Wagnerianerinnen"), die seine Gefühle verdammten und unter strengster Kontrolle hielten. Diese Gefühle mußten also jahrzehntelang warten, bis sie einem anderen Musiker gegenüber erlebt werden konnten.

Und nun sind die Schärfe und Treffsicherheit der Beobachtungen durch die Gefühle nicht nur nicht beeinträchtigt, sondern sie scheinen im Gegenteil durch sie noch verstärkt. So hätte das Kind Nietzsche sprechen können, wenn man es ihm nicht unmöglich gemacht hätte: Ich glaube deiner Musik nicht, wenn du mich zugleich für meine echten Gefühle schlagen und bestrafen kannst. Wenn diese Musik nicht trügt, wenn sie wirklich die Wahrheit ausdrückt, dann darf ich von dir erwarten, daß du die Gefühle deines Kindes respektierst. Sonst stimmt etwas nicht, sonst ist die Musik, die ich mit allen Poren in mich aufgenommen habe, eine Lüge. Ich will es in die Welt hinausschreien, damit nicht auch noch andere, zum Beispiel meine kleinen Geschwister, Opfer dieser Verführung werden. Wenn deine Theologie, deine Predigten, deine Worte die Wahrheit gesagt hätten, müßtest du mich ganz anders behandelt haben, hättest nicht verständnislos meinem Leiden zuschauen können, weil ich auch "der Nächste" bin, den man lieben soll. Du hättest mich nicht für meine Tränen bestraft, mich nicht allein mein Elend ohne Beistand ertragen lassen, mir nicht das Sprechen verboten, wenn du ein redlicher, glaubwürdiger Mensch gewesen wärest. Nach allem, was mir zugestoßen ist, sind deine Begriffe von Güte, Nächstenliebe, Erlösung leer und falsch; alles, was ich bisher geglaubt habe, ist nur Theater, in dem nichts Reales zu finden ist. Was ich erlebe, ist real, und was du gesagt hast, müßte sich an dieser Realität messen lassen. Aber gemessen an der Realität erweisen sich deine Worte als pure Schauspielerei. Du genießt es, ein Kind zu haben, das dir zuhört und dich bewundert. Es befriedigt deine Bedürfnisse. Das merken die anderen nicht und meinen, daß du ihnen wirklich etwas zu bieten hättest. Ich habe es aber gemerkt, ich habe deine Bedürftigkeit erraten, nur durfte ich es nicht sagen.

Das Kind durfte es nicht. Beim Vater nicht. Als Erwachsener aber sagt er es Richard Wagner, er schreibt es geradeheraus. Und die Welt nimmt das Geschriebene ernst. Aber sowohl Nietzsche als auch "die Welt" hinterfragen das Geschriebene nicht.

Nietzsches Frauenhaß

Im Gegensatz zur Gültigkeit seiner Kritik am Wagner-Betrieb, an der bürgerlichen Kultur und an der christlichen Moral sind Nietzsches Vorstellungen vom "weiblichen Wesen" oft groteske Verzerrungen; aber dies nur, solange die wahren Adressatinnen unerkannt bleiben. Friedrich Nietzsche stand in seiner Kindheit nur erziehenden Frauen gegenüber und mußte seine ganze Kraft aufwenden, um dies auszuhalten. Dies zahlt er ihnen dann zurück, doch bloß auf der symbolischen Ebene, indem er alle Frauen angreift, nur nicht Mutter und Schwester. Die wahren Verursacherinnen seiner Leiden bleiben unantastbar.

Nietzsches Frauenhaß wird aber verständlich, wenn man bedenkt, wieviel Mißtrauen sich in diesem einst so häufig ausgepeitschten Kind ansammeln mußte, das später, als Erwachsener, in seiner blinden und verantwortungslosen Wut schrieb:

Du gehst zu Frauen? Vergiß die Peitsche nicht!

Diese meine Verknüpfung beruht auf den Schriften der "Schwarzen Pädagogik", die ich 1980 zitiert habe und in denen ausführlich gezeigt wird, wie man ein Kind zu hintergehen, zu betrügen und zu manipulieren hat, wenn man es gut und fromm haben will. (A. Miller 1980, S. 17 ff.)

Es besteht kein Zweifel, daß Nietzsche nach den Prinzipien der "Schwarzen Pädagogik" erzogen worden war. Daher kann er den Manipulationen und Unehrlichkeiten seiner Schwester gegenüber nur selten sein Unbehagen zeigen, er darf nicht sehen, wie sie wirklich ist. Tut er es, dann nimmt er das Gesagte schnell wieder zurück. Er kann zwar einmal sagen, er würde ihre Stimme schlecht ertragen, fügt aber gleich hinzu, daß er im Grunde nie an ihrem Wohlwollen, an ihren Absichten, an ihrer Liebe zu ihm, an ihrer Glaubwürdigkeit wirklich gezweifelt hätte. Er kann es nicht, weil er nur diese eine Schwester hat, weil er glauben möchte, daß sie ihn liebt und daß diese Liebe mehr bedeutet als Ausbeutung und Geltungsbedürfnis um jeden Preis. Hätte er sehen dürfen, wie seine Schwester war, dann hätte er die Verallgemeinerung nicht nötig gehabt. Er hätte nicht alle Frauen an sich global als Hexen und Schlangen erlebt und sie nicht allesamt zu hassen brauchen.

Der Faschismus (Die braune Bestie)

Es geht mir hier nicht darum, Nietzsches Leben aus seiner Kindheit zu erklären, sondern seine Philosophie auf dem Hintergrund seiner Kindheitserfahrungen zu verstehen. Die prägende Erfahrung bestand in der Verachtung des Schwachen und dem Gehorsam gegenüber dem Machtausübenden. Dieses scheinbar harmlose, so vielen Menschen aus der Kindheit bekannte Prinzip, ist der Kern jeder faschistischen Ideologie. Die Erfahrung der Brutalität in der Kindheit führt beim Anhänger des Faschismus, egal welcher Prägung, zur Blindheit seinem Führer gegenüber und zur Brutalität gegenüber Schwächeren. Daß sich damit auch die Sehnsucht nach der Befreiung der schöpferischen Kräfte, die im System der "Schwarzen Pädagogik"bei jedem Kind unterdrückt werden, verbünden kann, sehen wir an Nietzsche sehr deutlich, aber auch zum Beispiel an bestimmten Äußerungen von C. G. Jung (vgl. A. Miller 1981, S. 113-115). Der Drang der menschlichen Kreatur nach dem Leben und dem Sich-entfalten-Dürfen ist hier gekoppelt mit der Stimme des introjizierten einstigen Verfolgers. Wie einst der Schrei des Kindes in den Prinzipien der "Schwarzen Pädagogik" erstickte, so erstickt auch der Ruf nach dem Leben in der Brutalität des Faschismus. Das introjizierte System verbündet sich mit dem Anliegen des Kindes und führt zu destruktiven Ideologien, die jeden faszinieren können, sofern er eine ähnliche Erziehung genossen hat. Nicht Nietzsches Schriften sind daher gefährlich, sondern das Erziehungssystem, aus dem er und seine Leser hervorgegangen sind. Seine Leser haben seine scheinbare Philosophie des Lebens in die Ideologie des Todes umwandeln können, weil sie im Grunde nie vom Tod getrennt war.

Es ist kein Zufall, daß gerade Also sprach Zarathustra zum berühmtesten Werk Nietzsches wurde, weil der verwirrte Leser im Stil Zarathustras zumindest einen äußeren Rahmen gefunden hat, der ihm seit seiner Kindheit vertraut war: der Stil des Predigers. Wie vertraut, wenn auch in neuem sprachlichem Gewande, mußte ihm der Kampf ums Leben gegen die Abtötung im Gehorsam gewesen sein. Immer wieder kreist Nietzsche um diese Alternative (F. Nietzsche 1976):

Dem Lebendigen ging ich nach, ich ging die größten und die kleinsten Wege, daß ich seine Art erkenne. (Seite 116)

Mit hundertfachem Spiegel fing ich noch seinen Blick auf, wenn ihm der Mund geschlossen war: daß sein Auge mir rede. Und sein Auge redete mir.

Aber, wo ich nur Lebendiges fand, da hörte ich auch die Rede vom Gehorsame. Alles Lebendige ist ein Gehorchendes.

Und dies ist das zweite: dem wird befohlen, der sich nicht selber gehorchen kann. So ist es des Lebendigen Art. Dies aber ist das dritte, was ich hörte: daß Befehlen schwerer ist als Gehorchen. Und nicht nur, daß der Befehlende die Last aller Gehorchenden trägt, und daß leicht ihn diese Last zerdrückt: – Ein Versuch und Wagnis erschien mir in allem Befehlen; und stets, wenn es befiehlt, wagt das Lebendige sich selber dran.

Ja noch, wenn es sich selber befiehlt, auch da noch muß es sein Befehlen büßen. Seinem eignen Gesetze muß es Richter und Rächer und Opfer werden.

Wie geschieht dies doch! so fragte ich mich. Was überredet das Lebendige, daß es gehorcht und befiehlt und befehlend noch Gehorsam übt? (S. 117, Hervorhebungen AM)
Und dies Geheimnis redete das Leben selber zu mir: "Siehe", sprach es, "ich bin das, was sich immer selber überwinden muß.

Freilich, ihr heißt es Wille zur Zeugung oder Trieb zum Zwecke, zum Höheren, Ferneren, Vielfacheren: aber all dies ist eins und ein Geheimnis.

Lieber noch gehe ich unter, als daß ich diesem Einen absagte; und wahrlich, wo es Untergang gibt und Blätterfallen, siehe, da opfert sich Leben – um Macht!

Daß ich Kampf sein muß und Werden und Zweck und der Zwecke Widerspruch: ach, wer meinen Willen errät, errät wohl auch, auf welchen krummen Wegen er gehen muß! Was ich auch schaffe und wie ich’s auch liebe, – bald muß ich Gegner ihm sein und meiner Liebe: so will es mein Wille. Und auch du, Erkennender, bist nur ein Pfad und Fußtapfen meines Willens: wahrlich, mein Wille zur Macht wandelt auch auf den Füßen deines Willens zur Wahrheit!

Der traf freilich die Wahrheit nicht, der das Wort nach ihr schoß vom "Willen zum Dasein": diesen Willen – gibt es nicht!
Denn: was nicht ist, das kann nicht wollen; was aber im Dasein ist, wie könnte das noch zum Dasein wollen!

Nur, wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern – so lehre ich’s dich – Wille zur Macht!

Vieles ist dem Lebenden höher geschätzt als Leben selber; doch aus dem Schätzen selber heraus redet – der Wille zur Macht!" –
Also lehrte mich einst das Leben: und daraus löse ich euch, ihr Weisesten, noch das Rätsel eures Herzens.

Wahrlich, ich sage euch: Gutes und Böses, das unvergänglich wäre – das gibt es nicht! Aus sich selber muß es sich immer wieder überwinden.

Mit euren Werten und Worten von Gut und Böse übt ihr Gewalt, ihr Wertschätzenden; und dies ist eure verborgene Liebe und eurer Seele Glänzen, Zittern und Überwallen.

Aber eine stärkere Gewalt wächst aus euren Werten und eine neue Überwindung: an der zerbricht Ei und Eierschale.

Und wer ein Schöpfer sein muß im Guten und Bösen: wahrlich, der muß ein Vernichter erst sein und Werte zerbrechen.
Also gehört das höchste Böse zur höchsten Güte: diese aber ist die schöpferische. –

Reden wir nur davon, ihr Weisesten, ob es gleich schlimm ist. Schweigen ist schlimmer; alle verschwiegenen Wahrheiten werden giftig. (Hervorhebung AM) Und mag doch alles zerbrechen, was an unseren Wahrheiten zerbrechen – kann! Manches Haus gibt es noch zu bauen! Also sprach Zarathustra. (S. 118/119)

Es gibt aber auch Stellen im Zarathustra, die diese tragische Vermengung von Gut und Böse zu überwinden scheinen und eindeutig die Erkennenden zum "Zerbrechen der alten Tafeln" aufrufen.

Sie geben nach, diese Guten, sie ergeben sich, ihr Herz spricht nach, ihr Grund gehorcht: wer aber gehorcht, der hört sich selber nicht!

Alles, was den Guten böse heißt, muß zusammenkommen, daß eine Wahrheit geboren werde: o meine Brüder, seid ihr auch böse genug zu dieser Wahrheit?

Das verwegene Wagen, das lange Mißtrauen, das grausame Nein, der Überdruß, das Schneiden ins Lebendige – wie selten kommt das zusammen! Aus solchem Samen aber wird – Wahrheit gezeugt!

Neben dem bösen Gewissen wuchs bisher alles Wissen! Zerbrecht, zerbrecht mir, ihr Erkennenden, die alten Tafeln! (S. 201)

Wie böse und hart muß sich ein Kind vorkommen, das sich treu bleibt und das, was es wahrnimmt und sieht, nicht verrät.

Warum so weich, so weichend und nachgebend? Warum ist so viel Leugnung, Verleugnung in eurem Herzen? So wenig Schicksal in eurem Blicke?

Und wollt ihr nicht Schicksale sein und Unerbittliche: wie könntet ihr mit mir – siegen?

Und wenn eure Härte nicht blitzen und scheiden und zerschneiden will: wie könntet ihr einst mit mir – schaffen? Die Schaffenden nämlich sind hart. Und Seligkeit muß es euch dünken, eure Hand auf Jahrtausende zu drücken wie auf Wachs, –

Seligkeit, auf dem Willen von Jahrtausenden zu schreiben wie auf Erz, – härter als Erz, edler als Erz. Ganz hart ist allein das Edelste.
Diese neue Tafel, o meine Brüder, stelle ich über euch: werdet hart! – (S. 217)

Wie schwer und wie notwendig zugleich ist es, nein sagen zu können:

Mit dem Sturme, welcher "Geist" heißt, blies ich über deine wogende See; alle Wolken blies ich davon, ich erwürgte selbst die Würgerin, die "Sünde" heißt.

O meine Seele, ich gab dir das Recht, nein zu sagen wie der Sturm, und ja zu sagen, wie offner Himmel ja sagt: still wie Licht stehst du und gehst du nun durch verneinende Stürme.

O meine Seele, ich gab dir die Freiheit zurück über Erschaffnes und Unerschaffnes: und wer kennt, wie du sie kennst, die Wollust des Zukünftigen?

O meine Seele, ich lehrte dich das Verachten, das nicht wie ein Wurmfraß kommt, das große, das liebende Verachten, welches am meisten liebt, wo es am meisten verachtet.

O meine Seele, ich lehrte dich so überreden, daß du zu dir die Gründe selber überredest: der Sonne gleich, die das Meer noch zu ihrer Höhe überredet.

O meine Seele, ich nahm von dir alles Gehorchen, Kniebeugen und Herr-Sagen; ich gab dir selber den Namen "Wende der Not" und "Schicksal". (S. 225, Hervorhebungen AM)

Aber das gesuchte Leben ist voller Gefahren, die schönsten Phantasien durch früheste Erfahrungen und Drohungen verdunkelt:

Zweimal nur regtest du deine Klapper mit kleinen Händen – da schaukelte schon mein Fuß vor Tanz-Wut. –

Meine Fersen bäumten sich, meine Zehen horchten, dich zu verstehen: trägt doch der Tänzer sein Ohr – in seinen Zehen! Zu dir hin sprang ich: da flohst du zurück vor meinem Sprunge; und gegen mich züngelte deines fliehenden fliegenden Haars Zunge!

Von dir weg sprang ich und von deinen Schlangen: da standst du schon, halbgewandt, das Auge voll Verlangen.

Mit krummen Blicken – lehrst du mich krumme Bahnen; auf krummen Bahnen lernt mein Fuß – Tücken!

Ich fürchte dich nahe; ich liebe dich ferne; deine Flucht lockt mich, dein Suchen stockt mich – ich leide, aber was litt ich um dich nicht gerne!
Deren Kälte zündet, deren Haß verführt, deren Flucht bindet, deren Spott – rührt:

– wer haßte dich nicht, dich große Binderin, Umwinderin, Versucherin, Sucherin, Finderin! Wer liebte dich nicht, dich unschuldige, ungeduldige, windseilige, kindsäugige Sünderin!

Wohin ziehst du mich jetzt, du Ausbund und Unband? Und jetzt fliehst du mich wieder, du süßer Wildfang und Undank!

(S. 228, Hervorhebungen AM)

Ich tanze dir nach, ich folge dir auch auf geringer Spur. Wo bist du? Gib mir die Hand! Oder einen Finger nur!

Hier sind Höhlen und Dickichte: wir werden uns verirren! –

Halt! Steh still! Siehst du nicht Eulen und Fledermäuse schwirren?

Du Eule! Du Fledermaus! Du willst mich äffen? Wo sind wir?

Von den Hunden lerntest du dies Heulen und Kläffen.

Du fletschest mich lieblich an mit weißen Zähnlein, deine bösen Augen springen gegen mich aus lockichtem Mähnlein! Das ist ein Tanz über Stock und Stein: ich bin der Jäger – willst du mein Hund oder meine Gemse sein?

Jetzt neben mir! Und geschwind, du boshafte Springerin! Jetzt hinauf! Und hinüber – Wehe! Da fiel ich selber im Springen hin!

O sieh mich liegen, du Übermut, und um Gnade flehn! Gerne möchte ich mit dir – lieblichere Pfade gehn!

– der Liebe Pfade durch stille bunte Büsche! Oder dort am See entlang: da schwimmen und tanzen Goldfische!

Du bist jetzt müde? Da drüben sind Schafe und Abendröten: ist es nicht schön, zu schlafen, wenn Schäfer flöten?

Du bist so arg müde? Ich trage dich hin, laß nur die Arme sinken! Und hast du Durst – ich hätte wohl etwas, aber dein Mund will es nicht trinken! –

– O diese verfluchte flinke gelenke Schlange und Schlupfhexe! Wo bist du hin? Aber im Gesicht fühle ich von deiner Hand zwei Tupfen und rote Klexe!

Ich bin es wahrlich müde, immer dein schafichter Schäfer zu sein! Du Hexe, habe ich dir bisher gesungen, nun sollst du mir – schrein! –

Nach dem Takt meiner Peitsche sollst du mir tanzen und schrein! Ich vergaß doch die Peitsche nicht? – Nein! (S. 229)

Die Schlange und die Hexe dürfen gehaßt und gepeitscht werden, aber nicht Mutter, Großmutter oder Tanten. Die Gefühle von Zorn, Empörung und Mißtrauen sind dennoch unüberhörbar. Sie können sich auch auf den Pöbel beziehen, der die gleiche symbolische Funktion wie die Schlange und Hexe hat.

Ist dies Heute nicht des Pöbels? Pöbel aber weiß nicht, was groß, was klein, was gerade und redlich ist: der ist unschuldig krumm, der lügt immer.

Habt heute ein gutes Mißtrauen, ihr höheren Menschen, ihr Beherzten! Ihr Offenherzigen! und haltet eure Gründe geheim! Dies Heute nämlich ist des Pöbels.

Was der Pöbel ohne Gründe einst glauben lernte, wer könnte ihm durch Gründe das – umwerfen?

Und auf dem Markte überzeugt man mit Gebärden. Aber Gründe machen den Pöbel mißtrauisch.

Und wenn da einmal die Wahrheit zum Siege kam, so fragt euch mit gutem Mißtrauen: "welch starker Irrtum hat für sie gekämpft?" (S. 292)

Und immer wieder versucht Nietzsche, sich aus dem Nebel der verwirrenden moralischen Prinzipien zur Klarheit durchzuringen.

Laßt euch nichts vorreden, einreden! Wer ist denn euer Nächster? Und handelt ihr auch "für den Nächsten" – ihr schafft doch nicht für ihn!

Verlernt mir doch dies "Für", ihr Schaffenden: eure Tugend gerade will es, daß ihr kein Ding mit "für" und "um" und "weil" tut. Gegen diese falschen kleinen Worte sollt ihr euer Ohr zukleben.

Das "für den Nächsten" ist die Tugend nur der kleinen Leute: da heißt es "gleich und gleich" und "Hand wäscht Hand" – sie haben nicht Recht noch Kraft zu eurem Eigennutz!

In eurem Eigennutz, ihr Schaffenden, ist der Schwangeren Vorsicht und Vorsehung! Was niemand noch mit Augen sah, die Frucht: die schirmt und schont und nährt eure ganze Liebe.

Wo eure ganze Liebe ist, bei eurem Kinde, da ist auch eure ganze Tugend! Euer Werk, euer Wille ist euer "Nächster": laßt euch keine falschen Werte einreden! (S. 293)

Der Aufruf zum Krieg hat für Nietzsche im Grunde auch nur eine symbolische Bedeutung. Er meint nichts anderes als Kampfansage an den tötenden Zwang, die Lüge, die Feigheit, die sein Leben in der Kindheit so schmerzhaft eingeengt haben.

Frei steht noch großen Seelen ein freies Leben. Wahrlich, wer wenig besitzt, wird um so weniger besessen: gelobt sei die kleine Armut!
Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht überflüssig ist: da beginnt das Lied des Notwendigen, die einmalige und unersetzliche Weise. (S. 54, Hervorhebung AM)

Und der Mensch, der sein ganzes Leben von der Mutter und der Schwester abhängig war, schreibt:

Wollt ihr hoch hinaus, so braucht die eigenen Beine, laßt Euch nicht empor tragen, setzt Euch nicht auf fremde Rücken und Köpfe. (S. 292)

In seinen Gedanken saß Nietzsche nicht auf den Rücken anderer, aber in seinem Leben erlaubte er den nächsten Menschen, bis an sein Ende auf seinem Rücken zu sitzen. Und somit hat er das Leben für die Weisheit eingetauscht:

Damals aber war mir das Leben lieber, als je alle meine Weisheit. (S. 231)

Nachdem er nun aber die Weisheit besaß und seinen Verlust realisierte, schrieb er in einem Brief an Franz Overbeck vom 22.02.1883:

Nein! Dieses Leben! Und ich bin der Fürsprecher des Lebens! (Werke IV, S. 794)

Er war es nur theoretisch, im Schreiben. Das Leben leben durfte er nicht. Am 14. Januar 1880 schreibt Nietzsche an Malwida von Meysenbug:
Denn die furchtbare und fast unablässige Marter meines Lebens läßt mich nach dem Ende dürsten, und nach einigen Anzeichen ist mir der erlösende Hirnschlag nahe genug, um hoffen zu dürfen. (Werke IV, S. 752)

Und im Jahre 1887 sagte er zu Paul Deussen die sehr bezeichnenden Worte:

Ich glaube, daß es nicht mehr lange mit mir dauern wird. Ich bin jetzt in den Jahren, in welchen mein Vater starb und ich fühle, daß ich demselben Leiden erliegen werde wie er. (P. Deussen 1901)

Die medizinische Diagnose seiner Erkrankung lautete "progressive Paralyse", und die Biographen scheint es zu beruhigen, wenn sie "feststellen" können, daß die späte Erkrankung Nietzsches mit seinen früher belegten Krankheiten aus der Schulzeit "überhaupt nichts zu tun hatte". Die 118 Anfälle in einem Jahr (1879) waren offenbar reine "Zufälle", denn Nietzsche war doch nach der Meinung vieler Biographen bis zum Ausbruch seiner progressiven Paralyse kerngesund. Mögen die Biographen ihre Meinungen auch "wissenschaftlich-medizinisch" belegen, mir ist selten die Folgerichtigkeit eines Lebens von seinem Anfang bis zum Ende so deutlich vor Augen getreten, wie Nietzsches Briefe und Werke sie vermitteln können.

"Warum ich so weise bin"

Aus Nietzsches Texten spricht zuweilen etwas, das auf den ersten Blick als Größenwahn bezeichnet werden könnte und das leicht auf den gut erzogenen Leser eine abstoßende Wirkung ausübt. Ein Autor nannte dies Nietzsches Gotteskomplex, und es gibt Stellen in Ecce homo und in den Briefen, die tatsächlich auf einen solchen Komplex hinweisen. Wie läßt sich diese "Überheblichkeit" bei einem so kritischen und selbstkritischen Geist wie Nietzsche verstehen, wenn man die üblichen moralisierenden Etiketten nicht anwenden möchte? Wer die autobiographischen Aufzeichnungen des zwölf- und vierzehnjährigen Nietzsche gelesen hat, wird es kaum für möglich halten, daß diese von dem gleichen Menschen geschrieben worden sind, dessen spätere Werke er kennt. Nicht weil sie so kindlich, sondern weil sie so erwachsen sind. Vieles, was in diesen Aufzeichnungen steht, hätte auch von Nietzsches Tanten, seiner Großmutter oder seinem Vater geschrieben werden können, und im gleichen Stil. Es ist farblos und bescheiden, wie es sich gehört. Die Gefühle wirken unecht, kraftlos, manchmal theatralisch, aber meistens unwahr. Man spürt, daß das, was wirklich erlebt wird, völlig im Untergrund leben muß, ohne sich auch nur mit einem Satz oder auch nur mit einem Wort zu verraten.

Aber dieser Junge, der mit zwölf Jahren wie ein Erwachsener schreibt, ist auch zu anderen Dingen fähig. Und was geschieht mit seinem Stolz, mit seiner Gewißheit, daß er mehr versteht als seine Umgebung? Hätte Nietzsche diesen Stolz damals zum Ausdruck gebracht, so hätte er gegen eine wichtige christliche Tugend, die Bescheidenheit, gesündigt. Er hätte mit Sicherheit Ablehnung und Entrüstung geerntet. So muß er als Kind das gesunde, begreifliche Gefühl der Freude an seinem Wissen und der Trauer über das Alleinsein mit diesem Wissen unterdrücken und kann es erst viel später, zum Beispiel in Ecce homo, zum Ausdruck bringen. Aber auch hier, im Wiederholungszwang, tut er das in einer Art, die die Umgebung nicht tolerieren kann. Damit bringt er sich in die Lage des "Sünders", eines Menschen, der gegen die Normen der Gesellschaft, zum Beispiel die Norm der Bescheidenheit, verstößt. Zweifellos erntet er die moralische Entrüstung sowohl der Zeitgenossen als auch der Nachwelt, was er aber gerne in Kauf nimmt, vermutlich sogar genießt, weil er sich durch dieses Wagnis befreit fühlt. Eine andere Art der Befreiung, das Wissen in der Gemeinschaft, kennt er nicht. Er hat nie erfahren, daß man die Wahrheit sagen kann, ohne sich zu bestrafen, ohne den Mitmenschen Mittel an die Hand zu geben, die ihnen erlauben, das Gesagte mit dem Wort "Größenwahn" zu entwerten. Er war stets mit seinem Wissen allein gewesen.

Aber das, was uns als Größenwahn bei Nietzsche entgegenkommt, hat vermutlich auch noch andere Wurzeln als nur den inneren Zwang zum Provozieren. Nietzsche war das älteste Kind, und auch später, nach der Geburt seiner Schwester, konnte er nicht damit rechnen, daß jemand seine Erlebnisse und Wahrnehmungen, vor allem im Zusammenhang mit dem durch die Krankheit veränderten Vater, teilen würde. So fühlte er sich mit seinen Entdeckungen allein und konnte nicht die Erfahrung machen, daß man Entdeckungen mit der Umgebung gefahrlos teilen kann. Hätte er ältere Geschwister gehabt, so wären ihm vielleicht seine Wahrnehmungen nicht zum Verhängnis geworden. Vielleicht hätte er ab und zu zumindest mit einem verständnisvollen Blick eines Bruders oder einer älteren Schwester rechnen können. So aber war er immer nur der Alleinwissende, das heißt auch soviel wie der mit dem Wissen Alleingelassene, was nicht unbedingt nur Stolz hervorruft, sondern auch Gefühle von Trauer bewirken kann. Wie Nietzsche seine Umgebung empfunden hat, läßt sich an den zahlreichen Stellen erkennen, in denen er das Christentum charakterisiert. Man muß nur für das Wort Christentum "meine Tanten" oder "meine Familie" einsetzen, und die massiven Angriffe bekommen plötzlich einen Sinn:

Im Christentume kommen die Instinkte Unterworfner und Unterdrückter in den Vordergrund: Es sind die niedersten Stände, die in ihm ihr Heil suchen. Hier wird als Beschäftigung als Mittel gegen die Langeweile die Kasuistik der Sünde, die Selbstkritik, die Gewissens-Inquisition, geübt; hier wird der Affekt gegen einen mächtigen "Gott" genannt, beständig aufrechterhalten (durch das Gebet); hier gilt das Höchste als unerreichbar, als Geschenk, als "Gnade". Hier fehlt auch die Öffentlichkeit; der Versteck, der dunkle Raum ist christlich. Hier wird der Leib verachtet, die Hygiene als Sinnlichkeit abgelehnt; die Kirche wehrt sich selbst gegen die Reinlichkeit ... Christlich ist ein gewisser Sinn der Grausamkeit gegen sich und andre; der Haß gegen die Andersdenkenden; der Wille, zu verfolgen. Düstere und aufregende Vorstellungen sind im Vordergrunde; die höchstbegehrten mit den höchsten Namen bezeichneten Zustände sind Epilepsoiden; die Diät wird so gewählt, daß sie morbide Erscheinungen begünstigt und die Nerven überreizt. Christlich ist die Todfeindschaft gegen die Herren der Erde, gegen die "Vornehmen" – und zugleich ein versteckter, heimlicher Wettbewerb ( – man läßt ihnen den "Leib", man will nur die "Seele" ...). Christlich ist der Haß gegen den Geist, gegen Stolz, Mut, Freiheit, libertinage des Geistes; christlich ist der Haß gegen die Sinne, gegen die Freuden der Sinne, gegen die Freuden überhaupt ... (Werke in, S. 626/627)

Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, wie sehr das Kind Nietzsche unter den Meinungen und Behauptungen seiner Umgebung gelitten hat, vor allem als Kind unter der Ablehnung seiner sinnlichen Bedürfnisse, seiner Leiblichkeit; unter ständigen moralischen Forderungen wie Reue, Frömmigkeit, Nächstenliebe, Keuschheit, Gottesfurcht, Treue, Reinheit, Hingebung. Für ihn waren das, und mit Recht, nur leere Begriffe, die sich allem entgegensetzten, was ihm Leben bedeutete, was jedem Kind Leben bedeutet, und in denen er den "Haß gegen das Natürliche (– die Wirklichkeit! –)" sah (Werke III, S. 621). Nietzsche meint, die christliche Welt sei eine Fiktionswelt, sie sei

der Ausdruck eines tiefen Mißbehagens am Wirklichen ... Aber damit ist alles erklärt. Wer allein hat Gründe, sich wegzulügen aus der Wirklichkeit? Wer an ihr leidet. Aber an der Wirklichkeit leiden heißt eine verunglückte Wirklichkeit sein ... (Werke III, S. 621)

Könnten das nicht auch Spekulationen des Kindes über seine unverheirateten, wohltätigen Tanten gewesen sein, deren Erziehung vor allem darauf ausgerichtet war, im Kind das Lebendige abzutöten, das in ihrem eigenen Leben getötet worden war? Wenn man hinter der von Nietzsche beschriebenen "verschlagenen" Moral des Christentums die Prinzipien seiner eigenen Erziehung sieht, dann kann man unschwer im "vornehmen Herrenmenschen" das noch in seinen Gefühlen verwurzelte und dadurch starke, lebendige, lautere Kind sehen, das in Gefahr ist, seine Lebendigkeit den Prinzipien der Erziehung opfern zu müssen. Liest man mit diesem Schlüssel den Antichrist, gewinnen die vorher verwirrenden Sätze ihre klare Bedeutung. Dafür nur einige Beispiele:

Wenn zum Beispiel ein Glück darin liegt, sich von der Sünde erlöst zu glauben, so tut als Voraussetzung dazu nicht not, daß der Mensch sündig sei, sondern daß er sich sündig fühlt. Wenn aber überhaupt vor allem Glaube not tut, so muß man die Vernunft, die Erkenntnis, die Forschung in Mißkredit bringen: Der Weg zur Wahrheit wird zum verbotnen Weg. – Die starke Hoffnung ist ein viel größeres Stimulans des Lebens als irgendein einzelnes wirklich eintretendes Glück. Man muß Leidende durch eine Hoffnung aufrecht erhalten, welcher durch keine Wirklichkeit widersprochen werden kann – welche nicht durch eine Erfüllung abgetan wird: eine Jenseits-Hoffnung. (Werke III, S. 629)

Um Nein sagen können zu allem, was die aufsteigende Bewegung des Lebens, die Wohlgeratenheit, die Macht, die Schönheit, die Selbstbejahung auf Erden darstellt, mußte hier sich der Genie gewordne Instinkt des ressentiment eine andre Welt erfinden, von wo aus jene Lebens-Bejahung als das Böse, als das Verwerfliche an sich erschien. (Werke III, S. 630)

Psychologisch nachgerechnet, werden in jeder priesterlich organisierten Gesellschaft die "Sünden" unentbehrlich: sie sind die eigentlichen Handhaben der Macht, der Priester lebt von den Sünden, er hat nötig daß "gesündigt" wird ... oberster Satz: "Gott vergibt dem, der Buße tut" – auf deutsch: der sich dem Priester unterwirft. (Werke III, S. 634)

Wie anders ist der Ton, wenn Nietzsche über die Person Jesu spricht:

Ich wehre mich, nochmals gesagt, dagegen, daß man den Fanatiker in den Typus des Erlösers einträgt ...; der Glaube, der hier laut wird, ist kein erkämpfter Glaube – er ist da, er ist von Anfang, er ist gleichsam eine ins Geistige zurücktretende Kindlichkeit ... Ein solcher Glaube zürnt nicht, tadelt nicht, wehrt sich nicht: er bringt nicht "das Schwert" – er ahnt gar nicht, inwiefern er einmal trennen könnte. Er beweist sich nicht, weder durch Wunder noch durch Lohn und Verheißung, noch gar "durch die Schrift": er selbst ist jeden Augenblick sein Wunder, sein Lohn, sein Beweis, sein "Reich Gottes". Dieser Glaube formuliert sich auch nicht – er lebt, er wehrt sich gegen Formeln. (Werke III, S. 640)

Die Bejahung der Person des Erlösers schließt aber nicht aus, daß Nietzsche gegenüber den Priestern und der Kirche Ekelgefühle äußert:

[...] die Begriffe "Jenseits", "Jüngstes Gericht", "Unsterblichkeit der Seele", die "Seele" selbst: es sind Folter-Instrumente, es sind Systeme von Grausamkeiten, vermöge deren der Priester der Herr wurde, Herr blieb ... Jedermann weiß das: und trotzdem bleibt alles beim alten. (Werke III, S. 645)

Von Anfang an bedienten sich die Priester des Erlösers für ihre Machtbedürfnisse:

[...] mit Paulus wollte nochmals der Priester zur Macht – er konnte nur Begriffe, Lehren, Symbole brauchen, mit denen man Massen tyrannisiert, Herden bildet. Was allein entlehnte später Mohammed dem Christentum? Die Erfindung des Paulus, sein Mittel zur Priester-Tyrannei, zur Herden-Bildung: den Unsterblichkeits-Glauben; das heißt die Lehre vorn "Gericht" ... (Werke III, S. 650)

Die große Lüge von der Personal-Unsterblichkeit zerstört jede Vernunft, jede Natur im Instinkte – alles, was wohltätig, was lebenfördernd, was zukunftsverbürgend in den Instinkten ist, erregt nunmehr Mißtrauen. So zu leben, daß es keinen Sinn mehr hat zu leben, das wird jetzt zum "Sinn" des Lebens ... daß kleine Mucker, und Dreiviertels-Verrückte sich einbilden dürfen, daß um ihretwillen die Gesetze der Natur beständig durchbrochen werden – eine solche Steigerung jeder Art Selbstsucht ins Unendliche, ins Unverschämte kann man nicht mit genug Verachtung brandmarken. Und doch verdankt das Christentum dieser erbarmungswürdigen Schmeichelei vor der Personal-Eitelkeit seinen Sieg. (Werke III, S. 651)

Der Priester kennt nur eine große Gefahr: das ist die Wissenschaft – der gesunde Begriff von Ursache und Wirkung.

Der Mensch soll nicht hinaus –, er soll in sich hineinsehn, er soll nicht klug und vorsichtig, als Lernender, in die Dinge sehn, er soll überhaupt gar nicht sehn: er soll leiden ... Und er soll so leiden, daß er jederzeit den Priester nötig hat ... Ein Priester-Attentat! Wenn die natürlichen Folgen einer Tat nicht mehr "natürlich" sind, sondern durch Begriffs-Gespenster des Aberglaubens, durch "Gott", durch "Geister", durch "Seelen" bewirkt gedacht werden, als bloß "moralische" Konsequenzen, als Lohn, Strafe, Wink, Erziehungsmittel, so ist die Voraussetzung zur Erkenntnis zerstört. (Werke III, S. 660)

Ich habe diese Zitate unter verschiedenen Gesichtspunkten ausgesucht. Sie scheinen mir deutlich die Gefühle des Erwachsenen Nietzsche gegenüber dem Christentum zum Ausdruck zu bringen und vermitteln auch dem dafür sensibilisierten Leser die unbewußten, weil in der Kindheit verdrängten Gefühle den ersten Bezugspersonen gegenüber. Außerdem zeigen diese Zitate die Methoden und Prinzipien der Erziehung, die Nietzsche als Kind bereits erfahren haben mußte, ohne sie benennen zu können. Es ist immer wieder zunächst die Verachtung des Lebendigen, der Sinnlichkeit, des Kreativen, die Bekämpfung des Wohlbefindens im Kinde zugunsten der Reue und der Schuldgefühle. Die Unterdrückung des eigenen Denkens, der Kritikfähigkeit, des Bedürfnisses, in Zusammenhängen zu verstehen (Wissenschaft), des Bedürfnisses nach Freiheit, Spontaneität. Nicht nur Gehorsam und Unterwerfung wurden gepredigt, sondern auch noch die sogenannte "Wahrheitsliebe", was ja pure Heuchelei ist, denn das Kind, dem es verboten ist, sich kritisch zu äußern, wird ja auch noch zur ständigen Lüge gezwungen. Diese Pervertierung der Werte ist es, die Nietzsches Zorn immer wieder bewirkte und die er mit seinen paradoxen Formulierungen fühlbar machen möchte, um mit diesem Zorn nicht mehr allein zu sein.

Die Verherrlichung des Bösen (Lebendigsein ist böse)

Nietzsche betrachtet sich als Verfechter des Bösen nur in einem bestimmten Zusammenhang: als Gegensatz zu dem, was Menschen "gut" nennen. So schreibt er:

Wenn das Herdentier im Glanze der reinsten Tugend strahlt, so muß der Ausnahme-Mensch zum Bösen heruntergewertet sein. Wenn die Verlogenheit um jeden Preis das Wort "Wahrheit" für ihre Optik in Anspruch nimmt, so muß der eigentlich Wahrhaftige unter den schlimmsten Namen wiederzufinden sein. (Werke III, S. 601/602)

Und einige Zeilen weiter oben zitiert er Zarathustra:

Falsche Künste und Sicherheiten lehrten euch die Guten, in Lugen der Guten wart ihr geboren und geborgen. Alles ist in den Grund hinein verlogen und verbogen durch die Guten ... Die Guten – die können nicht schaffen, sie sind immer der Anfang vom Ende – sie kreuzigen den, der neue Werte auf neue Tafeln schreibt, sie opfern sich die Zukunft, sie kreuzigen aller Menschen-Zukunft! Die Guten – die waren immer der Anfang vom Ende ... Und was auch für Schaden die Welt-Verleumder tun mögen, der Schaden der Guten ist der schädlichste Schaden. (Werke III, S. 601)

Daß dieses Wissen aus Nietzsches Kindheitserfahrung stammt, bestätigen die folgenden Sätze:

Die Existenz-Bedingung der Guten ist die Lüge – : anders ausgedrückt, das Nicht-sehn-Wollen um jeden Preis, wie im Grunde die Realität beschaffen ist, nämlich nicht derart, um jederzeit wohlwollende Instinkte herauszufordern, noch weniger derart, um sich ein Eingreifen von kurzsichtigen, gutmütigen Händen jederzeit gefallen zu lassen. (Werke III, S. 600)

Dieses Wissen führt zu einer grenzenlosen Einsamkeit, die von Anfang an das Schicksal dieses Menschen war. Je mehr er über seine Umgebung verstand, um so mehr fühlte er sich von ihr getrennt, weil er seine Beobachtungen und Erlebnisse niemandem mitteilen konnte. Nachdem er es schließlich in Also sprach Zarathustra getan hatte und seine Hoffnung auf Verständnis und auf Aufnahme enttäuscht worden war, schrieb er in Ecce homo die folgenden Zeilen:

Abgesehen von diesen Zehn-Tage-Werken waren die Jahre während und vor allem nach dem Zarathustra ein Notstand ohnegleichen. Man büßt es teuer, unsterblich zu sein: man stirbt dafür mehrere Male bei Lebzeiten. – Es gibt etwas, das ich die rancune des Großen nenne; alles Große, ein Werk, eine Tat, wendet sich, einmal vollbracht, unverzüglich gegen den, der sie tat. Ebendamit, daß er sie tat, ist er nunmehr schwach – er hält seine Tat nicht mehr aus, er sieht ihr nicht mehr ins Gesicht. Etwas hinter sich zu haben, das man nie wollen durfte, etwas worin der Knoten im Schicksal der Menschheit eingeknüpft ist – und es nunmehr auf sich haben! ... Es zerdrückt beinahe ... Die rancune des Großen! – Ein andres ist die schauerliche Stille, die man um sich hört. Die Einsamkeit hat sieben Häute; es geht nichts mehr hindurch. Man kommt zu Menschen, man begrüßt Freunde: neue Öde, kein Blick grüßt mehr. Im besten Falle eine Art Revolte. Eine solche Revolte erfuhr ich, in sehr verschiedenem Grade, aber fast von jedermann, der mir nahestand; es scheint, daß nichts tiefer beleidigt als plötzlich eine Distanz merken zu lassen, – die vornehmen Naturen, die nicht zu leben wissen, ohne zu verehren, sind selten. – Ein Drittes ist die absurde Reizbarkeit der Haut gegen kleine Stiche, eine Art Hilflosigkeit vor allem Kleinen. Diese scheint mir in der ungeheuren Verschwendung aller Defensiv-Kräfte bedingt, die jede schöpferische Tat, jede Tat aus dem Eigensten, Innersten, Untersten heraus zur Voraussetzung hat. Die kleinen Defensiv-Vermögen sind damit gleichsam ausgehängt; es fließt ihnen keine Kraft mehr zu. – Ich wage noch anzudeuten, daß man schlechter verdaut, ungern sich bewegt, den Frostgefühlen, auch dem Mißtrauen allzu offensteht – dem Mißtrauen, das in vielen Fällen bloß ein ätiologischer Fehlgriff ist. In einem solchen Zustande empfand ich einmal die Nähe einer Kuhherde durch Wiederkehr milderer, menschenfreundlicherer Gedanken, noch bevor ich sie sah: Das hat Wärme in sich ... (Werke III, S. 579/580)

Nicht die Armut, sondern die innere Not ist schuld an Nietzsches Einsamkeit, denn was er sagt, können nur sehr wenige aufnehmen, und die hört er vielleicht nicht einmal. So zieht er es vor, allein zu sein als zusammen mit Menschen, die ihn nicht verstehen; und in diesem Alleinsein entstehen neue Gedanken, neue Entdeckungen, die, da sie auf seinen persönlichsten Erfahrungen beruhen und diese doch verhüllen, wiederum nicht leicht mit anderen zu teilen sind und die Einsamkeit und die Kluft zur Umgebung noch mehr vertiefen. Ein Prozeß, der bereits in der Kindheit begann, die aus ständigem Geben bestand. Das Kind war dazu da, um die andern zu verstehen, Geduld mit ihnen zu üben, ihnen alles nachzusehen, ihr Selbstgefühl zu bestätigen, aber niemals, um seinen Hunger nach Verständnis zu stillen. Die Tragik dieses Lösungsversuches, die Tragik des Schenkenden und des Durstenden beschreibt Nietzsche im Nachtlied:

Licht bin ich: ach daß ich Nacht wäre! Aber dies ist meine Einsamkeit, daß ich von Licht umgürtet bin.

Ach, daß ich dunkel wäre und nächtig! Wie wollte ich an den Brüsten des Lichts saugen!

Und euch selber wollte ich noch segnen, ihr kleinen Funkelsterne und Leuchtwürmer droben! – und selig sein ob eurer Licht-Geschenke.

Aber ich lebe in meinem eignen Lichte, ich trinke die Flammen in mich zurück, die aus mir brechen.

Ich kenne das Glück des Nehmenden nicht; und oft träumte mir davon, daß Stehlen noch seliger sein müsse als Nehmen. Das ist meine Armut, daß meine Hand niemals ausruht vom Schenken; das ist mein Neid, daß ich wartende Augen sehe und die erhellten Nächte der Sehnsucht.

O Unseligkeit aller Schenkenden! O Verfinsterung meiner Sonne! O Begierde nach Begehren! O Heißhunger in der Sättigung!

Sie nehmen von mir: aber rühre ich noch an ihre Seele? Eine Kluft ist zwischen Nehmen und Geben; und die kleinste Kluft ist am letzten zu überbrücken.

Ein Hunger wächst aus meiner Schönheit: wehetun möchte ich denen, welchen ich leuchte, berauben möchte ich meine Beschenkten – also hungere ich nach Bosheit.

Die Hand zurückziehend, wenn sich schon ihr die Hand entgegenstreckt: dem Wasserfall gleich, der noch im Sturze zögert – also hungere ich nach Bosheit.

Solche Rache sinnt meine Fülle aus, solche Tücke quillt aus meiner Einsamkeit.

Mein Glück im Schenken erstarb im Schenken, meine Tugend wurde ihrer selber müde an ihrem Überflusse! (Werke III, S. 583)

Aus diesem Gedicht spricht der Neid auf diejenigen, die nehmen können, die als Kind Liebe bekommen konnten, die sich in einer Gruppe geborgen fühlen können, die nicht dazu verdammt sind, in der Einsamkeit neue Welten zu erschließen, sie den anderen zu schenken und dafür deren Feindseligkeit zu ernten. Aber das Schicksal läßt sich nicht ändern. Wer nicht ohne Wahrheit leben will, muß auch die Kälte der Einsamkeit auf sich nehmen. Nietzsche schreibt:

Wieviel Wahrheit erträgt, wieviel Wahrheit wagt ein Geist? das wurde für mich immer mehr der eigentliche Wertmesser. Irrtum (– der Glaube ans Ideal –) ist nicht Blindheit, Irrtum ist Feigheit ... Jede Errungenschaft, jeder Schritt vorwärts in der Erkenntnis folgt aus dem Mut, aus der Härte gegen sich, aus der Sauberkeit gegen sich ... Ich widerlege die Ideale nicht, ich ziehe bloß Handschuhe vor ihnen an ... Nitimur in vetitum: in diesem Zeichen siegt einmal meine Philosophie, denn man verbot bisher grundsätzlich immer nur die Wahrheit. – (Werke III, S. 512)

"Man verbot bisher grundsätzlich immer nur die Wahrheit." Dieser Satz stimmt für die Menschheitsgeschichte wie für Nietzsches Elternhaus. Und weil er sich diesem Verbot nicht mehr fügen will noch kann, sucht er Zuflucht im Atheismus. Er will kein Nachbeter sein:

... – ich war vielleicht nie kindlich genug dazu? – Ich kenne den Atheismus durchaus nicht als Ergebnis, noch weniger als Ereignis: er versteht sich bei mir aus Instinkt. Ich bin zu neugierig, zu fragwürdig, zu übermütig, um mir eine faustgrobe Antwort gefallen zu lassen. Gott ist eine faustgrobe Antwort, eine Undelikatesse gegen uns Denker –, im Grunde sogar bloß ein faustgrobes Verbot an uns: ihr sollt nicht denken! ... (Werke III, S. 258)

Das Verbot zu denken, das sich das Kind jeden Abend nach dem Gebet und vor dem Einschlafen einzuprägen versuchte, richtet sich gegen das Leben, denn die Lebendigkeit der Gedanken wird zerstört, wenn man sie ständig kontrollieren, nach Erlaubtem und Verbotenem sortieren und den Dogmen anpassen muß.

Dieses letzte, freudigste, überschwänglich-übermütigste Ja zum Leben ist nicht nur die höchste Einsicht, es ist auch die tiefste, die von Wahrheit und Wissenschaft am strengsten bestätigte und aufrechterhaltene. Es ist nichts, was ist, abzurechnen, es ist nichts entbehrlich – die von den Christen und andren Nihilisten abgelehnten Seiten des Daseins sind sogar von unendlich höherer Ordnung in der Rangordnung der Werte als das, was der décadence-Instinkt gutheißen, gutheißen durfte. Dies zu begreifen, dazu gehört Mut und, als dessen Bedingung, ein Überschuß von Kraft: denn genau so weit als der Mut sich vorwärtswagen darf, genau nach dem Maß von Kraft nähert man sich der Wahrheit. Die Erkenntnis, das Jasagen zur Realität, ist für den Starken eine ebensolche Notwendigkeit, als für den Schwachen, unter der Inspiration der Schwäche, die Feigheit und Flucht vor der Realität – das "Ideal" ... Es steht ihnen nicht frei, zu erkennen: die décadents haben die Lüge nötig – sie ist eine ihrer Erhaltungs-Bedingungen. – Wer das Wort "dionysisch" nicht nur begreift, sondern sich in dem Wort "dionysisch" begreift, hat keine Widerlegung Platos oder des Christentums oder Schopenhauers nötig – er riecht die Verwesung ... (Werke III, S. 556)

Physiologen läßt ein solcher Wert-Gegensatz gar keinen Zweifel. Wenn innerhalb des Organismus das geringste Organ in noch so kleinem Maße nachläßt, seine Selbsterhaltung, seinen Kraftersatz, seinen "Egoismus" mit vollkommner Sicherheit durchzusetzen, so entartet das Ganze. Der Physiologe verlangt Ausschneidung des entarteten Teils, er verneint jede Solidarität mit dem Entarteten, er ist am fernsten vom Mitleiden mit ihm. Aber der Priester will gerade die Entartung des Ganzen, der Menschheit: darum konserviert er das Entartende – um diesen Preis beherrscht er sie ... Welchen Sinn haben jene Lügenbegriffe, die Hilfsbegriffe der Moral, "Seele", "Geist", "freier Wille", "Gott", wenn nicht den, die Menschheit physiologisch zu ruinieren? ... Wenn man den Ernst von der Selbsterhaltung, Kraftsteigerung des Leibes, das heißt des Lebens ablenkt, wenn man aus der Bleichsucht ein Ideal, aus der Verachtung des Leibes "das Heil der Seele" konstruiert, was ist das anderes, als ein Rezept zur décadence? – Der Verlust an Schwergewicht, der Widerstand gegen die natürlichen Instinkte, die "Selbstlosigkeit" mit einem Worte – das hieß bisher Moral ... Mit der "Morgenröte" nahm ich zuerst den Kampf gegen die Entselbstungs-Moral auf. – (Werke III, S. 572)

Nietzsche meint, daß die Renaissance die große Chance gewesen war, sich von der lebensverneinenden christlichen Moral zu befreien, und daß diese Chance durch Luther verdorben wurde:

Luther, dies Verhängnis von Mönch, hat die Kirche, und, was tausendmal schlimmer ist, das Christentum wiederhergestellt, im Augenblick, wo es unterlag ... Das Christentum, diese Religion gewordene Verneinung des Willens zum Leben! ... Luther, ein unmöglicher Mönch, der, aus Gründen seiner "Unmöglichkeit", die Kirche angriff und sie – folglich! – wiederherstellte ... Die Katholiken hätten Gründe, Lutherfeste zu feiern, Lutherspiele zu dichten ... Luther – und die "sittliche Wiedergeburt"! (Werke III, S. 594)

Die Entselbstungs-Moral ist die Niedergangs-Moral par excellence, die Tatsache, "ich gehe zugrunde" in den Imperativ übersetzt: "ihr sollt alle zugrunde gehn" – und nicht nur in den Imperativ! ... Diese einzige Moral, die bisher gelehrt worden ist, die Entselbstungs-Moral, verrät einen Willen zum Ende, sie verneint im untersten Grunde das Leben. – Hier bliebe die Möglichkeit offen, daß nicht die Menschheit in Entartung sei, sondern nur jene parasitische Art Mensch, die des Priesters, die mit der Moral sich zu ihren Wert-Bestimmern emporgelogen hat ... die in der christlichen Moral ihr Mittel zur Macht erriet ... Und die Tat, das ist meine Einsicht: die Lehrer, die Führer der Menschheit, Theologen insgesamt, waren insgesamt auch décadents: daher die Umwertung aller Werte ins Lebensfeindliche, daher die Moral ... Definition der Moral: Moral – die Idiosynkrasie von décadents, mit der Hinterabsicht, sich am Leben zu rächen – und mit Erfolg. Ich lege Wert auf diese Definition. – (Werke III, S. 604)

– Hat man mich verstanden? – Ich habe eben kein Wort gesagt, das ich nicht schon vor fünf Jahren durch den Mund Zarathustras gesagt hätte. – Die Entdeckung der christlichen Moral ist ein Ereignis, das nicht seinesgleichen hat, eine wirkliche Katastrophe. Wer über sie aufklärt, ist eine force majeure, ein Schicksal – er bricht die Geschichte der Menschheit in zwei Stücke. Man lebt vor ihm, man lebt nach ihm ... Der Blitz der Wahrheit traf gerade das, was bisher am höchsten stand: wer begreift, was da vernichtet wurde, mag zusehn, ob er überhaupt noch etwas in den Händen hat. Alles was bisher "Wahrheit" hieß, ist als die schädlichste, tückischste, unterirdischste Form der Lüge erkannt; der heilige Vorwand, die Menschheit zu "verbessern", als die List, das Leben selbst auszusaugen, blutarm zu machen. Moral als Vampyrismus ... Wer die Moral entdeckt, hat den Unwert aller Werte mit entdeckt, an die man glaubt oder geglaubt hat; er sieht in den verehrtesten, in den selbst heilig gesprochnen Typen des Menschen nichts Ehrwürdiges mehr. [...] Der Begriff "Gott" erfunden als Gegensatz-Begriff zum Leben – in ihm alles Schädliche, Vergiftende, Verleumderische, die ganze Todfeindschaft gegen das Leben in eine entsetzliche Einheit gebracht! Der Begriff "Jenseits", "wahre Welt" erfunden, um die einzige Welt zu entwerten, die es gibt – um kein Ziel, keine Vernunft, keine Aufgabe für unsre Erden-Realität übrigzubehalten? Der Begriff "Seele", "Geist", zuletzt gar noch "unsterbliche Seele", erfunden, um den Leib zu verachten, um ihn krank – "heilig" – zu machen, um allen Dingen, die Ernst im Leben verdienen, den Fragen von Nahrung, Wohnung, geistiger Diät, Krankenbehandlung, Reinlichkeit, Wetter, einen schauerlichen Leichtsinn entgegenzubringen! Statt der Gesundheit das "Heil der Seele" – will sagen eine folie circulaire zwischen Bußkrampf und Erlösungs-Hysterie! Der Begriff "Sünde" erfunden samt dem zugehörigen Folter-Instrument, dem Begriff "freier Wille", um die Instinkte zu verwirren, um das Mißtrauen gegen die Instinkte zur zweiten Natur zu machen. Im Begriff des "Selbstlosen", des "Sich-selbst-Verleugnenden" das eigentliche décadence-Abzeichen, das Gelocktwerden vom Schädlichen, das Seinen-Nutzen-nicht-mehr-finden-Können, die Selbst-Zerstörung zum Wertzeichen überhaupt gemacht, zur "Pflicht", zur "Heiligkeit", zum "Göttlichen" im Menschen! Endlich – es ist das Furchtbarste – im Begriff des guten Menschen die Partei alles Schwachen, Kranken, Mißratnen, An-sich-selber-Leidenden genommen, alles dessen, was zugrunde gehn soll –, das Gesetz der Selektion gekreuzt, ein Ideal aus dem Widerspruch gegen den stolzen und wohlgeratenen, gegen den jasagenden, gegen den zukunftsgewissen, zukunftverbürgenden Menschen gemacht – dieser heißt nunmehr der Böse ... Und das alles wurde geglaubt als Moral! – Ecrasez l’infâme! – (Werke III, S. 604/605)

Wüßte man nicht, daß Nietzsches Ahnen mehrere Generationen zurück auf beiden Seiten Theologen waren, so könnte zumindest das folgende Zitat zeigen, daß es sich hier nicht um pure Gedankenspiele eines Philosophen handelt, sondern um den bitteren Ernst von hautnahen Erfahrungen.

Es ist notwendig zu sagen, wen wir als unsern Gegensatz fühlen – die Theologen und alles, was Theologen-Blut im Leibe hat – unsre ganze Philosophie ... Man muß das Verhängnis aus der Nähe gesehn haben, noch besser, man muß es an sich erlebt, man muß an ihm fast zugrunde gegangen sein, um hier keinen Spaß mehr zu verstehn –. (Werke III, S. 615)

Die Bücher der Theologen las Nietzsche erst als Erwachsener. Aber der Haß auf die Lüge hat tiefere Wurzeln und verbindet sich mit dem Haß auf die "Weiber", die ihm als Kind das theologische Gut vermittelten:

[...] ... Darf ich anbei die Vermutung wagen, daß ich die Weiblein kenne? Das gehört zu meiner dionysischen Mitgift. Wer weiß? vielleicht bin ich der erste Psycholog des Ewig-Weiblichen. Sie lieben mich alle – eine alte Geschichte: die verunglückten Weiblein abgerechnet, die "Emanzipierten", denen das Zeug zu Kindern abgeht. – Zum Glück bin ich nicht willens, mich zerreißen zu lassen: das vollkommne Weib zerreißt, wenn es liebt ... Ich kenne diese liebenswürdigen Mänaden ... Ach, was für ein gefährliches, schleichendes, unterirdisches kleines Raubtier! Und so angenehm dabei! ... Ein kleines Weib, das seiner Rache nachrennt, würde das Schicksal selbst über den Haufen rennen. – Das Weib ist unsäglich viel böser als der Mann, auch klüger; Güte am Weibe ist schon eine Form der Entartung ... Bei allen sogenannten "schönen Seelen" gibt es einen physiologischen Übelstand auf dem Grunde – ich sage nicht alles, ich würde sonst medizynisch werden. Der Kampf um gleiche Rechte ist sogar ein Symptom von Krankheit: jeder Arzt weiß das. – Das Weib, je mehr Weib es ist, wehrt sich ja mit Händen und Füßen gegen Rechte überhaupt: der Naturzustand, der ewige Krieg zwischen den Geschlechtern gibt ihm ja bei weitem den ersten Rang. (Werke III, S. 551)

Doch das wütende Kind bleibt nicht bei den "Weibern" stehen, es greift deren Idol an. Denn alles, was die Frauen mit ihm gemacht haben, geschah ja im Namen Gottes:

Der christliche Gottesbegriff – Gott als Krankengott, Gott als Spinne, Gott als Geist – ist einer der korruptesten Gottesbegriffe, die auf Erden erreicht worden sind; er stellt vielleicht selbst den Pegel des Tiefstands in der absteigenden Entwicklung des Götter-Typus dar. Gott zum Widerspruch des Lebens abgeartet, statt dessen Verklärung und ewiges Ja zu sein! In Gott dem Leben, der Natur, dem Willen zum Leben die Feindschaft angesagt! Gott die Formel für jede Verleumdung des "Diesseits", für jede Lüge vom "Jenseits"! In Gott das Nichts vergöttlicht, der Wille zum Nichts heilig gesprochen! ... (Werke III, S. 624)

Nietzsche darf seine Gefühle, seine Wut, Empörung, Rachsucht, seinen Spott, seine Verachtung, die aus konkreten, tragischen Erfahrungen hervorgegangen sind, nicht auf Menschen richten, die ihm Leiden zufügten. Er darf nur Ideen angreifen oder abstrakte Menschen wie zum Beispiel "die Weiber".

Obwohl es unschwer zu erkennen ist, aus welchen Erfahrungen sein Zorn stammte, ihm selbst war dies nicht bewußt. Daher kann er auch schreiben:

Wenn ich dem Christentum den Krieg mache, so steht dies mir zu, weil ich von dieser Seite aus keine Fatalitäten und Hemmungen erlebt habe; die ernstesten Christen sind mir immer gewogen gewesen. Ich selber, ein Gegner des Christentums de rigueur bin ferne davon, es dem einzelnen nachzutragen, was das Verhängnis von Jahrtausenden ist. (Werke III, S. 525)

Tragischerweise darf Nietzsche dem einzelnen nicht nachtragen, was er "am Allgemeinen" beobachtet hat. Denn die lebendigen Wurzeln seiner Beobachtungen sind seinem Bewußtsein trotz allem Anschein verborgen geblieben. Im Labyrinth seiner Gedanken steckengeblieben, durfte er diese Wurzeln nicht finden. Der einzige erlaubte Ausweg war die geistige Umnachtung.

Philosophie als Schutz vor der Wahrheit

Wenn ich in den Werken Nietzsches, vor allem in der Schrift Der Antichrist, den nie gehörten Schrei des zornigen Kindes Nietzsche höre, den stummen, verzweifelten, aber doch auch gigantischen Kampf des verletzten, ausdrucksstarken Kindes mit der Verlogenheit, Stumpfheit, Leblosigkeit, Verworrenheit, Dummheit, Widersprüchlichkeit, Kraftlosigkeit seiner Erzieher wahrnehme, dann sollen damit Aussagen, die sich auf das Christentum beziehen, keineswegs in ihrem Gehalt relativiert, sondern nur deren lebendige Wurzeln aufgezeigt werden. Man könnte sich wie bei den Dichtern die Frage stellen: Hätte Nietzsche die Schrift Der Antichrist so schreiben können, wenn er das Leiden unter seiner Erziehung bewußt hätte erleben dürfen? Vermutlich hätte er dies nicht in dieser Form, nicht aus den aufgestauten Affekten heraus schreiben müssen, aber er hätte sicherlich eine andere ihm dann entsprechende Form gefunden, um das zu sagen, was er mit Hilfe seiner Gefühle entdeckt hatte. Wenn es nicht als eine abstrakte Analyse des Christentums geschrieben worden wäre, sondern als ein Bericht über das eigene, subjektive Leiden, hätten sich viele Menschen in diesem Bericht wiederentdeckt. Er wäre Anklage und Zeugnis über Zustände gewesen, die den meisten Menschen aus Erfahrung gut bekannt sind, ohne für sie greifbar zu sein. Denn diese Menschen besitzen nicht die Voraussetzungen Nietzsches, die Gefühle des Widerwillens, der Verachtung, des Ekels so einfühlbar zu schildern und deren Berechtigung so überzeugend herauszuarbeiten, wie Nietzsche es tat. Vermutlich wäre das Ergebnis dann kein philosophisches Werk gewesen, sondern ein autobiographischer Bericht, der anderen die Augen für Realitäten geöffnet hätte. Es wäre auch nicht möglich gewesen, Nietzsche ideologisch zu mißbrauchen, wenn seine Schriften direkt das Erfahrene erzählt hätten und es nicht in die symbolische Form (als Kampf gegen das abstrakte Christentum zum Beispiel) hätten verkleiden müssen (vgl. A. Miller 1988b, Kap. I,4 u. II,4).

Doch Nietzsche hatte gar keine Möglichkeit, einen solchen Bericht zu schreiben, weil die Inhalte, die er nur symbolisch zum Ausdruck bringen konnte, seinem Bewußtsein gar nicht zugänglich, also ihm in der direkten Form ohnehin gar nicht verfügbar waren. Sollte sich aber einmal unser Erziehungssystem lockern, sollte einmal das Gesetz "Du sollst nicht merken, was man dir in der Kindheit angetan hat" keine Gültigkeit mehr haben, dann wird sich zweifellos die Zahl der bisher so geschätzten "Kulturprodukte" verringern – angefangen bei unnötigen, unbrauchbaren Dissertationen bis zu den berühmtesten philosophischen Werken. Dafür aber gäbe es viel mehr ehrliche Berichte über das, was wirklich geschehen ist, die auch anderen Menschen Mut machen könnten, Realitäten zu sehen und das, was sie selbst erfahren haben und bisher nicht benennen konnten, zum Ausdruck zu bringen. Es scheint mir, daß solche Berichte den komplizierten Spekulationen vorzuziehen wären, weil sie nicht der Verschleierung, sondern der lebenswichtigen Aufdeckung der allgemein menschlichen Realitäten dienen würden.

Ich bin weit davon entfernt, das Genie Nietzsches dadurch anzweifeln zu wollen, daß ich den Inhalt, die Intensität und die Kraft seiner Gedanken mit den Erlebnissen in seiner Kindheit in Verbindung bringe. Daß mir eine solche Tendenz unterstellt werden wird, ist trotzdem nicht zu vermeiden, weil im allgemeinen die Bedeutung der Kindheitserlebnisse bagatellisiert wird und diese als belanglos abgetan werden. Um so wichtiger erscheint es dann, die Gedanken der "Großen", der Erwachsenen als pures Gold ohne Beimischungen der Kindheit zu sehen, zu bewundern und zu interpretieren. Sowohl die Nietzsche-Forschung als auch die faschistische Adaptation Nietzsches haben niemals diesen Rahmen überschritten.

Was meine Sicht betrifft, so würde ich im Gegenteil meinen, daß die meisten Schriften Nietzsches ihre Klarheit und Überzeugungskraft gerade dem sehr früh gespeicherten Erlebnisinhalt verdanken. Wie bei Kafka (vgl. A. Miller 1981, S. 307 ff.) und anderen großen Dichtern setzt sich hier die Wahrheit so evident durch, daß ihr kaum etwas entgegengehalten werden kann. Das Verständnis, das sich bei Sätzen von Nietzsche spontan einstellen kann, ist nicht Ergebnis einer Suggestion, die von ihm ausgeht, sondern der Überzeugungskraft eines Autors, der vom Erlittenen, Erfahrenen, Wahrgenommenen berichtet und dessen Wahrnehmungen Zustände betreffen, in denen sich auch viele andere Menschen befanden oder immer noch befinden. Er selbst schreibt über die Quelle der Dichtung folgendes:

Wenn ich meine höchste Formel für Shakespeare suche, so finde ich immer nur die, daß er den Typus Cäsar konzipiert hat. Dergleichen errät man nicht – man ist es oder man ist es nicht. Der große Dichter schöpft nur aus seiner Realität – bis zu dem Grade, daß er hinterdrein sein Werk nicht mehr aushält ... Wenn ich einen Blick in meinen Zarathustra geworfen habe, gehe ich eine halbe Stunde im Zimmer auf und ab, unfähig, über einen unerträglichen Krampf von Schluchzen Herr zu werden. – (Werke III, S. 535)

Hätte Nietzsche als Kind nicht lernen müssen, daß man Herr werden soll über den "unerträglichen Krampf von Schluchzen", hätte er als Kind einfach schluchzen dürfen, die Menschheit wäre um einen Lebensphilosophen ärmer, aber dafür wäre der Mensch Nietzsche um sein ganzes Leben reicher geworden. Und wer weiß, was dieser lebende Nietzsche der Menschheit dann hätte geben können?

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