Auszüge aus Alice Miller's
"Abbruch der Schweigemauer"

Die Wahrheit der Fakten

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Vorwort

Die Wahrheit über die Kindheit, wie viele von uns sie erleiden mußten, ist unfaßbar, empörend, schmerzhaft, nicht selten monströs und immer verdrängt. Diese Wahrheit auf einmal zu erfahren und dieses Wissen zu integrieren ist schlicht und einfach unmöglich, auch wenn wir uns das sehnlichst wünschen. Die Fähigkeit des menschlichen Organismus, Schmerzen zu ertragen, ist zu seinem Schutze begrenzt, und alle Versuche, die diese Grenze mißachten und die Verdrängung gewaltsam aufheben, haben nur negative und oft gefährliche Wirkungen, wie jede andere Form von Vergewaltigung auch.

Die Folgen eines traumatischen Erlebnisses wie etwa einer Mißhandlung können nur aufgelöst werden, wenn alle traumatischen Facetten dieses Erlebnisses in einer behutsam aufdeckenden Therapie erlebt, artikuliert und verurteilt werden konnten.

In den letzten Jahrzehnten gab es verschiedene gefährliche Versuche, die Folgen von Kindheitstraumatisierungen auf gewaltsame Art zu beheben, die alle gescheitert sind und scheitern mußten. Die Behandlungen mit LSD, Hypnose und isolierten Geburtserlebnissen führten nicht nur nicht zur Integration der persönlichen Wahrheit, sondern sehr häufig zur verstärkten Flucht vor ihr in neue Formen der Abwehr wie Ideologien, Süchte und andere Arten der Verleugnung.

Viele junge Menschen, die mit psychedelischen Drogen experimentierten, aus Neugier und aus Not, haben eine extrem beängstigende, zugleich entmutigende und höchst irreführende Erfahrung gemacht, die ihnen später den Zugang zu einer wirksamen, aufdeckenden Therapie verbaut hat. Sie sahen sich in bestimmten Situationen plötzlich, unvorbereitet, dem Grauen ihrer Kindheit schutzlos ausgeliefert, dies auch noch in symbolischen Bildern, ohne Bezug zur Realität, und auf keinen Fall wollten sie sich später diesen Erfahrungen erneut aussetzen. Eigentlich mit Recht. Aber sie wissen nicht, daß das, was sie erlebt hatten und was ihnen zuweilen als Therapie verkauft worden war, eigentlich das Gegenteil einer Therapie war: eine Traumatisierung, die die Verwirrung der Kindheit mit Hilfe von symbolischen Inhalten zementierte und eine starre, schwer auflösbare Version ihrer Kindheit zurückließ.

Die Konsequenzen solcher Erfahrungen sind sehr bedauerlich, denn die Betroffenen vertrauen nun lieber der Lüge der Sucht, der Medikamente oder der falschen Theorien als der Wahrheit. Sie ahnen nicht, daß sie in einem langsamen Prozeß durchaus die Wahrheit ertragen könnten und daß nur diese ihnen auf Dauer helfen kann.

Wir bauen hohe Mauern, um uns vor den schmerzhaften Fakten abzuschirmen, weil wir nie gelernt haben, daß und wie wir mit diesem Wissen leben können. "Warum sollten wir?" könnte man fragen. "Was vergangen ist, ist vergangen. Warum sollten wir uns damit befassen?" Die Antwort auf diese Frage ist sehr komplex. Ich versuche in diesem Buch anhand verschiedener Beispiele zu zeigen, weshalb wir sowohl als Individuen als auch als Gesellschaft nicht auf die Wahrheit über die eigene Kindheit verzichten können noch dürfen.

Hinter der Mauer, die uns vor der Geschichte dieser Kindheit schützen soll, steht nämlich immer noch das mißachtete Kind, das wir waren und das einst verlassen und verraten wurde. Es wartet darauf, daß wir den Mut finden, es anzuhören. Es möchte von uns geschützt, verstanden und aus seiner Isolierung, Einsamkeit und Sprachlosigkeit befreit werden. Aber dieses Kind, das so lange auf unser Verständnis, auf Achtung und Zuwendung wartet, hat nicht nur Bedürfnisse, auf deren Erfüllung es angewiesen ist. Es hält auch ein Geschenk für uns bereit, das wir dringend brauchen, um wirklich zu leben, das wir nirgends kaufen können und das uns nur dieses einzige Kind in uns geben kann. Es ist das Geschenk der Wahrheit, die eine Befreiung aus dem Gefängnis der destruktiven Meinungen und etablierten Lügen bedeutet, und schließlich das Geschenk der Sicherheit, die uns die wiedergewonnene Integrität gibt. Das Kind wartet nur darauf, daß wir bereit sind, uns ihm zu nähern, um mit seiner Hilfe die Mauern abzureißen.

Viele Menschen wissen das nicht. Sie leiden unter quälenden Symptomen und fragen Ärzte um Rat, die ähnlich wie sie das so notwendige Wissen abwehren. Sie befolgen diesen Rat, lassen z.B. völlig unnötig schwere Operationen über sich ergehen oder lassen andere leiden. Oder sie konsumieren Schlaftabletten, um ja nicht von Träumen beunruhigt zu werden, die sie an das hinter der Mauer wartende Kind erinnern könnten. Aber das Kind kann sich nur in der Sprache der Schlaflosigkeit, der körperlichen Symptome und der Depressionen artikulieren, solange wir es zum Schweigen verurteilen. Tabletten und Drogen können da nicht helfen, sie können den Erwachsenen nur noch mehr verwirren.

Viele Menschen wissen auch dies nicht, aber viele wissen es seit langem und können sich doch nicht helfen. Einige spüren, daß die Verdrängung der Traumen ihrer Kindheit ihr Leben vergiftet; sie wissen, daß diese Verdrängung einst für das Kind notwendig war, um ihm das Überleben zu sichern, weil der kleine Organismus sonst an den Schmerzen hätte sterben müssen. Einige beginnen zu ahnen, daß die Aufrechterhaltung der Verdrängung im Erwachsenen zerstörerische Folgen hat. Aber sie meinen, daß man sich damit abfinden müsse, weil sie keine Alternativen kennen. Sie wissen nicht, daß es durchaus möglich ist, in einer nicht gefährlichen Weise, im Verlauf eines langsamen Prozesses, die Verdrängung der Kindheit aufzuheben und die Wahrheit ertragen zu lernen. Nicht plötzlich, nicht durch gewaltsame Eingriffe, sondern langsam, mit Rücksicht auf die jeweilige Abwehr, in einzelnen Schritten.

Auch ich habe das lange nicht gewußt. Meine psychoanalytische Ausbildung und Tätigkeit verunmöglichten mir, dieses Wissen zu entdecken. Doch seitdem ich selbst den Prozeß der langsamen Integration von einzelnen Aspekten meiner Kindheit erfahren habe, möchte ich jeden darüber informieren, der unter seinem Abgetrenntsein von den eigenen Wurzeln leidet. ...

Schweigemauern in der Presse

Bei all meinen Versuchen, die hilfreichen, neuen Erkenntnisse in der Öffentlichkeit zu verbreiten, stieß ich – wie Eva – auf die größten Widerstände bei den Medien. Ich kann zwar ungestört diese Erkenntnisse in meinen Büchern veröffentlichen, weil die Ängste mancher Verleger und ihr Interesse am Verkauf meiner Bücher sich die Waage halten, aber es gibt andere, die Wichtiges zu sagen haben und die auf die Offenheit der Presse angewiesen sind. Sie und die Leser sind davon abhängig, daß man wichtige Informationen nicht torpediert.

Die aus den Schmerzen der eigenen Kindheit stammende Angst und Verwirrung durchziehen die ganze Gesellschaft. Sie stützen die Mauer des Schweigens, an der all die Menschen abprallen, die gerade begonnen haben, sich mit ihrer Kindheit zu konfrontieren. Dennoch bekam diese Mauer in den letzten Jahren einige Risse und Löcher, die für einzelne eine große Bedeutung haben. Das Bröckeln der Schweigemauer ist jenen Menschen zu verdanken, die es wagten, eine aufdeckende Therapie auf sich zu nehmen, und die das gewonnene Wissen mit anderen teilen.

Ich habe mich in den letzten Jahren nicht nur in meinen Büchern geäußert, sondern auch gegenüber der Presse, wenn es mir notwendig erschien, auf Verdrehungen der Wahrheit zu reagieren. Diese Reaktionen möchte ich auch hier meinen Lesern zugänglich machen, damit sie sehen, daß sie mit ihren Erfahrungen nicht allein sind, aber auch, daß es heute nicht mehr selbstverständlich sein muß, die selbstgewählte Ahnungslosigkeit der anderen schweigend zu dulden. Gewiß, die unter Tränen gewonnenen Erkenntnisse kann man kaum mit denjenigen teilen, die ihre Erstarrung und emotionale Armut als die einzig mögliche Lebensform betrachten. Aber die andern, die ihre bisherige Erstarrung nicht mehr ertragen können und wollen, sind für alle wahren Berichte dankbar, die ihnen die Reisenden in das verschüttete, gemiedene und doch so einflußreiche Land der Kindheit zukommen lassen. Diese Informationen bedeuten für sie Ermutigung, weil sie sie darin bestätigen, daß sie selber in ihren Schmerzen und Tränen auf dem Weg zur Wahrheit sind.

Neben dem Wunsch, mit den Auszügen aus meinen Briefen Suchende und mit der Arroganz der Ahnungslosen Käinpfende zu unterstützen, gibt es für mich noch einen anderen Grund, die folgenden Briefe zu publizieren. Ich will zeigen: Selbst wenn wir die Ursachen der Abwehr der Wahrheit kennen, so darf uns dies nicht daran hindern, die destruktiven Konsequenzen dieser Haltung anzuklagen und zu verurteilen, wo immer wir ihr begegnen. Zu der Zeit, als ich das Drama schrieb, habe ich das noch nicht so klar gesehen; daher wurde meine damalige alles verstehende und alles verzeihende Haltung ausgiebig gelobt. Aber um etwas zu verändern, um die Barbarei gegen Kinder, die auf einer jahrtausendealten Tradition beruht, aufzuhalten, genügt es nicht, wie ich damals meinte, sie bloß aufzuzeigen. Die Betroffenheit, die ich bei meinen Enthüllungen erwartete, stellt sich bei vielen gar nicht ein, weil sie ihren Gefühlen grundsätzlich ausweichen und alles bestreiten. Solange viele Menschen mit großer Verantwortung für andere Menschen (Ärzte, Therapeuten, Redakteure) diese Barbarei leugnen oder bagatellisieren, muß aufgezeigt werden, daß und wie sie dies tun. Beides muß verurteilt werden. Das ist ein Teil meiner Aufklärungsarbeit über das Phänomen Kindesmißhandlungen.

Statt abstrakt über "gesellschaftliche Strukturen" zu philosophieren, beziehe ich mich auf Fakten aus dem uns umgebenden Alltag, die jeder, der die Konfrontation mit Fakten nicht fürchtet, überprüfen kann. Wer dieser Konfrontation um jeden Preis ausweichen will, schlägt nicht selten aus Hilflosigkeit zu. Doch auch das muß aufgezeigt werden, und zwar damit diese Schläge aus Hilflosigkeit nicht länger andere verletzen, einschüchtern und deren Aufklärungsarbeit zerstören können.

Die Unterdrückung der Wahrheit über die Verbrechen an Kindern ist ebenfalls ein Delikt, weil sie die Rettung der Kinder und unserer Zukunft zu verhindern sucht. Für das, was einem Rezensenten als "schrille Töne" in meinen neuen Büchern erscheint, habe ich eine andere Bezeichnung: Es ist die gut überlegte und vollkommen bewußt getroffene Entscheidung, denen mein Mitleid und mein Verständnis zu entziehen, die sich nicht damit begnügen, aus Angst in die Ignoranz zu fliehen, sondern sich aktiv daran beteiligen, das schlimmste Verbrechen zu verkleinern, zu verschleiern, zu verdecken, und die es dadurch erhalten.

Nach dem Erscheinen einer Rezension über meine letzten beiden Bücher in einer Tageszeitung, die die Unerläßlichkeit der von mir angestrebten psychohygienischen Maßnahmen bagatellisiert hatte, schrieb ich an den Redakteur einen Brief, den ich hier gekürzt wiedergebe:

Sie leben in einem Land, in dem zwei Drittel der von der Zeitschrift Eltern befragten Menschen das Schlagen wehrloser Kinder für richtig und notwendig hält, d.h, daß Millionen von Kindern ständig in Gefahr schweben, weil ihre Eltern diese Gefahr noch nicht als solche gelernt haben zu sehen. Es dürfte Ihnen bekannt sein, daß trotz täglicher Zeitungsberichte über Kindesmißhandlungen sehr wenige fachliche Publikationen zu diesem Thema erscheinen, und wenn ja, dann werden sie wenig gelesen, weil dieses Thema allgemein gemieden wird. Nun erscheint das Buch Das verbannte Wissen von einer Autorin, die trotz der gefürchteten Thematik glücklicherweise doch viel gelesen wird. Sie beschreibt in diesem Buch, was Eltern ihren Kindern zwanghaft antun, warum sie das tun, wohin das führt und wie diese Tragik vermieden werden kann. Zahlreiche Leserbriefe bezeugen, daß diese Informationen hilfreich sind. Sie erhalten mit diesem Buch eine Chance für Ihre Leser. Was machen Sie mit dieser Chance?

Sie lassen eine Rezension dieses Buches erscheinen, nach deren Darstellung eine ehemals einfühlsamne Psychoanalytikerin offenbar ihren Verstand und ihr Verantwortungsgefühl verloren hat, denn sie rufe neuerdings zu Haß auf, renne aber auch offene Türen ein, sei wohl durch eigene erlittene Mißhandlungen in der Kindheit von Blutphantasien verfolgt, ja geblendet, und sehe Grausamkeiten auch da, wo diese ja gar nicht zu finden seien.

Eine noch groteskere Verzerrung der Tatsachen ist wohl kaum denkbar. Ich habe mich entschlossen, zu fühlen, was es heißt, ein Kind ahnungsloser Eltern zu sein, und darüber zu berichten. Ich tue es immer wieder, um Eltern und die Gesellschaft auf das Leid der Kinder aufmerksam zu machen, damit sich die Einstellung und das Verhalten der Erwachsenen ändern. Daß Sie sich dazu entschlossen haben, meine Initiative nicht zu unterstützen und Ihrer Leserschaft wichtige Informationen vorzuenthalten, ist aus sozialpolitischen Gründen bedauerlich und mir völlig unverständlich.

Vor 9 Jahren wurde Das Drama des begabten Kindes in Ihrer Zeitung ausführlich gelobt, vermutlich, weil seine Aussage lautete, daß es sich bei Kindesmißhandlungen um eine ausweglose Tragik handele. Das verpflichtet zu nichts.

Jetzt, da ich zeigen konnte, daß und wie diese Tragik abwendbar ist, werden die Aussagen meiner Bücher unterschlagen. Findet sich nicht alles schon bei Adalbert von Chamisso? Nein, leider nicht. Sonst wäre unsere Welt heute anders, als sie ist. Und zuviel Zeit haben wir auch nicht mehr zu verlieren, bis wir bereit sind, die Augen für die neuen Erkenntnisse zu öffnen. – Sind Sie wirklich daran interessiert, daß der Prozentsatz der schlagenden Eltern in Deutschland auf keinen Fall zurückgeht? Das kann ich schwer glauben. Doch nach der Lektüre dieser Rezension in Ihrem Blatt drängt sich diese Frage zwangsläufig auf.

Nachdem sich der Rezensent für seine "unbeabsichtigten" Verleumdungen schließlich entschuldigte, schrieb ich den folgenden Leserbrief, der von der Zeitung gedruckt wurde:

In der Besprechung meiner Bücher Der gemiedene Schlüssel und Das verbannte Wissen ist durch die Verkürzung eines Zitats ein irreführender Eindruck entstanden. An der entsprechenden Stelle (Das verbannte Wissen, Seite 198) heißt es: "Der verdrängte, unbewußte Haß wirkt zerstörerisch, aber der erlebte Haß ist kein Gift, sondern einer der Wege aus der Falle von Verstellung, Heuchelei oder offener Destruktivität." Aus dem Zusammenhang geht hervor, daß das bewußte Erleben von Haß in der Therapie vor einem blinden Ausleben, Ausagieren, Abreagieren von Haß schützt. Es handelt sich hier um den entscheidenden Unterschied zwischen Erleben = Gefühl und Ausleben = Tat, die unter Umständen Menschenleben zerstören kann.

Diese Differenzierung gehört zur Achse meines Buches, das ohne sie gar nicht verstanden werden kann. Durch das Weglassen des Kursivdrucks beim Wort erlebter Haß (im Gegensatz zum verdrängten), durch das Verschweigen des Zusammenhangs (in der Therapie) und durch das seltsame Wort "preisen" entsteht der Eindruck, die Autorin würde in unverantwortlicher Weise zum Ausagieren von Haß ermutigen. Eine derartige Darstellung widerspricht allem, was ich je geschrieben und vertreten habe, da ich gerade wiederholt vor den Gefahren des Auslebens unter Berufung auf das Beispiel Adolf Hitler warne. Ich "preise" nicht den Haß und ermutige auch nicht zu dessen Ausagieren gegen die Eltern. In dem Buch Der gemiedene Schlüssel habe ich anhand des Beispiels von Abraham und Isaak genau erklärt, weshalb dies nicht der Weg sein kann. Und daß es sowohl humane als auch effektive Wege der Befreiung gibt.

Ende 1989 beschloß eine angesehene Wochenzeitung, eine angebliche Rezension meiner neuen Bücher erscheinen zu lassen, in der die Meinung vertreten wurde, ich hätte ja bereits alles Nötige über die "armen Kinder" im Drama gesagt, dem sei nichts mehr hinzuzufügen. Alle meine späteren Bücher seien deshalb eine völlig überflüssige Wiederholung des ewig Gleichen, was auch in Zukunft von mir nicht anders zu erwarten sei.

Ich versuchte, die Redaktion darauf aufmerksam zu machen, daß diese "Meinung" nicht mit einem einzigen Wort belegt oder begründet werde und daß der Inhalt meiner neuen Bücher durchweg unterschlagen bleibe. Für die Redakteure schien dieses Vorgehen durchaus normal zu sein. Niemand zeigte sich darüber erstaunt. Mein hier abgedruckter Leserbrief, der ohne den letzten Satz veröffentlicht wurde, informiert über die Einzelheiten:

Der Titel dieser "Rezension" – "Das bekannte Wissen" – enthält eine Behauptung, die durch den Inhalt widerlegt wird. Wenn es tatsächlich so wäre, daß das Wissen über Ursachen und Folgen von Kindesmißhandlungen – das Thema meiner beiden letzten Bücher – in Deutschland längst bekannt wäre, wenn dieses Wissen nicht eben immer noch verbannt wäre, hätte Ihr Rezensent nicht mehr die Chance, dieses Thema öffentlich zu verspotten. Seine Chance beweist das Gegenteil seiner Behauptung.

Der Artikel macht den Eindruck, als würde sich einer die Ohren fest zuhalten, um nicht etwas zu erfahren, das er auf keinen Fall hören will. Offenbar benötigte dieser Mensch mehr als ein Jahr für den Entschluß, zumindest meinen Klappentext zu lesen, aber er brachte es schließlich nur bis zur Hälfte des ersten Satzes des Klappentextes, der im Original heißt: "Wie in ihren ersten Büchern befaßt sich Alice Miller auch hier vornehmlich mit Fakten." Doch offenbar löst bereits dieser Satz beim Rezensenten eine erhebliche Verwirrung aus, denn er schreibt: "Befaßt sich Alice Miller auch hier 'nach wie vor', ja, mit was? Nun, der kundige Leser braucht diese Bücher nicht mehr aufzuschlagen ..." So leicht kann es sich ein verwirrter Rezensent machen. Er braucht die rezensierten Bücher nicht zu lesen.

Es ist erschreckend und bedauerlich, daß in Ihrer Zeitung dem Thema und den Opfern der Kindesmißhandlungen soviel Hohn entgegengebracht wurde.

Was für den einen ein Geschenk ist, kann für den anderen eine Strafe bedeuten. Menschen, die ihre Verdrängung auflösen wollen, finden in meinen Büchern Informationen, die sie gebrauchen können, aber manche Rezensenten, die aus rein beruflichen Gründen gezwungen sind, diese Bücher zu lesen, sind damit offensichtlich überfordert. Sie stehen plötzlich und unvorbereitet dem Leiden ihrer Kindheit gegenüber und können gar nicht schnell genug nach der erstbesten Waffe greifen, um gegen die alte, jetzt aufbrechende Ratlosigkeit und Verwirrung anzukämpfen, um sich wieder "stark" zu fühlen. Sie entziehen sich also von vornherein der Wirkung dieser Bücher, indem sie in vertraute Lehrgebäude flüchten, die ihnen als gesichert erscheinen. In einem dieser vielen Fälle schien es mir sinnvoll zu reagieren, und ich schrieb an den Rezensenten:

1. Es ist nicht meine "Theorie", sondern leider eine schlichte Tatsache, daß Kindesmißhandlungen zur Destruktion und Selbstdestruktion und damit zum Elend dieser Welt führen. Wenn Sie mir eine fundierte Widerlegung dieser Behauptung geben könnten, ware ich Ihnen dankbar. Denn bis jetzt habe ich noch von keiner gehört.

2. Es trifft ferner nicht zu, daß es mein Problem sei, wenn Fachleute diese Gefahr nicht sehen, sondern vielmehr ist es das Problem dieser Fachleute, weil sie sich eine Blöße geben und Beweise ihrer Blindheit liefern. Sie werden noch lange in den Bunkern ihrer unbrauchbaren Scheinbegriffe Schutz suchen, wenn die anderen bereits daran sind, sich mit den unliebsamen Fakten auseinanderzusetzen, um etwas am Elend dieser Welt zu ändern. Dank ihrer Konfrontation mit den Fakten werden diese anderen Fachleute die übelsten Sorten der theoretischen Verbrämungen, unter anderen die Freudsche, deutlich als das erkennen, was sie sind: die Abwehr der Angst vor der eigenen Kindheitsgeschichte.

Im Gegensatz zu der intellektuellen Distanz und Unverbindlichkeit im vorangegangenen Fall mündete eine andere Rezension in eine Reihe kaum verhüllter Anwürfe. Wenn ich trotzdem darauf einging, so war es wegen der Verwechslung von Tat und Gefühl, der ich sehr häufig begegne. Ich schrieb:

In Ihrer Rezension meiner Bücher zitieren Sie korrekt einen Satz aus dem Verbannten Wissen, der lautet: "Wenn es gesetzlich verboten wäre, die Wut auf die eigenen Eltern bei den eigenen Kindern auszuagieren, müßte man nach anderen Wegen aus der Falle suchen und würde sie auch finden." Dazu meinen Sie: "Als ob sich Wut gesetzlich verbieten ließe." Aus dieser erstaunlichen Folgerung geht hervor, daß Sie offenbar keinen Unterschied sehen zwischen dem Gefühl und der Handlung, d.h. zwischen dem Gefühl der Wut und dem Ausagieren bzw. Abreagieren dieses Gefühls auf unschuldige Ersatzpersonen (Kinder). Doch dieser Unterschied ist so entscheidend wie derjenige zwischen einer guten Therapie und einer Kindesmißhandlung oder z.B. zwischen Kafkas Strafkolonie und Hitlers Krematorien.

Da es sich hier um eine ganz zentrale Unklarheit handelt, möchte ich mich dazu äußern. Natürlich kann und soll man niemandem seine Gefühle verbieten. Doch das Ausagieren der Wut ist kein Gefühl, sondern eine Tat. Richtet sie sich auf andere Erwachsene, muß sie (ausgenommen bei körperlichen Verletzungen) nicht unbedingt verboten werden, weil der angegriffene Erwachsene grundsätzlich die Möglichkeit hat, den Mißbrauch seiner Person zu durchschauen, und weil er das Recht beanspruchen kann, sich gegen Arroganz zu wehren. Das Ausagieren der Wut auf wehrlose, abhängige Kinder hingegen kann und muß gesetzlich verboten werden, weil es ein Verbrechen ist, das lebenslange Folgen hat. Das gesetzliche Verbot von körperlichen Mißhandlungen besteht zwar bereits in Ansätzen, wobei seelische Mißhandlungen immer noch als Erziehung getarnt und unkritisch toleriert werden. Daß sich einzelne Journalisten und einige sich fortschrittlich verstehende Vereine scheuen, für dieses Verbot öffentlich zu plädieren, vergrößert das Leiden, ja sogar die Lebensgefahr, in der zahlreiche Kinder ständig schweben.

Als Reaktion auf einen Artikel, der das Thema "Hitlers Kindheit" als völlig irrelevant bezeichnete, schrieb ich folgenden Leserbrief:

Tausende von Historikern haben bereits die Frage gewälzt (und werden vermutlich nicht aufhören, sie weiterzuwälzen), wie der erwachsene Adolf Hitler in der Weimarer Republik zum Reichskanzler werden konnte. Sie haben recht, daß Niklas Radström in seinem Stück Hitler’s Childhood diese Frage nicht analysiert hat. Dafür hat er etwas getan, was meines Wissens bisher kein anderer Dichter gewagt hat: Er hat sich entschlossen, sich ganz konsequent und bewußt auf die Seite eines schwer mißhandelten Kindes zu stellen, von dorther sein Visier auf unsere erwachsene Gesellschaft zu richten und zu sehen, was dabei zum Vorschein kommt. Und es kommt tatsächlich vieles zum Vorschein. Auch wenn er sich auf meine Untersuchung gestützt hat – ohne die eigene Einfühlung in das Kind wäre ihm niemals dieser starke Text gelungen.

Es ist leider so: Die Beschäftigung mit der Kindheit macht uns Angst. Sie ist gewiß nicht jedermanns Sache, und wir können froh sein, wenn andere diese emotionale und geistige Arbeit für uns tun. Denn die Kenntnis der Kindheit ist unumgänglich, wenn man den erwachsenen Menschen und das Leben wirklich verstehen will. Daß Radström diesen entscheidenden Schritt zur Realität machen konnte und auf unbrauchbare Theorien bewußt verzichtete, halte ich für ein wichtiges Ereignis, nicht nur in der Theatergeschichte. Die Perspektive des Kindes, die hier auf der Bühne gezeigt wird, kann nämlich zur Vertiefung unseres Wissens und Denkens, auch auf politischem Gebiet, beitragen. Der Titel Radströms war und ist Hitlers Kindheit, womit, wie er mehrmals betonte, diese eine, einmalige Kindheit gemeint war. Mit dem Zusatz "z.B." hat weder Radström noch habe ich etwas zu tun. Er entstand aufgrund bestimmter Überlegungen im Team des Zürcher Kellertheaters, die ich verstehen kann, aber nicht teile.

Diese Entscheidung des Teams ist auch im Spiel erkennbar, das zwar eine schwere, aber nicht eine kaum faßbare Kindheit darstellt, wie dies in der schwedischen Inszenierung der Fall war. Hätte Adolf Hitler auch nur annähernd, nur in wenigen Augenblicken die Erfahrung der freundlichen und netten Eltern gemacht, wie sie hier in Zürich auf der Bühne gezeigt werden, wäre er nicht zum größten Verbrecher der Geschichte geworden. Er hätte dann Gelegenheit gehabt, neben der Brutalität auch anderes, z.B. ein Mitgefühl für den Mitmenschen, zu speichern. Aber diese Erfahrung hat er nie gemacht. Das lese ich an der Ungebrochenheit seiner Haltung ab, einer Haltung, die in der Vernichtungswut keine Ausnahmen und kein Erbarmen kannte und die in der Ungeheuerlichkeit der "Endlösung" und des "Euthanasiegesetzes" zum Ausdruck kam. Er hatte nur Gewalt, Erbarmungslosigkeit und Haß gespeichert. Diese totale, ungebrochene, sehr früh gespeicherte Erfahrung, die Erfahrung des getretenen Hundes bei den eigenen Eltern, hat das aus ihm gemacht, was er später schließlich war: die totale Verkörperung des Bösen. ...

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