Auszüge aus Arno Gruen's
"Der Fremde in uns"

Was uns abhanden kam und wofür wir uns heimlich hassen

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Vorwort

Der Fremde in uns, das ist der uns eigene Teil, der uns abhanden kam und den wir zeit unseres Lebens, jeder auf seine Weise, wiederzufinden versuchen. Manche tun dies, indem sie mit sich selbst ringen, andere, indem sie andere Lebewesen zerstören. Der Widerstreit zwischen diesen zwei Ausrichtungen des Lebens, die beide von derselben Problematik bestimmt sind, wird über die Zukunft unseres Menschseins entscheiden. Meine Hoffnung ist es, mit diesem Buch dazu beizutragen, daß der zerstörerische Anteil zurückgedrängt werden kann, bevor er so stark wird, daß er uns überrollt. Dabei geht es weniger um große revolutionäre Antriebe. Ich möchte vielmehr Mut machen für das tägliche Engagement, sich immer wieder und bei jeder Gelegenheit dem Herzen zu widmen.

Wir alle haben tiefgreifende Unterdrückung und Ablehnung erlebt. In unserer Kultur ist es üblich, daß man in seinem Kindsein zurückgewiesen wird, weil man nicht den Erwartungen von Erwachsenen entspricht. Gleichzeitig darf ein Kind sich nicht als Opfer erleben, denn das würde dem Mythos widersprechen, daß ja alles aus Liebe und zu seinem Besten geschieht. So wird das Opfersein zur Quelle eines unbewußten Zustandes, in dem das eigene Erleben als etwas Fremdes ausgestoßen und verleugnet werden muß. Diesen Teil von sich wird der Mensch fortan suchen, ohne sich dessen bewußt zu sein. Es ist dieses Suchen, das uns zum Verhängnis wird.

Die Einsichten, die ich dem Leser hier biete, sind engstens verknüpft mit dem Leben und Leiden meiner Patienten. Ihnen danke ich für das Vertrauen, das unsere gemeinsame Arbeit möglich machte. Einige dieser Patienten hatten Eltern, die selbst Nazi-Täter waren. Ihr Mut, sich mit diesem Schicksal auseinanderzusetzen, trug außerordentlich dazu bei, das Rätsel zu entschlüsseln, das im Weitergeben des eigenen Opferseins durch das Tätersein liegt.

Diese Arbeit brachte mir meine eigene Vergangenheit sehr gegenwärtig zurück: das Aufeinanderprallen des Kaiserreiches mit der Weimarer Republik wie auch dessen Auswirkungen in meiner eigenen Familie. Die Angst, der Hunger, der blinde Haß, all das, was sich danach zum Nazismus Deutschlands aufschaukelte, waren Hintergrund für meine eigenen Erlebnisse. Das hat das Schreiben oft zu einem schmerzlichen Prozeß gemacht.

Ich danke deshalb Frau Gertrud Hunziker-Fromm für ihr mitfühlendes Engagement und ihre tiefe Menschlichkeit, welche meine eigene Sicht vertiefte. Das gilt auch für meine Frau Simone Gruen-Müller, die mir von ganzem Herzen Unterstützung und Anregung während dieser für die Familie schwierigen Zeit gab. Die einfühlende und kreative Hilfe von Monika Schiffer bei der Umsetzung meiner Worte in eine für den Leser zugängliche Sprache trug entscheidend zur verständlicheren Vermittlung meines Anliegens bei. Ihnen allen danke ich von Herzen.

Der Fremde

Wir leben in einer Welt, in der wir zunehmend voneinander abhängig werden und uns dennoch immer mehr gegeneinander wenden. Warum stellen sich Menschen gegen das, was sie miteinander verbindet, gegen das, was sie gemeinsam haben – ihr Menschsein?

Milovan Djilas, einst Titos Gefährte im Partisanenkrieg gegen die Nazis und später einer seiner schärfsten Kritiker, beschreibt in seinem autobiographischen Bericht Land ohne Gerechtigkeit" (1958) die Grausamkeiten einer Männerwelt, in der Menschlichkeit als Schwäche verpönt ist:

Einmal, nach dem Krieg, traf Sekula (ein Montenegriner und Jugoslawe) einen türkischen Moslem. Beide waren auf dem Weg von Bijelo Polje nach Mojkovac. Sie hatten sich zuvor noch nie gesehen. Die Landstraße führte durch dicht bewaldetes Gebiet und war berüchtigt für Überfälle aus dem Hinterhalt. Der Moslem war froh, in Begleitung eines Montenegriners zu sein. Auch Sekula fühlte sich sicherer mit einem Türken, da zu befürchten war, daß sich türkische Partisanen in der Nähe befanden. Die beiden unterhielten sich freundlich und boten einander Zigaretten an. Der Moslem erwies sich als friedliebender Familienvater. Unterwegs durch die Wildnis kamen sich die Männer näher.

Djilas schreibt, daß Sekula später sagte, er habe keinerlei Ressentiments dem Moslem gegenüber empfunden. Er sei für ihn wie jeder andere gewesen, mit dem einzigen Unterschied, daß er Türke war. Doch gerade diese Unfähigkeit, eine Abneigung zu spüren, weckte in Sekula ein Gefühl von Schuld. Djilas berichtet weiter:

Es war ein heißer Sommertag. Da der Weg durch einen Wald an einem kleinen Fluß entlangführte, hatten es die beiden Reisenden angenehm kühl. Als sie sich schließlich niedersetzten, um gemeinsam etwas zu essen und sich auszuruhen, nahm Sekula seine Pistole heraus. Es war eine schöne Waffe, und er wollte ein bißchen damit prahlen. Der Moslem betrachtete sie anerkennend und wollte wissen, ob sie geladen sei. Sekula bejahte – und in diesem Moment kam ihm der Gedanke, daß er den Türken jetzt einfach töten könnte, er mußte nur seinen Finger bewegen. (Zu diesem Zeitpunkt hatte er jedoch noch nicht den Entschluß gefaßt, dies zu tun.) Er richtete die Pistole auf den Moslem und zielte genau zwischen dessen Augen. Dann sagte er: "Ja, sie ist geladen, und ich könnte dich jetzt töten." Der Moslem lachte und bat Sekula, die Pistole wegzudrehen, da sich ein Schuß lösen könnte. In diesem Augenblick wurde Sekula bewußt, daß er seinen Reisekumpan töten mußte. Wenn er den Türken am Leben ließe, würde er die Scham und die Schuld nicht ertragen können. Und so feuerte er, wie zufällig, zwischen die lächelnden Augen des Mannes.

Wenn Sekula später darüber sprach, behauptete er, daß er in dem Augenblick, als er die Pistole im Spaß auf die Stirn des Moslems richtete, keine Tötungsabsichten gehabt habe.

Aber dann war es, als ob sein Finger von sich aus abdrückte. Etwas in ihm brach aus, etwas, womit er geboren worden war und was er nicht zurückhalten konnte.
Es muß der Moment gewesen sein, in dem sich Sekula dem Türken so nahe fühlte, daß sich die Scham seiner bemächtigte. So absurd es auch klingen mag: Er tat, was er tat, nicht aus Haß, sondern im Gegenteil: Er tötete, weil er diesen "Fremden" nicht hassen konnte. Dafür schämte er sich, dafür fühlte er sich schuldig. Denn die Freundlichkeit und das Gute, das er in sich selbst spürte, verwandelten sich in ein Gefühl der Schwäche. Und dieses Gefühl mußte er abtöten. Als er den anderen tötete, tötete er die Menschlichkeit in sich selbst.

Klaus Barbie, der Gestapo-Schlächter von Lyon, der den französischen Widerstandskämpfer Jean Moulin zu Tode gefoltert hat, sagte in einem Interview mit Neal Ascherson (1983):

Als ich Jean Moulin vernahm, hatte ich das Gefühl, daß er ich selber war.

Das heißt: Was der Schlächter seinem Opfer antat, tat er in gewisser Weise sich selbst an. Worauf ich hinauswill, ist dies: Fremdenhaß hat auch immer etwas mit Selbsthaß zu tun. Wenn wir verstehen wollen, warum Menschen andere Menschen quälen und demütigen, müssen wir uns zuerst mit dem beschäftigen, was wir in uns selbst verabscheuen. Denn der Feind, den wir in anderen zu sehen glauben, muß ursprünglich in unserem eigenen Innern zu finden sein. Diesen Teil von uns wollen wir zum Schweigen bringen, indem wir den Fremden, der uns daran erinnert, weil er uns ähnelt, vernichten. Nur so können wir fernhalten, was uns in uns selbst fremd geworden ist. Nur so können wir weiter aufrecht gehen.

Dieser innere Prozeß, den ich zu beschreiben versuche, ist allgegenwärtig und betrifft in irgendeiner Weise jeden von uns. Ich möchte dazu ein paar Beispiele aus meiner Praxis berichten:

Ein Patient erzählt mir von einem Erlebnis in seiner Kindheit. Er war fünf Jahre alt, als sich sein Vater mit zwei Bekannten, die Brüder waren, einen Aprilscherz erlaubte. Der Vater rief die beiden Brüder an (sie lebten in verschiedenen Häusern), um ihnen mitzuteilen, daß der jeweils andere Bruder gerade bei einem Unfall verletzt worden sei. Er fand es offenbar komisch, sich vorzustellen, wie die beiden völlig verschreckt losrannten, um sich schließlich unterwegs in die Arme zu laufen. Das geschah dann auch.
Dieser Mann, der von allen als guter, fürsorglicher Vater eingeschätzt wurde, verleugnete seine sadistischen Motive. Seine Zugewandtheit und seine Besorgnis waren nur eine Pose, mit der er das überspielte, was die Beziehung auch zu seinem Sohn in Wahrheit charakterisierte – nämlich Insensitivität und ein Mangel an Mitgefühl. Obwohl der Patient als Kind solchen schmerzhaften und verletzenden Erfahrungen ausgesetzt war verhielt er sich als Erwachsener oft genauso wie sein Vater. Einmal war er bei einem behinderten Mann zum Abendessen eingeladen. Dieser erzählte ihm von einer Begebenheit, in der ihn ein Taxifahrer wegen seiner Hilflosigkeit beleidigt hatte, und von den Gefühlen der Angst und des Ausgeliefertseins, die er dabei empfunden hatte (die Beine des Mannes waren völlig gelähmt). In der Therapiesitzung berichtete der Patient nun voller Stolz, wie er seinem Gastgeber demonstriert hatte, wie aggressiv er sich in dieser Situation durchgesetzt und behauptet hätte. Er hatte keinen Zugang mehr zu seiner eigenen Empfindsamkeit und seiner Angst; im Gegenteil, er wies sie, wie sein Vater, als schwach von sich.

Ein anderes Beispiel: Eine Patientin verbringt einen Abend mit zwei Bekannten, deren persönliche und professionelle Anerkennung ihr sehr am Herzen liegt. Sie tut alles, um sich deren Wünschen und Erwartungen in sozialer und persönlicher Hinsicht anzupassen. Nach einer Weile gesellt sich ihr Mann zu der Gruppe. Vom ersten Moment an empfindet sie ihn als widerwärtig, eklig, abstoßend. Diese Gefühle quälen sie. Sie kann sie aber nicht abschütteln, obwohl ihr bewußt ist, daß er ihr noch am Abend zuvor so lieb und einfühlsam vorgekommen war.

In der darauffolgenden Therapiesitzung steigt ein Bild von ihrer Mutter in ihr auf. Deren Beziehungen, ob zu Kindern, Ehemann oder Liebhaber, waren ausschließlich von Pflichtgefühlen geprägt. Alles drehte sich um korrektes Auftreten. Die Patientin hatte sich immer zutiefst nach einer liebenden und zärtlichen Verbindung gesehnt. Die Mutter jedoch war voller Verachtung für solche Bedürfnisse. Sie tat nicht nur alles Liebevolle als Schwäche ab, sie war für die Tochter auch eine ständige Quelle von Todesgefahr gewesen. Die Kindheit der Patientin war durchzogen von Ereignissen, in denen ihr Leben bedroht war. Mal wurde sie als Säugling fallengelassen, mal raste der Kinderwagen einen Abhang hinunter und kippte um, weil die Mutter ihn ohne Bremse an einem Hügel abgestellt hatte. Dennoch hielt jeder die Mutter für überaus liebevoll und fürsorglich.
In der Therapiesitzung wurde der Patientin langsam klar, daß ihre Reaktion auf ihren Mann etwas mit ihrem Verhältnis zur Mutter zu tun hatte. Sie hatte die beiden Bekannten, die Wohlverhalten erwarteten und denen sie es recht machen wollte, wie ihre Mutter erlebt. Das hatte in ihr das alte Entsetzen ausgelöst. Es überkam sie die unbewußte Angst, etwas getan zu haben, das den Anordnungen der Mutter zuwiderlief. Deshalb empfand sie ihren Mann plötzlich als eine Bedrohung. Dem Diktat der Mutter, daß auch die Tochter keine liebevolle Beziehung haben sollte, durfte nicht widersprochen werden. Deshalb mußte sie ihren Mann und ihre Liebe abtun.

Ein anderer Patient, ein fünfzigjähriger Geologe, berichtete von seinem Vater, der freiwillig in Hitlers Wehrmacht gekämpft hatte. Der Vater zeigte nicht nur eine extrem autoritäre Haltung seinem kleinen Sohn gegenüber, er züchtigte ihn auch körperlich wegen der kleinsten Abweichungen vom vorgeschriebenen Verhalten. Seine Frau behandelte er ebenfalls herabsetzend und gewalttätig. Die Mutter nahm den Sohn allerdings nie in Schutz. Nur einmal, als das Kind sieben Jahre alt war, griff sie ein, da sie glaubte, der Vater würde ihn in seiner Wut erschlagen. Der Sohn, gehorsam und stets bereit, sich zu fügen, wurde auch als Erwachsener noch von großen Schuldgefühlen geplagt, wenn er an seinem Vater zweifelte. Er kam in die Therapie, weil er sich trotz allem das Gefühl bewahrt hatte, daß mit der Welt, in der er lebte, etwas nicht in Ordnung war. Der Patient hatte schon früh den Entschluß gefaßt, niemals Kinder zu haben. Er wurde jedesmal sehr wütend, wenn er Kinder schreien hörte. Er erlebte dieses Weinen als einen Versuch, ihm etwas aufzunötigen. Das machte ihn so rasend, daß er Angst hatte, ein Kind in einer solchen Situation gegen die Wand zu schmettern. So weit wollte er es nicht kommen lassen.

Hier haben wir es mit einem Menschen zu tun, der nicht weitergeben wollte, was ihm angetan worden war. Trotzdem wirkte die Identifikation unbewußt in ihm weiter. Seine Reaktion auf das Schreien von Kindern war ja die Reaktion des Vaters auf ihn als Säugling. Seine Wut war die Wut seines Vaters. Dessen Haß hatte er völlig als seinen eigenen verinnerlicht. So wird das Eigene wie auch die vom Vater übernommene Verurteilung seines Schmerzes zum Fremden, um es dann außerhalb der Grenzen des eigenen Selbst zu bestrafen.

Ein Hochschuldozent der Mathematik spricht in der Therapie von einem Problem, das er immer wieder bei seinen Einführungskursen hat. Er neigt dazu, zu tief in die Materie einzudringen und sich an Details aufzuhalten. Das führt dazu, daß er den für die Vorlesung vorgeschriebenen Stoff nicht schafft. Die Studenten können so auch nicht die Prüfungen bestehen, in denen nicht Einzelheiten, sondern ein breites Spektrum oberflächlichen Wissens abgefragt wird. Dem Patienten wird bewußt, daß ihn ein Zwang, gründlich zu sein, antreibt. Als ich wissen will, warum er so gründlich sein muß, obwohl es in dem beschriebenen Fall eher kontraproduktiv ist, antwortet er:
Meine Mutter war ziemlich perfekt, und mein Vater hat jeden belehrt. Er ging über alle hinweg und wußte alles besser. Noch als ich achtzehn Jahre alt war, sagte er mir bei der Gartenarbeit, wie ich die Harke halten soll. Später wollte ich ihm zeigen, daß ich es noch besser kann. So wurde ich Mathematiker. Damit übertrumpfte ich ihn, der nur Maschinenbauer war. Ich war noch grundsätzlicher, noch gründlicher.

Ich erklärte ihm, daß sich hinter der Besserwisserei seines Vaters eigentlich ein Bestreben verbarg, alles zu kontrollieren. Er ließ andere, den Sohn insbesondere, nicht ihr Leben leben. Der Patient stimmte mir zu. "Ja", sagte er, "er ließ niemanden neben sich aufkommen. Er hatte die Macht. Wenn Mutter mich als Kleinkind auf den Topf setzte und ich nicht tat, was sie wollte, schimpfte sie. Dann kam mein Vater und verprügelte mich." Ich sagte: "Es muß für Sie der reine Terror gewesen sein. In einer solchen Situation bleibt einem Kind nichts anderes übrig, als zu kapitulieren und sich den Eltern zu unterwerfen." Er: "Ja, die Opfer schließen sich ihren Entführern an." Ich: "Vielleicht ist Ihre Gründlichkeit ein Sich-dem-Vater-Anschließen. Sein Terror veranlaßte Sie, sich mit ihm zu identifizieren."

Der Patient war sehr betroffen. "Ich bin erwachsen und komme mir trotzdem wie fremdbestimmt vor", sagte er. Sein Verhalten erschien ihm wie aus einer Kinderperspektive. Er fragte sich, warum er nie Kinder haben wollte: "Ich kann mich nicht als Vater sehen. Ich wollte diese Rolle nie übernehmen." Hier zeigte sich sein Widerstand gegen den grausamen und unberechenbaren Vater. Er wollte nicht sein wie er. Doch diese Rebellion machte es ihm fast unmöglich zu erkennen, wie sehr er sich die Verhaltensmuster des Vaters einverleibt hatte. Die unbewußte Identifizierung äußerte sich dann zum Beispiel bei Problemen, die mit seinem Zwang zur Gründlichkeit zusammenhingen.

Menschen übernehmen die Werte ihrer Peiniger aus Angst vor dem Terror, den ein Erleben eigener Impulse nach sich ziehen würde. Bedürftigkeit und Hilflosigkeit machen uns als Säuglinge abhängig von unseren Eltern. Um seelisch zu überleben, brauchen wir ein gewisses Vertrauen darauf, daß die Eltern uns Liebe, Geborgenheit und Schutz geben werden. Kein hilfloses Wesen kann in dem Bewußtsein existieren, daß die Menschen, auf die es physisch und psychisch angewiesen ist, seinen Bedürfnissen kalt und gleichgültig gegenüberstehen. Diese Angst wäre unerträglich, ja tödlich. Unser Überleben als Kind hängt also davon ab, daß wir uns mit unseren Eltern arrangieren – und zwar auch und vor allem dann, wenn die Eltern tatsächlich kalt und gleichgültig oder grausam und unterdrückend sind.

In diesem Fall vollzieht sich das, was ich in diesem Buch beschreiben möchte: Das Eigene wird als etwas Fremdes abgespalten. Denn das Kind kann die Eltern nur unter der Voraussetzung als liebevoll erleben, daß es ihre Grausamkeit als Reaktion auf sein eigenes Wesen interpretiert – die Eltern sind grundsätzlich gut; wenn sie einmal schlecht sind, dann ist es unsere eigene Schuld. So wächst in uns die Scham, daß wir so sind, wie wir sind. Damit übernimmt das Kind die lieblose Haltung der Eltern sich selbst gegenüber. Alles, was ihm eigen ist, wird abgelehnt und entwickelt sich zur potentiellen Quelle eines inneren Terrors. Seine Gefühle, seine Bedürftigkeit, seine Art der Wahrnehmung werden zu einer existentiellen Bedrohung, weil sie die Eltern dazu veranlassen könnten, ihm die lebensnotwendige Fürsorge zu entziehen. Die Folge ist eine Identifikation mit den Eltern. Das Eigene wird als etwas Fremdes verworfen, statt dessen übernehmen wir die kinderfeindliche Haltung der Eltern. "Eigentlich weiß ich, daß ich mit den Studenten alles richtig mache", sagte mein Patient, "aber ich habe dauernd den Gedanken im Hinterkopf: Du mußt es noch besser machen! Damit verderbe ich mir alles."

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Wie alles anfängt

Ob Völkermorde, Folter oder die alltägliche Erniedrigung von Kindern durch ihre Eltern – eines haben all diese Beispiele für Gewalt und Haß gemeinsam: das Gefühl der Abscheu vor dem anderen, dem "Fremden". Die Täter stufen sich selbst als "Menschen" ein, doch das Gegenüber verdient diese Bezeichnung nicht. Der andere wird zum Unmenschen degradiert. Es ist, als würde man sich durch diesen Vorgang selber reinigen. Indem man andere abtut und sie peinigt, befreit man sich vom Verdacht des Beschmutztseins. Das Reinsein oder Beschmutztsein wird so zum Merkmal, das den Menschen vom Nicht-Menschen unterscheidet. Dabei verlagert sich die Wahrnehmung auf eine abstrakte Ebene. Der andere wird nicht mehr in seiner individuellen Menschlichkeit gesehen. Er ist nur noch Bestandteil einer Gruppe. Seine konkreten Gefühle, Einstellungen und Verhaltensweisen verschwinden aus dem Blickfeld, statt dessen wird seine Persönlichkeit auf eine einzige Eigenschaft reduziert: die Zugehörigkeit zur Gruppe. Diese Abstrahierung macht ein empathisches Erleben des anderen unmöglich.

Empathie ist eine grundsätzliche Fähigkeit aller Lebewesen. Sie ist die Schranke zur Unmenschlichkeit und der Kern unseres Menschseins, also auch Kern dessen, was unser Eigenes ist. Wenn aber dieses Eigene verachtet und als nicht zu uns gehörig abgespalten werden muß, kann sich auch die Empathie nicht frei entwickeln. Unsere Fähigkeiten, mit anderen mitzufühlen, verkümmern. Der Prozeß, durch den das Eigene zum Fremden wird, verhindert also, daß Menschen sich menschlich begegnen – mit Anteilnahme, Einfühlungsvermögen und gegenseitigem Verstehen. Und so wird die Abstraktion zur Basis unserer Beziehungen.

Die Anfänge dieser Entfremdung liegen in der Kindheit. Das wird nirgendwo deutlicher als in einem Satz, den Hitler 1934 bei einer Rede vor der NS-Frauenschaft formulierte: "Jedes Kind ist eine Schlacht." Damit drückte er in erschreckend klarer Weise aus, was in westlichen Kulturen auch heute noch oft als unumstößliche Wahrheit angesehen wird: daß es eine natürliche Feindschaft zwischen Säugling und Eltern gibt. Im Kampf der sogenannten Sozialisation muß das Kind dazu gebracht werden, sich dem Willen der Eltern zu unterwerfen, und daran gehindert werden, seinen eigenen Bedürfnissen und Genüssen nachzugehen. Der Konflikt ist unvermeidlich, und er muß zum Wohle des Kindes durch die Beharrlichkeit der Eltern gelöst werden.

Chamberlains kritische Darstellung der offiziellen Erziehungsmethode des Dritten Reiches in Adolf Hitler: Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind veranschaulicht deren pathologische Effekte. Leider beschreibt sie damit aber auch eine Ideologie, die – wenn auch in verhüllter Form – typisch für alle sogenannten großen Zivilisationen ist. Diese besagt: Die Natur der Beziehung zwischen Kindern und Eltern ist die eines Machtkampfes, in dem verhindert werden soll, daß sich der "unreife" Wille des Kindes durchsetzt. Verschleiert wird dabei aber, daß es nicht um ein "Zivilisieren", sondern um die Festschreibung von Herrschaft geht. Die so geartete Sozialisation des Kindes soll dafür Sorge tragen, daß die Motivation zum Gehorsam gegenüber den Mächtigen tief in der menschlichen Seele verankert wird. Das geht aber nur, indem man die Bedürfnisse, Wünsche und Gefühle, die dem Kind eigen sind, zum Schweigen bringt.

Selbst Freud war noch in dieser Ideologie gefangen. Trotz all seiner revolutionären Ideen, mit denen er die Kindheit ins Zentrum unseres Denkens rückte, hielt er an der Vorstellung vom "unvermeidlichen" Kampf zwischen Eltern und Kind fest. Er war der Meinung, jedes Kind sei von universalen Trieben beherrscht und habe nichts anderes im Sinn, als rücksichtslos seine Lüste zu befriedigen. Der Kultur schrieb er die Hauptaufgabe zu, diesen Trieben Einhalt zu gebieten, bevor andere dadurch zu Schaden kämen. Natürlich lassen sich die Ansichten Hitlers und Freuds nicht in einen Topf werfen. Beide haben jedoch eines gemeinsam: die Einstellung, daß das Kind, das seinen ureigenen Bestrebungen überlassen wird, eine Gefahr für die Gemeinschaft bedeutet.

Chamberlains Buch ist ein wichtiger Beitrag über den Versuch der Nazidiktatoren, sich in ihrem Herrschaftsanspruch zu verewigen. Dieser Aspekt, der ja bis in unsere Zeit hineinwirkt, ist als geschichtlicher Vorgang verleugnet worden. Das von der Naziärztin Dr. J. Haarer veröffentlichte Buch Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind (1941) wurde im Dritten Reich zu Hunderttausenden von der NSDAP an junge Eltern überreicht. Auch beim "Übergang zur Demokratie" sah man keinen Grund, es vom Markt zu nehmen. Das Buch wurde noch nach 1945 eine ganze Weile herausgegeben. Haarer liefert darin die ideologische Grundlage für eine Erziehung, in der das Eigene des Kindes zum Fremden gemacht wird. Ich möchte die wesentlichen Aussagen deshalb kurz zusammenfassen:

Babys und Kleinkinder sind nach Haarer tendenziell unersättlich. Sie können nie genug kriegen von verwöhnender Beachtung, ständig wollen sie herumgeschleppt werden, was den Erwachsenen natürlich lästig ist.

Babys schreien aus Veranlagung, zornig und lang anhaltend, zum Zeitvertreib oder um etwas zu erzwingen. Babys und Kleinkinder wollen sich nicht fügen, wollen nicht so, wie die "Großen" wollen, sie erproben diese, widersetzen sich und tyrannisieren. Von Natur aus sind sie unrein, unsauber, schmuddelig, schmieren herum mit allem, was sich bietet.

Die Eigenschaften, die Eltern ihren Kindern am häufigsten zuschreiben, sind Unsauberkeit, Unreinheit, Gier, Unstetsein, Zerstörungswut. Kinder sind, auch Freud sah es so, unersättlich in ihrem Trieb, stets darauf erpicht, dem Lustprinzip zu folgen. Es sollte uns hellhörig machen, daß es genau dieselben Eigenschaften sind, die dem gehaßten Fremden – ob Jude, Zigeuner, Chinese, Katholik, Kroate, Serbe, Tschetschene, Kommunist oder wer auch sonst – immer wieder unterstellt werden.

Der Fremde ist immer derjenige, dessen Unsauberkeit, Unreinheit usw. uns zersetzen könnte. Hitler sah in den Juden das Fremdgut, das "sein" Volk zersetze. Gleichermaßen betrachtete er die Bekämpfung der Syphilis als eine der wichtigsten Lebensaufgaben der Nation. Die Sterilisation davon betroffener "Erbkranker" schien ihm folglich als "unbarmherzige Absonderung unheilbar Erkrankter" absolut notwendig. In seiner Phantasie sah er Gehirne, Körper und Völker gleichermaßen verfaulen und sich zersetzen.
Der innere Feind, der mit dem Fremden identisch ist, ist jener Anteil im Kind, der verwirkt wurde, weil Mutter oder Vater oder beide ihn verwarfen, weil sie das Kind Ablehnung und Strafe erleben ließen, wenn es auf seiner eigenen und wahren Sicht bestand. Ich sage "wahr", weil die frühesten Wahrnehmungen eines Kindes auf seinen empathisch erlebten Perzeptionen beruhen und deshalb nur wahr sein können. Ich werde später zeigen, daß auch Hitler diese Ablehnung seiner eigenen Lebendigkeit erfahren haben muß und daß er diesen inneren Teil als fremd abgestoßen hat, um eine Verbindung mit seinen Eltern aufrechtzuerhalten. Haarer gibt uns eine Vorstellung über das Wie dieses Vorgangs: Das Kind wird als selbstherrliches Wesen dargestellt, als eine Herausforderung, die die Mutter vor eine schwierige Aufgabe stellt, die diese in angemessener Weise zu erfüllen hat.

Das schreiende und widerstrebende Kind muß tun, was die Mutter für nötig hält, und wird, falls es sich weiterhin ungezogen aufführt, gewissermaßen "kaltgestellt", in einen Raum "verbracht", wo es allein sein kann, und so lange nicht beachtet, bis es sein Verhalten ändert.

All das geschieht natürlich zum Wohle des Kindes und wird als Akt der Liebe dargestellt. Der Kampf, den die Mutter gegen das Kind führt, spiegelt jedoch den Willen der Väter wider, den manche Mütter übernehmen, weil sie sich dem männlichen Mythos der Stärke und Überlegenheit ergeben haben. Auf diese Weise wird das Fremde in den Vätern dem eigenen Kind weitergegeben. Der Haß auf das Eigene bringt Kinder hervor, die sich nur noch als aufrecht gehend erleben können, wenn sie diesen Haß nach außen wenden können. Indem das Eigene als fremd von sich gewiesen wird, wird es zum Auslöser der Notwendigkeit, Feinde zu finden, um die so erlangte Persönlichkeitsstruktur aufrechtzuerhalten.

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Der Gehorsam

Die Ursachen des Gehorsams stehen in unmittelbarer Verbindung zu den Vorgängen der Entfremdung. Denn die Gewalt, die unser Eigenes zum Fremden macht, ist dieselbe, die den Gehorsam erzwingt. Das Ausmaß an Gewalt, das der Einzelne erfährt, bestimmt den Grad seiner Autoritätshörigkeit.

Stanley Milgrams Arbeiten (1963; 1975) zeigen, daß der Gehorsam in unserer Kultur eine viel größere Rolle spielt, als wir wahrhaben möchten. Wir selbst halten uns in der Regel ja nicht für gehorsam. Milgram hatte seine Untersuchungen in Connecticut durchgeführt, also einem jener US-Staaten, die 1776 als erste gegen England revoltierten und die gemeinhin als sehr demokratisch gelten. Milgram wollte Erklärungen für die Auswüchse des Gehorsams während der Nazizeit finden. Die Arbeiten von Theodor W Adorno (1950) und Erich Fromm (1941) hatten ihn zu seinen Experimenten inspiriert. Zu seiner eigenen Überraschung zeigte sich dann, daß auch normale amerikanische Mittelklassebürger zu grausamen Taten bereit waren, wenn eine Respektsperson ihnen Gehorsam abverlangte. 65 Prozent von Milgrams Versuchsteilnehmern folgten ohne große Widerrede den Anweisungen eines Versuchsleiters, der als wissenschaftliche Autorität ausgewiesen wurde. In einem fingierten Forschungsprojekt ließen sie Menschen aus angeblich pädagogischen Gründen mit (vorgetäuschten) Elektroschocks behandeln, obwohl diese unter Schmerzen zusammenbrachen (die "Opfer" spielten dies vor). Selbst Schreie und Ohnmachtsanfälle der Gepeinigten konnten die meisten Versuchspersonen nicht davon abbringen, den Anordnungen des Leiters Folge zu leisten. Nur einer von dreien weigerte sich, mit der Quälerei fortzufahren. Milgrams Experiment wurde inzwischen in vielen Ländern, auch in Deutschland, wiederholt – stets mit denselben Resultaten.

Was geht in einem Menschen vor, der einen anderen aus Gehorsam quält? Der mit ansieht, wie sich sein Opfer unter Schmerzen windet, und trotzdem mit der Bestrafung fortfährt? Milgram ging dieser Frage nicht weiter auf den Grund. Auf meine Nachfrage bestätigte er mir jedoch in einem Briefwechsel, daß die Mehrzahl seiner "gehorsamen" Probanden während des Experiments psychosomatische Störungen entwickelten. Sie schwitzten, zitterten, fingen an zu stottern, bissen sich auf die Lippen und litten unter Krämpfen. Das heißt, daß sie die Schmerzen des anderen durchaus empathisch miterlebten, was auch aus den Untersuchungsprotokollen ersichtlich ist. Sie ließen sich jedoch durch ihre psychosomatischen Reaktionen auf das Leiden ihres Opfers in keiner Weise in ihrem Tun beeinflussen. Die Not des anderen, seine Schmerzen, sein Leid, seine Verzweiflung drangen also nicht wirklich in ihr Bewußtsein vor, obwohl es eindeutige psychosomatische Reaktionen darauf gab. Möglicherweise bedeutet dies, daß das Auftreten psychosomatischer Reaktionen bereits ein Anzeichen einer Entfremdung von der eigenen Wahrnehmung und den eigenen Gefühlen ist.

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