Auszüge aus Arno Gruen's
"Haß in der Seele"

Verstehen, was uns böse macht
Doris Weber interviewt Arno Gruen

zurück zur Seite über Arno Gruen

Vorwort von Doris Weber

Zum ersten mal begegnet bin ich Arno Gruen im Sommer 1989. Es waren seine Worte, denen ich begegnet bin und die ich seitdem immer wieder aufgesucht habe. Arno Gruen schrieb damals in seinem Buch Der Verrat am Selbst über den Menschen, der sich aus Angst vor der Freiheit lieber selbst verrät, das eigene Selbst zum Feind macht. Er schreibt:

Die Flucht vor der Verantwortung ist zutiefst die Furcht, ein eigenes Selbst zu haben. Es ist nicht die Furcht vor einer abstrakten Verantwortung, sondern es ist die Verantwortung, sich selbst zu verwirklichen, die uns bedroht. Unsere eigene Lebendigkeit und die des anderen machen uns Angst. Bricht diese Lebendigkeit doch einmal durch, so steigt Wut auf, und wir selber wenden uns selbst gegen unsere eigene Freiheit. Es ist die Lebendigkeit selbst, gegen die wir uns stellen.

Lebendigkeit, Kreativität und Liebesfähigkeit, das sind die Schlüsselworte von Arno Gruen. Soviel Trauer fühlt er über den Menschen, der tot ist, obwohl er lebt, soviel Mitgefühl mit dem Menschen, der sein Herz in Kälte erstarren läßt, um die Liebe nicht fühlen zu müssen. Arno Gruens zentrale These lautet: Der Verlust von Lebendigkeit, Kreativität und Liebesfähigkeit zeugt von Abhängigkeit und Unterwerfung, er führt zur Anpassung an die falschen Götter, er führt zu Haß und Gewalt. Der Mensch ist ein Getriebener, eine innere Macht schickt ihn auf eine rastlose Suche, oft ein Leben lang – und es ist diese Suche, die dem Menschen zum Verhängnis wird. Wie kommt es zu dieser zerstörerischen Kraft, die den Menschen so böse macht? Behutsam und niemals belehrend zeigt Arno Gruen die verschiedenen Entwicklungsstufen eines Menschen auf, in denen er mehr oder weniger durch Erziehung und Lieblosigkeit von sich selbst weggeführt wird, in denen er durch seinen Willen zum Überleben und dem ihm auferlegten Zwang zur Anpassung sich selbst verleugnet, verrät und das eigene Selbst zum Fremden erklärt. Arno Gruen fordert die Menschen auf, die "innere Macht" beim Namen zu nennen, den Schmerz zu riskieren und hinzuschauen, was mit dem Kind geschehen ist, bevor die fremden Mächte sein Innerstes besetzten und das lebendige Eigene aus seinem Leben vertrieben. Er fordert Mut zur Wahrheit, Mut zum Schmerz und Mut zur Trauer, denn nur über diesen Weg findet der Mensch zu seiner Lebendigkeit zurück, zu seiner Autonomie, die nicht Stärke und Überlegenheit bedeutet, sondern volle Übereinstimmung des Menschen mit seinen eigenen Gefühlen. Das ist freilich ein unpopuläres Anliegen in einer Welt, die alle menschlichen Werte "verdreht", in einer Welt der Rollenspieler, in der die Pose mehr imponiert als die Wahrhaftigkeit, das Image der Siegertypen mehr fasziniert als der Mut zur Schwäche, zum Schmerz und zur Liebe. In einer solchen Welt steht ein Mensch, der Liebe und Mitgefühl empfindet, auf einem einsamen, "verlorenen" Posten. Aber genau dort, auf den vorlorenen Posten, sagt Arno Gruen, kann das wirklich Menschliche geschehen. Es ist eine Lust, Arno Gruen zu hören, zu lesen, mit ihm zu sprechen. Sein universales Denken und Wissen – nur alphabetisch angefangen bei Adorno über Meister Eckhart, Hermann Hesse, Kokoschka, Lenin, die Marx-Brothers bis hin zum Apostel Matthäus, über Nietzsche, Orwell, Proust, Rilke, Sophokles, Tucholsky zeugt von einer Heimat in der Welt der Dichter und Denker; sie sind seine geistigen Weggefährten auf der Suche nach Menschlichkeit und wahrer Autonomie, und sie gewähren einen Blick weit hinaus über die Grenzen der klassischen psychoanalytischen Schulen, in denen sich Arno Gruen nie vollends zu Hause fühlte.

Das Private ist politisch. Alle großen Machthaber, auch Hitler und Stalin, hatten eine Kinderstube, sagt Arno Gruen. Und es ist atemberaubend, wenn er mit dem hellen Strahl einer Taschenlampe in die dunklen Seelenkammern dieser Führer leuchtet. "Ich meine nicht, daß man mit Politikern psychoanalytisch reden soll. Ich meine, daß man jemanden, der lügt, sagen soll, daß er lügt." Solange wir glauben, "daß wir die Liebe dieser Leute benötigen, um erlöst zu werden, sind wir verloren", schreibt Arno Gruen, und weiter: "Wenn wir wieder lernen, andere Menschen auf eine natürliche Art empathisch wahrzunehmen, kann uns niemand mehr an der Nase herumführen."

Arno Gruen sagt es jedem ins Gesicht, wenn er lügt. Wenn man ihn an der Nase herumführt, dann wird dieser leise, kluge Mann wirklich böse. Nichts liegt ihm ferner als der Zynismus der Besserwisser, als die eitle Pose des Überlegenen. Er ist schweigsam und bescheiden, voller Mitgefühl mit den Menschen und voller Respekt vor ihrem Leiden, und seine Demut ist wahrhaftig, wenn er sagt. "Das ist es, was mich dauernd bewegt – dieser Versuch, mich mir selber zu stellen. Mir selber ins Auge sehen zu können. Es geht nicht darum, was der andere denkt. Zuerst muß ich mich dauernd moralisch selbst anschauen, um zu sehen, ob ich mir genüge. Ob das, was ich tue, genügend ist. Ob ich dem entspreche, wovon ich glaube, daß ich ihm entsprechen sollte. Das ist ein ständiges Ringen, mit sich und auch mit der Welt.

Der Verrat am Selbst: Wie Haß und Terror entstehen

Der Mensch ist ein Getriebener. Eine innere Macht oder Kraft schickt ihn auf eine rastlose Suche, oft ein Leben lang. Und diese treibende Kraft ist es, die den Menschen böse macht. Das ist eine Ihrer zentralen Aussagen, und Sie nennen diese innere Macht "den Fremden in uns". Wer ist das, der Fremde in uns?

Der Fremde in uns ist der Teil von uns, der uns am meisten eigen ist. Also der Teil, der wirklich uns selbst gehört, der uns aber abhanden kam, weil wir kein Echo dafür bekamen, schlimmer noch: weil dieser Teil aus irgend einem Grund von den Eltern, den Erwachsenen, die uns umgeben, nicht angenommen wurde, weil sie sich davor fürchteten oder weil sie davon nichts wissen wollten. Der Fremde in uns ist der Teil, der eigentlich mit uns, wie wir hätten sein können, am meisten zu tun hat. Und das ist unsere Tragödie: Wenn dieser Teil von uns selber uns zum "Fremden" wird, dann sind wir für den Rest unseres Lebens Getriebene, wir sind auf der Jagd nach diesem Teil, aber nicht in einem positiven Sinn. Wir suchen immer wieder den Kontakt zu diesem uns abhanden gekommenen Teil, um ihn zu bestrafen, um ihm Gewalt anzutun, wir wollen ihm das antun, was wir in unserer eigenen Geschichte erlebt haben. Wir geben andauernd weiter, was uns angetan wurde.

Dieser Fremde in uns ist zugleich der Teil, der am lebendigsten in uns ist, der uns, wenn er leben dürfte, unsere Persönlichkeit geben könnte, der uns helfen könnte, das zu werden, was wir sind, der uns zum Original machen würde und nicht zu einer Kopie?

Ja, das kann man so sagen. Reden wir von dem Menschen als Original: In sogenannten primitiven Gesellschaften, wo die Beziehung zwischen Eltern und Kindern davon geprägt ist, daß Eltern ihre Kinder in ihrem "Sein" wirklich akzeptieren, haben Anthropologen immer wieder verwundert beobachtet, daß die Vielfalt von Persönlichkeiten viel breiter gefächert ist als bei uns. Der Respekt vor diesem Kind, das als unverwechselbares Original zur Welt gekommen ist, das so geliebt wird, wie es ist, das so leben darf, wie es ist, das ist wohl der Grund dafür, daß ein Kind sich ohne Angst vor Zurückweisung nach seinen ganz eigenen Möglichkeiten entfalten kann. Wir hier in unserer Kultur werden schon von Anfang an von dieser Lebendigkeit ferngehalten, wir werden eingeschränkt durch die Wünsche und Vorstellungen unserer Umgebung. Deswegen sind die Persönlichkeitsbilder, die wir von uns geben, viel reduzierter als bei Menschen, die eine Kindheit erlebt haben, die nicht so restriktiv war.

Warum ist es bei uns so anders? Ist das ein kulturelles Problem? Fühlen sich die Eltern selber so stark eingebunden in Normen und Regeln, haben sie Angst, daß das Kind sich anders entwickeln könnte, als die Gesellschaft es will? Daß es anstößig, auffällig wird? Die meisten Eltern haben doch zumindest den Wunsch, daß ihr Kind sich frei entfalten kann, so zu werden, wie es ist?

Eltern haben diesen bewußten Wunsch. Aber was wir als Menschen, die in einer Kultur aufgewachsen sind, wo wir uns einordnen mußten, wirklich tun, ist wieder etwas anderes. Wir haben Ideale, und die verwirren uns, denn das Bild, das wir von uns geben, stimmt oft nicht damit überein, wie wir wirklich sind. Die meisten Eltern wollen ja nicht destruktiv sein. Sie wollen ihre Kinder gar nicht einengen. Wenn sie es tun, tun sie es in dem Glauben, daß sie das Beste für das Kind tun. Sie erziehen das Kind zum Ehrgeiz, zum Wettbewerb, zum Gehorsam, und gleichzeitig passiert es, daß das, was dem Kind eigen ist, verworfen werden muß. Wir glauben, wir tun nur das Beste für das Kind. Aber in der Tat engen wir Kinder ein, denn sie müssen ja dem entsprechen, wovon wir glauben, daß es gut für sie sein wird. Und wenn sie sich nicht unterordnen, bestrafen wir sie und sagen: Es ist ja für dich und dein Leben gut, wir wollen doch nur dein Bestes. Das ist eigentlich die Quelle unserer Schwierigkeiten mit uns selber, mit der Welt, in der wir leben.

Haben Eltern Angst?

Ja, aber die Angst ist meistens keine bewußte Angst. Das ist ja wieder das Problem. Man darf gar nicht wissen, daß man Angst hat, weil man sich ja einst selber angepaßt hat an das, woran man sich aus Angst anpassen mußte. Kinder können nicht überleben, wenn sie keinen Zugang zu ihren Eltern haben. Deshalb tun sie alles, um den guten Willen der Eltern auf sich zu ziehen, um das aufrecht erhalten zu können, wovon sie glauben, daß es Liebe für sie ist. Kinder brauchen Liebe und Zuwendung, um zu überleben, und weil sie das so dringend brauchen, können sie es nicht aushalten, wenn Eltern kalt und ablehnend werden. Dann geht es ihnen so, wie es ein Patient von mir einmal schilderte: "Ich kletterte die Wände hoch, und niemand bemerkte mich." Da war er ein ganz kleines Kind und niemand hörte auf seine wirklichen Bedürfnisse.

Aber zu erkennen, was mit uns passiert ist, was die Eltern, der Vater oder die Mutter, uns zugefügt haben, das bedeutet, sich auf einen großen, tiefen Schmerz einzulassen. Erst dann würden wir die eigene Angst, die uns bewegt, erkennen, erst dann würden wir wissen, warum wir so sind und warum wir wiederum mit unseren Kindern so umgehen. Dann würden wir wissen, was vor sich geht. Aber nein, wir wissen es nicht mehr. Wir haben Angst vor dem Schmerz und diesem Wissen. Denn um den Mythos der heilen Welt, mit dem wir erzogen wurden, aufrecht zu erhalten, dürfen wir noch nicht einmal von den Ängsten wissen, die uns wirklich bewegen und zu negativen Handlungen führen. Nur in den Zwischenräumen, in der Therapie, merke ich, daß dieser frühe Terror, den so viele Kinder erleben, weil sie in ihrem Sein nicht anerkannt wurden, eine zerstörerische Kraft ist, die wirklich tödlich sein kann. Schon der große amerikanische Psychologe William James, der damals Freud und Jung nach Harvard einlud, beschrieb Anfang des 20. Jahrhunderts, daß es tödlich ist, wenn ein Mensch von den anderen nicht erkannt wird in seinem Sein, daß er sogar noch als Erwachsener daran verrückt werden kann. Menschen können daran sterben. Ich will damit sagen: Der Terror ist da, aber der Terror ist so groß, daß wir nicht damit leben können. Wir erleben ihn stattdessen als Angst vor dem Fremden.

Diesen Verwandlungsprozeß nennen Sie den "Selbstverrat": Wenn ein Mensch in seinem Sein nicht anerkannt wird, deutet oder betrachtet er sich selbst mit dem negativen Blick im Sinne seiner ablehnenden Eltern. Das Kind sagt sich: Ich bin schlecht, weil meine Eltern mich nicht lieben können, es liegt an mir, denn meine Eltern sind gut. Das Kind wird sozusagen zum Komplizen seiner Eltern, es verrät sich selbst. Dieser Selbstverrat, das haben Sie schon in den siebziger Jahren geschrieben, findet in einem ganz frühen Stadium statt: Das Kind muß sich, weil es überleben will, den Eltern zur Verfügung stellen. Aber wie ist das möglich? Merkt denn ein Kind, kaum geboren, wirklich schon, ob es in seinem So-Sein anerkannt wird oder nicht? Kann ein neugeborenes Kind tatsächlich schon darauf reagieren?

Nun, wir haben sehr viele klinische Studien darüber, wie Kinder in den ersten Tagen, in den ersten Wochen ihres Lebens reagieren. In dem Buch der französischen Kinderpsychiaterin Eliachoff mit dem Titel Das Kind, das eine Katze sein wollte gibt es eine Geschichte von einem Kind, das zwölf Tage nach der Geburt zur Adoption weggegeben wurde. Es war fünf Wochen alt, es war also nicht mehr bei der Mutter, aber es gab Krankenschwestern, die sich sehr liebevoll mit ihm beschäftigten und dabei auch miteinander über das Kind sprachen. Plötzlich entwickelte der Säugling am ganzen Körper weiße Flecken, und an der medizinischen Fakultät der Universität von Paris konnte niemand etwas tun. Niemand verstand die Symptome, bis sie dann auf die Idee kamen, das Kind in die Kinderklinik von Eliachoff einzuweisen. Und dort fand man heraus, daß die Mutter gesagt hatte, daß das Kind von irgendwelchen Eltern adoptiert werden dürfe, nur nicht von solchen, die eine dunkle Hautfarbe haben. Der Vater des Kindes war ein Schwarzer gewesen, und etwas in der Mutter war völlig gegen diesen Vater eingestellt. Offensichtlich sprachen die Krankenschwestern darüber, während sie dieses Kind in der fünften Woche wickelten, und danach passierte es, daß die Haut des Kindes übersät war mit weißen Flecken. Eliachoff nahm das kleine Kind, wiegte es in ihren Händen und sagte zu ihm: "Hör zu, deine Mutter meinte es sehr gut mit dir. Aber weißt du, du hast ein Recht auf deine eigene Hautfarbe." Am nächsten Tag begann das Kind zu gesunden. Man kann nicht behaupten, daß Kinder die Syntax unserer Sprache so verstehen wie wir später als Erwachsene. Aber Kinder spüren schon im Mutterleib etwas von den Emotionen, die in der Mutter vor sich gehen, wie auch später nach der Geburt. Da gibt es viele Beispiele, die zeigen, daß Kinder schon sehr früh reagieren. Sie reagieren besonders auf die emotionalen Ausdrücke der Erwachsenen in ihrer Welt.

In meiner Studie über den Plötzlichen Kindstod zitiere ich eine sehr interessante Arbeit von Professor Jochen Stork aus München. Er arbeitete mit einem Kind namens Caesare, das vom Plötzlichen Kindstod bedroht war. Das Kind war dauernd körperlichen Attacken ausgesetzt, es litt unter Atemausfall und Herzstillstand. Stork bat die Eltern zu Gesprächen. In der ersten Sitzung wurde etwas klar gesagt, das nie zuvor ausgedrückt worden war, nämlich daß die Mutter mit ihrem Bild, das sie von diesem Kind hatte, in großem Konflikt war. Es entsprach nicht ihren Wünschen, wie ein Kind aussehen sollte. Sowieso hätte sie viel lieber ein Mädchen gehabt. Stork sprach ganz direkt mit dem Kind über diese Gefühle.

Er sprach mit dem sechs Monate alten Kind?

Ja, wirklich! Die Mutter kam mit dem Kind in das Zimmer. Eine Weile spielte es auf dem Knie der Mutter, dann nahm er es und sagte dem Kind, was er empfand über diese Zusammenkunft mit der Mutter, mit dem Kind selbst und mit dem Vater des Kindes. Er sprach das Kind direkt und persönlich an. Professor Stork schilderte dem Kind seine Beobachtungen. Wie es war, als er mit der Mutter sprach, die das Kind auf ihren Knien hielt. Er sprach über alles, was er gesehen und empfunden hatte, und er sagte, daß dieses sechs Monate alte Baby mit seinen dunklen Augen ihn von Zeit zu Zeit mit wacher Aufmerksamkeit anschaute. Wenn Stork über die Beziehung der Mutter zu ihrem Kind sprach, nahm er bei dem Baby einen zögernden Blick voller Ängstlichkeit wahr, mit dem es kurz den Vater streifte. Stork sah, daß das Baby zugleich erschreckt und wie ein "schreckenerregender Dämon" aussah. Und dann machte er es darauf aufmerksam, daß die Mutter ihn in einer sehr wackligen Position hielt, sie hielt ihn eigentlich gar nicht. Er hätte leicht herunterfallen können. Das hat etwas mit der Ablehnung seitens der Mutter zu tun, mit ihrem Konflikt mit dem Kind. Auch erzählte Stork dem Kind von seinen ängstlich dreinschauenden Augen und dunklen Haaren, die sich die Mutter ganz anders gewünscht hätte. Und daß es für die Mutter sehr arg sei, daß er nicht so aussehe, wie die Mutter ihn sich vorgestellt hatte. Stork schildert weiter, wie das Kind in dem Moment zum Vater schaut, wie es seinen Blick sucht. Er erzählt dem Kind auch, daß es so aussehe wie sein Vater. Er habe dieselben dunklen Augen und Haare, und eigentlich sei er ganz der Vater. Er spricht darüber ganz positiv. Das sind die Dinge, die er dem Baby sagt. Kurz und gut: Stork spricht die Wahrheit vor dem Kind aus.

Offen und schonungslos in das Gesicht eines sechs Monate alten Babys.

Ja. Wir denken immer, wir müssen alle beschützen. Und das Beschützen ist das, was uns kaputt macht. Nach dieser ersten Sitzung, in der die erlebten Gefühle mit diesem sechs Monate alten Kind ausgesprochen wurden, änderte sich Ceasares Symptomatik. Seine Schlafstörungen besserten sich, die Anfälle von Atemausfall und Herzstillstand blieben – mit einer Ausnahme nach der 13. von insgesamt 32 Sitzungen – völlig aus.

Ceasares Geschichte macht deutlich, daß die fehlende Anerkennung der Emotionen und Wahrnehmungen eines Kindes, die Verletzung seiner Grenzen, einer Verleugnung seines Seins gleichkommt. Sie stellt nicht nur das Selbst des Kindes in den Hintergrund, sondern erstickt auch seine aufkommenden aggressiven Reaktionen auf diese Grenzverletzungen. Die Aggression hatte sich in diesem Fall nach innen gewendet. Die erste therapeutische Sitzung, die ich eben beschrieben habe, führte nachweislich zu einer Entspannung innerhalb der Familie, weshalb Ceasare auch zum erstenmal seine Wut nach außen lenken konnte. Zu Beginn der zweiten Sitzung, also gleich nach dieser ersten, habe die Mutter, so Stork, erzählt: Am Tag vorher habe Ceasare ganz fürchterlich zu schreien angefangen. Nicht so wie sonst, mit Tränen. Er hat sonst nie richtig geschrien, so etwas war bei ihm noch nie vorgekommen. Und auch in der Nacht sei das klägliche Weinen im Schlaf nicht mehr aufgetreten, sondern er sei verschiedene Male kurz aufgeschreckt, habe geschrien und sich wieder beruhigen lassen. Der unmittelbare Ausdruck seiner aggressiven Gefühle führte dazu, daß seine Mutter anfing, seine Existenz anzuerkennen. In ihren Augen, sagte sie, sei er größer und wichtiger geworden. Das heißt, wenn das Lebendige in einem Kind anerkannt wird, dann darf es als die ihm eigene Lebendigkeit erscheinen. Es braucht nicht zurückgewiesen, abgewiesen oder fremd werden.

Sie haben eben gesagt, wir wollen immer beschützen. Warum ist das etwas Negatives?

Wir denken, wir beschützen die Kinder, wenn wir ihnen nicht die Wahrheit sagen. Ein Beispiel: Eine Mutter ist wütend, aber sie denkt: "Man darf doch nicht wütend sein auf ein Kind." Also tut sie so, als ob sie liebend wäre, obwohl sie Wut spürt. Aber Kinder, ganz kleine Kinder, die haben die wahren Gefühle schon im Mutterleib erlebt, schon durch die Geräusche und Rhythmen der Zirkulation, der Bewegungen der Mutter, ihre emotionalen Zustände, denen sie ja direkt ausgesetzt sind. Sie erleben alles auf empathische Weise. Sie wissen, wann jemand Wut unterdrückt und wann nicht. Eltern möchten gut sein, sie möchten gut dastehen, vor sich und den anderen, deshalb verhüllen sie ihre negativen Gefühle und sprechen mit dem Kind so voller Güte. Das Kind aber erlebt und fühlt etwas ganz anderes. Wenn eine Mutter dagegen sagt: "Mensch, wenn du das tust, machst du mich wirklich wütend", dann braucht sie vielleicht gar nicht mehr wütend zu sein, sie kann sogar das Kind halten, sie kann es lieben, sie kann sich dessen bewußt sein, daß etwas passierte, weswegen sie auf das Kind wütend war. Wenn das jedoch nicht möglich ist, wenn die Mutter nicht zu ihren negativen Gefühlen stehen kann, dann darf auch ein Kind seine wahren Wahrnehmungen, seine echten Wahrnehmungen nicht wahrhaben. Und das, was wahr ist, aber was das Kind nicht wahrhaben darf, wird weggesperrt, wird Teil des Fremden in uns, der fortan nicht leben darf. Natürlich gilt dies auch für den Vater.

Das ist also ein Teil des Prozesses, wie sich ein Mensch fremd wird: Das Kind darf nicht wahrhaben, was die Eltern fühlen. Weil die Eltern ihre Gefühle wie Wut, Haß, Ablehnung verleugnen, darf es nicht auf das authentische Gefühl, auf das, was es wirklich wahrnimmt, reagieren. Es darf auch nicht wahrhaben, was es wirklich wahrnimmt. Was tut es stattdessen?

Es paßt sich an, weil es ohne Zuwendung nicht leben kann. Es fängt an, die Eltern so zu sehen, wie sie gesehen werden möchten. Der Preis dafür ist, daß es seine eigene Sichtweise, sein eigenes Gefühl verleugnet, und auf diese Weise wird ein ganzer Teil dessen, was dem Kind eigen ist, abgestoßen, eingemauert, fremd. Das Kind wird sich selbst zum Fremden, und dann können zwei Dinge geschehen. Während ein Kind die aggressiven Gefühle, die ja noch existieren, gegen sich selbst, gegen sein eigenes Sein richtet, gibt es andere Kinder, die ihre Aggression nach außen richten. Und das sind die Kinder, die dann später dauernd andere entweder runtermachen müssen, andere angreifen, ja ihnen sogar körperlich Schaden zufügen müssen. Diese Kinder suchen dauernd Opfer, ob es nun Schwache sind im Fall von Jungen oder Mädchen, oder Zigeuner, Juden oder Afrikaner. Auf alle Fälle brauchen diese Kinder – auch später, wenn sie erwachsen sind – etwas oder jemanden, der ihnen das Fremde in sich selber, das sie wegweisen mußten, repräsentiert. Und dann wiederholen sie beim anderen, was ihnen angetan wurde. Sie fangen an, ihn zu bestrafen, denn das ist es, was sie selbst erlebten. Und auf diese Art geben sie weiter, was ihnen angetan wurde. Der Fremde in uns führt in zwei, nein, man könnte sagen, in drei Richtungen. Machen Menschen richten die Aggression völlig gegen sich, und andere richten diese Aggression völlig nach außen. Und dann gibt es viele Menschen dazwischen, die tun beides. Sie wüten gegen sich selbst und gegen die anderen.

Wir sprechen mittlerweile über den Haß.

Ja, denn das Fremde wird ja gehaßt, weil es nicht dem entspricht, wie man nach Vorstellung der Eltern sein sollte. Ein Kind kann nicht darüber nachdenken, es spürt einfach, daß es nicht genehm ist.

Aber könnten wir uns nicht den Eltern widersetzen, könnten wir den Fremden in uns nicht trotzdem lieben? Was passiert, wenn wir gegen die Eltern handeln?

Das ist nicht so einfach. Ein Kind kann nicht gegen die Eltern handeln. Ein Kind ist doch viel zu hilflos, es ist ja ausgeliefert. Ich rede von Kindern, die einen Tag alt sind, eine Woche, zwei Wochen, einen Monat, sechs, acht Monate – das Kind ist ja wenigstens bis zum 36. Monat seinen Eltern ausgeliefert. Es kann ja gar nichts für sich tun. Später kann es trotzig werden, aber ohne die Quelle dieses Trotzes zu verstehen, wodurch der Trotz zu etwas Negativem wird, der das Kind als "böse" brandmarkt, genau, wie es die Eltern ja von ihm sagen. Sie sagen ja, daß das Kind nicht gut ist. Und nun "liefert" das Kind den Eltern die Bestätigung, nämlich daß es unartig und schlecht ist.

Das Kind fühlt: Wenn ich nicht zum Komplizen meiner Eltern werde, werde ich sterben, verhungern, krank werden. Es merkt ja, daß es auch körperlich vollkommen auf die Eltern angewiesen ist.

Ja, natürlich. Ich denke, die Schizophrenie z.B. ist eine andere Antwort auf das, was Sie eben beschrieben haben. Um dem Druck zu entkommen, versucht der Schizophrene seine Welt, das meint ja am Anfang die Welt der Eltern, nicht an sich herankommen zu lassen. Ein Beispiel: Eine Patientin, die dreißig Jahre in verschiedenen psychiatrischen Institutionen war, sagte mir: "Ich war einfach Magd." Magd sein bedeutet, sie war niemals sie selber, sie war nur da im Dienste der anderen. Mit anderen Worten: Sie führte nur die Befehle anderer aus. Aber sie tat nie, was sie selber zu tun wünschte. Deswegen konnte niemals jemand an sie herankommen und ihr die eigenen Wünsche verübeln oder sie für die eigenen Wünsche hassen, ablehnen oder bestrafen. Auf diese Art "rettete" sie den Kern ihres Selbst. Zugleich ist das natürlich eine Art, ihn zu töten oder daran zu sterben, weil man ihn nicht entwickeln kann. Doch dieser Kern bleibt so der eigene, auch wenn der Preis dafür sehr hoch ist. Der Preis ist eine Art lebendiges Sterben.

Und nicht der Verrat am Selbst?

Nein, ein Schizophrener tut das nicht. Der verrät sich nicht. Er ist ja nicht gehorsam im Sinne von "Ich will gehorsam sein". Nein. Ein Patient formulierte es mir gegenüber einmal so: "Solange ich nur das tue, was Sie wollen, ist ja mein Wille nie involviert, und so bleibe ich frei." Das ist etwas ganz anderes als bei den Gehorsamen, die darauf bestehen, gehorsam zu sein und eine Tugend daraus machen und dann auch andere Leute benötigen, um gehorsam zu sein. Wenn andere nicht gehorsam sind, dann werden sie wütend und gewalttätig, denn sie müssen Gehorsam dauernd weitergeben. Es ist nur eine andere Variante, wie manche Menschen mit dem, was fremd gemacht ist, umgehen. Man kann die resultierende Wut gegen sich selbst wenden, man kann die resultierende Wut gegen andere Menschen wenden, oder man versucht, außerhalb der Wut und jeglicher Beziehung zu bleiben, indem man sich den Kern des eigenen Selbst von Berührungen fern hält. Und das ist ja auch eine Art Krankheit, aber diese Pathologie kann ja nur verstanden werden, wenn wir sie im ganzen gesellschaftlichen Kontext verstehen; es ist nämlich der gesellschaftliche Kontext, der dazu führt, es ist nicht etwas, das dem Menschen angeboren ist oder so etwas.

Dann sind die gehorsamen, die angepaßten, die leistungsfähigen Menschen, die, die ganz nach oben kommen wollen, die an den Schaltstellen der Macht in dieser Gesellschaft sitzen, möglicherweise pathologisch, denn dieser Gehorsam ist doch auch eine Variante der Anpassung, die sehr gewalttätig sein kann? Gewalttätig gegen die anderen, vor allem, wenn ich im Nahmen der hehren Moral handle: "Gehorsam sein ist etwas Gutes." Und deswegen muß ich auch auf dem Gehorsam von anderen bestehen.

Absolut. Ich denke, das ist genau das, was vor sich geht. Wir sehen nicht, was die wirkliche Motivation dieser Menschen ist, die nach oben kommen, denen wir dann zujubeln, weil sie so erfolgreich sind, die großen Führer, die Genies usw. Diese Motivation ist destruktiv. Ein Mann, der das fabelhaft beschrieben hat, ist Henrik Ibsen in Peer Gynt. Dieser Mann, Peer Gynt, mußte alles erobern – unter anderem auch die Wüste. Er sieht sie als schön und wunderbar, aber er kann die natürliche Schönheit nicht lassen, er muß sie in den Griff bekommen, bändigen, einen Staudamm und ein großes Elektrizitätswerk bauen.

Was ist jetzt das Pathologische daran? Wenn er so ein großer Welteneroberer ist, könnte man doch sagen, ein toller Typ. Die Eltern werden sicher sagen: "Wir sind stolz auf unseren Sohn!"

Stimmt. Das Erobern verdeckt das Destruktive und die Gewalt im Namen der Güte und des Gemeinnutzes. Das hat aber nichts mit Liebe zu tun. Sehen Sie sich doch an, was den Menschen jetzt im Namen der Globalisierung angetan wird. Aber das Leid, das Menschen wirklich angetan wird, zählt bei den Inhabern der Macht überhaupt nicht. Und das nenne ich pathologisch. Wenn der Mensch und seine Bedürfnisse nach Wärme und Zuwendung nicht mehr gesehen werden, wenn er aus dem Blickfeld gerät, dann nenne ich das pathologisch.

Und genau das passiert im Zuge der Globalisierung. Es geht hier gar nicht mehr darum, was für Menschen wichtig ist, das zählt gar nicht. Was zählt, ist, daß man wirtschaftliche Strukturen aufbaut, die dazu führen, daß man gewisse Produkte zum billigsten Preis produziert. Ob es Menschen zerstört, ob es ganze Kulturen zerstört, das ist unwichtig. Ganze Urwälder werden zum Beispiel abgeholzt. Das ändert natürlich auch das Klima usw. Wenn sich die Industrien immer noch weigern, die Produktion von Gasen, die die Erdatmosphäre zerstören, zu reduzieren, dann ist das pathologisch. Damit machen sie ja das Leben aller Menschen auf dieser Erde immer schwieriger. Vielleicht wird es irgendwann sogar unmöglich. Aber das, was zählt, ist der Profit, nicht der Mensch. Das nenne ich böse, gewalttätig und krank. Natürlich geschieht alles unter dem Deckmantel: "Es ist gut für dich."

Sie haben einmal geschrieben: Alle Menschen hatten eine Kinderstube, ob das ein einfacher Buchhalter, ein großer Feldherr oder der Präsident von Amerika ist. Die Auswirkungen der Destruktivität sind im kleinen Lebensbereich ebenso groß wie in diesen globalen Zusammenhängen. Ob jetzt einer die Natur foltert und zerstört, ob er Kriege führt und mordet oder ob ein Mensch zu Hause seine Familie, seine Kinder zerstört – der Ursprung des Hasses ist immer derselbe, er liegt in den frühkindlichen Erlebnissen.

Der Haß kann ganz direkt sein. Wenn jemand mordet, benötigt er Menschen, auf die er zuschlagen kann, da wird der Haß in der direkten Tat sichtbar. Und dann gibt es den Haß, der nicht direkt sichtbar ist. Wenn man z.B. dabei ist, eine große corporation zusammenzustellen, durch die Menschen ausgebeutet und zerstört werden, oder wenn man die Menschen massenhaft manipuliert, dieses oder jenes Produkt zu kaufen, obwohl es schädlich ist für die Menschen, dann steckt dahinter etwas Destruktives, das man auf den ersten Blick nicht sieht. Es gibt eine Beziehung zwischen Haß und Terror. Haß führt immer zu Terror gegen das Menschsein. Aber dieser Terror ist oft getarnt. Diese Leute, die die Menschen manipulieren, sie in ihr Unglück führen, sehen ja meistens sehr gut aus. Sie tragen teure Kleidung, wirken gepflegt, sie geben sich das Antlitz des Menschseins. Das sind die Leute, die, wie Henry Miller einmal sagte, sich gar nicht erkennen würden, wenn sie sich selbst auf der Straße begegnen würden. Ihr Image und das, was sie wirklich sind, haben überhaupt nichts miteinander zu tun. Ein anderer, der genau das Gleiche einmal sehr wissenschaftlich ausgedrückt hat, war der Soziologe Charles Wright Mills von der Columbia Universität. Er hat das großartige Buch The Power Elite geschrieben, auf deutsch ist es unter dem Titel Die Macht-Elite erschienen. Mills beschreibt, wie solche Menschen, die der Macht so ergeben sind, gar nicht zurücktreten können von ihren Posten. Sie sind gefangen in ihrem Tun und der Notwendigkeit, ihre Macht aufrecht zu erhalten. Um das fertig zu bringen, sind Beziehungen für sie nur eine Plattform für Manöver, in denen sie durch gezieltes Auftreten andere von ihrer Kraft, Willensstärke und Sicherheit überzeugen wollen. Wahre Gefühle bleiben dabei auf der Strecke. Echtes Selbst wird geopfert. Mills schreibt: "Man muß dauernd andere und auch sich selbst davon überzeugen, daß man das Gegenteil dessen ist, was man wirklich ist."

Es geht um die Pose.

Ja, und die Pose wird zur Wirklichkeit in dieser Welt. Das ist das Pathologische.

Denken Sie, wir leben in einem Zeitalter, in dem die Pose mehr zählt als die Wirklichkeit, mehr als die wirklich wahrhaftigen Menschen, die versuchen, authentisch zu sein?

Was war es denn mit Hitler? Hier ist ein Mann, der die Pose zum Extremen verwirklichte. Und er bewegte Millionen. Er löste einen schrecklichen Weltkrieg aus. Er bewegte Mörder überall. Und Millionen folgten ihm, folgen ihm noch immer.

...

zurück zur Seite über Arno Gruen