Auszüge aus Bruno Bettelheim's
"Persönliche Autonomie in der Massengesellschaft"

Ein Jahrhundert wird besichtigt

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Der Vortrag

Ich bin der Robert Bosch Stiftung sehr dankbar, daß sie es mir ermöglicht hat, heute hier zu sprechen. Darf ich Sie um Ihr gütiges Verständnis dafür bitten, daß das, was ich zu sagen habe, auf meinen Erfahrungen in den Vereinigten Staaten beruht und sich nicht in erster Linie auf deutsche Verhältnisse bezieht. Seit 1939 lebe ich in den Vereinigten Staaten, und seither habe ich zu dem, was in Deutschland geschieht, leider in vieler Beziehung den Kontakt verloren.

Glücklicherweise kennen die meisten Deutschen heutzutage die Zeit unter Hitler nur noch vom Hörensagen. Sein Tausendjähriges Reich gehört der Vergangenheit an. Aber viele von uns werden die Angst nicht los, daß das, was einmal geschah, sich wiederholen könnte – wenn auch unter anderen Umständen, in anderer Form, in einem anderen Teil der Welt. Beschäftigt man sich ernstlich mit Überlegungen dieser Art, gerät man in den Bann eines Alptraums, von dem man sich nur sehr schwer befreien kann. Denn es ist leider eine Konsequenz der modernen Massengesellschaft, daß eine solche Diktatur möglich wird. Die überwältigende Macht, die die Massengesellschaft dem Staat einräumen kann, erlaubt es, die Menschen vollkommen zu unterdrücken. Es ist dies eine Gefahr, die wir nicht übersehen dürfen, deren Natur wir verstehen müssen, damit wir uns gegen sie schützen können.

Mir geht das alles besonders nahe, da ich einer der allzuwenigen Glücklichen bin, die ein Konzentrationslager überlebt haben. Wenn man für einige Zeit in einem dieser Lager eingekerkert war, kann man es nie mehr vergessen, es nie mehr gänzlich überwinden. Ich habe am eigenen Leib erfahren, daß der moderne Massenstaat die Macht hat, die Persönlichkeit des Menschen nicht nur weitgehend zu verändern, sondern sie vollkommen zu zerstören. Er kann freie Menschen in willenlose und hilflose Untertanen verwandeln, die aller Selbstbestimmung und jeglicher Art von eigener Persönlichkeit beraubt sind.

Ich habe versucht, meine Erlebnisse im Konzentrationslager zu bewältigen: Ich habe versucht zu beweisen, daß es der Umwelt, die die Persönlichkeit in einem solchen Maße zu desintegrieren, zu zerstören vermag, eigentlich auch gelingen müßte, das Gegenteil zu bewirken, das heißt, daß es möglich sein müßte, eine Umwelt zu schaffen, die es denen, die nie eine eigene Persönlichkeit entwickeln konnten, weil sie durch Bedingungen ihres Lebens zerstört worden war, ermöglichen würde, eine eigene Persönlichkeit, eine persönliche Identität zu erwerben und sich zu autonomen Menschen zu entwickeln. Um dies zu erreichen, bedürfte es aber einer Umwelt, die das genaue Gegenteil des Konzentrationslagers war. Wichtigster Bestandteil eines solchen Projekts war die Selbstbestimmung aller, die in diesem speziellen, heilenden Milieu lebten, die Gewährleistung ihrer Autonomie, die Chance, ihre persönliche Identität so zu gestalten, wie sie selbst es wollten und für gut befanden. In unserem Falle war es die "Orthogenic School", die es psychisch schwerst gestörten Kindern und Jugendlichen möglich machte, sich aus willenlosen, vegetierenden, in manchen Fällen ganz den Drogen verfallenen Wesen in freie Menschen zu verwandeln, die sich ihrer Menschenwürde voll bewußt waren. Eigenbestimmung trat an die Stelle des psychotischen Zwangs.

Unser Experiment hat bewiesen, daß die schwersten psychischen Schäden geheilt werden und vollkommen unfreie Menschen sich zu freien, in sich selbst sicheren Menschen verändern können, wenn sie in einer guten, heilenden Gesellschaftsordnung leben. Der Hitler-Staat hat bewiesen, daß eine totalitäre, rücksichtslose, grausame Gesellschaftsordnung freie Menschen in unfreie Menschen verwandeln kann. Alles hängt also davon ab, in welcher Gesellschaftsordnung man lebt, und was man in dieser Gesellschaftsordnung für sich erreichen kann.

Aber selbst im freien, demokratischen Amerika und im Umkreis einer freien Universität war es oft schwer, eine solche heilende und Autonomie entwickelnde Institution gegen Kräfte abzuschirmen, die diese Autonomie zu zerstören suchten – so stark ist der Einfluß der modernen, von der Technik geprägten Massengesellschaft auf alles, was in ihrem Wirkungskreis vor sich geht. Da dies so ist, und da wir alle in einer solchen Gesellschaft leben, ist es, wenn wir unsere Autonomie bewahren wollen, sehr wichtig, uns über die Probleme, die diese Gesellschaft stellt, klar zu werden. Das ist das Thema, über das ich heute mit Ihnen sprechen möchte.

Der moderne, technologisch orientierte Staat, der auf einer Massengesellschaft aufgebaut ist, ermöglicht es theoretisch allen Bürgern, ein autonomes Leben zu führen. Aber leider macht er es im gleichen Maße möglich, auf Selbstbestimmung zu verzichten und das Leben vom Staat und den Massenmedien lenken zu lassen. In mannigfacher Weise verführt die moderne Gesellschaft die Menschen, sich die Anstrengung, die ein autonomes Dasein verlangt, zu ersparen und sich das Leben von der Gesellschaft vorschreiben zu lassen. Der Hitler-Staat hat die Menschen zur Unselbständigkeit gezwungen. Er drohte alle zu vernichten, die ihre persönliche Autonomie gegen diesen diktatorischen Staat durchsetzen wollten. Der moderne Massenstaat zwingt nicht, aber er verführt die Vielen, nicht um Autonomie zu kämpfen, da man in ihm auch ohne sie ganz gut leben kann. Obwohl eine solche, von der Massengesellschaft konditionierte Existenz eigentlich in vieler Hinsicht eher ein Vegetieren ist als ein selbstbestimmtes und persönlich gelenktes Leben, bringt es die moderne Technik mit sich, daß es eine recht angenehme Existenz ist, da man sich aller Errungenschaften der modernen Technik erfreuen kann, ohne sich der schwierigen Aufgabe unterziehen zu müssen, seine Autonomie zu erlangen und sie zu bewahren.

Wenn man im Hitler-Staat seine Autonomie bewahren wollte, war man gezwungen, täglich, stündlich, unter größter Lebensgefahr um sie zu kämpfen. Es war unendlich schwierig und gefährlich, sich seine Gedankenfreiheit zu bewahren, und es gelang nur wenigen. Und selbst wenn es gelang, konnte man nicht frei leben. Niemand genoß Freiheit unter Hitler. Die Häftlinge in den Konzentrationslagern bemerkten mit Recht, daß das Lager der einzige Ort war, an dem man sich innerhalb des Dritten Reiches Gedankenfreiheit bewahren konnte, denn man war ja – obwohl in vollkommener Sklaverei und nicht einen Moment des Lebens sicher – bereits im Lager. Im Dritten Reich gab es keine Freiheit, nicht die der Person, und nur sehr selten die der Gedanken.

Im modernen Massenstaat bestehen keinerlei Zwänge dieser Art, und doch ist es keine leichte Aufgabe, in ihm persönliche Autonomie zu erreichen. Im Dritten Reich gab es keine Freiheit, während der moderne Massenstaat jedem Freiheit einräumt, auch die Freiheit, sie zu mißbrauchen. Die moderne Drogensucht und die Kriminalität zum Beispiel mißbrauchen die Freiheit, die die moderne Gesellschaft dem Menschen ermöglicht. Er mißbraucht sie für asoziales Verhalten, das selbstzerstörerisch ist und zu gleicher Zeit zerstörend auf die Geseilschaft wirkt. Die moderne Gesellschaft macht daher beides zugleich möglich: Größte individuelle Freiheit und die Autonomie, sein Leben so zu gestalten, wie man es will, und Unfreiheit, sobald man sich damit zufrieden gibt, ein Mitläufer innerhalb der Herde Mensch zu sein, einer Herde, die ihr Leben von den Massenmedien gestalten läßt. Daher die dringende Frage:

Wie kann der Mensch in der modernen Massengesellschaft seine persönliche Autonomie bewahren, wie kann er sie gegen die oft übermächtig scheinenden gesellschaftlichen Einflüsse wirklich schützen?

Erlauben Sie mir bitte, mich zuerst mit den Gedanken einiger bedeutender Wissenschaftler auseinanderzusetzen: mit denen eines Biologen, einiger Soziologen, und am Rande auch mit den Gedanken einiger Philosophen. Dies ist notwendig, da unser Problem das der Entwicklung des Menschen und der Gesellschaft ist, also sowohl ein soziologisches, ein biologisches, als auch ein philosophisches. Unzweifelhaft ist der Mensch das bisher höchst entwickelte Produkt der Evolution. Nichtsdestoweniger hat Sir Julian Huxley in seiner zweiten "Galton Lecture" betont, daß der Mensch, obwohl er Wunder der kulturellen Entwicklung zustande gebracht hat, in Wirklichkeit noch immer ein sehr unvollkommener biologischer Typus ist, der offensichtlich bisher nur einen Bruchteil seiner Möglichkeiten – seiner spezifisch menschlichen Möglichkeiten – verwirklicht hat. Wie alle anderen vorherrschenden biologischen Typen begann der Mensch seine Laufbahn in einer sehr unreifen und fehlerbehafteten Form, die noch sehr viel vollkommener werden muß, ehe er seine Möglichkeiten voll verwirklichen und ein evolutionärer Erfolg werden kann. Als psychologisches Wesen hat der Mensch seit seinem Auftreten bis in die heutige Zeit hinein kaum Fortschritte gemacht. Als Lebewesen ist er, in evolutionären Zeiträumen gemessen, nicht nur sehr jung, er ist auch ein sehr unvollkommenes, unvollendetes und teilweise sogar ein mißratenes Produkt evolutionärer Improvisation.

Als Biologe schlug Huxley daher Rassenverbesserung als Lösung vor. Dies war Hitlers Lösung, die er mit schrecklichen Konsequenzen in die Tat umzusetzen versuchte. Seine Experimente mit der Rassenverbesserung haben die Menschheit ins tiefste Unglück gestürzt. Als Konsequenz seiner Diktatur kam es zur Entwicklung atomarer Waffen, und mit diesen Waffen wäre es möglich, alles Leben auszurotten. Geplante Rassenverbesserung ist also sicherlich nicht die Lösung unseres Problems.

Teilhard de Chardin schlägt einen mehr philosophischen Ansatz vor. In seinem Buch Die Entstehung des Menschen nennt er die Transformation der anthropoiden Affen zum Menschen eine Humanisation. Man könnte es richtiger, wenn auch weniger elegant, als einen Prozeß der Psychosozialisierung bezeichnen. Aber welchen Namen auch immer wir der Menschwerdung geben, sicher ist, daß sie bisher sehr unvollendet geblieben ist. Das Studium dieses bisher unvollendeten Prozesses der Humanisierung, ihres Ablaufes, ihrer Technik, ihrer Zukunft, hat kaum begonnen. Eines aber steht fest: Der Mensch ist gezwungen, sich weiter zu vervollkommnen, und er wird dies in Richtung einer höheren psychologischen Entwicklung tun müssen. Und – das ist mein Anliegen – ein sehr wichtiger Teil dieser Vervollkommnung wird sein, daß der Mensch seine persönliche Identität, seine Autonomie gegen den Einfluß der Massengesellschaft, die er selbst geschaffen hat, absichern muß.

Wir sind oft entzückt, ja sogar berauscht vom technischen Fortschritt. Wir neigen dazu, ihn in unseren Alltag einzubauen, ohne uns viel Sorge darüber zu machen, wie weitgehend manche dieser Errungenschaften unser Leben – unsere Werte, unsere Institutionen, ja sogar unser Privatleben – verändern. Wir bemerken nicht, welchen Druck sie auf unsere Persönlichkeit ausüben, und so kann es geschehen, daß wir es verfehlen, unsere Persönlichkeit diesen Veränderungen ganz bewußt so anzupassen, daß wir am Ende besser und nicht schlechter dastehen als vorher. Diese weitgehenden Veränderungen in den Bedingungen unseres Lebens, in der Struktur unserer Persönlichkeit und unserer Familien, wirken oft angstauslösend: Angst vor dem Verlust unserer Autonomie, vor der Entfremdung von uns selbst, vor der Entfremdung von unserer Arbeit und vor der Entfremdung von denen, welchen wir am engsten und im tiefsten Sinne verbunden sein sollten und verbunden sein wollen.

Die amerikanische Philosophin Susanne Langer weist in ihrem Buch Philosophie auf neuem Wege auf zwei große Gefahren für unsere psychische Gesundheit hin: Daß wir uns zum einen der Natur und ihren uralten Symbolen, die in der Vergangenheit das menschliche Leben weitgehend dominierten und lebenswert machten, entfremden, und das zu unserem großen Nachteil, und daß zum zweiten durch die modernen Arbeitsmethoden persönliche Initiativen für die meisten Menschen ihre Bedeutung verlieren.
Die Folge ist, daß heute viele Menschen, wahrscheinlich die große Mehrzahl, weder in der Natur noch in der Religion, weder in der natürlichen und menschlichen Umgebung, noch in der Arbeit eine geistige Stütze finden. Die Lehre, die wir aus diesen Betrachtungen ziehen sollten, ist, denke ich, die, daß wir die moralische Stärke, die wir einst aus einer engen Verbindung zur Natur gewonnen haben, in Zukunft in der menschlichen Gesellschaft werden finden müssen. Wir müssen auch in unserer Arbeit eine neue Bedeutung finden; dies wird aber nur dann möglich sein, wenn wir unsere Persönlichkeit anders aufbauen, als wir dies im Moment tun.

Wenn wir nach diesen Überlegungen nochmals einen Blick auf unsere Gesellschaft werfen, die, wie wir fürchten, uns dessen berauben kann, was wir als unsere wahre Menschlichkeit betrachten – und in der Hitlerzeit geschah dies ja wirklich –, dann wird klar, daß die künftige Weiterentwicklung des Menschen als psychosoziales Wesen unbedingt notwendig ist. Das heißt, daß sich der Mensch zu einem autonomen Individuum entwickeln muß, das innerhalb seiner Gesellschaft positiv wirkt und lebt, und daß dieses Wirken und Leben innerhalb einer Gesellschaft geschehen sollte, in der sich unsere menschlichen Möglichkeiten voll entwickeln können, und die unsere Menschlichkeit nicht verkrüppelt, wie dies unter Diktaturen oft geschah. Die Ansicht, daß die Gesellschaft uns notwendigerweise verkrüppele, wurde fälschlich Freud zugeschrieben, der in seiner Schrift Das Unbehagen in der Kultur darauf hinwies, daß die Kultur uns viele Versagungen unserer Instinkte auferlegt. In Wirklichkeit hat Freud großes Gewicht darauf gelegt, daß wir uns nur dank dieser Versagungen der großen Werte erfreuen können, die wir unserer Kultur verdanken. Diese positive Wertung der Kultur ist charakteristisch für Freuds Weltanschauung, und wir sollten sie uns alle zu eigen machen.

Im Gegensatz zu der Ansicht, daß wir unsere Kultur der Gesellschaft, in der wir leben, verdanken, wird in letzter Zeit häufig die Meinung vertreten, daß alle Schwierigkeiten, denen wir im Leben begegnen, zu Lasten der Gesellschaft gehen müßten, und daß wir ohne die Errungenschaften der modernen Gesellschaft alle ein vollkommen glückliches Leben führen könnten. Die diese Ansicht vertreten, fragen sich nicht, wie viele von uns am Leben geblieben wären, wenn wissenschaftlicher und technischer Fortschritt uns nicht vor dem Verhungern bewahrt und unsere Lebenszeit nicht so weitgehend verlängert hätten.

Der Soziologe David Riesmann hat über den innengeleiteten, traditionsgeleiteten und den außengeleiteten Menschen geschrieben. Sein Eindruck ist, daß der innengeleitete Mensch, der in der Vergangenheit dominierte, ein sehr hohes Maß der Persönlichkeitsentwicklung erreicht hatte, während unter dem Einfluß der modernen Massengesellschaft, die den außengeleiteten Menschen hervorbrachte, die menschliche Persönlichkeit an Niveau verloren habe.

Im Gegensatz zu Riesman möchte ich behaupten, daß es gerade diese oft verleumdete, moderne technologische Massengesellschaft ist, die es zum ersten Mal in der Geschichte nicht nur den wenigen Mitgliedern der herrschenden Klasse, sondern der großen Menge zumindest theoretisch möglich macht, persönliche Autonomie und eine individuelle Persönlichkeit zu erlangen. Dies ist so offensichtlich, daß fast der Verdacht aufkommt, daß jene, die sich so bitter über die Massengesellschaft und ihre vermeintlichen Übel beklagen, in Wirklichkeit eigene Mängel den Übergriffen dieser Gesellschaft zuschreiben, um persönliche Verantwortung auf sie abzuwälzen. Es wäre sogar denkbar, daß das Verschreien der Übel der Massengesellschaft zu einem großen Teil auf das Ressentiment der alten Eliten zurückzuführen ist, da diese nun ihr früheres Vorrecht auf die höheren und besten Dinge im Leben mit den weiten Schichten der Bevölkerung teilen müssen. Die bisher in vieler Hinsicht noch nicht verwirklichten Möglichkeiten, die, wenn sie verwirklicht würden, dazu führen könnten, daß für viele Menschen ein autonomes Leben realisierbar wäre, stellen uns vor die bis jetzt unvollendete Aufgabe unserer Zeit, vor die Forderungen, die wir an uns und unsere Gesellschaft stellen müssen, wenn wir die Möglichkeiten der modernen Gesellschaft voll ausnützen wollen.

Diese neuen Möglichkeiten bringen allerdings auch neue Probleme mit sich. Die Massengesellschaft verlangt ein viel bewußteres Gefühl von persönlicher Identität, da man der Gefahr ausgesetzt ist, daß die Verführungen der modernen Technik es einem leicht machen, ohne persönliche Autonomie auszukommen. In diesem Zusammenhang möchte ich die Arbeiten meines Kollegen Ed Shils über die Massengeselischaft erwähnen. In ihnen führt er aus, daß die Kritiker der modernen Gesellschaft mehr Freude daran finden, diese zu verleumden, als sie zu verstehen, was sicher richtig ist. Diese Kritiker betonen Phänomene wie die Entfremdung der Menschen von ihrer Arbeit, ja sogar von ihrem eigenen Leben, die Tatsache, daß echter Glaube selten geworden ist, die weit verbreitete Uniformität der Menschen, ihre moralische Leere, ihren Egoismus im Allgemeinen und die asozialen Tendenzen der Jugendlichen im Besonderen, ihre Verwahrlosung, Drogensucht usw. Viel davon ist wahr, aber nicht so viel, wie diese Kritiker meinen. Die gute alte Zeit war natürlich in Wirklichkeit nicht so gut. Jede Verneinung des Heiligen bringt ein gewisses Maß der Entfremdung mit sich; und wenn die historischen Autoritäten und Traditionen in Frage gestellt werden, dann führt dies zwangsläufig zu Gefühlen der Entfremdung und Isolierung. Aber wollen wir deshalb wirklich zum blinden Glauben an die Lehren der Kirchen zurückkehren, oder uns der Autorität der alten Eliten unterwerfen? Ich bezweifle das sehr. Eine gewisse Zunahme von Hedonismus und Egoismus ist unausweichlich mit einer Zunahme der persönlichen Sensibilität verbunden, während der Verlust an Disziplin bei den Jugendlichen eine unausweichliche Folge des Zusammenbruchs der patriarchalischen Familie ist, besonders auch im Zusammenhang mit dem Verfall der gottgegebenen Hierarchien in der Gesellschaft. Das Vulgäre, sogar in gewissem Maße das Pöbelhafte, ist leider immer eine der Folgen, wenn die Sensibilität als Vorrecht weniger plötzlich vielen zugänglich wird.

Gegen diese unerwünschten Phänomene muß man andererseits in die Waagschale werfen, daß nur die moderne Massengesellschaft es den vielen ermöglicht hat, sich von den rigiden Schranken der Klassengebundenheit und von der Isolation des Wohnortes zu befreien. Die moderne Gesellschaft entstand in Opposition zu den autoritären Kräften und Beschränkungen, die kritisch alle Freuden, nach denen die Massen strebten, ablehnten, da diese das gewöhnliche Volk von seiner Verpflichtung zu harter Arbeit und Gehorsam abgelenkt hätten. Wir dürfen hier nicht übersehen, daß die meisten Menschen, vor allem das sogenannte Proletariat, mit Ausnahme weniger hochqualifizierter Berufsgruppen ein ganz miserables Leben geführt haben. Die meisten, besonders die Bauern, waren völlig ungebildet, manchmal von einer rigiden Frömmigkeit, aber in der Hauptsache abgestumpft, wenn nicht sogar in mancher Hinsicht stumpfsinnig. Die Befreiung der bisher benachteiligten Klassen aus ihrer früheren Armseligkeit, von ihren lastenden Traditionen, ihrer bedrückenden Arbeit, die alle eine persönliche höhere Entwicklung unmöglich machten, erlaubt ihnen jetzt aber nicht nur ein Suchen nach neuen Erfahrungen und Vergnügungen, sondern führt auch zum Ausbruch einer bisher verdrängten Aggression gegen die alten Autoritäten und zu einer Ablehnung der alten Werte. Hier müssen wir auch bedenken, daß die Übertragung der Libido von den primären Gruppen und religiösen Gemeinschaften auf die amorphe Massengesellschaft sehr schwierig ist. Deshalb sind in vielen Fällen die alten Loyalitäten zuerst weggefallen, lange bevor innere Integration und Entwicklung der Persönlichkeit an ihre Stelle hätten treten können.

Daß der Mensch die Fähigkeit hat, seine persönliche Identität und Autonomie zu entwickeln und personelle Beziehungen zu anderen Menschen zu schätzen, ist nicht in der modernen Gesellschaft entdeckt worden. Das Wissen darum findet sich in allen Kulturen, aber in allen anderen Kulturen war die Möglichkeit, sich in dieser Hinsicht zu entwickeln, das Vorrecht weniger Auserwählter. Erst die moderne Massengesellschaft anerkennt sie als das Recht eines jeden, und in der Tat streben viele danach, und ein viel höherer Prozentsatz der Bevölkerung, als es je für möglich gehalten worden wäre, erreicht das Ziel. Obwohl es die Tendenz gibt, die Vergangenheit zu überschätzen – der Mythos, der von einem goldenen Zeitalter erzählt, ist ja schon alt – sieht es in Wirklichkeit so aus, daß heute viel mehr Menschen an der Kultur teilnehmen und an Kulturgütern interessiert sind als je zuvor.

Es liegt in der Natur der Massengesellschaft, daß sie nivellierend wirkt, daß sie die regionalen Besonderheiten reduziert oder ganz zum Verschwinden bringt. Dasselbe gilt übrigens auch für die verschiedenen Altersstufen. Die hohe Bewertung des Zeitgenössischen und die Freude am Gegenwärtigen gehen Hand in Hand mit einer Vernachlässigung des Vergangenen und stehen in starkem Gegensatz zu dem ehemaligen Respekt vor der Tradition. Die Folge ist eine Bereitschaft, sich momentanen Erlebnissen hinzugeben. Gleichzeitig hat die Unterbewertung der Traditionen und der historischen Autoritäten den Schwerpunkt allen Erlebens in das Individuum hineinverlegt. Gerade deshalb ist das Problem der individuellen Identität ein so dringendes geworden.

Diese Verlagerung des Schwerpunktes der Existenz in das Individuum hat zur Folge, daß von vielen die Kulturmodelle, die am leichtesten erreichbar, aber leider oft auch die seichtesten sind, unkritisch akzeptiert werden. So kommt es, daß vielfach die abgedroschensten Modelle vorherrschen und daß die Moral der meisten nicht besser ist als in vergangenen Zeiten. Trotzdem hat eine große Veränderung stattgefunden. Die Menschen suchen nach Erlebnissen und entwickeln die Fähigkeit, diese Erlebnisse phantasievoll zu erweitern und persönlich zu verarbeiten. Fast noch wichtiger ist es aber, daß in einem viel größeren Maße als je zuvor ganz gewöhnliche Menschen sich ihrer selbst bewußt werden, und dieses Selbstbewußtsein ist der Kern einer sehr persönlichen Einschätzung der eigenen Person und der Welt. Sich seiner selbst bewußt zu werden ist eine schwierige Aufgabe, und daher ist es nicht verwunderlich, daß manche daran scheitern, andere die Hilfe der Psychiater benötigen. Dies ist, besonders in den Vereinigten Staaten, so sehr der Fall, daß dort von einem Zeitalter der Therapie gesprochen wird. Wieder andere flüchten sich in die Rausch- und Traumwelt, welche die Drogen vorspiegeln. Da der moderne Mensch mehr als je zuvor den persönlichen Zugang zu sich selbst und seiner Welt braucht, benötigt er zwangsläufig eine persönliche Identität und ist gezwungen, diese Identität gegen den oft übermächtigen Einfluß der Gesellschaft abzusichern.

Da das Leben nicht mehr traditionellen Mustern gemäß gestaltet wird und nicht mehr unter dem Einfluß der autoritären Elite steht, hat gleichzeitig mit dem Streben nach Autonomie und persönlicher Identität ein anders geartetes Streben nach reicherem Erleben und vielfältigeren Erfahrungen eingesetzt. Oft ist es ein Verlangen nach Sensationellem, aber oft auch der Wunsch, das ganz Andere zu erleben und zu verstehen. Der moderne Mensch hat sich viel weiter als in der Vergangenheit für die Gefühle der anderen geöffnet. Er lebt und erlebt sehr viel intensiver oder möchte gerne intensiver leben. All das ist so neu, daß man nicht ungeduldig werden darf, wenn mit diesem viel intensiveren Erleben oft ungeschliffenes, selbstbezogenes, manchmal sogar groteskes Verhalten zutage tritt. Es steckt gelegentlich ein verzweifeltes Suchen nach menschlichen Beziehungen dahinter und Verzweiflung, wenn Hoffnungen enttäuscht werden. Ein Grund für die vielen Ehescheidungen heute ist sicher, daß zu viel vom Partner erhofft und verlangt wird, viel mehr, als die instabile Leistungsfähigkeit, intime Beziehungen eigenpersönlich zu gestalten, erlaubt. Aber zum ersten Mal in der Geschichte ist der Wunsch nach solchen intimen Beziehungen allgemein geworden. Wir alle haben jetzt die Freiheit zu wählen, wonach wir streben wollen, zu entscheiden, was unser Leben erfüllen soll. Nicht länger werden diese Entscheidungen für uns getroffen, nicht länger werden sie von der Tradition diktiert.

Obwohl wir natürlich keineswegs vollständige Freiheit haben, unser Leben zu gestalten, ist unsere Freiheit, dies zu tun, doch sehr viel größer als je zuvor. Und es ist allein die moderne Massengesellschaft und die Technik, auf der sie beruht, die es uns ermöglicht, diese Freiheit zu genießen, obwohl wir manchmal ihretwegen auch zu leiden haben. Da diese Freiheit zu wählen so neu ist, ist es verständlich, daß oft gewählt wird, was geschmacklos ist. Oft wird falsch gewählt, dennoch ist es eine freie Wahl, was früher kaum möglich war. Früher mußten die meisten Menschen das akzeptieren, was vorgegeben war. Erst seit die Technik uns das Leben erleichtert und uns die Möglichkeit bietet, in relativer Freiheit zu leben, erst seit sie uns den unglaublichen Luxus der Freizeit geschenkt hat, können alle Menschen eine eigene Persönlichkeit entwickeln. Der Prozeß der Zivilisation und der Industrialisierung hat uns die Freiheit gegeben, uns selbst zu erfinden, uns unserer selbst bewußt zu werden, eine persönliche Moralität zu entwickeln, Künste und Wissenschaften auf unsere persönliche Art zu erleben und zu würdigen. All das ist viel zu neu, als daß es sofort ein moralischer oder ästhetischer Erfolg hätte sein können. Das goldene Zeitalter der Menschheit und der wahren Menschlichkeit liegt nicht um die Ecke; es wird großer Anstrengung bedürfen, damit wir ihm näher kommen. Es ist das alles so neu, daß viele der Einfachheit halber ein festgelegtes Leben vorziehen. Viele verschließen sich den neuen Möglichkeiten, denn alles Neue und Ungewohnte erzeugt Angst, und so schrecken viele vor diesen neuen Erfahrungen zurück. Aber die Zahl derer, die in stumpfsinniger Weise dahinvegetieren, wird immer geringer.

Persönliche Beziehungen sind leider immer zerbrechlich, enden oft in schmerzlichen Erfahrungen, Gefühle werden verletzt, private Sphären nicht respektiert. Aber die Möglichkeit, daß fast alle Menschen ein wirkliches Privatleben haben können, ist eine der großen Errungenschaften der modernen Welt. Manche haben die neue Freiheit, ihr Privatleben so zu gestalten, wie sie es wünschen, ausgenützt, um sich vom Leben zurückzuziehen, andere, um die Gesellschaft insgesamt zu verwerfen, und wieder andere, um sie zu bekämpfen. Dies ist der Preis, den wir bereit sein müssen, für die Möglichkeit zu bezahlen, daß jeder sein Leben so gestalten kann, wie er es will. Trotzdem bin ich überzeugt, daß das Ersetzen der hierarchischen Gesellschaftsordnung durch eine Ordnung, in der das Individuum dominiert, die größte und positivste Errungenschaft der modernen Welt ist, daß es der größte psychologische Fortschritt ist, den die Menschheit gemacht hat. Daß bisher verhältnismäßig wenige diese Verinnerlichung alles Erlebens verwirklicht haben, liegt nahe. Eine sehr viel weitergehende Entwicklung in Richtung auf eine Verinnerlichung hin ist daher eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben.

Warum fürchten wir dann, daß die moderne Massengesellschaft uns der Autonomie berauben wird, wenn sie in Wirklichkeit so viel größere Freiheit erlaubt? Ich glaube, diese Angst hat viel damit zu tun, daß der Massenstaat zuerst in den neuzeitlichen Diktaturen kommunistischer oder faschistischer Art erfahren wurde. Man könnte diese Diktaturen als Kinderkrankheiten einer neuen Weltordnung betrachten, denn die ersten Verwirklichungen neuer Gesellschaftsordnungen führen oft zu Extremen, wie dies ja auch in der Französischen Revolution der Fall war. Erst mit größerer Reife werden dann solche extremen Lösungen durch vernünftigere, gesündere, menschlichere Lösungen ersetzt. Ich hoffe, daß die Zukunft der technologischen Massengesellschaft nicht in den Diktaturen liegt und ich meine, daß sie Auswüchse der Massengesellschaft und nicht mit Notwendigkeit ihre Folgen sind, aber die Angst, daß diese moderne Gesellschaft uns unserer Individualität berauben könnte, hat tiefere psychologische Gründe. Die Freiheit, die diese Gesellschaft uns gebracht hat, erlaubt uns leider auch die Freiheit, persönlichen Entscheidungen auszuweichen.

Die wissenschaftlichen und technischen Fortschritte der modernen Welt haben uns viele Probleme gelöst, die die Menschen in der Vergangenheit selbst lösen mußten, wenn sie sich am Leben erhalten wollten. Andererseits haben dieselben Fortschritte Probleme mit sich gebracht, denen gegenüber das Individuum sich hilflos fühlt, zum Beispiel das Problem der Atomkraft, und wie sie konstruktiv und nicht destruktiv verwendet werden kann. Die Probleme unseres Lebens scheinen so kompliziert zu sein, daß viele sich überfordert fühlen. Solange man zum Beispiel den engen Umkreis des Dorfes nicht überschreiten konnte, hatte man das Gefühl, wichtige Entscheidungen treffen zu können. Obwohl man in großen Dingen keine Freiheit hatte und die Welt nicht beeinflussen konnte, täuschte einem die Möglichkeit, im kleinsten Kreis Einfluß zu haben, vor, daß man autonome Entscheidungen treffen konnte, obgleich diese Entscheidungen in den meisten Fällen natürlich nicht autonom getroffen wurden, sondern entweder von der Tradition bestimmt waren oder dem Menschen von der Notwendigkeit aufgezwungen wurden, denn wenn man seinen Acker nicht richtig bebaute, verhungerte man. Es war daher kaum eine freie Entscheidung, den Acker zu bebauen. Heute können die meisten Menschen ganz gut leben, ohne solche Entscheidungen zu treffen. Der Staat oder die Gesellschaft treffen diese Entscheidungen für das Individuum, wenn das Individuum es so will. Je weniger wir aber Entscheidungen selbst treffen, desto weniger fühlen wir die Notwendigkeit, unsere Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, zu entwickeln. Leider ist dies aber eine Fähigkeit, die genauso abstirbt wie Nerven oder Muskeln, die nicht geübt werden. Oder, um dieselbe Idee psychoanalytisch auszudrücken, die Fähigkeit, wichtige Entscheidungen selbst zu treffen, ist nicht eine von vielen Ich-Funktionen. Es ist die Funktion, die das Ich erschafft, ausbaut und verstärkt. Die Furcht, daß die Massengesellschaft, die so vieles für uns regelt, uns der Fähigkeit, autonome Entscheidungen zu treffen, berauben könnte, ist also berechtigt. Umso wichtiger ist es daher, die neuen Freiheiten darauf zu verwenden, unsere Autonomie in allen für uns persönlichen wichtigen Entscheidungen zu bewahren.

In der Theorie ist das alles einfach genug. In der Praxis ist es fast unmöglich, genau abzugrenzen, wie weit wir es anderen erlauben können, unsere Angelegenheiten entscheidend zu beeinflussen, ohne daß dies zu einem Eingriff in unsere Autonomie führt, und ab wo wir Entscheidungen, die andere treffen, nicht zulassen dürfen. Wir fürchten, daß die Massengesellschaft dazu führen wird, daß die Menschen ihre Entscheidungen nicht länger autonom und spontan treffen, sondern wichtige Entscheidungen kritiklos den Organen der Massengesellschaft überlassen. Wir fürchten weiterhin, daß diese Entscheidungen nicht in unserem Interesse getroffen werden, sondern im Interesse dessen, was der Fortschritt der Technik verlangt, wie hoch auch immer der menschliche Preis ist, der dafür gezahlt werden muß. In welchem Maße beeinflußt zum Beispiel das Fernsehen – sicherlich ein technischer Fortschritt – unser Denken und Handeln, und beeinflußt es uns, wie wir selbst es wollen, oder wie die Manipulatoren der Masseneinrichtungen es wünschen? Der Prozeß der unkritischen Hinnahme des gesellschaftlich Gegebenen beginnt gewöhnlich mit Äußerlichkeiten, aber er endet meist nicht mit ihnen, was auch nicht möglich ist, dazu sind Äußeres und Inneres viel zu eng miteinander verknüpft. In den Vereinigten Staaten wissen wir inzwischen, daß viele Menschen ihre inneren Konflikte so angehen und so zu lösen versuchen, wie es ihnen das Fernsehen vorspielt, und dann wundern sie sich, wenn sie alle innere Sicherheit verlieren und sich nur noch als Schatten ihrer selbst fühlen. Wenn ein solches Stadium persönlicher Desintegration erreicht ist, kann rascher sozialer Umbruch nicht mehr gebremst werden, da die innere Kraft, sich gegen ihn zur Wehr zu setzen, gelähmt ist. Dann kann der Mensch wirklich zum Spielball der Gesellschaft werden und hat damit seine Autonomie verloren. Aber es muß nicht so kommen. Es ist zwar eine Gefahr, aber eine Gefahr, die wir erkennen können.

Dem, was geschehen kann, wenn wir uns dem Massenstaat und seinen Bedingungen hingeben, wurde zuerst in Deutschland ein Name gegeben, nämlich der des "datenerfaßten Menschen". Wenn wir uns mit dem identifizieren, was an Daten von uns erfaßt ist, werden wir von einem vollen Menschen zu einem Bündel nützlicher Eigenschaften reduziert, nützlich nicht für uns, sondern für jene, die uns für ihre Zwecke brauchen, die uns nicht als Personen betrachten, sondern als Träger eben dieser Eigenschaften, die der Computer erfaßt hat. Es ist dies ein relativ harmloses Beispiel dafür, wie die Erfordernisse einer Maschine, die erfunden wurde, Arbeit zu sparen und rasch Entscheidungen zu treffen, das Individuum seiner Individualität beraubt, zumindest für den, der dem Computer die Entscheidungen überläßt. Das persönliche Element, das auf dem Bildschirm nicht erscheint, spielt für die Auswahl, die der Computer trifft, und für die Entscheidungen, die auf Grund dieser Basis gefällt werden, überhaupt keine Rolle. Leider ist es so viel einfacher, Entscheidungen dem Computer zu überlassen, verglichen mit der Mühe, die uns Entscheidungen kosten, die auf das Menschliche Rücksicht nehmen.

Viele Manipulationen von Menschen, die, wenn sie von Angesicht zu Angesicht getätigt würden, auf größten Widerstand beim Manipulierten und beim Manipulierenden stießen, werden ohne Skrupel akzeptiert, wenn alles, was für die Entscheidung notwendig ist, darin besteht, daß man den Knopf drückt und abliest, was auf dem Schirm erscheint.

Lange vor dem Computer-Zeitalter hat der amerikanische Philosoph George Herbert Mead ausführlich dargestellt, wie das Bild, welches andere von uns haben, langsam aber sicher weitgehend das Bild, das wir uns von uns selbst machen, bestimmt. Mit der Zeit beginnen die Menschen im Massenstaat sich selbst so zu sehen, wie sie im Computer beschrieben werden. Die Meinungen vieler werden dann nicht mehr von ihrer eigenen Erfahrung geprägt, sondern auf der Basis dessen entwickelt, was die Resultate von Meinungsumfragen ihnen suggerieren. Die Benützung des Computers, um Entscheidungen zu treffen, ist eine durchaus rationale Methode, aber es ist gerade diese Rationalität, die uns oft zu sehr beeindruckt. Die Entscheidungen des Computers scheinen viel objektiver zu sein als die, die von Menschen getroffen werden, da wir wissen, daß Menschen oft von ihren persönlichen Gefühlen und Interessen beeinflußt werden. Die Gefahr ist, daß wir der Maschine mehr vertrauen als uns selbst und unseren Mitmenschen.

Die Lösung ist nicht, auf den Gebrauch des Computers zu verzichten, was ja heute oft kaum mehr möglich ist, sondern sich dagegen zur Wehr zu setzen, unser Dasein von Computern dirigieren zu lassen. Was nötig ist, ist genau das, was die Psychoanalyse für die Vorbedingung psychischer Gesundheit hält: sich der Gefahren, die mit unseren Handlungen verbunden sind, voll bewußt zu sein, so daß wir durch zielbewußtes Handeln dieser Gefahren Herr werden können. Wenn wir bereit sind, dies zu tun, dann können wir uns ruhig aller Vorteile erfreuen, die die Benutzung des Computers, wie aller anderen Maschinen, mit sich bringt, ohne fürchten zu müssen, daß sie unsere Menschlichkeit gefährden. Wir müssen uns klar darüber sein, daß die moderne Technik sehr verführerisch ist. Sie macht es uns leicht, den technischen Errungenschaften kritiklos gegenüberzustehen, da sie uns so viele Annehmlichkeiten gewährleisten. Gerade da sie so viel möglich machen, ist es aber besonders wichtig, sich darüber klar zu sein, was für unser Leben wirklich wesentlich ist und was nicht. Unterschiede dieser Art zu verstehen war früher kaum nötig, da wir kaum wählen konnten, und alle Energie und Gedanken darauf verwenden mußten, uns selbst und die Unsrigen am Leben zu erhalten. Das war so schwer und so wesentlich, daß kaum Zeit und Kraft für irgend etwas anderes übrig blieb.

Aber genauso, wie die demokratische Staatsordnung ein viel höheres Niveau der Erziehung, des Verständnisses und der Moral verlangt, um erfolgreich funktionieren zu können – vor allem, wenn man sie vergleicht mit primitiveren Gesellschaftsordnungen – erfordert die moderne Zeit ein viel höheres und tieferes Verständnis der gesellschaftlichen Bedingungen und unserer Situation innerhalb dieser Bedingungen, wollen wir nicht den Verführungen der Massengesellschaft erliegen. Je mehr die Maschinentechnik unser Leben und Tun beherrscht, je mehr sie es fragmentiert und je weniger es in uns selbst und in unserer Familie verankert ist, desto wichtiger ist es, daß wir unsere Sensibilität verfeinern, eine umso größere Bedeutung müssen unsere intimen menschlichen Beziehungen für uns erlangen, umso wichtiger muß der Platz werden, den diese Beziehungen in unserem Leben und Erleben einnehmen.

Wer arbeitet, ohne sich über den Zweck seiner Arbeit oder des Produkts der Arbeit Rechenschaft abzulegen, ist im tieferen Sinne eine abhängige Person, abhängig in seinem Schaffen von jenen, die über die Arbeitsmethode und den Zweck des Endprodukts entscheiden. Das trifft für alle Klassen von Arbeitern und alle Arten der Arbeit zu, für den ungelernten Arbeiter am Fließband wie für den hochqualifizierten Wissenschaftler. Viele der Physiker, die die Atomwaffen entwickelt haben, ohne daß es ihnen möglich war, die Resultate ihrer Arbeit und deren fürchterliche Folgen zu kontrollieren, haben sich nachträglich große Vorwürfe gemacht und mußten sich eingestehen, daß sie verantwortungslos gehandelt hatten. Das Gefühl der Ohnmacht des Fabrikarbeiters ist aber keineswegs geringer als das dieser Wissenschaftler, er hat nur nicht die Fähigkeit, sich über die Folgen seiner Ohnmacht für sich selbst und für die Gesellschaft klar zu werden, noch findet er Verständnis für seine Lage oder Gehör für seine Sorgen.
Man könnte meinen, daß die Energie und die Angst, mit der viele die Atomrüstung und deren Waffen bekämpfen, ihren Grund darin haben, daß sie es auf diese Weise vermeiden können, sich die Frage zu stellen, wofür sie im tiefsten Sinne leben wollen, und die damit verbundene Frage, was wichtig genug ist, daß man, wenn nötig, dafür das Leben einsetzt. So furchtbar die Gefahr eines solchen Krieges ist und so undenkbar die Folgen sind, müssen wir uns doch die grundsätzliche Frage stellen, was das größere moralische Risiko ist: ein solcher Krieg oder das Aufgeben der Werte, die im Zentrum unseres Lebens stehen. Diejenigen, die bereit sind, ihre moralischen Prinzipien und Werte aufzugeben, um ihr Leben zu bewahren, handeln wie die Menschen, die das auch unter Hitler getan haben und ihm so seine Menschen zerstörende Macht und Herrschaft ermöglichten. Es sind jene, die T. S. Eliot in seinem Gedicht "hollow men" genannt hat, leere und innerlich verdorrte Menschen, die bereit sind, ihre moralische Existenz ihrer physischen Existenz zum Opfer zu bringen. Wären unter Hitler nicht nur die Wenigen, sondern die Vielen bereit gewesen, ihr Leben zu riskieren, um nicht am Unrecht teilzunehmen, dann hätten Millionen Deutsche und noch mehr Millionen Nichtdeutsche im Zweiten Weltkrieg nicht ihr Leben lassen müssen, und wahrscheinlich wäre es nicht zur Entwicklung der Atom-Waffen gekommen. Da diese Waffen leider heute das politische Leben beherrschen, ist das Problem, wofür wir leben wollen und wofür wir bereit sein müssen, wenn nötig unser Leben einzusetzen, ein sehr dringendes geworden. Wie immer wir uns entscheiden, eines ist sicher: Man kann nicht sein Leben aufs Spiel setzen, um einen hohen Lebensstandard zu bewahren; das kann man nur für höhere Werte tun. Und daher ist es nötig zu wissen, welches diese höheren Werte sind und warum man sie so hoch einschätzt. Diese Werte autonom zu erkennen und im Einklang mit ihnen zu leben ist die wichtigste psychosoziale Entwicklung, die wir erstreben müssen, um die nächste Stufe der Evolution zu erreichen – eine Stufe, die wir erreichen müssen, wenn wir das Fortleben unserer Gattung sichern wollen. In der Zeit, in der wir heute leben, hat der technologische Fortschritt weiter größere Schritte nach vorn getan als wir in unserer Entwicklung als psychologische und soziale Wesen. Denn so schwierig es ist, technologische Fortschritte zu erreichen, sind sie doch viel leichter als die vergleichbaren menschlichen Fortschritte, die diese technologischen Entwicklungen erfordern. Fortschritte in der inneren Integration des Individuums, in der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit, sind schwierig und verlangen Zeit und Konzentration, sind aber die wichtigste Aufgabe des Menschen im Zeitalter der Massengesellschaft. Das ist der Grund, warum ich mich in meinem Leben der Integration von desintegrierten Menschen gewidmet habe. So schwierig diese Aufgabe ist, ich glaube, wir können hoffen, daß mit der Zeit Fortschritte in der Entwicklung der Menschlichkeit mit denen in der Technologie Schritt halten werden. Dafür müssen wir arbeiten, darauf müssen wir unsere Hoffnung für uns und unsere Mitmenschen setzen.

Neue soziale und technologische Entwicklungen scheinen den Menschen oft zu versklaven. Das erklärt die Furcht von Karl Marx und seiner Zeitgenossen, als sie die Folgen der industriellen Revolution studierten. Sie fürchteten, daß durch sie die Arbeiter in immer größeren Fabriken immer mehr entwürdigt und ausgenutzt werden würden, was für eine kurze Periode ja auch wirklich der Fall war. Aber bald brachte uns die immer weitergehende Mechanisierung der Industrie immer größere Freiheit von harten Arbeiten, immer bessere Lebensbedingungen und immer mehr Freizeit, die wir für unsere menschliche Entwicklung nutzen konnten. Was hier und in allen anderen großen Revolutionen in der Geschichte der Menschheit der Fall war, das, hoffe ich, wird auch für unser Zeitalter wahr werden: Daß es nach einer Zeit der Wirren den Menschen möglich wird, die höheren inneren Strukturen zu entwickeln, welche die neuen Bedingungen erfordern.

Große Umwälzungen, wie wir sie heute erleben – und die Nutzbarmachung der Atomkraft und die der Computer sind nur Teile dieser Umwälzungen – münden in Perioden sozialer und politischer Krisen, die so lange anhalten, bis wir uns jene höhere persönliche Integration zu eigen machen, die nicht nur eine echte Anpassung an die neuen Verhältnisse erlaubt, sondern es auch möglich macht, die neuen Bedingungen für höhere, bessere Zwecke zu verwenden. Da wir im Moment diese höhere persönliche Integration noch nicht allgemein erreicht haben, sehen wir, daß die neuen Lebensbedingungen für oberflächliche und manchmal sogar abstoßende Zwecke ausgenützt werden. Die Möglichkeiten, die die Massengesellschaft eröffnet hat, können, wie gesagt, leider nicht nur für gute, sondern auch für böse Zwecke verwendet werden. Das habe ich zu meinem Leidwesen in Hitlers Konzentrationslagern erfahren. Es hat mich gelehrt, daß die Gefahr einer Konzentrationslager-Gesellschaft in der modernen Massengesellschaft gegeben ist. Aber nehmen wir dies zum Anlaß, bereit zu sein, diese Gefahr zu bekämpfen, wo immer eine solche Tendenz in der Welt auftaucht. Wenn wir das tun, dann können wir gewiß sein, daß die Massengesellschaft, in der wir leben, höheren menschlichen Zielen dienstbar gemacht werden kann.

Wir müssen den Aufgaben der Gegenwart mutig ins Auge sehen. Unser Schicksal ist es leider, unter dem Alptraum des Konzentrationslagers, des Gulag und des Atomkrieges zu leben. Wir müssen diesen Gefahren mit Stärke und Biegsamkeit, ohne Selbstgefälligkeit und ohne Hysterie begegnen. Um in unserer Zeit in Sicherheit leben zu können, müssen wir jene bessere persönliche Integration, jene höhere Menschlichkeit entwickeln, die nötig ist, um in der Massengesellschaft als ein autonomer Mensch zu leben und zu wirken. Um dies zu tun, dürfen wir nicht in den Irrglauben verfallen, daß das vernichtende Potential der gegenwärtigen Gesellschaft größer oder wirklicher sei als das für eine bessere menschliche Existenz. In diesem Zusammenhang ist es vielleicht gut, uns daran zu erinnern, daß die Blockade Berlins, die Berliner Mauer, die Konflikte in Korea, Kuba, Vietnam oder Afghanistan leicht zum dritten Weltkrieg hätten führen können, und daß nur die Angst vor den atomaren Waffen den Ausbruch eines solchen Krieges verhindert hat. Wir haben also gesehen, daß die Atomwaffen, die wir so fürchten, faktisch eine Kontrolle der menschlichen Aggression mit sich brachten. Die Aufgabe, die menschliche Aggression unter Kontrolle zu bringen, ist ein Weg, die neuen Möglichkeiten positiv auszunützen. Wenn wir alle unsere Kräfte darauf konzentrieren, die neuen Möglichkeiten, die die moderne Massengesellschaft und die moderne Technik uns eröffnet haben, dazu zu benützen, eine höhere Stufe der persönlichen Autonomie, eine höhere Stufe der Menschlichkeit zu erreichen, dann werden wir wirklich die nächste Stufe in unserer psychosozialen Entwicklung und in der Evolution erreichen und dank dieses evolutionären Erfolges ein besseres Leben in größerer Sicherheit für uns alle erlangen. Daß wir dies bald schaffen mögen, ist meine Hoffnung und mein Wunsch für uns alle.

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