Auszüge aus Bruno Bettelheim's
"Aufstand gegen die Masse"

Die Chance des Individuums in der modernen Gesellschaft

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Vorwort

Noch nie ist es so vielen Menschen so gut ergangen wie jetzt. Wir zittern nicht mehr aus Furcht vor Krankheit und Hunger, vor verborgenen Mächten der Finsternis, vor der Zauberkraft von Hexen. Die Last schwerer Fron ist von uns genommen, und bald werden wir durch Maschinen, nicht durch unserer Hände Arbeit, mit fast allem, was wir brauchen, versorgt werden. Wir haben eine Freiheit ererbt, um die der Mensch Jahrhunderte lang gerungen hat. Aus diesen und vielen anderen Gründen müßten wir eigentlich am Beginn einer hoffnungsvollen Zukunft stehen. Aber obwohl wir jetzt größere Möglichkeiten haben, das Leben zu genießen, sind wir unglücklich aus Enttäuschung darüber, daß Freiheit und Wohlstand unserem Leben keinen Inhalt und kein Ziel geben.

Wie verwirrend ist es, daß sich uns der Sinn des Lebens nicht erschließen will, obgleich wir im Besitz von Errungenschaften sind, um die Generationen vor uns gekämpft haben. Mehr als je zuvor sehnen sich die meisten von uns vergeblich nach einer Lebenserfüllung; inmitten von Überfluß führen wir ein unerfülltes Leben. Wir werden freie Menschen und fürchten uns doch vor der Macht der menschlichen Gemeinschaft, die uns zu ersticken droht. Überdruß und Unzufriedenheit mit dem Leben sind bei vielen so groß, daß sie bereit sind, sich ihrer Freiheit zu begeben. Sie halten es für allzu schwierig, an der Freiheit und an sich selbst festzuhalten. Wenn ihr Leben schon keinen Sinn hat, dann wollen sie wenigstens auch nicht mehr die Verantwortung dafür tragen, dann soll eben die Gemeinschaft die Last des Versagens und der Schuld auf sich nehmen.

Die Antwort auf die Frage, wie man ein erfülltes Leben führen, die Freiheit bewahren und eine beiden Zielen dienende Gesellschaftsordnung schaffen kann, wird immer schwieriger; sie wird als das Hauptproblem unserer Zeit empfunden. Ich gebe in dem vorliegenden Buch bei der Erörterung des Unbehagens an unserer Zivilisation einige Hinweise darauf, in welcher Beziehung wir uns ändern müssen. Während wir bisher Sicherheit in der Wiederholung des immer Gleichen, des sich nur wenig und langsam Wandelnden fanden, müssen wir nun zu einer völlig andersartigen Sicherheit gelangen, einer Sicherheit, die auf einem guten Leben beruht, wobei der einzelne in dieser schnell sich ändernden Welt kaum die Folgen seines Handelns voraussagen kann.

Wenn dieses Kunststück fertiggebracht werden soll, dürfen Herz und Vernunft nicht länger voneinander getrennt bleiben. Arbeit und Kunst, Familie und Gesellschaft dürfen sich nicht mehr unabhängig voneinander entwickeln. Wir können uns nicht mehr mit einem Leben zufriedengeben, in dem die Argumente des Herzens der Vernunft fremd sind. Unser Herz muß die Welt der Vernunft kennen, und die Vernunft muß sich von einem wissenden Herzen leiten lassen.

Vereinigung der Gegensätze

Ich habe in diesem Buch versucht, den Teil meines Denkens und meines Werks vorzulegen, der sich mit der Situation des Menschen in der modernen Massengesellschaft und den psychologischen Auswirkungen totalitärer Bestrebungen auseinandersetzt.

Diese Gedanken beschäftigen mich seit zwanzig Jahren und haben sich nur langsam zu ihrer gegenwärtigen Gestalt entwickelt. In der Regel ist die Entwicklung der Ansichten eines Autors über den Menschen und das Leben Privatsache des Verfassers; das gilt insbesondere dann, wenn es sich um ein wissenschaftliches Werk handelt. Und doch fragt sich der Autor, dessen Arbeit auf Beobachten, Selbstprüfung und der Erforschung von Beweggründen beruht, welcher innere Zusammenhang zwischen den Teilen seines Werks besteht, wenn er sich daranmacht, aus dem Geschriebenen auszuwählen, was wert ist, neu überdacht und auf den neuesten Stand gebracht zu werden, was davon noch mit seinen jetzigen Ansichten übereinstimmt, was lieber vergessen werden sollte und was einer drastischen Überprüfung bedarf. Vielleicht interessiert es auch den Leser zu erfahren, welcher tiefere Zusammenhang aus den Gedanken eines Buches eine Einheit macht, die über die Tatsache, daß sie von ein und demselben niedergeschrieben wurden und sich alle mit dem gleichen weitumgrenzten Thema beschäftigen, hinausgeht. Um diese innere Verbindung aufzuzeigen, teile ich einige Einzelheiten meines Lebens mit, wodurch dieses Buch, das andernfalls vielleicht nur den Anschein einer Sammlung von Abhandlungen zur Sozialpsychologie erwecken würde, einen besseren Zusammenhang erhält.

Es gibt aber noch einen anderen Grund für diese persönlichen Bemerkungen, einen Grund, der in engstem Zusammenhang mit der Hauptthese dieses Buches steht. Ich bin der Überzeugung, daß die Arbeit eines Menschen, will er den bedrohlichen Wirkungen der Massengesellschaft widerstehen und entgegenwirken, von seiner Persönlichkeit durchdrungen sein muß. Wie die Wahl eines Berufs nicht einfach durch Nützlichkeitserwägungen oder Zufall bestimmt sein dürfte, sondern in direktem Zusammenhang mit den Bemühungen des Menschen um Selbstverwirklichung stehen sollte, so muß auch das Ergebnis seiner Arbeit nicht nur objektiv sinnvoll sein, sondern darüber hinaus auch sein Lebensziel erkennen lassen. Aus dieser Überzeugung gebe ich alle höfliche Zurückhaltung auf und berichte zu Anfang, wie ich dazu gekommen bin, mich mit den Problemen zu beschäftigen, von denen dieses Buch handelt.

Die Generation meiner Eltern erzog ihre Kinder in einer Atmosphäre, die heute nicht mehr besteht. Das West- und Mitteleuropa der damaligen Zeit wollte gern an dauernden Fortschritt, an wachsende Sicherheit und zunehmendes Glück glauben. Obwohl dieser Fortschrittsglaube von der Wirklichkeit widerlegt wurde, hing ihm vor allem der bürgerliche Mittelstand an, der zu den größten Nutznießern der Entwicklung am Ende des neunzehnten und Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts gehörte. Diese Menschen waren Zeugen eines andauernden, immer rascher werdenden sozialen wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritts innerhalb einer einzigen Generation geworden. Dazu kam noch, daß sich vor dem ersten Weltkrieg in Westeuropa politische Zustände, die mehr als vordem auf Vernunft beruhten, und gerechtere soziale Verhältnisse entwickelten.

An einem Augusttag jedoch sagte Lord Grey in düsterer Voraussicht: "Über ganz Europa gehen die Lichter aus, und unsere Generation wird nicht erleben, daß sie wieder angehen." Diese Prophezeiung hat sich nicht nur für die Generation Lord Greys bewahrheitet, sondern gilt auch noch für uns.

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Leugnung des Problems

Der Alkoholismus ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie die Gesellschaft auf völlig vernunftwidrige Weise versuchen kann, eine ausweglose soziale Situation zu meistern. Als die Vereinigten Staaten mit dem Alkoholismus fertig werden mußten, entschieden sie sich dafür, das Problem einfach durch ein Gesetz aus der Welt zu schaffen. Wie die Verdrängung beim einzelnen Menschen, so konnten auch diese Leugnung der Kompliziertheit des Problems und die darauf beruhende Verdrängung das Problem nicht nur nicht lösen, sondern hatten auch noch negative Folgen. Geschwächt durch die Verdrängungstaktik, wurde die Gesellschaft von einer Welle der Kriminalität, der Gewalttätigkeit und manchmal sogar schlimmerer Formen des Alkoholismus heimgesucht. Obwohl das Prohibitionsgesetz aufgehoben worden ist, hat sich das amerikanische Volk noch immer nicht ganz von den Nachwirkungen seines Versuchs, das Problem des Alkoholismus durch Verdrängung zu lösen, befreit. Mit diesem Beispiel ist ein schwieriges Problem im Zusammenhang mit dem Zeitalter der Maschine nur sehr unvollkommen illustriert. Bisher hat noch niemand ernsthaft ein Verbot mechanischer Werkzeuge usw. verlangt, wenn auch phantasiebegabte Autoren (wie Butler in Erewhon) eine Zurückdrängung der Maschine angeregt haben. Häufiger neigt man schon dazu, das Vorhandensein des Problems einfach zu leugnen. Im übrigen scheint unsere Gesellschaft wie ein Süchtiger gedankenlos auf eine noch größere Mechanisierung des Lebens zuzueilen und von einer noch mächtigeren Technik eine Lösung der von der Technik geschaffenen Probleme zu erwarten. Dieses Verhalten entspricht dem eines Alkoholikers, der seinem Kater durch neue Trunkenheit zu entgehen versucht.

Ein weiteres Ausweichmanöver, die Flucht in den Primitivismus, sucht das Heil in einfacheren Zivilisationsformen, in denen es, da sie auf einer andersgearteten Lebensweise beruhen, die Unzufriedenheit unseres Maschinenzeitalters nicht gegeben hat. Dabei wird die aus den Lebensformen früherer Kulturen sich ergebende Unzufriedenheit übersehen.

Viele Intellektuelle versprechen sich Zufriedenheit von den einfacher erscheinenden Glaubensvorstellungen ihrer Vorfahren. Das trägt ihnen jedoch vielleicht nur neue Angst vor Hölle und Verdammung ein, ohne die gleiche seelische Erleichterung zu gewähren, die ihre Vorfahren sich in Erweckungsversammlungen verschafften.

Der Mensch des 20. Jahrhunderts wird sich in einer aus dem 18. Jahrhundert stammenden Umgebung nicht mehr wohlfühlen. Wenn wir zu einer Körperpflege erzogen worden sind, die Schmutz und Geruch verbannt, dann kann ein Leben im Gestank der Dunghaufen und der außerhalb des Hauses gelegenen Klosetts einer im Zustand der Kolonialzeit belassenen Stadt wie Williamsburg uns kaum behagen. Ein restauriertes Williamsburg mit modernen sanitären Anlagen, Kanalisation und fließendem Wasser ist ein nettes Spielzeug für das Wochenende, aber kein dauernder Aufenthaltsort für den Menschen des Zeitalters der Technik. (Das Beispiel Williamsburg verdanke ich dem scharfsinnigen Aufsatz von Daniel J. Boorstin Past and Present in America. Boorstin weist auch darauf hin, daß Williamsburg erst eigentlich beliebt wurde, nachdem ein riesiges Motel, ein Swimmingpool und anderes mehr gebaut worden waren.)

Wenn wir mit sehnsüchtigen Augen auf die Vorteile anderer Zivilisationen sehen, so trübt das nur unseren Blick und hindert uns daran, eine dauerhafte Lösung unserer Probleme zu finden. Die Freuden der Jagd, so sehr sie zur Zerstreuung des Jägers dienen mögen, können den Schaden, den der Mensch sich im technischen Zeitalter zuzieht, nicht wiedergutmachen. Auch Freizeitbeschäftigungen werden die negativen Seiten des Maschinenzeitalters nicht aus der Welt schaffen; sie können uns allenfalls zeitweise Vergessen schenken und dazu verführen, uns nicht um Abhilfe zu bemühen. Wenn man seine Hochzeitsreise mehrere Male wiederholt, wird die Ehe dadurch nicht gerettet, weil das, woran sie krankt, nicht behoben wird; es kann eher dazu führen, daß die Ehe ziellos und mit wachsender Unzufriedenheit beider Partner weitergeht.

Man kann die Möglichkeit, zum Sklaven der Maschine zu werden, nicht ausschalten, indem man häufiger und länger von einem durch die Maschine beherrschten Leben Urlaub macht. Die Lösung liegt vielmehr darin, Möglichkeiten zu suchen, der Menschlichkeit zum Durchbruch zu verhelfen, gerade indem man sich die Maschine zu diesem Zweck zunutze macht. Wie jede Kultur typische Unannehmlichkeiten und die dazugehörigen seelischen Störungen mit sich bringt, so muß sie auch ihre eigenen Wege finden, um die eigentlichen Bedürfnisse des Menschen zu befriedigen und den durch Neurosen bedingten, für die betreffende Zeit typischen Erfordernissen Rechnung zu tragen.

Wenn man unangefochten von Predigten über Verdammnis und Hölle weiterleben will, braucht man außer dem Glauben an Verdammnis und Hölle einen entsprechenden an Wiedererweckung und Rettung. In unserer Zeit stellt sich die Frage, wie es sich in diesem Maschinenzeitalter, in dem der Mensch dem Menschen und der Mensch der Natur entfremdet ist, sinnvoll weiterleben läßt. Ich behaupte nicht, eine endgültige Lösung dieser Frage entdeckt zu haben. Der innere Zusammenhang dieses Buches ergibt sich jedoch aus dem Bemühen, eine Lösung wenigstens einiger Seiten dieses Problems anzustreben.

Sklave, ohne es zu wissen

Bei meiner täglichen Arbeit mit psychotischen Kindern und bei meinen Bemühungen, ein Anstaltsmilieu zu schaffen, durch das sie wieder normal werden können, stehe ich immer wieder vor dem Problem, wie man sich die Möglichkeiten des Zeitalters der Technik, alles, was die moderne Naturwissenschaft zum Verständnis und zum Wohlergehen des Menschen beizutragen hat, am besten zunutze machen kann, ohne zum Sklaven von Naturwissenschaft und Technik zu werden.

Wir haben nie gedacht, ohne "Maschinen" weiter und leichter vorankommen zu können. Im Gegenteil, indem wir sie klug benutzten, ist es uns gelungen, ein freieres Leben zu führen, als das ohne Maschinen möglich gewesen wäre. Das hört sich so an, als ob ich mich unnötig lange bei Binsenwahrheiten aufhielte, denn schließlich ist ja die Maschine erfunden worden, um den Menschen aus der Knechtschaft zu befreien. Aber ganz so einfach liegen die Dinge nicht.

Jedes Mal, wenn wir in unserer Anstalt eine neue technische Errungenschaft einführten, mußten wir sorgfältig prüfen, welcher Platz ihr im Leben unserer Schule zukam. Die Vorteile lagen stets auf der Hand; wie weit wir uns durch den Erwerb einer Maschine in Abhängigkeit begaben, war immer sehr viel schwieriger abzuschätzen. Oft wurden uns die nachteiligen Wirkungen erst bewußt, wenn die Maschine schon lange in Gebrauch war. Dann waren wir jedoch schon so abhängig von ihr geworden, daß uns eine Beseitigung der Maschine oder eine Änderung der durch ihre Benutzung entstandenen methodischen Schemata wegen der Geringfügigkeit der Nachteile nicht gerechtfertigt erschien. Die vielen kleinen Nachteile aller Apparate zusammengenommen führten jedoch zu einer beträchtlichen und unerfreulichen Änderung in unserem Leben und unserer Arbeit.

Wenn ich also von "Verführung" spreche, meine ich folgendes. Die Vorteile der Maschinen sind so offensichtlich und zugleich so angenehm, daß wir uns Schrittchen für Schrittchen dazu verführen lassen, zu vergessen, welchen Preis wir für ihre gedankenlose Benutzung zahlen. Der Ton liegt dabei auf gedankenlos, denn alle Maschinen können auch sinnvoll benutzt werden.

Ein typischer Fall ist das Fernsehen. Über den Inhalt von Fernsehsendungen ist schon viel gesagt worden; mir geht es hier weniger um den Gehalt als darum, wie sich ständiges Fernsehen auf die Fähigkeit des Kindes auswirkt, eine Beziehung zu wirklichen Menschen herzustellen, innere Selbsttätigkeit zu gewinnen, auf Grund eigener Lebenserfahrung und nicht in Klischees aus Filmen zu denken.

Viele Kinder im Alter von vier bis sechs Jahren denken und reden in den Kategorien ihrer Lieblings-Fernsehsendungen und haben ein besseres Verhältnis zum Bildschirm als zu ihren Eltern. Einige Kinder scheinen nicht mehr fähig zu sein, auf die einfache Sprache ihrer Eltern zu reagieren, weil sie im Vergleich zu der urbanen Diktion und gefühlsgeladenen Sprache professioneller Fernsehakteure keinen Eindruck auf sie macht. Ehe es zu so weitreichenden Folgen des Fernsehens kommt, müssen allerdings nicht nur die Kinder, sondern auch die Eltern einen großen Teil der Zeit vor dem Bildschirm verbringen oder so wenig miteinander sprechen, daß die Unterhaltung der Erwachsenen gegen das ständige Gerede oder die überlauten Stimmen der Fernsehsendung nicht ankommen kann.

Kinder, denen man beigebracht hat oder die daran gewöhnt worden sind, einen großen Teil des Tages passiv vor dem Bildschirm zu sitzen und den freundlichen Worten und gefühlsbetonten Stimmen der Fernsehakteure zuzuhören, sind oft nicht in der Lage, eine Beziehung zu lebenden Menschen herzustellen, weil diese weniger Gefühle in ihnen erregen als die geschulten Schauspieler. Noch gefährlicher ist, daß sie die Fähigkeit, aus der Wirklichkeit zu lernen, verlieren, weil Erlebnisse des tatsächlichen Lebens komplizierter sind als die auf dem Bildschirm und weil niemand da ist, der am Ende alles erklärt, wie das in manchen Fernsehsendungen der Fall ist. Das "Fernsehkind" erwartet, daß sich in seinem Leben alles in der rechten Reihenfolge abspielt, daß es einen Anfang, eine Mitte und ein vorausbestimmbares Ende gibt, daß alles jeweils von einem der Hauptdarsteller (beim Wildwestfilm) oder von einem Zeremonienmeister (beim Lustspiel) erläutert wird. Es wird schließlich völlig entmutigt, weil das Leben nach seiner Meinung zu kompliziert ist. Da es daran gewöhnt ist, immer eine Erklärung zu erhalten, hat es nicht gelernt, sich selbst eine Erklärung für Erlebnisse und Geschehnisse zu suchen. Es verliert den Mut, wenn es den Sinn der Dinge, die ihm zustoßen, nicht erfassen kann, und wird wieder auf seinen einzigen Trost zurückgeworfen: die in ihrem Ablauf vorausberechenbaren Geschichten auf dem Bildschirm.

Wenn diese seelische Trägheit später nicht beseitigt wird, kann sich die Kontaktarmut des Kindes, die vor dem Bildschirm ihren Anfang genommen hat, in der Schule fortsetzen. Schließlich kann sie, wenn nicht zu dauernder Unfähigkeit, so doch zu einem Mangel an Lernbereitschaft und zu Kontaktarmut führen. In der Pubertät kann diese Kontaktarmut leicht noch ernstere Folgen haben, weil dann die aus der Sexualität entstehenden Gefühle auf einen Menschen eindringen, der nie gelernt hat, solche Gefühle innerlich zu verarbeiten, zu sublimieren oder sie durch personale Beziehung zu befriedigen.

Diese Verführung zur Passivität und zur Angst vor einer aktiven und selbständigen Teilnahme am Leben ist die eigentliche Gefahr des Fernsehens; sie ist sehr viel größer als die Gefahr, die von einem stupiden oder grausigen Inhalt droht. "Passivität durch Fernsehen" ist jedoch nur eine Seite der allgemeinen Mentalität, die nach dem Motto "das überlassen wir der Maschine" verfährt.

Trotz alledem bin ich nicht dafür, die Fernsehapparate aus unseren Wohnungen zu verbannen. Wenn wir aber ihre Vorteile genießen wollen, ohne einen allzu hohen Preis dafür zu zahlen, dann müssen auch wir aktiv etwas unternehmen. Wenn wir unseren Kindern das passive Zuschauen vor dem Bildschirm gestatten, dann müssen wir ihnen andererseits aktive Erlebnisse und nicht nur einfach körperliche Betätigung verschaffen. Wir müssen sie dazu anleiten, die Wirklichkeit direkt zu erleben, Folgerungen zu ziehen und eine eigene Meinung zu haben, statt einfach hinzunehmen, was ihnen als richtig vorgetragen wird.

Vielleicht läßt sich die Sache durch ein weniger umstrittenes Beispiel konkreter erklären. Ich kann mir keine Hausfrau vorstellen, die nicht froh wäre, eine Spülmaschine zu besitzen. Für einige Ehepaare verschwindet jedoch mit der Anschaffung einer solchen Maschine eine Tätigkeit, die sie jeden Tag gemeinsam ausübten, das Abwaschen: Sie spülte, er trocknete ab. Eine Frau sagte einmal, seit sie eine solche Maschine besitze, leide sie weniger an Ermüdung und habe viel Zeit gewonnen; dann setzte sie jedoch wehmütig hinzu: "Es war aber doch schön abends, wenn wir die Kinder zu Bett gebracht und dann eine kurze Zeit beim Abwaschen für uns allein hatten."

Diese täglich zu erledigende Hausarbeit brachte Mann und Frau einander näher. Es liegt auf der Hand, daß man den Abwasch lieber von einer Spülmaschine machen läßt, als daß man es selbst tut. Daß sich bei dieser Hausarbeit ein Gefühl gemütlicher Gemeinsamkeit einstellte, merkten die Eheleute erst, als sie es entbehren mußten. Ebensosehr liegt auf der Hand, daß das Ehepaar nach der Anschaffung der Maschine sich eine andere Gelegenheit für eine kurze gemeinsame Stunde suchen mußte, denn erst dann konnte die Maschine für ihr gemeinsames Leben von Vorteil sein, statt es zu stören. Ich sagte, dies liege auf der Hand. In wieviel Familien wird aber das, was wir hier als offensichtlich notwendig erkannt haben, zur Wirklichkeit?

An der Orthogenic School blieb uns auf diesem Gebiet keine Wahl. Unsere Aufgaben ließen uns immer von neuem darüber nachdenken, und so stellten wir fest, daß es in unserer heutigen Zeit völlig unmöglich ist, keine Kompromisse mit Wissenschaft und Technik zu schließen, wenn man eine Anstalt schaffen und in Gang halten will. Fehler zu vermeiden wurde uns dadurch leichter gemacht, daß wir immer wieder erkannten, wieviel aus neurotischen Symptomen und ihren Ursachen zu lernen ist, was den Menschen in einer bestimmten Zivilisation am ehesten seelisch aus dem Gleichgewicht bringt. Diese Erkenntnis erleichterte es uns, in unserem Milieu die Dinge zu beseitigen, die der Freiheit und Spontaneität des Menschen hinderlich sind.

Wahnvorstellungen des modernen Menschen

Während jeder neurotische oder psychotische Zusammenbruch aus den inneren Schwierigkeiten des Menschen entsteht, spiegelt sich in der Form, in der er auftritt, das heißt, in den äußeren Symptomen, das Wesen der Gesellschaft wider, in der er lebt. Psychotische Störungen sind besonders aufschlußreich, vielleicht deshalb, weil sie auf außerordentlich starken Angstzuständen beruhen und anzeigen, daß ein Zusammenbruch aller seelischen Funktionen erfolgt ist, der ja eben durch die Psychose überwunden werden soll. An einem solchen überdeutlichen Fall zeigt sich manchmal klarer, woran wir bis zu einem gewissen Grad alle kranken, und er kann uns gleichzeitig ein warnender Hinweis sein. An Psychosen läßt sich auch besser als an neurotischem Verhalten ablesen, von welchen Kräften der Mensch einer bestimmten Zeit sich die Lösung der Schwierigkeiten verspricht, deren er nicht Herr werden kann.

Wenn im Mittelalter ein Mensch mit seinen Problemen nicht fertigwerden konnte und sich in Wahnvorstellungen flüchtete, fühlte er sich von Dämonen besessen. Er fand aber Beruhigung in der Hoffnung, durch das Eingreifen von Engeln oder Heiligen gerettet zu werden. In jedem Zeitalter und in allen Kulturen gibt es Menschen, die glauben, von überirdischen Mächten besessen oder verfolgt zu sein. Wir wissen, daß dieses Bedürfnis, einen inneren Konflikt einer äußeren Macht zuzuschreiben, sich dann einstellt, wenn ein Mensch das Gefühl hat, mit einem inneren Problem seelisch nicht fertigwerden zu können. Weniger bekannt ist dagegen, daß man daraus, wovon der Mensch sich besessen fühlt, weitgehend darauf schließen kann, welche sozialen Faktoren die seelischen Störungen hervorgerufen haben.

Sexuelle Verführung durch den Teufel erleben nur Menschen einer Zivilisation, deren Moralbegriffe Keuschheit verlangen und in der diese Keuschheit auch vom einzelnen innerlich als Ziel anerkannt wird. Die Wahnvorstellungen, daß es zur Verführung einer Frau des Teufels bedürfe, rechnet daher mit einer Keuschheit, die nur durch eine übermenschliche Macht (böse Geister) überwunden werden kann. Aus denselben Wahnvorstellungen läßt sich aber auch erkennen, nach welchen Mächten (guten Geistern) der Mensch einer bestimmten Gesellschaft Ausschau hält, um von ihnen die inneren Widersprüche, mit denen er nicht fertigwird, lösen zu lassen.

Früher einmal erwarteten die Menschen die Lösung ihrer Schwierigkeiten von einem großen Mann. Aus der Tatsache, daß zu einer bestimmten Zeit viele Menschen unter der größenwahnsinnigen Vorstellung litten, Napoleon zu sein, läßt sich ersehen, daß man damals die Lösung der Probleme von großen Männern erhoffte. Engel und Teufel waren nicht mehr übermenschlich, sondern stellten sich im Menschen dar. Der große Mann ist nichts weiter als die Vergötterung des Durchschnittsmenschen. Selbst wenn ein Mensch sich "gehetzt" fühlt, ist das Bild, das er sich von seinem Verfolger macht, das eines Hundes oder eines anderen lebenden Wesens. Wie steht es aber in einem Zeitalter, das weder Engeln noch großen Männern die Lösung seiner Probleme zutraut, sondern sie von Elektronen-"Gehirnen" und Raketen erwartet?

Der moderne Mensch sucht sein Nirwana, den Zufluchtsort vor den unlösbaren Problemen des Lebens, nicht mehr im Himmel, sondern im Weltraum. In dem gleichen Maß, in dem seine Sicherheit von Raketen und Kernspaltung abhängt, muß er sich von der Angst vor der Atombombe gejagt fühlen.

Die Hoffnungen und Ängste des Menschen im Zeitalter der Maschine unterscheiden sich von allem früher Dagewesenen insofern, als der Mensch sich die rettenden und vernichtenden Mächte nicht mehr als Menschen vorstellt. Die Größen, von denen wir annehmen, daß sie uns retten oder zerstören können, sind nicht mehr eine Projektion des Menschenbildes. Die Macht, von der wir hoffen, sie werde uns retten, und die Macht, die uns, wie wir in unseren Wahnvorstellungen fürchten, zerstören wird, besitzen keine menschlichen Eigenschaften mehr. Übrigens ist das Argument der Vernunft, die Atombombe könne wirklich vernichten, während der Teufel ein verhältnismäßig harmloses Phantasiegebilde war, falsch. Menschen, die wirklich an den Teufel glauben, konnten von ihm ebenso vernichtet werden, wie wir von der Atombombe. Die Menschen, die auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden, weil sie oder ihre Mitmenschen an den Teufel glaubten, sind nicht nur in ihrer Einbildung gestorben; sie waren so tot wie die Opfer atomarer Kriegführung. Die Prophezeiung, daß im Jahre 1000 das Ende der Welt kommen würde, war nicht nur ebensoweit verbreitet, sondern führte auch prozentual zu mehr Selbstmorden als unsere Furcht vor der Zerstörung der Welt durch Atombomben. In einem religiös orientierten Zeitalter glaubte und fürchtete der Mensch aufgrund einer Glaubenswahrheit (1000. Jahrestag der Geburt Christi); in einem Zeitalter der Naturwissenschaft hat er Angst wegen einer von der Wissenschaft geschaffenen Tatsache (Atombombe).

Diese neue Entwicklung hat auch noch andere Seiten. Früher war es nicht nur so, daß Retter und Vernichter als menschenähnliche Wesen auftraten; vielmehr wurden sie auch als übernatürliche oder zumindest dem Menschen überlegene Wesen dargestellt und nie als dem Menschen dienende. Maschinen und wissenschaftliche Erfindungen dagegen werden als Erzeugnisse der menschlichen Vernunft betrachtet, die nur dazu da sind, vom Menschen benützt zu werden. Der Übergang von der zwar nützlichen, aber geistlosen Maschine zur Maschine, die den Menschen manipuliert oder gar tötet, wird nicht als qualitativer, sondern als quantitativer oder gradueller Unterschied angesehen.

Ein typisches Beispiel ist der (aus guten Gründen zuerst in Deutschland so bezeichnete) "Karteimensch". Lochkarte und Lochkartenmaschine scheinen uns zu einer bloßen Anhäufung nützlicher Eigenschaften zu machen. Die Menschen, die über uns bestimmen, benutzen uns in erster Linie und vor allem als Besitzer der auf der Karteikarte angegebenen Eigenschaften, von denen sie einzeln oder in bestimmten Zusammenstellungen Gebrauch machen, und sehen uns nur zufällig, wenn überhaupt, als Gesamtpersönlichkeit.

Eine wahrscheinlich erfundene Geschichte im New Yorker illustriert das, was ich meine, wahrscheinlich besser als eine lange Erörterung. Eine Frau, die einer Buchgemeinschaft angehörte, trat aus ihr aus. Trotzdem bekam sie in regelmäßigen Abständen eine Lochkarte zugeschickt mit der Aufforderung, ihren Mitgliedsbeitrag zu zahlen, obwohl sie der Buchgemeinschaft nichts mehr schuldete. Sie schickte die Karte mehrere Male zurück und schrieb dazu, sie sei aus der Buchgemeinschaft ausgetreten und daher seien keine weiteren Zahlungen mehr fällig. Die Karten kamen aber noch immer, bis die Frau eines Tages auf den Gedanken kam, mit einem Locher ein paar Löcher in die Karte zu stanzen. Damit war die Sache erledigt; die Frau wurde nicht mehr belästigt. Eine von Maschinen dirigierte Organisation reagiert am besten auf eine maschinenmäßige Antwort.

Diese Geschichte ist recht amüsant. Wir sollten aber nachdenklich werden, wenn wir bedenken, wie bereitwillig wir der Aufforderung folgen, eine Lochkarte nicht zu knicken und zu falten. Die meisten von uns haben keine Bedenken, einen handgeschriebenen Privatbrief zu falten. Die Maschine und ihre Erfordernisse behandeln wir mit mehr Respekt als den Menschen. Ich weiß natürlich, daß eine stichhaltige Antwort hierauf lautet: Von einer Maschine kann man keine Rücksichtnahme auf menschliche Launen verlangen. Trotzdem ist es kein gutes Vorzeichen, denn in Zukunft werden wir immer mehr mit Lochkarten und immer weniger mit handgeschriebenen Briefen, Anfragen oder auch nur Schecks zu tun haben. Da wir nicht mehr das Recht haben, natürlich zu reagieren (indem wir solche Papiere falten, wie wir wollen), wird ganz allgemein unsere Fähigkeit, spontan zu reagieren, eingeschränkt. Je mehr wir uns vor spontanen Reaktionen hüten müssen, um so mehr wird unsere Fähigkeit, spontan zu reagieren, aus Mangel an Betätigung verkümmern.

Das war nur ein weiteres kleines Beispiel dafür, wie Apparate, die lediglich dazu erfunden wurden, die Arbeit zu erleichtern und Arbeitskräfte einzusparen, den Menschen dazu zwingen, sich den Erfordernissen der Maschine unterzuordnen. Eine graduelle Veränderung der Schwierigkeiten, die bei Entscheidungen überwunden werden müssen, scheint das Wesen der Methode, durch die eine Entscheidung herbeigeführt wird, gewandelt und ihr das Menschliche genommen zu haben. Es ist sehr viel leichter, über eine Lochkarte oder die zu der Karte gehörige Nummer zu verfügen, als einen Menschen zu dirigieren. Vieles, was mit Menschen getan wird und bei demjenigen, der es tut, sonst großen Widerstand, wenn nicht sogar Ablehnung hervorrufen würde, wird ohne Gewissensbisse erledigt, weil derjenige, der es tut, lediglich anonyme Karten in eine entsprechend eingestellte Maschine zu stecken braucht. Wenn die Karten einmal sortiert worden sind, erscheint es einfach, Männern und Frauen, die nach Maßgabe der Maschine am besten für bestimmte Arbeiten geeignet sind, diese Aufgaben zuzuweisen. Das ist etwas anderes, als wenn jemand persönlich darüber entscheiden muß, ob Sie, der Leser, oder ich unserer Posten enthoben oder mit einer schwierigen Aufgabe betraut werden.

Durch einen merkwürdigen psychologischen Vorgang kommt es, daß Menschen, die von der Obrigkeit als Nummern auf Lochkarten behandelt werden, sich selbst auch eher als Nummern denn als Menschen ansehen, wenn sie sich nicht bewußt dagegen vorsehen. Wie G. H. Mead nachgewiesen hat, formt sich die Vorstellung, die wir von uns selbst haben, nach dem Bild, das andere sich von uns machen. Aus der Psychoanalyse weiß man, daß jede Handlung außer vernunftgemäßen Ursachen auch noch unbewußte Gründe hat. Wie sehr also die Benutzung von Lochkarten auch vernunftgemäßen Gründen entspringt – schließlich ist es eine sinnvolle, vernünftige Methode der Arbeitserledigung, durch die Fehler vermieden werden, die auf menschliches Versagen oder Zeitdruck zurückgehen –, sie hat immer auch psychologische, unbewußte Auswirkungen.

Wie in so vielen anderen Fällen ist auch hier keine Lösung gefunden, wenn man entweder die Lochkarte und ihre erwiesenen Vorteile abschafft oder sich so sieht, wie man von der Lochkarte beschrieben wird. Die Lösung besteht vielmehr in dem, was die Psychoanalyse zur Wiederherstellung der menschlich-seelischen Funktionen des seelisch gestörten Menschen empfiehlt: die Gefahren einer Situation nicht zu leugnen oder zu übersehen, nicht aus dieser Situation zu flüchten, indem man sie beseitigt und sich somit ihrer Vorteile begibt, sondern die Gefahren zu erkennen und ihnen aufgrund persönlicher Entscheidung bewußt handelnd entgegenzutreten. Dadurch wird die Gefahr neutralisiert, und wir können Gewinn aus den Möglichkeiten der Technik ziehen, ohne uns unseres Menschseins berauben zu lassen.

Nach der psychoanalytischen Theorie hat andererseits jede Erfindung ihre Ursache nicht nur in der Vernunft, sondern sie hat ihren Ursprung und ihre Bedeutung auch im Unbewußten. Wenn dem so ist, werden Maschinen einerseits wegen ihres Nutzens erfunden, andererseits wird ihre Erfindung aber auch vom Unbewußten des Erfinders beeinflußt, der entweder seinen ganzen Körper oder Teile davon projiziert. Bei noch größerer Spezialisierung maschineller Vorgänge kommt es vielleicht immer seltener vor, daß der ganze Körper und seine Funktionen und Bewegungen unbewußt der Ausgangspunkt der Erfindungsgabe des Erfinders sind. In immer größerem Maß ist es ein einzelner Körperteil oder eine einzelne Funktion des Körpers, die das Unbewußte dem von der Vernunft vollzogenen Entwurf neuer Maschinen unterschiebt.

Bei der modernen Massenproduktion zeigen sich die Folgen hiervon am Menschen. Der Arbeiter wird oft gesehen und sieht sich selbst als ein "kleines Rädchen" in der Maschine und nicht als Herr der Maschine. Er vollzieht in ständiger Wiederholung ein paar Handgriffe, ist theoretisch nicht in der Lage, den Produktionsvorgang als ganzen mitzubestimmen oder auch nur daran beteiligt zu sein, und bekommt das Endprodukt oder die endgültige Entscheidung nie oder nur in einer Weise zu Gesicht, die mit seiner Arbeit nichts zu tun hat. Ich weiß nicht, ob und in welchem Ausmaß die Automatisierung hier zu einer Änderung führen wird, indem sie den Arbeiter davon erlöst, immer wieder denselben Handgriff tun zu müssen. Auf jeden Fall aber dürfte auf diese Weise erreicht werden, daß der Arbeiter nicht mehr so sehr zu "schuften" braucht. Je weniger der Mensch für seinen Lebensunterhalt der physischen Arbeitskraft bedarf, ein um so größerer Teil seiner Zeit und seiner Energie steht ihm dann für andere Dinge zur Verfügung. Wenn es ihm nicht gelingt, Zeit und Energie auf Dinge zu verwenden, die für ihn eine große Bedeutung haben, wird sich seine psychische Angst so weit verstärken, daß er immer weniger körperliche und geistige Kräfte dazu benutzen kann, den Fortbestand seiner selbst und seiner Familie zu sichern. Es ist verhältnismäßig einfach, das Leben für sinnvoll zu halten, wenn man den größten Teil seiner Kraft auf die positive Aufgabe verwendet, die notwendigsten Dinge für sich selbst und seine Familie zu beschaffen. Es ist schon sehr viel schwieriger, ebensoviel Sinn in weniger notwendigen und nicht so offensichtlich sinnvollen Aufgaben zu sehen. Das Wissen, anderen und uns selbst das Leben zu erhalten, gibt uns allen große Selbstachtung und Befriedigung. Wenig Sinn kann man aber der Fähigkeit abgewinnen, für uns selbst und für andere immer unwichtigere Dinge zu beschaffen.

Wie die modernen Maschinen nicht mehr als Ergänzung von Körperteilen oder als Werkzeug erkannt werden, die Tätigkeiten, die ursprünglich vom Körper vollzogen wurden, rationeller ausführen – wenn sie das auch ursprünglich gewesen sein mögen –, so findet man in den Wahnvorstellungen unserer Zeit immer mehr nicht-menschliche Projektionen. Ein charakteristisches Merkmal moderner Geisteskrankheit ist zum Beispiel die "Beeinflussungsmaschine", ein Apparat, der einem Menschen angeblich Gedanken eingibt und sie so erscheinen läßt, als ob sie die eigenen Gedanken dieses Menschen wären, oder ihn dazu zwingt, bewußt gegen seinen Willen zu handeln.
Wie man sich vorstellen kann, tauchte die Beeinflussungsmaschine als Form einer Wahnvorstellung erst auf, nachdem elektrische Maschinen nicht nur ein wichtiger Bestandteil des täglichen Lebens geworden waren, sondern auch von vielen für das geeignete Mittel zur Lösung wichtiger sozialer Probleme gehalten wurden. Heutzutage, wo der Mensch sich mit seinen persönlichen Problemen so oft an die Vertreter der verschiedenen psychologischen Wissenschaften wendet, muß man erwarten, daß einige Wahnvorstellungen in dem Gefühl bestehen, von psychologischen Einflüssen gegen den eigenen Willen und ohne eigenes Wissen überwältigt zu werden. Der Ausdruck "Gehirnwäsche" und der weitverbreitete Glaube, daß mit Hilfe psychologischer Praktiken einem Menschen Gedanken und Überzeugungen sowie die damit verbundene psychisch bedingte Angst eingegeben werden können, lassen vermuten, daß wir einen solchen Punkt erreicht haben. Waren vorher Heilige, Dämonen und Beeinflussungsmaschinen der bevorzugte Inhalt von Wahnvorstellungen der Hilflosigkeit, des Überwältigt- und Beeinflußtwerdens gegen den eigenen Willen, so ist jetzt ein verstärkter Glaube an die "rettende" und an die vernichtende Kraft der Psychologie an deren Stelle getreten.

Es läßt sich nachweisen, daß auch die Beeinflussungsmaschine zunächst eine Projektion des menschlichen Körpers war, wesentlich ist jedoch, daß sie das nicht mehr ist; sie wird immer komplexer, und der psychotische Mensch fühlt sich schließlich von Apparaten beherrscht, die keine Ähnlichkeit mehr mit Mensch oder Tier haben. Der moderne Mensch wird also, wenn er sich verfolgt fühlt, ob er nun völlig normal oder seelisch stark gestört ist, nicht mehr von anderen Menschen oder von ins Riesenhafte gesteigerten Projektionen des Menschen verfolgt, sondern von Maschinen – und das, während er gleichzeitig für seinen Schutz und seine Rettung auf Maschinen angewiesen ist.

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