Auszüge aus Lutz Walther's
"Lob der Dummheit"

Dummheit ist nicht das Gegenteil von Klugheit. Dummheit ist nicht einfach ein Mangel an Intelligenz oder, wie Kant meint, ein "Mangel an Urteilskraft". Vermeintliche Dummheit ist zuweilen gar ein Indiz für höhere Intelligenz. Die Geistesgeschichte bietet eine Menge Beispiele für auf den ersten Blick dumme, einfältige oder törichte Menschen, die eigentlich liebevoll, menschlich, verschlagen-bauernschlau oder einfach gütig, demütig und gottesfürchtig sind. Und dann gibt es das Phänomen der sogenannten reflektierten oder gebrochenen Dummheit. Hier treffen wir auf Menschen, die genau wissen, daß sie nicht dumm sind, aber – ob Sokrates oder Hofnarr – aus bestimmten Gründen so erscheinen wollen. Lutz Walther versammelt philosophische und literarische Kabinettstücke zum Thema.

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Vorwort

Wer nur der Weisheit nachgespürt,
den halt’ ich noch für keinen Mann:
Doch wer die Dummheit ausstudiert,
den seh’ ich für was Rechtes an!

August Kopisch

"Der Mangel der Urtheilskraft ohne Witz ist Dummheit", schreibt Immanuel Kant 1798 in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. "Mangel an Verstand heißt im eigentlichen Sinne Dummheit", definiert Arthur Schopenhauer zwanzig Jahre später. Der Dummkopf leidet an mangelnder Einbildungs- und fehlender Geisteskraft, behauptet Jean Paul. Er sieht die Dinge nicht lebhaft genug und kann die Zusammenhänge der Ideen nicht hinreichend erfassen. Er bedient sich des Denkens und Urteilens anderer Menschen, da ihm selbst Witz und Tiefsinn fehlen. Er ist neidisch, stolz und oftmals wundergläubig. "Die Dumheit ist die Mutter des Aberglaubens, und ich glaube, sie hat sich blos das Kleid der Religion erborgt, um in einer gefälligem Gestalt zu erscheinen." Und in Johann Caspar Lavaters 1775 erschienenen Physiognomischen Fragmenten findet sich ein ganzer Katalog äußerer Erkennungsmerkmale der Dummheit: lässige Verzogenheit, tierische Stumpfheit, zuckendes Behagen, schiefes Lächeln usw.

Unvernunft, Phantasielosigkeit, Aberglaube, plumper Charakter – dies sind die Hauptmerkmale der Dummheit, die die aufgeklärten Zeitgenossen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts anführen. Der noch unerschütterte Glaube an die Macht von Verstand und Vernunft veranlaßte die Aufklärer und ihre Nachfolger, sich von allem nicht-rationalen Handeln und Denken zu distanzieren. Wie Hartmut und Gernot Böhme in ihrer Abhandlung über das Andere der Vernunft deutlich machen, bestimmte die Aufklärung, die antrat, alles Irrationale aus der Welt zu schaffen und sich selbst zu Maß und Mittelpunkt des Menschen zu machen, die Vernunft als das Gesunde und die Unvernunft als das Abnorme oder Kranke. Alles Nicht-vernünftige wird bewußt ausgegrenzt oder verdrängt, ohne zu realisieren, daß die Vernunft auf diese Weise das vermeintlich Unvernünftige erst provoziert und produziert. Die Vernunft benötigt ihr Negativ notwendig zur Selbstbestimmung. Die Austreibung des Irrationalen erwies sich jedoch "als Entfremdung vom eigenen Leib und Unterdrückung wertvoller Erfahrungsressourcen und Wissenstypen [...]". Dieses Andere der Vernunft betrifft neben Melancholikern, Hypochondern, Frauen, religiösen Schwärmern, Wahnsinnigen und sonstigen Geistesgestörten auch alle Varianten der Dummheit. Zwar unterscheidet Kant die dummen, einfältigen und unklugen Menschen von den tatsächlich psychisch gestörten – letztere gehören seiner Meinung nach aufgrund ihres Gebrechens in ein Narrenhospital, wo sie durch fremde Vernunft in Ordnung gehalten werden müssen –, doch kann es kein Zufall sein, daß er die Formen der Dummheit neben die Symptome krankhaften Wahnsinns in das Kapitel über die "Schwächen und Krankheiten der Seele in Ansehung ihres Erkenntnisvermögens" stellt. "Dumm", so erläutert Kant, "heißt vornehmlich der, welcher zu Geschäften nicht gebraucht werden kann, weil er keine Urtheilskraft besitzt." Die Unfähigkeit eines ansonsten gesunden Menschen zum Gebrauch des eigenen Verstandes in bürgerlichen Geschäften bezeichnet er einige Abschnitte zuvor als Unmündigkeit. Neben den Kindern, die wegen ihrer Minderjährigkeit keine Geschäfte abschließen dürfen, gehören in diese Kategorie vor allem die Frauen: "Das Weib in jedem Alter wird für bürgerlich-unmündig erklärt; der Ehemann ist ihr natürlicher Curator." Sowenig es dem weiblichen Geschlecht zustehe, in den Krieg zu ziehen, sowenig könne es aufgrund seiner Natur sein Recht persönlich verteidigen und staatsbürgerliche Geschäfte tätigen. Die Frau wird nicht nur mit Dummen und Einfältigen auf eine Stufe gestellt; ihr wird zudem a priori die Möglichkeit abgesprochen, je einen anderen Zustand zu erlangen. Der einzige Trost, der ihr in ihrer Unmündigkeit bleibt, ist das Recht des Schwächeren, was bedeutet, daß das männliche Geschlecht aufgrund seiner Natur angehalten ist, "das Weib" stets zu achten und zu verteidigen.

Die Vertracktheit im Verhältnis zwischen der Vernunft – vor allem in seiner höchsten und reinsten Form: dem weisen Philosophen – und der Dummheit zeigt sich auch darin, daß nicht selten gerade die angestrengte Kopfarbeit des Gebildeten als Ausdruck individueller Dummheit angesehen wird. Der Geburtsort der Torheit sind die "Inseln der Glückseligen", sagt Erasmus 1509 und veranlaßt die Torheit, sich über die kopfhängerische Grübelei der Weisen und Philosophen lustig zu machen. Wie wenig die "laternentragenden Philosophen" für irgendwelche Aufgaben des täglichen Lebens brauchbar sind, beweisen Sokrates, Platon, Theophrast, Isokrates oder Cicero mit ihrer Ungeschicktheit in Staatsgeschäften und Alltagsdingen, ihrer Schüchternheit bei offiziellen Anlässen oder ihrem "kläglichen Lampenfieber" bei öffentlichen Auftritten. "Man hole sich einen weisen Mann zu einem Gelage: Entweder ist er in brütendes Schweigen versunken, oder er stört mit aufdringlichem Problematisieren. Bittet man ihn zum Tanz, möchte man glauben, ein Kamel schwinge das Tanzbein. [...] Gilt es einen Kauf zu tun, einen Vertrag zu schließen, kurz, irgendeine unvermeidliche Angelegenheit des täglichen Lebens zu erledigen, vermeinst du in dem Weisen einen Stock zu sehen, aber keinen Menschen." Dem Weisen fehle es entschieden an praktischer Lebenserfahrung. Nicht einmal zur Fortpflanzung tauge er: "Denn Menschen dieser Art, die sich dem Studium der Weisheit verschrieben haben, pflegen in anderen Dingen, vor allem bei ihrem Nachwuchs, sehr wenig Glück zu haben." Wäre die Welt nur von weisen Philosophen bewohnt, die Menschheit wäre längst ausgestorben. Mangelnde Lebenserfahrung, fehlende Leidenschaft und der überaus hartnäckige Hang zu tiefschürfender Grübelei machen den Philosophen in den Augen der Torheit zum eigentlichen Dummkopf: Der Weise ist ein Mensch, "der die ganze Kindheit und Jugend mit dem Studium der Wissenschaften vertrödelt, den besten Teil des Lebens mit unaufhörlichen Nachtwachen, Sorgen und Schweiß verdorben und auch sonst im Leben sich kein bißchen Vergnügen erlaubt hat, der immer knauserig, arm, gedrückt, finster, ungerecht und hart gegen sich selbst war, von Bleichsucht, Magerkeit, Kränklichkeit und Triefäugigkeit gezeichnet, von Greisentum und Weißhaarigkeit vor der Zeit entstellt und vor der Zeit aus dem Leben fliehend. Was macht es schon, wenn so einer stirbt, der nie gelebt hat?" Dichter, Juristen, Theologen, Fürsten und Könige schließen sich mit ihrem Verhalten dieser "weisen" Dummheit an.

Anders als Erasmus meint Thomas von Aquin drei Jahrhunderte früher, daß individuelle Ausprägungen der Torheit auch ungeachtet des Wechselverhältnisses zwischen Vernunft und Dummheit anzutreffen sind. Zwar besteht auch bei Thomas ein Gegensatz zwischen Torheit und Weisheit, doch bezieht sich der Inhalt des weisen bzw. törichten Handelns und Denkens einzig auf die richtige Art der Gottesfurcht. Thomas bezeichnet vor allem jene Menschen als töricht, die "im Urteil über die höchsten Dinge" versagen. "Die Torheit bedeutet eine Stumpfheit des Sinnes beim Urteilen, und zwar vor allem in bezug auf die höchste Ursache, die letztes Ziel und höchstes Gut ist." Sind die Sinne eines Menschen abgestumpft, d.h. allzu sehr auf das Irdische gerichtet, wird er unfähig, das Göttliche wahrzunehmen. Beurteilt er eine geringfügige Sache falsch, dann wird er noch nicht als dumm angesehen. Sünde jedoch ist das Fehlurteil bezüglich der höchsten Ursache. Der Zustand, der die größte Gefahr für den Geist darstellt, nämlich sich von Gott abzuwenden, ist der der Lust. Die Torheit ist demnach eine Tochter der Unzucht. Ob der Mensch als klug und weise gilt oder ungebildet und unwissend ist, spielt dabei keine Rolle. Derjenige, der sich bewußt von der höchsten Ursache abwendet, handelt dumm, auch wenn er sich auf einem anderen Gebiet als noch so weise und philosophisch erweist. Der Vernünftige und Kluge nutzt seine Freiheit nicht dazu, seine Sinne abstumpfen zu lassen, sondern hält sie auf das Höchste gerichtet. Ob sich ein Mensch weise oder dumm verhält, hängt also allein von der Willensentscheidung des Einzelnen ab. Sollte jedoch einmal der Fall eintreten, daß man sich bezüglich der höchsten Ursache irrt, besteht zumindest so lange die Hoffnung, den rechten Weg wiederzufinden, solange man noch Offenheit und Demut besitzt.

Eine genaue Unterscheidung zwischen den Begriffen Torheit und Dummheit wird bei Thomas und Erasmus nicht vorgenommen. Zum Unterschied zwischen dem Dummen und dem Narren, wie er beispielsweise in Sebastian Brants Narrenschiff auftaucht, schreibt Jean Paul, daß ein Dummkopf als solcher geboren, während ein Narr "gemacht" wird. Der Dummkopf hat von Natur aus eine schwache Geisteskraft; der Narr hingegen ist nicht immer Narr gewesen. Im Vergleich zum Dummkopf besitzt er eher zuviel Wissen. Sein Problem liegt darin, daß er dieses falsch anwendet. Er sagt immer alles, was er denkt, und verrät sich somit. Der Dummkopf hat zuwenig Einbildungskraft; der Narr hat zuviel. "Der Dumkopf ist blödsichtig; er sieht nicht weiter als vor seine Füsse hin – der Nar hat gute Augen; aber er sieht durch eine falsche Brille." Für Jean Paul besteht kein Zweifel darin, daß es keine Möglichkeit gibt, einen Dummkopf zu bessern, während für einen Narren, der nicht immer ein Narr gewesen, sondern ein solcher geworden ist, allenthalben die Hoffnung besteht, daß seine Narrheit geheilt werden kann. – Wie erwähnt, besitzt Kant zufolge der Dumme keine Urteilskraft und ist zu Geschäften unbrauchbar. Im Unterschied dazu definiert er den Toren als einen Menschen, der irgendwelchen Zwecken einen Wert gibt, die keinen Wert haben. Wird die Torheit beleidigend, so nennt Kant sie Narrheit. Als eine solche bezeichnet er hochmütiges Verhalten, denn es ist "thöricht, Anderen zuzumuthen, daß sie sich selbst in Vergleichung mit mir gering schätzen sollen ...".

Die Auffassung, daß die Dummheit ein Ausdruck des defizitären Charakters eines Menschen ist, ist eine bis heute häufig anzutreffende Meinung. An die Stelle von Verstand, Vernunft oder Gläubigkeit tritt in modernen Abhandlungen der Begriff der Intelligenz. Da bis vor wenigen Jahrzehnten der Glaube an die Aussagekraft des Intelligenzquotienten fast unerschütterlich war und man wie selbstverständlich mit diversen Tests eine Zahl ermittelte, die über Dummheit oder Klugheit und damit über den Wert eines Menschen entschied, schien es naheliegend, die Dummheit als das genaue Gegenteil der Intelligenz zu definieren. Dummheit, genauer gesagt dummes Verhalten, wird hier schlichtweg als die Folge zu niedriger Intelligenz angesehen. In Umkehrung der Definition des Intelligenzbegriffes von Gerhard Kloos beschreibt der Mediziner und Anthropologe Horst Geyer die Dummheit wie folgt: "Als Dummheit (geistige Minderbegabung) bezeichnet man die Unfähigkeit zur zweckmäßigen Lösung der Lebens- und Berufsaufgaben. An der Art der Aufgaben, die ein Mensch geistig nicht zu bewältigen vermag, ermißt man seinen Dummheitsgrad (den geistigen Entwicklungstiefstand), oder die Richtung seiner Intelligenzdefekte. Das Mittel, dessen man sich zur Lösung von Aufgaben bedient, ist in erster Linie das Denken. Dummheit ist also im wesentlichen Denkschwäche." Was zunächst einleuchtend klingen mag, verliert seine Selbstverständlichkeit, wenn man einzelne Fälle vermeintlich dummen Verhaltens differenziert betrachtet: Wird man den hochdotierten Professor für Physik als dumm bezeichnen, wenn er sich unfähig zeigt, seinen Wagen rückwärts in eine Parklücke zu lenken? Oder ist derjenige Schüler ein Dummkopf, der im Mathematikunterricht der Oberstufe versagt, einige Jahre später aber einen sprachlich brillanten Roman veröffentlicht? Daß das Bewältigen der Lebensaufgaben nicht nur eine Sache der Intelligenz ist, sondern von einer Reihe anderer Faktoren, wie der aktuellen und allgemeinen emotionalen Verfassung des Menschen, seinem Gesundheits- und Ernährungszustand, Motivation und Selbstwertgefühl, von den Milieu- und Gesellschaftsverhältnissen sowie den politischen Zuständen, abhängig ist, wird erst bei einer differenzierteren Betrachtung des Wechselverhältnisses von Intelligenz und Dummheit deutlich.

Auffällig an Geyers Position ist auch, daß er keine klare Unterscheidung trifft zwischen der pathologischen Dummheit und der Dummheit der körperlich und geistig nicht beeinträchtigten Menschen, der vermeintlich "normalen". Wie weit eine rein medizinische Beschreibung der Dummheit respektive der Intelligenzminderung reicht, läßt sich im Lexikon der Medizin von Zetkin und Schaldach nachlesen. Intelligenzminderung wird hier als mangelnde Entwicklung der Intelligenz beschrieben, die oft mit einer Beeinträchtigung der Gesamtpersönlichkeit einhergeht und auf organische oder psychische Ursachen zurückgeführt werden kann. "Die Intelligenzminderung ist gekennzeichnet durch einen Mangel an geistiger Beweglichkeit, durch Armut an Vorstellungen u. Begriffen, Unfähigkeit zur Bildung abstrakter Begriffe u. Mangel an Übersicht, Voraussicht u. Selbständigkeit im Denken." Zu den organischen Ursachen werden Stoffwechselerkrankungen und genetische Defekte gezählt; als psychische Ursache wird eine erhebliche Vernachlässigung im Säuglings- u. Kleinkindalter angesehen. Danach folgt eine Unterscheidung in drei Gruppen nach dem Grad des Intelligenzmangels: "1. leichte geistige Behinderung (veraltet: Debilität): Betroffene können durch gezielte Fördermaßnahmen berufl. integriert werden, selbständiger Erwerb des Lebensunterhalts mögl. (IQ 67-52); 2. mittlere geistige Behinderung (veraltet: Imbezillität): mäßige Lern- u. Bildungsfähigkeit, förderungsfähige Pat. erlernen die Sprache, hyg. Gewohnheiten u. einfache Tätigkeiten, die dem eigenen Lebensunterhalt dienen. Unfähigkeit zum Schreiben- u. Lesenlernen (IQ 51-20); 3. schwerste geistige Behinderung (veraltet: Idiotie): kaum bildungsfähige Pat.; Sprache, hyg. Gewohnheiten u. sinnvolle Tätigkeiten werden nicht erlernt. Unfähigkeit zum Sprechen u. Verstehen von Gesprochenem (IQ unter 20)."

Esther Vilar nimmt die herkömmliche diametrale Gegenüberstellung von Dummheit und Intelligenz zum Anlaß, eine ganz andere Bewertung des Zusammenhangs zu präsentieren. Sie hebt hervor, daß im Zeitalter des Computers der menschliche Geist in bezug auf die Leistung dessen, was im allgemeinen unter Intelligenz verstanden wird – Gedächtnis, Rechengewandtheit, Auffassungsgeschwindigkeit usw. –, jedem noch so kleinen Taschenrechner hoffnungslos unterlegen ist. Als intelligent sollte man ihr zufolge daher eher diejenigen Eigenschaften bezeichnen, mit denen die Menschen sich von den Maschinen unterscheiden, nämlich Kreativität, Sensibilität, Humor, Hilfsbereitschaft usw. "Ein dummer Mensch wäre demnach unoriginell, unkreativ und humorlos und gegenüber anderen – in die er sich ja mangels Feingefühl nicht hineinversetzen kann – mitleidlos, rücksichtslos und intolerant. Dummheit darf also nicht länger mit Ignoranz (Unwissenheit) verwechselt werden: Bildung (Wissen) kann man kaufen, Intelligenz nicht."

Eine genaue Unterscheidung zwischen krankhafter und nicht-krankhafter Dummheit trifft der Psychologe Konrad Josef in seinem Buch Das Antlitz der Dummheit. Es ist die Dummheit der Intelligenten, nicht die der "unschuldig Dummen", die ihn besonders interessiert. Nicht die pathologische Dummheit, nicht psychosomatische Behinderungen, nicht einmal das langsame, urteilsschwache oder "einfache" Verhalten eines Menschen, das oftmals als dumm bezeichnet wird, veranlaßt ihn zur Analyse, sondern vor allem das dumme und verdummende Verhalten der vermeintlich Gescheiten. Dumm ist nicht der, dem die Gabe des reflexiven und distanzierten Denkens nicht gegeben ist, sondern der, der seine Fähigkeit zu Reflexion und Distanzierung in bestimmten Momenten bewußt oder unbewußt nicht anwendet. Die Anlässe oder Gründe, die eigene Intelligenz in bestimmten Situationen "außen vor" zu lassen, sind dabei vielfältiger und unterschiedlicher Natur: Gruppenzwang, Egoismus, Rachsucht, Selbstüberschätzung, falsches Ehrverständnis, Minderwertigkeitsgefühle, Schüchternheit, Ignoranz, Eitelkeit usw. Josefs Beschreibung der Dummheit ist demnach erheblich weiter gefaßt als die von Geyer: "Für die Anfälligkeit zu unserem Dummsein, als Opfer eigener Dummheit oder als Mißbraucher und Verursacher der Verdummung anderer, sind sowohl unser Charakter als auch die Beeinflussung von außen verantwortlich zu machen. Dummheit tritt zutage bei Wahrnehmungsverweigerern, Wirklichkeitsblinden, aus Vorurteilen Urteilenden, der Massensuggestion Erliegenden oder bei kurzfristige Vorteile Suchenden. Intellektueller Monismus ist hierzu ebenso zu zählen wie etwa die Unfähigkeit, korrekte Schlüsse zu ziehen."

Es wird deutlich, daß Dummheit nicht nur ein individuelles Problem ist. Neben die Dummheit des Einzelnen wie sie oben von Kant, Erasmus, Thomas usw. beschrieben wurde, tritt hier und bei den folgenden Autoren die sich täglich manifestierende kollektive Dummheit der Gesellschaft im allgemeinen oder einzelner Gesellschaftsgruppen und Institutionen im besonderen. Behörden, Politiker, Medien, Werbefachleute, Lobbyisten, religiöse Organisationen, Wissenschaftler, Konsumenten etc. zeichnen sich durch eine jeweils eigene Art der Dummheit aus. Von hier ist es nur noch ein kleiner Schritt zu dem, was Holger Rust unter der modernen Spießigkeit versteht. Seiner Meinung nach ist das Spießertum keineswegs mit dem Ende des letzten oder vorletzten Weltkrieges ausgestorben, sondern es breitet sich heute mehr denn je "epidemisch" in unserer Gesellschaft aus. Für Rust ist der Spießer nicht mehr der Kleinbürger, der einer langweiligen Tätigkeit nachgeht, wenig von akademischen Weihen hält und samstags sein Auto wäscht. Der Spießbürger darf nicht mit dem Kleinbürger verwechselt werden. Als Grundzug des Spießertums bezeichnet er die Pose: "die Verleugnung der natürlichen Selbstsicherheit um der Pose willen, die ölige Anpassung an etwas, das man deshalb für angebracht hält, weil es den Applaus der Umstehenden einbringt, weil es ›angesagt‹ ist und weil eine dubiose Pseudoprominenz die Themen des öffentlichen Zeitgesprächs bestimmt [...]". Ein Spießer ist, "wer über Alternativen verfügt, aber den Weg der Anpassung wählt, wissend, daß vordergründige Stromlinienform sein herausragendes Persönlichkeitsmerkmal darstellt, ein Feigling vor den Trends und zeitgeistigen Grundbegriffen, Moden und Etiketten, einer, der (und eine, die) dem Nachgeplapper von Begriffen und Ideologien mehr Raum gibt als dem eigenen Gedanken. Spießertum, das ist eine künstliche, gekünstelte, nicht so ganz ehrliche Mentalität, ist der Opportunismus, der nur jubelt, weil es der Situation entspricht. Spießertum ist die Wahl der bequemen Option, die rüde Sexbesessenheit, der Prominentenwahn von beiden, der exhibitionistischen wie der voyeuristischen Seite, [...] der Overkill an Trashkultur, die kleine Sehnsucht nach Bemutterung (auch wenn sie in Form von Expertenratschlägen kaschiert wird), die lustvolle Einrichtung in den Ängsten, die Entäußerung der Lebensgestaltung in Gestirnsabläufe, die Beschwörung von Apokalypsen, das pseudo-betriebswirtschaftliche Geschwafel bei menschlichen Beziehungen, die Unfähigkeit vieler Pädagogen, mit dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel umzugehen, die umfassende Trivialisierung eines wichtigen Massenmediums, die fehlende Gelassenheit und das völlige Verschwinden des Humors – gleichzeitig die sorgsame Überwachung der kleinsten Chance, das Drängen in die Öffentlichkeit, [...] der Verlust jeder intellektuellen Zivilcourage, die Getriebenheit des Managers, der sich Gurus hält, statt den Mut aufzubringen, Entscheidungen zu treffen, [...] die geistige Frühpensionierung des Hochschulprofessors, der sich knatschig in seiner vergilbten und ergrauten Achtundsechzigermentalität einrichtet." Alle diese in epischer Dichte beschriebenen Arten des Verhaltens seitens des Individuums wie des Kollektivs können Rust zufolge schlichtweg nur als dumm bezeichnet werden. Ob es für diese grassierenden Formen der Dummheit überhaupt noch eine Rettung gibt oder wie Alternativen aussehen könnten, bleibt ungeklärt.

Mit kollektiver Dummheit beschäftigt sich auch der französische Philosoph André Glucksmann. Seiner Meinung nach zeigt sich die Dummheit der Masse in allen Formen totalitären oder ideologischen Denkens, linker wie rechter Provenienz. Ob in Form von Nationalsozialismus, Stalinismus oder Antisemitismus – die Dummheit tritt stets offen zutage; sie ist weder unordentlich noch verborgen oder verworren, sondern allgegenwärtig. Und sie ist sich ihrer eigenen Dummheit nicht bewußt. Da sich jede Dummheit den Anstrich der Intelligenz gibt, ist sie kaum in der Lage, über sich selbst nachzudenken, geschweige denn ihr eigenes Handeln zu beurteilen: Sie glaubt nur an sich selbst, weil sie nur sich selbst kennt. Würde man nun jedoch glauben, der Totalitarismus verfüge über das "exklusive Nutzungsrecht" der Dummheit, so würde man es sich zu leicht machen. Im Gegenteil, meint Glucksmann: "Die Dummheit ist ihrem Wesen nach demokratisch und erheischt die Mitarbeit aller; ohne das aktive und passive Zutun des westlichen Teils unseres Kontinents könnte sie wohl kaum ihren Zugriff auf den Osten Europas derart verstärken." Da die Dummheit im Osten wie im Westen tätig, also allenthalben anzutreffen ist, fällt es Glucksmann schwer, an eine transzendente Macht zu glauben, die dies alles bewirkt. Was ist, so fragt er weiter, wenn das Zeitgeschehen – dieses "Aktualitätenballett" der sich kontinuierlich aneinanderreihenden Geschehnisse – nicht im Geheimen durch eine schöpferische Macht oder irgendeine schicksalhafte Triebkraft geführt wird, sondern die Dummheit es ist, die den "Kleister [bildet], der aus den Fugen des Ungleichartigen quillt"? "Ließe sich der Nachweis erbringen, daß der Lauf der Geschichte durch irgendeinen fremden Willen oder durch eine höhere Gewalt bestimmt wird, würde das gewiß all jene entschuldigen, die vor den Mächten des Schicksals klein beigeben; das Erkennen der schleimigen Ausschwitzungen der Dummheit in den Ritzen der Geschichte ist weniger entwaffnend, aber um so beunruhigender."

Nach diesen Beschreibungen der individuellen wie kollektiven Dummheit ist es an der Zeit, einige Stimmen zu Wort kommen zu lassen, die sich wohlwollend über die Dummheit äußern. "Der Gegenbegriff zur Klugheit, die Unklugheit oder Dummheit, die darin besteht, das Gegenteil dessen zu tun, was die Urteilsbildung ergeben hat", schreibt Wilhelm Schmid in seiner Philosophie der Lebenskunst, "ist nicht von vornherein nur als Widerspruch zur Klugheit zu verstehen: Aus der Sicht der Lebenskunst kann viel Klugheit darin liegen, Dummheiten nicht zu scheuen, denn wesentliche Lebenserfahrungen verdanken sich der Tatsache, unklug gewesen zu sein." Wie oft muß ein Mensch in seinem Leben feststellen, daß einige seiner Verhaltensweisen oder Entscheidungen, die ihm seinerzeit als töricht erschienen, sich im nachhinein als gar nicht so dumm oder falsch erweisen. "Es gibt keine dummen Fragen", lautet ein pädagogischer Rat an alle Eltern wißbegieriger Kinder, vielleicht gibt es auch kein dummes Verhalten. "Ehrliche Dummheit", wie Musil sie nennt, hat etwas Beglückendes. Wie neidvoll blickt der Kluge und Weise auf das Verhalten des dummen Hans, der sein gesamtes Vermögen verschenkt und dennoch glücklich zu leben versteht, leichten Herzens und frei von aller Last – frei von den täglichen Sorgen und Nöten, frei von imaginären Befürchtungen und Bekümmernissen, frei von unerfüllbaren Wünschen und Bedürfnissen und frei vor allem von jeglicher intellektueller Sorge um den Sinn des Lebens. Wieviel unbelastetes Vergnügen enthält das Leben, wenn man dessen Kummer und Leid nicht kennt? Torheit und Wahrheit gehören zusammen, ebenso wie Kultur und Einfalt Arm in Arm gehen. Zwar mag der ehrliche Dumme etwas ärmer an Worten und Vorstellungen sein, vielleicht auch etwas langsamer im Aufnehmen und Analysieren des Gegebenen – doch haftet ihm in seiner schlichten Einfachheit nicht etwas Reines, Liebenswertes und Kindliches an? Die ehrliche Dummheit "hat überhaupt nicht wenig von den roten Wangen des Lebens!" schreibt Musil. – Mitunter mag es vorteilhaft, ja sogar erstrebenswert sein, dümmer zu erscheinen als man ist. Für den Schwächeren ist es in manchen Situationen klüger, nicht für klug zu gelten. Dummheit lullt das Mißtrauen ein, behauptet Musil. Diese Pfiffigkeit, Dummlistigkeit oder Bauernschläue zeige sich vor allem in Abhängigkeitsverhältnissen, "wo die Kräfte so ungleich verteilt sind, daß der Schwächere sein Heil darin sucht, sich dümmer zu stellen als er ist". Also etwa "im Verkehr von Dienstboten mit der bildungszüngigen Herrschaft, im Verhältnis des Soldaten zum Vorgesetzten, des Schülers zum Lehrer und des Kindes zu den Eltern". Musils Fazit: "Es reizt den, der die Macht hat, weniger, wenn der Schwache nicht kann, als wenn er nicht will." Die Dummheit des Gegenübers bringt den Mächtigen zur Verzweiflung, da er seine Macht nicht an einem gleichwertigen Gegner, sondern nur an einem Subalternen ausspielen kann.

Die Vielfalt der hier erwähnten Darstellungen und Definitionen der Dummheit macht zwei Dinge deutlich. Zum einen wird klar, daß es eine allgemeingültige, alle Facetten umfassende Definition der Dummheit nicht gibt – genausowenig wie eine eindeutige Wertung. Und zum anderen zeigt sich, daß Dummheit immer dialektisch ist. "Jede Dummheit hat ihre Klugheit." So wie das jeweils Andere der Dummheit, das vermeintlich Nichtdumme, sich unter bestimmten Gesichtspunkten in Dummheit verwandelt, so erweisen sich jene als nicht dumm apostrophierten Verhaltens- und Denkweisen – Klugheit, Intelligenz, Frömmigkeit, Urteilskraft, reflexives Denken oder Vernunft – bei Änderung des Blickwinkels als übertrieben, extrem, am falschen Ort, zur falschen Zeit, lähmend, lustvernichtend, Depression und Hoffnungslosigkeit fördernd, weltfremd, gefährlich – mit einem Wort: als dumm.

Die folgende Sammlung von Texten enthält fast ausschließlich theoretische, also philosophische, religiöse und naturwissenschaftliche Arbeiten zum Thema. Die Ausnahme bilden die kurze Passage aus Sebastian Brants Moralsatire sowie die drei Märchen von Ernst Wiechert und den Brüdern Grimm. Es wäre problemlos möglich, ein weiteres Studienbuch mit Zitaten und Auszügen aus belletristischen Werken, Theaterstücken oder Gedichten zu füllen – zu denken wäre im Bereich der Romane beispielsweise an Grimmelshausens Simplicissimus, Hašeks Schwejk, Flauberts Bouvard und Pécuchet oder Dostojewskis Idiot.

Michel de Montaigne: Von der Kunst des Gesprächs

Ich höre täglich von Dummköpfen Dinge sagen, die nicht dumm sind; sie sagen etwas Gescheites; sehen wir zu, wie weit sie es begreifen, wie tief es in ihnen sitzt. Wir helfen ihnen nach, dieses schöne Wort, diesen schönen Gedanken an den Mann zu bringen, der gar nicht ihr eigen ist; sie haben ihn nur in Verwahrung: sie haben ihn aufs Geratewohl und blindlings aufgegriffen; wir schreiben ihn ihnen zu Gut und Haben. Ihr greift ihnen unter die Arme. Was frommt es? Sie wissen euch keinen Dank und werden davon nur noch alberner. Helft ihnen nicht, laßt sie allein laufen: sie werden mit diesem Fündlein umgehen wie Leute, die Angst haben, sich die Finger zu verbrennen; sie werden nicht wagen, es in eine andere Lage oder ein anderes Licht zu rücken oder weiter in die Tiefe zu gehen. Greift es ein wenig unsanft an, so lassen sie es fahren: sie geben es euch preis, so prächtig und stark es auch ist. Es sind schöne Waffen, nur sitzen sie schlecht im Schaft. Wie oft habe ich diese Erfahrung gemacht? Wenn ihr ihnen aber ein Licht aufsetzen und auf die Beine helfen kommt, so schnappen sie euch unverzüglich das Verdienst eurer Auslegung weg und legen es sich selber bei: Gerade das wollte ich sagen; genau das ist meine Auffassung; wenn ich es nicht mit diesen Worten gesagt habe, so habe ich mich nur schlecht ausgedrückt. Pfeift darauf! Man darf sich nicht scheuen, ihnen ein Bein zu stellen, um diese aufgeblasene Dummheit zu züchtigen. Der Grundsatz des Hegesias, man solle weder hassen noch tadeln, sondern belehren, ist anderswo gut und recht; hier aber ist es gegen die Gerechtigkeit und Menschlichkeit, dem Beistand und Vorschub zu leisten, dem damit nichts geholfen ist und der davon nur noch untauglicher wird. Ich lasse sie gern sich in den Sumpf hineinreiten und noch tiefer einsinken, als sie schon sind, so tief, bis sie, wenn es möglich ist, sich endlich selber erkennen.

Die Dummheit und Unvernunft läßt sich nicht mit einem Wort der Zurechtweisung heilen. Von dieser Besserung können wir füglich sagen, was Cyrus dem antwortete, der in ihn drang, sein Heer vor der Schlacht nochmals anzufeuern: die Menschen werden nicht durch eine gute Rede auf der Stelle tapfer und kriegerisch, so wenig, wie der flugs ein Musiker wird, der ein schönes Lied singen hört. Das ist eine Schule, die man beizeiten in langen und ausdauernden Lehrjahren bestanden haben muß.

Wir sind den Unseren diese Fürsorge und diese unverdrossene Zucht und Belehrung schuldig; aber dem ersten besten die Leviten zu lesen und die Unwissenheit und Torheit zu schulmeistern, wo sie uns über den Weg läuft, das ist ein Brauch, auf den ich nicht gut zu sprechen bin. Ich tue es selten, sogar in Gesprächen, an denen ich selber teilnehme, und mache mich lieber aus dem Staube, als mich auf diese erhabenen und professoralen Besserwissereien einzulassen. Mein Sinn steht nicht danach, zu Anfängern zu sprechen, so wenig wie für Anfänger zu schreiben. Und bei Dingen, die so gemeinhin und beiläufig vorgebracht werden, für so falsch und unsinnig ich sie auch halten mag, fahre ich nie dazwischen, weder mit Worten noch mit Gebärden.

Im übrigen wurmt mich an der Dummheit nichts so sehr wie dies, daß sie so selbstgefällig ist, wie es keine Vernunft vernünftigerweise sein kann. Es ist schade, daß uns die Einsicht verbietet, mit uns selber zufrieden und selbstgewiß zu sein, und uns immer unbefriedigt und unsicher ziehen läßt, während der Starrsinn und die Dreistigkeit die Köpfe, in denen sie hausen, mit Behagen und Zuversicht erfüllen. Es ist das Vorrecht der Schwachköpfe, die andern Menschen über die Achsel anzusehen und aus jedem Kampfe in Triumph und Jubel heimzukehren. Und zumeist gibt ihnen ihre anmaßende Sprache und ihr unverfrorenes Auftreten auch noch gewonnenes Spiel bei den Zuhörern, die gewöhnlich zu blöde und unfähig sind, um die echte Überlegenheit zu erkennen und richtig zu beurteilen. Die Leidenschaftlichkeit und Verbohrtheit in die eigene Meinung ist der sicherste Beweis der Dummheit. Gibt es irgendein Geschöpf, das so selbstgewiß, unbeirrbar, eingebildet, in sich gekehrt, feierlich und ernsthaft wäre wie der Esel?

Jean Paul: Von der Dumheit

Es ist nicht leicht, viel vom Dummen zu sagen, wenn man zu wenig ist, ihn zum Feinde zu haben: man mus gros sein, um die Bosheit, die Ränke, die Schwäche der Dunsen zu kennen. Demungeachtet hat jeder Schriftsteller Fehde mit diesem mächtigen Volke gehabt; wenige sind Pope, Sterne, Zimmerman gewesen; die meisten haben ihr – eigen Fleisch gehast.

Das Gedächtnis ist die einzige Fähigkeit, die der Dumme vor dem klugen Tier voraushat. Er ist nicht fähig, sich selbst Bilder zu schaffen, selbst zu denken; er fängt die Bilder und die Urteile des andern auf, und beflekt oft fremde Geburten mit eignem Wizze, damit man an dem Kote den Kanal sehe, durch den sie gegangen sind. Das Gedächtnis felt denenienigen selten, die keinen Verstand haben; allein dafür felt ihnen der Geschmak an Dingen, die sie merken solten. Wer nicht selbst denkt, fäst eben so wenig das, was andre denken; ihm ekkelt vor der losen Speise. Dafür macht er sein Gedächtnis zu einem Behältnis von unnüzzen Dingen, zum Archiv der Dumheit, und ist der Wisch, auf den jeder Tor seine Einfälle schmiert. – Er behält treu, weil ihm die Kraft felt, Neues hinzuzusezzen. Der Poet kan uns nichts von dieser Welt erzälen, ohne einen Teil seiner eignen Welt erscheinen zu lassen; sein Gedächtnis und seine Einbildungskraft liegen mit einander in Streit und plündern sich unaufhörlich. Daher erzält Voltaire so falsch, weil er so schön erzält. Ein Dummer verändert leichter den Zusammenhang als die Beschaffenheit einer Geschichte, und läst uns eher aus seiner Erzälung erraten, was etwas war, als warum es so war. – Ein Dummer behält viel, allein er erinnert sich wenig; die Ideen folgen bei ihm nur dem Gesezze der Gleichzeitigkeit – ein besserer Kopf merkt weniger auf einmal, aber eine einzige Sache erinnert ihn an tausend änliche. Bei dem Dummen ist jede Idee isolirt; alles ist bei ihm in Fächer abgeteilt und zwischen entfernten Ideen ist eine Kluft, über die er nicht hinüberkommen kan. Er kent den Reichtum seines Gedächtnisses nicht; darum ist er immer arm. Aus derselben Ursache besizt er weder Wiz noch Tiefsin. Wiz ist Bemerkung des Verhältnisses zwischen entfernten Ideen; Tiefsin Bemerkung des Verhältnisses zwischen den nächsten Ideen. Der Wizzige durchläuft gleichsam in der Länge, was der Nachdenkende in der Tiefe der Ideen durchläuft; der eine hat ein teleskopisches Auge, der andre ein mikroskopisches. Ein wizziger Einfal ist daher dem Dummen so fremd, als eine tiefsinnige Bemerkung. – Die Gedanken des andern interessiren ihn mer als seine eigne – eigentlich liebt er nur die Hülle derselben, die Worte. Er sieht einen ganzen Tag einen Schriftsteller an, um herauszubringen, was er hat sagen wollen; allein er errät niemals den Sin eines denkenden Mannes – er giebt ihm selbst einen. Er beschäftigt sich, dem andern den Schriftsteller so zu geben, daß er ihn geniessen kan; er hat keinen Nuzzen von den vortreflichen Gedanken, die er liest; er stirbt Hunger bei der Malzeit und öfnet die Schale, damit ein andrer den Kern esse. – Der Staub der Folianten ist seine Narung, er gräbt sich da ein, wie der Käfer in den Kot, und oft könte man sagen, daß er vom Rost lebe.

Der Dumkopf hat sich am meisten über den Mangel der Einbildungskraft zu beklagen. Die Blumen der Phantasie blühen nicht in seinem Gehirn. Lebhafte, neue Bilder sind gleichsam die Blüte von unsern Begriffen, welche im külern Herbst des Mannesalters geniesbare Früchte für die Vernunft tragen. Wer neue Bilder schaft, schaft die Keime zu neuen Gedanken. Allein eben deswegen weil der Dumme die Dinge nicht lebhaft sieht, so bemerkt er auch ihre unbekantern Verhältnisse nicht; und hat deswegen keinen Verstand. Unsre Einsicht in die Dinge hängt von der Lebhaftigkeit ab, mit der wir sie denken. – Die Einbildungskraft eines Meskünstlers und eines Dichters kan im Grade bei beiden dieselbe sein; sie unterscheidet sich blos in der Art. Eine feurige Einbildungskraft ist die erste Anlage zum Genie; eine untätige und tode das sicherste Kenzeichen der Dumheit. Denken ist daher dem Dummen beschwerlich; er begnügt sich mit dem Nachbeten. Man kan gut schliessen, wer nicht denkt, betet nach; aber nicht umgekert, wer nachbetet, der denkt nicht. Daher fliesset seine Hartnäkkigkeit in seinen Entschlüssen; er vertauscht selten alte Torheiten mit neuen, noch weniger hält er’s für gut, weiser zu werden. Blos darinnen verändert er sich, daß sein Stolz mit seinem Alter zunimt. Deswegen sieht er mit hochmütigem Mitleid auf den herab, der zuviel denkt, um alzeit dasselbe zu denken, der seine Eitelkeit seiner Warheitsliebe aufopfert und das Geständnis einer unangenemen Warheit der Hegung eines erkanten Irtums vorzieht. Deswegen ficht er mit patriotischem Mut für die Überlieferungen seiner Voreltern, und sucht alle Waffen aus dem Rüsthause der Bosheit und Dumheit hervor, um den rüstigen Feind des Alten zu schlagen. Jede neue Entdekkung raubt ihm seine Gewisheit, seine Ruhe, seinen Stolz, zerstört das Gebäude seines Wissens und wafnet ihn mit Wut gegen ihren Urheber. Sein kleiner Geist närt sich von Kleinigkeiten; er verliert daher bei jeder Neuerung. Du glaubst gewisse Spinweben der Vorzeit zerstören zu dürfen; allein weist du nicht, daß es Tiere giebt, sie sich blos von diesen Geweben nären? – Sein Ideensystem beschränkt sich auf eine kleine Anzal Begriffe, die tief in ihm haften, weil sie in seiner Jugend ihren Weg durch den Rükken namen; die er für heilig hält, weil sie die Reliquien von dem Geiste seines Vaters sind und einen Teil seiner Erbschaft ausmachen. Sein Kopf ist eingeschränkt, seine Einbildungskraft tod, sein Verstand klein; sein Herz ist eben so eingeschränkt, eben so tod, eben so klein. Der Verstand mus das Herz mit seinen Stralen erwärmen, und es ist ungereimt zu sagen, daß die gröste Tugend nicht den grösten Verstand voraussezze.

Der Dumme begeht niedrige, aber keine großen Laster. Bei jenen vereinigen sich Bosheit und Schwachheit, bei diesen bewundert man die Menschheit in ihren Ruinen; in iene versinkt man langsam, in diese stürzt man auf einmal. Schwachheit, Langsamkeit, Blindheit bestimt den Dummen zu den erstern: die leztern würd’ er erst begehen können, wenn er eines höhern Grads von Tugend fähig wäre.

Neid – dieser ist das erste Unkraut, welches neben dem Hochmut in seinem Herzen keimt. Dieser Bastart unsers heiligsten Triebes, dieses Kind des Mangels, diese Narung einer ausgezerten Sele, brütet in dem schwachen Kopfe jeden unmerkbaren bösen Vorsaz zur niedrigen Tat aus. Er beneidet den Weisen eigentlich nicht um seinen Verstand: denn er hat sich zu gewis überzeugt, ihn in diesem zu übertreffen; sondern er beneidet ihn, um die Ere, die er sich erwirbt, um die Bequemlichkeiten, die er sich verschaft. Er sieht wol ein, daß er seinen Schimmer nicht eher bemerkbar machen kan, als bis er den Glanz des andern verdunkelt, wie eine grobe Erde die Sonne, er begreift, daß seine Grösse nur auf den Ruinen des aufgeklärten Mannes wachsen kan, wie Mos auf verfalnen Pallästen, und daß seine Dumheit so lange der Verachtung ausgesezt sein werde, so lange das Verdienst die meisten Vererer behält – deswegen gewönt er sein Auge, die Feler des grossen Mannes zu entdekken, und in jeder Sonne die Flekken zu sehen, seinen Mund, durch Stilschweigen zu verläumden, durch versteltes Lob die unbemerkten Feler zu geiseln, und überal mit dem Unrat der Verkleinerung das Verdienst zu bespeien, und endlich sein Herz, das Böse mit dem Vergnügen eines Teufels zu lieben, alle menschenfeindliche Regungen mit einer geheimen Freude zu nären und sich in ein Kloak jeder niedrigen Begierde zu verwandeln. Der Dumme würde viele Laster nicht haben, wenn es keine Weisen gäbe; diese sind gleichsam seine Fürer zur Hölle. Der Dumkopf ist meistens glüklich, wenn er den aufgeklärten Kopf angreift. Grosse Männer werden selten durch grosse Männer gestürzt; sie können sich gegen sie verteidigen, sie fallen wenigstens mit Rume, und teilen die Ere mit ihrem Besieger. Desto öfter hingegen werden sie durch die Zwerge der geistigen Welt gestürzt. Nie sind diese Geschöpfe allein; sie halten sich zusammen wie die Zugvögel, und fülen ihre gegenseitige Anziehung am stärksten im Kriege gegen den Klugen. Der grosse Man verachtet die Mükkenstiche der kleinen Geister; er betrügt sich. Sie haben zwar nicht die Stärke des Elephanten, um seinen Tron zu erschüttern; aber sie durchnagen im Geheim seine Feste wie Holzwürmer und zerlöchern die Stüzze desselben, bis sie niederstürzt. Fiel Olavides durch einen zweiten Olavides? – nein, durch die heilige Inquisizion. –
Der Neid kan dem Rechtschaffenen sein Verdienst nicht benemen; aber er kan die Wirkungen desselben verhindern; so wie gewisse Würmer dem Obstbaum nicht schaden, aber seine Früchte dem Menschen ungeniesbar machen.

Ein andrer Hauptzug in dem Bilde des Dumkopfs ist sein Stolz. "Was die Natur an Verdienst versagt hat", sagt Pope, "ersezt sie durch reichlichen Stolz: denn wir finden in der Sele, so wie im Körper, das vom Wind’ aufgeblasen, dem Blut und Lebensgeister felen." Der Himmel benam dem Dummen wol den Verstand, aber nicht die Meinung, ihn zu haben: der Stolz ist ein angenemer Traum, der den schwachen Kopf dem aufgeklärten gleich macht, eine Blindheit, die ihm seine Mängel verbirgt, ein Präservazionsglas für seine Eigenliebe bei dem Glanze des Genies. Wir wollen diesen Feler, der weiter nichts als lächerlich ist, näher kennen lernen. Stolz ist der grosse Man – aufgeblasen der Dumme bei’m Aufgeklärten, eitel bei seinesgleichen. Man mus vorher den erlaubten Stolz kennen lernen, um besser über den unerlaubten zu urteilen.
Stolz ist wares Gefül unsrer Volkommenheiten; dieses hat jeder, welcher Vorzüge vor andern besizt. Allein eben dieses Bewustsein des eignen Werts hindert den verdienstvollen Man, um das elende Lob des Narren zu betteln, sich durch Krümmen eine Unsterblichkeit aus dem Atem des andern zu erkaufen und seine Grösse erst durch vorhergegangene Erniedrigungen zu verdienen. Er ist gegen das Lob des andern gleichgültig; sein eignes ersezt ihm jedes fremde. Deswegen scheint er demütig zu sein; und ist’s nicht; er ist bescheiden. Er sucht sein Verdienst nicht darin, zu sagen, daß er gros ist, sondern es durch Handlungen zu beweisen: er pralt nicht in der Vorrede mit seinen Einsichten; in dem Buche selbst zeichnet er sein Bild mit glänzendem Farben. Und wenn dieser Man klein von sich denkt, so denkt er nur so, in Vergleichung mit dem Ideal von Grösse, das er sich gebildet hat, nicht in Vergleichung mit der Grösse derer, die ihn umgeben. –

Der Hochmut erfüllt im Dummen den leren Raum, den sein Verstand übrig läst. Dieses Mikroskop, wodurch seine Eigenliebe seine Volkommenheiten betrachtet, vergrössert jede seiner guten Seiten in’s Unendliche, schwelt Kleinigkeiten zu Tugenden auf und läst ihn in den Schlakken von nachgebetetem Unsin das Gold einer tiefgedachten Warheit sehen. Er heftet seinen Blik so lange auf seine Volkommenheiten, bis er seine Feler nicht mer sieht und, durch den Glanz des Lichts geblendet, auch an dunkeln Gegenständen einen Schimmer bemerkt. – Deswegen mist er nach seinem Ich jeden Riesenkörper; schäzt an dem andern nur die Änlichkeit mit sich und erteilt dem die meisten Lobsprüche, der gleiche – Oren mit ihm hat. Er ist der erste, der die Torheiten belacht, die nicht die seinigen sind, der die Feler bestrafet, welche man an ihm nicht abgelernt hat – aber er ist alzeit der lezte, Gutes von dem Verdienst zu sagen, welches ihm mangelt und dem berümten Manne die Lobsprüche zu erteilen, die er sich selbst versagen mus. Jede Handlung, dazu er nicht das Muster gegeben hat, jede Meinung, die nicht aus seiner Werkstat komt, jede Person, die nicht sein Freund ist, jeder Ort, den er nicht durch seine Gegenwart heiligt, jedes Land, das nicht das seinige ist, alles dies scheint ihm seine Verachtung zu verdienen; er betrachtet’s mit Gleichgültigkeit, und bemerkt mit heimlichem Vergnügen die Güte alles dessen, was er ist, was ihm gehört. – Gegen die, die mer Verstand haben, als er, beträgt er sich aufgeblasen; d.h., er äussert seinen Hochmut durch Verachtung des andern. Er flieht den Weisen, wie der Affe den Spiegel, der ihm seine Misgestalt zeiget. In der Geselschaft der aufgeklärten Männer ist er stum; wenn ihm nicht sein Rok oder sein Stern das Recht zu reden erkauft hat. Er vemgütet sich die Langweile, die ihm des andern Weisheit macht, durch die hohe Meinung von sich selbst, die er in dem Masse vergrössert, in welchem der Widerstand von aussen zunimt. Er verachtet das kleine Völkgen, welches nicht seinen Verstand hat; und denkt von demselben zu gering, als daß er ihm die Weisheit predigen solte, die nur für – gewisse Oren gehört. Wir sind geneigt, die Lobsprüche derer für unbedeutend zu halten, die uns keine erteilen mögen; wir verachten, wie der Fuchs, die Traube, die wir nicht bekommen können; daher scheint der Dumkopf die Ere entberen zu wollen, die ihm der Weise versagt; daher ist er gegen diesen aufgeblasen. Der Duns liebt die Geselschaft der Dunsen; hier sucht er dem Drang seiner Erbegierde einen Ausweg zu verschaffen und seine Einsichten mit unverwelkenden Lorbern zu bekrönen. Er bult um den Beifal seiner Mitbrüder: deswegen erzält er die Siege, die er über des andern Verstand erhalten hat, fürt jeden klugen Gedanken zur Schau auf, den er und seine Mitgenossen mit dem Kote des Tadels bewerfen, und stelt die Weisheit an den Pranger, um sie dem Lachen der Dumheit Preis zu geben. Hier kriechen die Dummen auf dem Kolos des Verdienstes wie Insekten herum, um an demselben die Hökker und Ungleichheiten zu sehen – Hier ziehen sie mit dem Stachel der Verläumdung aus jeder guten Handlung den Gift und wissen jeder ungewönlichen Tat die Farb’ ihres Herzens zu leihen. Also blos im Lande der E– errichtet sich der Dumme seine Trophäen, seine Monumente, seine Unsterblichkeit – Hier blos ist er eitel. – Nie ist der schlechte Kopf demütig; er scheint’s oft; allein er verhelt nur seine gute Meinung von sich, aus Furcht ausgelacht zu werden. Er denkt zuviel Gutes von sich, als daß er’s sagen könte. Niemand kriecht auch leichter als ein Aufgeblasener; er erniedrigt sich unter die Würde des Menschen, weil er keinen waren Begrif von der Höhe desselben hat.
Seine Tugend hat er seinem Körper, und, wenn man wil, seinem Aberglauben zu danken. Er ist ein Heiliger, weil er einen verträglichen Unterleib, ein frommes Blut und ein ruhiges Gehirn hat. Das übrige ist Aberglauben. Er unterwirft sein Bisgen Vernunft, das er noch hat, dem Glauben; er erfült die Welt mit Wunder, damit der gesunde Verstand keinen Plaz mer behalte; er liefert jede Woche einmal mit den Anfechtungen des Teufels ein Treffen, welcher seine Einbildungskraft zu einem Gukkasten von Sünden und Lastern machen wil; er kreuzigt sich, so oft er an die Hölle, und das ihr Änliche denkt; er denkt sich Himmel, Got, Welt und Religion nur mit solchen Worten, die er nicht versteht, und steigt auf Postillen und Gebetbüchern wie auf einer Leiter den Himmel hinan; ihm ekkelt der Geselschaft der Menschen, weil er die heil. Engelein besser findet; er begeht alle Laster der Menschenfeindschaft, der Verläumdung und des Neids, weil er sie für – Schwachheitssünden hält; er verbrent die Kezzer auf der Erde, weil er ohnehin weis, daß sie in der Hölle ewig brennen werden; er bittet Got, er möchte ihn vor dem Verstand der Philosophen und dem Gift der Aufklärung bewaren und verhült sich in den Mantel des Aberglaubens, um sich in jedem Laster ohne Beflekkung herumwälzen zu dürfen – das ist das Bild des dummen Heiligen. Vielleicht ist dieses Bild nicht ganz ausgemalt; allein wer wil den kopiren, der den grösten Teil seines Gesichts unter die Larve der Heuchelei und der Religion, und unter dem Schatten der Einsamkeit und Absonderung verbirgt? – Die Dumheit ist die Mutter des Aberglaubens, und ich glaube, sie hat sich blos das Kleid der Religion erborgt, um in einer gefälligern Gestalt zu erscheinen. Allein man lernet den Dummen am meisten kennen, wenn er heilig ist. – Ich höre auf von dem Volke zu reden, dessen Verstand es weniger der Verachtung Preis giebt, als es sein Herz dem Hasse ausgesezt hat: ich mus aber vorher von seinem Glük in der Welt noch etwas sagen.

Der Dumkopf färt mit Sechsen, der aufgeklärte Man geht zu Fus hintennach; der Dumme glänzt in Gold, der Weise friert in Lumpen; man bekrönt des Einfältigen Einsichten mit Geld, mit Ere, man verfolgt den Weisen, läst ihn in der Jugend verhungern und höchstens, wenn er grau ist, ein Ämtgen erbetteln. Warlich! die Dumheit ist so glüklich, daß man’s verwünschen möchte, ein Weiser zu sein.

So knirscht erbittert der, welchen Dunsen drängen – welcher vor dem Tron des Toren kriechen sol, um erhöhet zu werden. In jedem Lande hört man diese Sprache; ausser in England nicht, wo man die Verdienste belont, und in S–, wo es keine giebt. Aber ich wil ihm etwas sagen, das ihn vielleicht ruhiger machen wird, wenn sein Herz so gros ist als sein Verstand. Warum bist du mismutig, möcht’ ich ihn anreden, wenn dein Nebenmensch nicht ganz unglüklich, nicht ganz aller Güter beraubt ist? Er hat keinen Verstand; sol er auch das nicht haben, was den Verstand ersezt? Er entbert die meisten geistigen Vergnügungen; sol er auch einen Teil der körperlichen entberen? Du bist gegen den andern zu grausam; gegen dich zu eigenliebig, wenn du reich und klug zugleich sein wilst. Las den Himmel Armut und Dumheit in ein Geschöpf vereinigen – es wird das elendeste unter der Sonne sein: es felt ihm alles, sein Glük zu machen; es kan nicht einmal ein rechter Bösewicht sein. Und wenn ia die Armut einen Dummen zeugt, so ist schon auf eine andre Art für ihn gesorgt. Überal sind reiche und mächtige Dunsen gepflanzt, die reichlichen Schatten über ihre Mitbrüder verbreiten, die ihre eigne Verdienste an den Brüdern ihres Geists belonen. Sie ziehen sich an wie der Magnet das Eisen; sie fülen ihre brüderliche Verwandschaft. In jedem Lande ist so ein Man, der lange Oren für eine Zierde hält, und seinen Kopf schäzt, weil er so dum ist. Dieser befördert die Vertrauten seiner Dumheit; beglükt jeden, der zum Orden der Dunsen gehört und verbant den Aufgeklärten als einen Rebel aus dem friedlichen Reiche der Esel.

"Den Spiegel hat die Katoptrik noch nicht erfunden, darin der Dumme sich sehen könte" – Man irt sich – der Spiegel ist längst da – gebt dem Dummen nur erst Augen zum hineinsehen, d.h. macht ihn klug!!

Leopold Loewenfeld: Dummheit und Geschlecht

Die Frage, ob ausgesprochene Geschlechtsunterschiede in den wesentlichen Zügen und Äußerungen der Dummheit bestehen, ist bisher zumeist nur einseitig in Angriff genommen worden. Man hat wohl die bei dem zarten Geschlechte in besonderer Häufigkeit sich findenden und deshalb in gewissem Maße demselben eigentümlichen Mängel und Schwächen auf intellektuellem Gebiete bei den verschiedensten Gelegenheiten hervorgehoben, die Kehrseite der Medaille, die Eigentümlichkeiten der männlichen Dummheit, dagegen unberücksichtigt gelassen. Daß die intellektuellen Leistungen des weiblichen Geschlechtes im großen und ganzen hinter denen des männlichen z.Z. noch zurückstehen, ist eine unbestreitbare Erfahrungstatsache. Ob und inwieweit diese Inferiorität jedoch durch die Eigenart der Organisation des weiblichen Gehirns oder durch den Einfluß der Lebensverhältnisse bedingt ist, denen das weibliche Geschlecht seit vielen Generationen unterlag, hierüber sind die Ansichten sehr geteilt. Manche glauben, daß das geringere Gehirngewicht der Frau – die durchschnittliche Differenz dem Manne gegenüber beträgt 100 bis 150 Gramm – eine unübersteigliche Schranke für die Erlangung intellektueller Gleichwertigkeit mit dem Manne bildet. Ich habe jedoch a.O. dargelegt, daß das geringere Gehirngewicht der Frau nicht notwendig eine geringere intellektuelle Leistungsfähigkeit involviert, da für das geistige Vermogen die Organisation (der feinere Bau) wahrscheinlich von größerer Bedeutung ist als die Masse des Gehirns. Für diese Auffassung spricht auch der Umstand, daß der Gewichtsunterschied zwischen den beiden Geschlechtern auch bei den niederen Rassen sich findet, bei welchen entsprechende Unterschiede auf intellektuellem Gebiete nicht festgestellt sind. Moebius, welcher auf das geringere Hirngewicht des Weibes mit besonderem Nachdruck hinwies, hat die intellektuelle Inferiorität des weiblichen Geschlechtes als "physiologischen Schwachsinn" bezeichnet und sich bemüht, die Charaktere dieser Minderwertigkeit darzutun.

Es ist begreiflich, daß man sich auf weiblicher Seite mit der Bezeichnung ihrer seelischen Eigentümlichkeiten als "physiologischer Schwachsinn" nicht befreunden konnte und auch männliche Stimmen sich gegen dieselben erhoben. Man kann die Bezeichnung auch nicht als eine glückliche betrachten. Was dem Geschlechte als solchem eigentümlich, für dasselbe physiologisch ist, darf nicht wohl mit dem ominösen, dem Gebiete des Pathologischen angehörenden Ausdrucke "Schwachsinn" belegt werden. Hiezu kommt, daß beim weiblichen Geschlechte, wenn wir von genialen Begabungen absehen, sich dieselben Abstufungen der Intelligenz finden wie beim männlichen, und wenn auch die intellektuelle Leistungsfähigkeit der beiden Geschlechter im allgemeinen verschieden ist, das Manko auf der weiblichen Seite doch nicht als so bedeutend sich erweist, daß man die weibliche Intelligenz im Vergleiche zur männlichen als Dummheit oder Schwachsinn bezeichnen dürfte.

Wenn wir uns hier mit der Frage beschäftigen, ob diejenigen Individuen weiblichen Geschlechtes, die wir als beschränkt erachten müssen, den auf ähnlichem intellektuellem Niveau stehenden Männern gegenüber gewisse geistige Besonderheiten darbieten, oder mit anderen Worten, ob die Dummheit bei beiden Geschlechtern besondere Züge aufweist, können wir nicht umhin, zunächst auf die Eigentümlichkeiten der weiblichen Psyche etwas einzugehen.

Ein Grundzug des weiblichen seelischen Wesens ist größere gemütliche Erregbarkeit, das Überwiegen des Herzens über den Verstand; der Mangel der Logik, der dem Weibe so vielfach vorgeworfen wird, hängt damit zusammen. Die Denkprozesse verlaufen beim Weibe nach denselben Gesetzen wie beim Manne, sein Urteil über Personen und Dinge ist so gerecht wie das des Mannes, soweit dasselbe durch Gefühle nicht beeinflußt wird. In Angelegenheiten, bei welchen sein Gefühlsleben stark beteiligt ist, läßt sich das Weib dagegen durch dieses in seinen Schlüssen in einer Weise beeinflussen, daß die Logik nicht zur Geltung kommen kann. Was seinen Gefühlen zuwiderläuft, vermag es nicht zu glauben und einzusehen. Daß ein Mann, den es liebt, schlecht sein soll, will ihm trotz vorhandener Beweise nicht einleuchten. Daß ein Prozeß, in dem es das Recht auf seiner Seite erachtet, verloren werden kann, erscheint ihm unglaublich, weil es seinem Gefühle widerspricht. Die starren Rechts- und Moralbegriffe spielen in seinem Urteil über Recht und Unrecht, Sittlich und Unsittlich zumeist nur eine sehr untergeordnete Rolle. Dieses wird wesentlich durch sein Gefühl bestimmt, das mehr oder weniger fein entwickelt ist.

Ein höchst treffendes Beispiel in dieser Richtung zeichnet Ibsen in seiner "Nora". Diese, wenn auch etwas kindische, jedoch intelligente und gemütvolle Frau denkt nicht daran, daß sie ein Verbrechen begeht, indem sie die Unterschrift ihres Vaters, der für ein ihr gewährtes Darlehen Bürgschaft leisten soll, auf einem Schuldscheine fälscht.
Es ist dies schon bemerkenswert, da man bei Noras Bildungsgrad erwarten sollte, daß ihr das Gesetzwidrige einer derartigen Handlung nicht ganz unbekannt geblieben sein kann. Die edlen Motive, die ihren ungesetzlichen Handlungen zugrunde lagen (Rücksichten auf den schwerkranken Vater und Gatten), beeinflussen ihr Urteil jedoch derart, daß sie in ihrem Vorgehen allem Anscheine nach nichts Schlimmes erblickt. Noch auffälliger tritt uns die Beeinflussung ihres Urteils durch Gefühle in dem Umstande entgegen, daß sie der Aufklärung über die Strafbarkeit ihrer Tat den Glauben völlig verweigert.

Günther: Aber bedachten Sie denn nicht, daß es ein Betrug gegen mich war?

Nora: Darauf konnt’ ich keine Rücksicht nehmen. Um Sie kümmert’ ich mich gar nicht. Ich mochte Sie nicht ausstehen wegen all der hartherzigen Schwierigkeiten, die Sie machten, obgleich Sie wußten, wie schlimm es mit meinem Manne stand.

Günther: Frau Helmer, Sie haben offenbar gar keine klare Vorstellung davon, wessen Sie sich eigentlich schuldig gemacht haben. Aber ich kann Sie versichern, es war weder etwas Anderes noch etwas Schlimmeres, was ich einst beging und was meine ganze bürgerliche Stellung vernichtete.

Nora: Sie? Wollen Sie mich glauben machen, Sie hätten eine mutige Tat gewagt, um Ihrer Frau das Leben zu retten?

Günther: Die Gesetze fragen wenig nach den Beweggründen.

Nora: Dann müssen wir sehr schlechte Gesetze haben.

Günther: Schlecht oder nicht – leg ich dies Dokument dem Staatsanwalt vor, so werden Sie nach den Gesetzen verurteilt.

Nora: Das glaub ich nicht. Eine Tochter sollte nicht das Recht haben, ihren alten todkranken Vater mit Kummer und Sorgen zu verschonen? Eine Frau sollte nicht das Recht haben, ihrem Manne das Leben zu retten? Ich kenne die Gesetze so genau nicht; aber ich bin überzeugt, irgendwo muß es darin stehen, daß so etwas erlaubt ist. Und das wissen Sie nicht, Sie, ein Rechtsanwalt? Sie müssen ein schlechter Jurist sein, Herr Günther."

Der Dichter hat hier mit meisterhafter Realistik die für das Weib charakteristische Denkweise in Situationen, in welchen Gefühl und Logik in Widerstreit geraten, gezeichnet. Dem Weibe Nora ist es unmöglich, zu begreifen und anzunehmen, daß ein Gesetz existieren kann, das seinen Rechts- und Moralgefühlen zuwiderläuft. Was diesen entspricht, muß erlaubt sein, und sie fühlt sich so sicher in dieser Auffassung, daß sie den Rechtskundigen Günther, der von einem derartigen Gesetze nichts weiß, für einen schlechten Juristen hält.

Je beschränkter das Weib, um so mehr macht sich bei ihm die Beeinflussung des Urteils durch das Gefühl und damit der Mangel an Logik geltend. Was angenehm ist, wird geglaubt, was unangenehm, stößt auf Unglauben. Die Aussicht auf Gewinn, die die Versprechungen eines Schwindlers eröffnen, verleitet die beschränkte Frau, ihre sauer ersparten Groschen ohne Bedenken hinzugeben, und wenn der Betrug zutage kommt, kann sie nicht glauben, daß ihrem Verluste nicht abzuhelfen ist. Eine Person, gegen die sie eine Abneigung hat, hält die beschränkte Frau ohne weiteres zu allem Schlechten für fähig, während die schlimmsten Fehler einer anderen, die sich ihrer Gunst erfreut, für sie nicht in Betracht kommen.

Eine weitere Eigentümlichkeit der weiblichen Psyche ist ein höherer Grad von Suggestibilität (Beeinflußbarkeit durch Dritte). Letztere ist eine allgemein menschliche Eigenschaft, gegen deren Wirksamkeit eine wohlentwickelte Intelligenz eine Art Schutzwehr bietet. Je beschränkter die Frau, um so größer ist daher im allgemeinen ihre Suggestibilität, doch kann sich diese nur einzelnen Personen gegenüber kundgeben. Eine sehr beschränkte weibliche Person mag einen Grad von Suggestibilität besitzen, der sie zu einem willenlosen Werkzeug in den Händen ihres Geliebten oder Mannes macht, während sie sich zu gleicher Zeit für wohlbegründete Vorstellungen von anderer Seite als völlig taub erweist. Die Suggestibilität kann aber auch dem Manne gegenüber fehlen und nur für die Eltern vorhanden sein, in welchem Falle letztere dem Manne gegenüber in den Augen der Frau immer recht behalten. Gehört die Frau der bigotten Sorte an, so kommt es häufig vor, daß sie dem Einflusse des Pfarrers oder anderer ihren bigotten Neigungen Rechnung tragenden Personen völlig unterliegt und ihrem Manne gegenüber die Ansichten zur Geltung bringt, die ihr von dieser Seite beigebracht wurden.

Ein weiterer Zug der weiblichen Beschränktheit ist das Haften an Kleinigkeiten (Kleinlichkeit). Die Einschränkung des Interessenkreises, die der Dummheit an sich eigen ist, hat bei der Frau die Folge, daß sie sich mit den unbedeutendsten Vorkommnissen ihres alltäglichen Lebens und ihrer Umgebung fortwährend beschäftigt und auch beim Verkehr mit Fremden ihre Gedanken davon nicht loszureißen vermag. In der Unterhaltung der dummen Frau spielen daher die bedeutungslosesten Vorfälle in ihrer Hauswirtschaft, wie Äußerungen der Dienstboten, unbedeutende Verfehlungen dieser, Küchen- und Wäscheangelegenheiten, ödester Klatsch über die Nachbarn usw., eine weit überragende Rolle. Was die Stadt und das Land interessiert, künstlerische Leistungen und politische Vorfälle, die das Tagesgespräch bilden, entziehen sich ihrer Beachtung. Dagegen kann sie über eine Nachlässigkeit ihrer Köchin, ein mißratenes Gericht, die Toiletten ihrer Bekannten in endlosen Reden sich ergehen. Sie ist auch unfähig, sich in den Gedankengang anderer Personen hineinzuversetzen und deren Neigungen zu berücksichtigen, daher auch unfähig, einzusehen, wie sehr sie durch ihr Verhalten andere langweilt und belästigt.

Mit der Gedankenarmut der beschränkten Frau hängt deren Schwatzhaftigkeit und Neugierde zusammen; es sind dies Eigenschaften, die man dem weiblichen Geschlechte im allgemeinen zuschreibt, die aber doch nur bei dem beschränkteren Teile desselben in auffälliger Weise zutage treten. Je weniger das Denken in die Tiefe und in die Breite geht (resp. gehen kann), um so mehr tendiert es nach einer Entäußerung, und der einfachste und gangbarste Weg hiefür ist die Rede. Sich schweigend Gedanken hinzugeben, fällt der dummen Frau schwer und ist ihr auch unsympathisch. Reden bedeutet für sie eine Erleichterung, eine Art Genuß, gleichgültig, ob der Sinn ihrer Rede einen Zweck hat oder nicht. Die Neugier ist ebenfalls eine Folge der Gedankenarmut. Da das intensivere geistige Sichbeschäftigen mit den eigenen Angelegenheiten für die beschränkte Frau keinen Reiz besitzt und die Gegenstände allgemeinen Interesses sie nicht berühren, richtet sich ihre Aufmerksamkeit auf die Angelegenheiten Fremder, und sie sucht ihren ärmlichen Ideenkreis durch Kenntnis von Dingen zu erweitern, die für sie nur insoferne von Bedeutung sind, als sie sich zu Klatsch verwenden lassen.
Die Dummheit des Mannes zeigt selbstverständlich dieselben Grundcharaktere wie die des Weibes. Daneben weist dieselbe jedoch auch manche Züge auf, die ein Gegenstück zu den auf der weiblichen Seite sich findenden Eigentümlichkeiten darstellen. Während die beschränkte Frau, wie wir sahen, zu sehr an Kleinigkeiten hängt, finden wir bei dem auf gleichem intellektuellen Niveau stehenden Manne oft eine Unterschätzung der Kleinigkeiten, d.h. des Untergeordneten, der Details, die aber oft für das Resultat einer Arbeit von weitgehender Bedeutung sein mögen. Der beschränkte Mann begnügt sich z.B., seinen Berufsgeschäften nachzugehen, und legt diesen eine unverhältnismäßige Wichtigkeit bei, dabei kümmert er sich aber um Details nicht, deren Vernachlässigung ihm den größten Schaden bringen kann. Er überläßt die Sorge für die Wirtschaftsführung und die Kindererziehung seiner Frau, da er es nicht für nötig hält, sich mit diesen in seinem Gedankenkreis untergeordneten Dingen zu beschäftigen, und es kann dabei vorkommen, daß, was er im Geschäfte erwirbt, durch den unwirtschaftlichen Sinn der Frau verlorengeht.

An Stelle der weiblichen Neugier finden wir bei dem beschränkten Manne eine ungerechtfertigte Beschränkung des Interesses auf die eigenen Angelegenheiten. Was ihn nicht unmittelbar berührt, kümmert ihn nicht, läßt ihn völlig gleichgültig, und er wendet daher auch dem Tun und Treiben der Nachbarn keine Aufmerksamkeit zu, auch wenn triftige Gründe dies erheischen würden. Dieser Stumpfsinn hängt mit einer anderen, wenigstens sehr häufig bei den wenig begabten Männern sich findenden Eigenschaft zusammen, der übermäßigen Schätzung der persönlichen Bequemlichkeit und des persönlichen Genusses, d.h. materieller Gesinnung. Der beschränkte Biedermann (Bierphilister), wie er sich auf deutschem Boden reichlich vertreten findet, haßt alles, was ihn in seiner Gemütsruhe und dem Genusse seines Lieblingsgetränkes irgendwie stören könnte. Er will vor allem seine Ruhe haben. Jede Angelegenheit, die ihm ernstes Kopfzerbrechen verursachen könnte, jeder Streit um rein ideelle Werte ist ihm widerwärtig; jede Neuerung, die ihn irgendwie aus seiner Bequemlichkeit aufrütteln und in seiner Gewohnheit stören könnte, stößt auf seinen Widerstand. Wo es sich um die Wahrung seines materiellen Vorteils handelt, begreift er nur das Nächstliegende. Die Kirchturmsinteressen gewinnen bei ihm immer die Oberhand über die Interessen des Kreises und des Staates. Neben diesen stumpfsinnigen Konservativen finden sich jedoch auch Schwachköpfe, die ihren Stolz darein setzen, dem Fortschritt à tout prix zu huldigen, und für alles Neue oder scheinbar Neue sich begeistern, wenn hiezu auch keine Veranlassung vorliegt. Diese sind es, die jede Modetorheit mit einem Eifer aufgreifen, als ob es sich um eine Sache von höchstem Wert handle, die jede in Aussicht stehende Verbesserung einer Einrichtung schon als Tatsache betrachten und ihre Ansichten über Personen und Dinge ohne Prüfung wie ihre Kleider wechseln, weil sie immer auf der Höhe bleiben wollen.

Es darf jedoch nicht unerwähnt bleiben, daß auch im Bereiche der Dummheit die Geschlechtsunterschiede nicht immer sich geltend machen. Wenn auch die Beschaffenheit des äußeren Geschlechtsapparates über die Zugehörigkeit des Einzelindividuums zu dem einen oder anderen Geschlechte gewöhnlich keinen Zweifel läßt, so findet sich doch in jedem Manne und jedem Weibe auf seelischem wie auf körperlichem Gebiete eine Mischung von Charakteren beider Geschlechter. In dieser überwiegt im Einzelfalle je nach der stärkeren oder geringeren Ausprägung des Geschlechtstypus das spezifisch Männliche oder das spezifisch Weibliche mehr oder weniger. So kommt es, daß sich Männer finden, welche auf seelischem Gebiete die Züge der Weiblichkeit aufweisen, und Weiber, die seelisch dem Manne sich sehr nähern. Dieser Sachverhalt macht es verständlich, daß die Dummheit des Weibes gelegentlich die Eigentümlichkeiten der männlichen und umgekehrt die männliche Dummheit die Eigentümlichkeiten der weiblichen zeigt. In letzterem Falle spricht man von dem Betreffenden als einem altem Weibe, auch Waschlappen, womit insbesondere Schwatzhaftigkeit, Rührseligkeit oder (beim Waschlappen) geistige Unselbständigkeit (Beeinflußbarkeit) angedeutet wird. Auf der weiblichen Seite gibt es zwar Individuen, die in der Art ihrer Beschränktheit dem Bierphilister sehr nahe stehen, doch fehlt dafür eine besondere Bezeichnung. Ein Weib dieser Gattung mag, wenn sie das Schicksal mit einem geistesverwandten Gatten zusammenführt, keinen Schaden stiften. Für einen idealgesinnten, künstlerisch oder wissenschaftlich tätigen Mann bedeutet es dagegen ein Verhängnis, das auch den Geduldigsten zur Verzweiflung bringen kann.

Die Kombination der Dummheit mit anderen seelischen Eigenschaften liefert verschiedene interessante weibliche Typen, von welchen wir hier nur zwei Gegensätze berücksichtigen wollen: die bescheidene, gemütvolle und die unbescheidene, gemütsarme Beschränkte (die prätentiöse Gans). Weibliche Personen vom erstgenannten Typus können durchaus liebenswürdige Geschöpfe sein, welche durch ihre Bescheidenheit und Herzenseigenschaften ihre Mängel auf intellektuellem Gebiete vergessen machen. Sie sind imstande, ihre Position im Leben, wenn dieselbe keine allzu hohen Anforderungen an sie stellt, völlig auszufüllen, und leisten an Opferwilligkeit für ihre Familie oft Bewundernswertes. Ihre Beschränktheit steigert oft ihre Selbstlosigkeit bis zu einem für sie verhängnisvollen Maße, indem sie ihre Jahre und ihre Kräfte im Dienste anderer verbrauchen, ohne an die eigene Zukunft zu denken und entsprechenden Lohn zu finden.

Die prätentiöse Beschränkte ist dagegen ein durchaus widerwärtiges Geschöpf, mit dem niemand auf die Dauer zurechtkommt. Sie will etwas Anderes, Höheres, Besseres sein, als sie ist, und dementsprechend auch behandelt werden. Ihre Selbstüberschätzung mag sich auf sehr verschiedene Umstände stützen, körperliche und vermeintliche geistige Vorzüge, materiellen Besitz, Abstammung, Familienbeziehungen. Sie mag sich aber auch ohne irgendwelche erfindliche Grundlage infolge verkehrter Erziehung oder anderer Umstände recht ansehnlich entwickelt haben. Die prätentiöse Gans macht sich als solche nicht nur im Kreise ihrer Familie, sondern überall, wo sie mit anderen Personen in Verkehr tritt, geltend und mißliebig. Sie verlangt als Frau vom Gatten, daß er sie als ein Wesen höherer Art verehrt und die Erfüllung ihrer Wünsche als Hauptzweck seines Lebens betrachtet. In der Gesellschaft beansprucht sie Bevorzugungen, die ihr nicht zukommen, von den Geschäftsleuten die prompteste und aufmerksamste Bedienung, und wenn die Schneiderin nach langem, vergeblichem Warten ihre Rechnung präsentiert, ist dies selbstverständlich eine grobe Ungehörigkeit. Auf Reisen ist sie der Schrecken der Hoteliers und ein Gegenstand des Grauens für das dienende Personal. Besitzt sie zufälligerweise ein bescheidenes Talent für irgendeine Kunstleistung, so erachtet sie sich gefeierten Künstlerinnen für ebenbürtig und führt es lediglich auf Gehässigkeit zurück, wenn ihren sehr dilettantischen Produktionen nicht die höchste Anerkennung zuteil wird.

Es ist nicht zu verkennen, daß die Prätentionen dieser beschränkten Frauen vielfach, ja zumeist durch die Stupidität ihrer Männer angeregt und genährt werden. Die Verblendung der Liebe, wie sie namentlich in der ersten Zeit des Ehestandes besteht, läßt die Männer in ihren Auserwählten etwas erblicken, was von der Wirklichkeit sich weit entfernt, und wenn durch Verziehung der Boden für eine übertriebene Selbstschätzung vorbereitet und durch Beschränktheit jede nüchterne Selbstkritik unmöglich gemacht wird, dann darf man sich nicht wundern, daß der von dem Manne geübte Kultus die Umwandlung der Frau zur prätentiösen Gans bewirkt. Erfreulicherweise ist diese eine ungleich seltenere Erscheinung als die bescheidene, gemütvolle Beschränkte, der wir auf allen Gebieten altruistischer Tätigkeit begegnen.

Robert Musil: Über die Dummheit

Auszüge eines Vortrags auf Einladung des Österreichischen Werkbunds, gehalten in Wien am 11. und wiederholt am 17. März 1937

[...] Sollen dabei die Umrisse des Begriffes der Dummheit richtig hervortreten, ist es vor allem anderen nötig, das Urteil zu lockern, daß die Dummheit bloß oder vornehmlich ein Mangel an Verstand sei; wie denn auch schon erwähnt worden ist, daß die allgemeinste Vorstellung, die wir von ihr haben, die des Versagens bei den verschiedensten Tätigkeiten, die des körperlichen und geistigen Mangels schlechthin zu sein scheint. Es gibt dafür in unseren heimischen Mundarten ein ausdrucksvolles Beispiel, die Bezeichnung der Schwerhörigkeit, also eines körperlichen Fehlers, mit dem Worte "derisch" oder "terisch", das wohl "törisch" heißt und damit der Dummheit nahesteht. Denn genau so wie da wird der Vorwurf der Dummheit volksmäßig auch sonst gebraucht. Wenn ein Wettkämpfer im entscheidenden Augenblick nachläßt oder einen Fehler begeht, sagt er nachher: "Ich bin wie vernagelt gewesen!" oder: "Ich weiß nicht, wo ich meinen Kopf gehabt hab’!", obgleich der Anteil des Kopfes am Schwimmen oder Boxen immerhin als unscharf begrenzt gelten darf. Ebenso wird unter Knaben und Sportbrüdern einer, der sich ungeschickt anstellt, dumm heißen, auch wenn er ein Hölderlin ist. Auch gibt es geschäftliche Verhältnisse, unter denen ein Mensch, der nicht listig und gewissenlos ist, als dumm gilt. Alles in allem sind das die Dummheiten zu älteren Klugheiten als der, die heute öffentlich in Ehren steht; und wenn ich gut unterrichtet bin, sind in der altgermanischen Zeit nicht nur die moralischen Vorstellungen, sondern auch die Begriffe von dem, was kundig, erfahren, weise ist, also die intellektuellen Begriffe in Beziehung zu Krieg und Kampf gestanden. So hat jede Klugheit ihre Dummheit, und sogar die Tierpsychologie hat in ihren Intelligenzprüfungen herausgefunden, daß sich jedem "Typus von Leistung" ein "Typus von Dummheit" zuordnen lasse.

Wollte man darum einen allgemeinsten Begriff der Klugheit suchen, so ergäbe sich aus diesen Vergleichen etwa der Begriff der Tüchtigkeit, und alles, was untüchtig ist, könnte dann gelegentlich auch dumm heißen; in Wirklichkeit ist es auch dann so, wenn die zu einer Dummheit gehörende Tüchtigkeit nicht wörtlich als Klugheit angesprochen wird. Welche Tüchtigkeit dabei im Vordergrund steht und zu einer Zeit den Begriff der Klugheit und Dummheit mit ihrem Inhalt erfüllt, hängt von der Form des Lebens ab. In Zeiten persönlicher Unsicherheit werden sich List, Gewalt, Sinnesschärfe und körperliche Geschicklichkeit im Begriff der Klugheit ausprägen, in Zeiten vergeistigter – mit den leider nötigen Einschränkungen läßt sich auch sagen: – bürgerlicher Lebensgesinnung tritt die Kopfarbeit an ihre Stelle. Richtiger gesagt, es sollte das die höhere Geistesarbeit tun, aber im Gang der Dinge ist daraus das Übergewicht der Verstandesleistung geworden, das der geschäftigen Menschheit in das leere Gesicht unter der harten Stirn geschrieben steht; und so ist es gekommen, daß heute Klugheit und Dummheit, als könnte es gar nicht anders sein, bloß auf den Verstand und die Grade seiner Tüchtigkeit bezogen werden, obwohl das mehr oder minder einseitig ist.

Die mit dem Worte dumm von Ursprung verbundene allgemeine Vorstellung der Untüchtigkeit – sowohl in der Bedeutung der Untüchtigkeit zu allem als auch in der Bedeutung jeder beliebigen Untüchtigkeit – hat denn auch eine recht eindrückliche Folge, nämlich die, daß "dumm" und "Dummheit", weil sie die generelle Unfähigkeit bedeuten, gelegentlich für jedes Wort einspringen können, das eine besondere bezeichnen soll. Das ist einer der Gründe, warum der gegenseitige Vorwurf der Dummheit heute so ungeheuerlich verbreitet ist. (In andrem Zusammenhang auch die Ursache davon, daß sich der Begriff so schwer abgrenzen läßt, wie unsere Beispiele gezeigt haben.) Man sehe sich die Bemerkungen an, die sich an den Rändern anspruchsvollerer Romane vorfinden, die längere Zeit im fast anonymen Leihbüchereiverkehr gestanden sind; hier, wo der Leser mit dem Dichter allein ist, drückt sich sein Urteil mit Vorliebe in dem Worte "dumm!" aus oder in dessen Äquivalenten, wie "blöd!", "Unsinn!", "unaussprechliche Dummheit!" und ähnlichem. Und ebenso sind das die ersten Worte der Empörung, wenn der Mensch in Theateraufführungen oder Bilderausstellungen gegen den Künstler in Masse auftritt und Anstoß nimmt. Auch des Wortes "Kitsch" wäre hier zu gedenken, das als erstes Urteil unter Künstlern selbst so beliebt ist wie kein anderes; ohne daß sich aber, wenigstens meines Wissens nicht, sein Begriff bestimmen und seine Verwendbarkeit erklären ließe, es sei denn durch das Zeitwort "verkitschen", das in mundartlichem Gebrauch soviel besagt wie "unter dem Preis abgeben" oder "verschleudern". "Kitsch" hat also die Bedeutung von zu billiger oder Schleuderware, und ich glaube wohl, daß sich dieser Sinn, natürlich ins Geistige übertragen, jedesmal unterlegen läßt, wo das Wort unbewußt richtig gebraucht wird.

Da Schleuderware, Kram hauptsächlich nach der mit ihnen verbundenen Bedeutung von untüchtiger, untauglicher Ware in das Wort eingehen, die Untüchtigkeit und Untauglichkeit aber auch die Grundlage für den Gebrauch des Wortes dumm bildet, ist es kaum eine Übertreibung zu behaupten, daß wir geneigt sind, alles, was uns nicht recht ist – zumal wenn wir es, abgesehen davon, als hoch- oder schöngeistig zu achten vorgeben! – als "irgendwie dumm" anzusprechen. Und zur Bestimmung dieses "Irgendwie" ist es bedeutsam, daß der Gebrauch der Dummheitsausdrücke innig durchdrungen wird von einem zweiten, der die ebenso unvollkommenen Ausdrücke für das Gemeine und sittlich Widerwärtige umfaßt, was den Blick zu etwas zurückleitet, das ihm schon einmal aufgefallen ist, zu der Schicksalsgemeinschaft der Begriffe "dumm" und "unanständig". Denn nicht nur "Kitsch", der ästhetische Ausdruck intellektueller Herkunft, sondern auch die moralischen Worte "Dreck!", "widerlich!", "scheußlich!", "krankhaft!", "frech!" sind kernhaft-unentwickelte Kunstkritiken und Urteile über das Leben. Vielleicht enthalten diese Ausdrücke aber noch eine geistige Anstrengung, einen Unterschied an Bedeutung, auch wenn sie unterschiedslos benutzt werden; dann springt als letztes für sie der wirklich schon halb sprachlose Ausruf "Solch eine Gemeinheit!" ein, der alles andere ersetzt und sich mit dem Ausruf "Solch eine Dummheit!" in die Herrschaft der Welt zu teilen vermag. Denn offenbar ist es so, daß diese beiden Worte gelegentlich für alle anderen einspringen können, weil "dumm" die Bedeutung der generellen Untüchtigkeit und "gemein" die der generellen Sittenverletzung angenommen hat; und belauscht man, was Menschen heute übereinander sagen, so scheint es, daß das Selbstporträt der Menschheit, wie es unbeaufsichtigt aus gegenseitigen Gruppenaufnahmen entsteht, durchaus nur aus den Abwandlungen dieser beiden mißfarbenen Worte gemischt ist! [...]

Meine Damen und Herren! Man spricht heute vielfach von einer Vertrauenskrisis der Humanität, einer Krisis des Vertrauens, das bis jetzt noch in die Menschlichkeit gesetzt wird; sie ließe sich auch eine Panik nennen, die im Begriffe ist, an die Stelle der Sicherheit zu treten, daß wir imstande seien, unsere Angelegenheiten in Freiheit und mit Vernunft zu führen. Und wir dürfen uns nicht darin täuschen, daß diese beiden sittlichen, und auch sittlich-künstlerischen Begriffe, Freiheit und Vernunft, die als Wahrzeichen der Menschenwürde aus dem klassischen Zeitalter der deutschen Weltbürgerlichkeit auf uns gekommen sind, schon seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts oder einem wenigen später nicht mehr so ganz bei Gesundheit gewesen sind. Sie sind allmählich "außer Kurs" gekommen, man hat nichts mehr mit ihnen "anzufangen" gewußt, und daß man sie einschrumpfen ließ, ist weniger der Erfolg ihrer Gegner als der ihrer Freunde gewesen. Wir dürfen uns also auch nicht darin täuschen, daß wir, oder die nach uns, wohl nicht zu diesen unveränderten Vorstellungen zurückkehren werden; unsere Aufgabe, und der Sinn der dem Geist auferlegten Prüfungen, wird es vielmehr sein – und das ist die so selten begriffene schmerzlich-hoffnungsvolle Aufgabe eines jeden Zeitgeschlechts –, den immer nötigen, ja sehr erwünschten Übergang zum Neuen mit möglichst geringen Verlusten zu vollziehen! Und um so mehr, als man den Übergang auf bewahrend-veränderte Ideen, der zur rechten Zeit stattfinden muß, verabsäumt hat, bedarf man bei solchem Tun helfender Vorstellungen von dem, was wahr, vernünftig, bedeutend, klug; und also in verkehrter Spiegelung auch von dem, was dumm ist. Welcher Begriff oder Teilbegriff der Dummheit läßt sich aber bilden, wenn der des Verstandes und der Weisheit wankt? Wie sehr sich die Anschauungen mit den Zeiten ändern, dafür möchte ich als ein kleines Beispiel bloß anführen, daß in einem ehedem sehr bekannten psychiatrischen Lehrbuch die Frage: "Was ist Gerechtigkeit?" und die Antwort darauf: "Daß der andere bestraft wird!" als ein Fall von Imbezillität angeführt werden, wogegen sie heute die Grundlage einer viel erörterten Rechtsauffassung bilden. Ich fürchte also, daß sich selbst die bescheidensten Ausführungen nicht werden abschließen lassen, ohne auf einen von zeitlichen Wandlungen unabhängigen Kern wenigstens hinzudeuten. So ergeben sich noch einige Fragen und Bemerkungen.

Ich habe kein Recht, als Psychologe aufzutreten, und will es auch nicht tun, aber wenigstens einen flüchtigen Blick in diese Wissenschaft zu werfen, ist wohl das erste, wovon man sich in unserem Fall Hilfe erhoffen wird. Die ältere Psychologie hat zwischen Empfindung, Wille, Gefühl und Vorstellungsvermögen oder Intelligenz unterschieden, und für sie ist es klar gewesen, daß Dummheit ein geringer Grad von Intelligenz sei. Die heutige Psychologie hat die elementare Unterscheidung der Seelenvermögen aber ihrer Wichtigkeit entkleidet, hat die gegenseitige Abhängigkeit und Durchdringung der verschiedenen Leistungen der Seele erkannt und – hat damit die Antwort auf die Frage, was Dummheit psychologisch bedeute, viel weniger einfach gemacht. Es gibt natürlich eine bedingte Selbständigkeit der Verstandesleistung auch nach heutiger Auffassung, doch sind dabei selbst in den ruhigsten Verhältnissen Aufmerksamkeit, Auffassung, Gedächtnis und anderes, ja beinahe alles, was dem Verstand angehört, wahrscheinlich auch von den Eigenschaften des Gemüts abhängig; wozu dann überdies noch im bewegten Erleben ebenso wie im durchgeistigten eine zweite Durchdringung von Intelligenz und Affekt kommt, die schier unlöslich ist. Und diese Schwierigkeit, Verstand und Gefühl im Begriff der Intelligenz auseinanderzuhalten, spiegelt sich natürlich auch im Begriff der Dummheit wider; und wenn zum Beispiel von der medizinischen Psychologie das Denken geistesschwacher Menschen mit Worten beschrieben wird wie: arm, ungenau, unfähig der Abstraktion, unklar, langsam, ablenkbar, oberflächlich, einseitig, steif, umständlich, überbeweglich, zerfahren, so läßt sich ohne weiters erkennen, daß diese Eigenschaften teils auf den Verstand, teils auf das Gefühl hinweisen. Man darf also wohl sagen: Dummheit und Klugheit hängen sowohl vom Verstand als auch vom Gefühl ab; und ob das eine oder das andere mehr, ob zum Beispiel bei der Imbezillität die Schwäche der Intelligenz "im Vordergrund steht" oder bei manchem angesehenen moralischen Rigoristen die Lahmheit des Gefühls, das mag den Fachleuten überlassen bleiben, indes wir Laien uns auf etwas freiere Weise behelfen müssen.

Im Leben versteht man unter einem dummen Menschen gewöhnlich einen, der "ein bißchen schwach im Kopf" ist. Außerdem gibt es aber auch die verschiedenartigsten geistigen und seelischen Abweichungen, von denen selbst eine unbeschädigt eingeborene Intelligenz so behindert und durchkreuzt und irregeführt werden kann, daß es im ganzen auf etwas hinausläuft, wofür dann die Sprache wieder nur das Wort Dummheit zur Verfügung hat. Dieses Wort umfaßt also zwei im Grunde sehr verschiedene Arten: eine ehrliche und schlichte Dummheit und eine andere, die, ein wenig paradox, sogar ein Zeichen von Intelligenz ist. Die erstere beruht eher auf einem schwachen Verstand, die letztere eher auf einem Verstand, der bloß im Verhältnis zu irgend etwas zu schwach ist, und diese ist die weitaus gefährlichere.

Die ehrliche Dummheit ist ein wenig schwer von Begriff und hat, was man eine "lange Leitung" nennt. Sie ist arm an Vorstellungen und Worten und ungeschickt in ihrer Anwendung. Sie bevorzugt das Gewöhnliche, weil es sich ihr durch seine öftere Wiederholung fest einprägt, und wenn sie einmal etwas aufgefaßt hat, ist sie nicht geneigt, es sich so rasch wieder nehmen zu lassen, es analysieren zu lassen oder selbst daran zu deuteln. Sie hat überhaupt nicht wenig von den roten Wangen des Lebens! Zwar ist sie oft unbestimmt in ihrem Denken, und die Gedanken stehen ihr vor neuen Erfahrungen leicht ganz still, aber dafür hält sie sich auch mit Vorliebe an das sinnlich Erfahrbare, das sie gleichsam an den Fingern abzählen kann. Mit einem Wort, sie ist die liebe "helle Dummheit", und wenn sie nicht manchmal auch so leichtgläubig, unklar und zugleich so unbelehrbar wäre, daß es einen zur Verzweiflung bringen kann, so wäre sie eine überaus anmutige Erscheinung.

Ich mag mir nicht versagen, diese Erscheinung noch mit einigen Beispielen auszuzieren, die sie auch von anderen Seiten zeigen und die ich Bleulers Lehrbuch der Psychiatrie entnommen habe: Ein Imbeziller drückt, was wir mit der Formel "Arzt am Krankenbett" abtäten, mit den Worten aus: "Ein Mann, der hält dem andern die Hand, der liegt im Bett, dann steht da eine Nonne." Es ist die Ausdrucksweise eines malenden Primitiven! Eine nicht ganz klare Magd betrachtet es als schlechten Scherz, wenn man ihr zumutet, sie solle ihr Erspartes der Kasse übergeben, wo es Zinsen trage: So dumm werde niemand sein, ihr noch etwas dafür zu bezahlen, daß er ihr das Geld aufbewahre! gibt sie zur Antwort; und es drückt sich darin eine ritterliche Gesinnung aus, ein Verhältnis zum Geld, das man vereinzelt noch in meiner Jugend an vornehmen alten Leuten hat wahrnehmen können! Einem dritten Imbezillen endlich wird es symptomatisch aufgeschwärzt, daß er behauptet, ein Zweimarkstück sei weniger wert als ein Markstück und zwei halbe, denn – so lautet seine Begründung: man müsse es wechseln, und dann bekäme man zu wenig heraus! Ich hoffe, nicht der einzige Imbezille in diesem Saal zu sein, der dieser Werttheorie für Menschen, die beim Wechseln nicht aufpassen können, herzlich zustimmt!

Um aber nochmals auf das Verhältnis zur Kunst zurückzukehren, die schlichte Dummheit ist wirklich oft eine Künstlerin. Statt auf ein Reizwort mit einem andern Wort zu erwidern, wie es in manchen Experimenten einstens sehr üblich war, gibt sie gleich ganze Sätze zur Antwort, und man mag sagen, was man will, diese Sätze haben etwas wie Poesie in sich! Ich wiederhole, indem ich zuerst das Reizwort nenne, einige von solchen Antworten:

Anzünden: Der Bäcker zündet das Holz an.
Winter: Besteht aus Schnee.
Vater: Der hat mich einmal die Treppe hinuntergeworfen.
Hochzeit: Dient zur Unterhaltung.
Garten: In dem Garten ist immer schön Wetter.
Religion: Wenn man in die Kirche geht.
Wer war Wilhelm Tell: Man hat ihn im Wald gespielt; es waren verkleidete Frauen und Kinder dabei.
Wer war Petrus: Er hat dreimal gekräht.

Die Naivität und große Körperlichkeit solcher Antworten, der Ersatz höherer Vorstellungen durch das Erzählen einer einfachen Geschichte, das wichtige Erzählen von Überflüssigem, von Umständen und Beiwerk, dann wieder das abkürzende Verdichten wie in dem Petrus-Beispiel, das sind uralte Praktiken der Dichtung; und wenn ich auch glaube, daß ein Zuviel davon, wie es recht in Schwang ist, den Dichter dem Idioten annähert, so ist doch auch das Dichterische in diesem nicht zu verkennen, und es fällt ein Licht darauf, daß der Idiot in der Dichtung mit einer eigentümlichen Freude an seinem Geist dargestellt werden kann.

Zu dieser ehrlichen Dummheit steht nun die anspruchsvolle höhere in einem wahrhaft nur zu oft schreienden Gegensatz. Sie ist nicht sowohl ein Mangel an Intelligenz als vielmehr deren Versagen aus dem Grunde, daß sie sich Leistungen anmaßt, die ihr nicht zustehen; und sie kann alle schlechten Eigenschaften des schwachen Verstandes an sich haben, hat aber außerdem auch noch alle die an sich, die ein nicht im Gleichgewicht befindliches, verwachsenes, ungleich bewegliches, kurz, ein jedes Gemüt verursacht, das von der Gesundheit abweicht. Weil es keine "genormten" Gemüter gibt, drückt sich, richtiger gesagt, in dieser Abweichung ein ungenügendes Zusammenspiel zwischen den Einseitigkeiten des Gefühls und einem Verstand aus, der zu ihrer Zügelung nicht hinreicht. Diese höhere Dummheit ist die eigentliche Bildungskrankheit (aber um einem Mißverständnis entgegenzutreten: sie bedeutet Unbildung, Fehlbildung, falsch zustande gekommene Bildung, Mißverhältnis zwischen Stoff und Kraft der Bildung), und sie zu beschreiben, ist beinahe eine unendliche Aufgabe. Sie reicht bis in die höchste Geistigkeit; denn ist die echte Dummheit eine stille Künstlerin, so die intelligente das, was an der Bewegtheit des Geisteslebens, vornehmlich aber an seiner Unbeständigkeit und Ergebnislosigkeit mitwirkt. Schon vor Jahren habe ich von ihr geschrieben:

Es gibt schlechterdings keinen bedeutenden Gedanken, den die Dummheit nicht anzuwenden verstünde, sie ist allseitig beweglich und kann alle Kleider der Wahrheit anziehen. Die Wahrheit dagegen hat jeweils nur ein Kleid und einen Weg und ist immer im Nachteil.

Die damit angesprochene Dummheit ist keine Geisteskrankheit, und doch ist sie die lebensgefährlichste, die dem Leben selbst gefährliche Krankheit des Geistes.

Wir sollten sie gewiß jeder schon in uns verfolgen, und nicht erst an ihren großen geschichtlichen Ausbrüchen erkennen. Aber woran sie erkennen? Und welches unverkennbare Brandmal ihr aufdrücken?! Die Psychiatrie benutzt heute als Hauptkennzeichen für die Fälle, die sie angehen, die Unfähigkeit, sich im Leben zurechtzufinden, das Versagen vor allen Aufgaben, die es stellt, oder auch plötzlich vor einer, wo es nicht zu erwarten wäre. Auch in der experimentellen Psychologie, die es vornehmlich mit dem Gesunden zu tun hat, wird die Dummheit ähnlich definiert. "Dumm nennen wir ein Verhalten, das eine Leistung, für die alle Bedingungen bis auf die persönlichen gegeben sind, nicht vollbringt", schreibt ein bekannter Vertreter einer der neuesten Schulen dieser Wissenschaft. Dieses Kennzeichen der Fähigkeit sachlichen Verhaltens, der Tüchtigkeit also, läßt für die eindeutigen "Fälle" der Klinik oder der Affenversuchsstation nichts zu wünschen übrig, aber die frei herumlaufenden "Fälle" machen einige Zusätze nötig, weil das richtige oder falsche "Vollbringen der Leistung" bei ihnen nicht immer so einleuchtend ist. Erstens liegt doch in der Fähigkeit, sich allezeit so zu verhalten, wie es ein lebenstüchtiger Mensch unter gegebenen Umständen tut, schon die ganze höhere Zweideutigkeit der Klugheit und Dummheit, denn das "sachgemäße", "sachkundige" Verhalten kann die Sache zum persönlichen Vorteil benutzen oder ihr dienen, und wer das eine tut, pflegt den, der das andre tut, für dumm zu halten. (Aber medizinisch dumm ist eigentlich nur, wer weder das eine noch das andere kann.) Und zweitens läßt sich auch nicht leugnen, daß ein unsachliches Verhalten, ja sogar ein unzweckmäßiges, oft notwendig sein kann, denn Objektivität und Unpersönlichkeit, Subjektivität und Unsachlichkeit haben Verwandtschaft miteinander, und so lächerlich die unbeschwerte Subjektivität ist, so lebens-, ja denkunmöglich ist natürlich ein völlig objektives Verhalten; beides auszugleichen, ist sogar eine der Hauptschwierigkeiten unserer Kultur. Und schließlich wäre auch noch einzuwenden, daß sich gelegentlich keiner so klug verhält, wie es nötig wäre, daß jeder von uns also, wenn schon nicht immer, so doch von Zeit zu Zeit dumm ist. Es ist darum auch zu unterscheiden zwischen Versagen und Unfähigkeit, gelegentlicher oder funktioneller und beständiger oder konstitutioneller Dummheit, zwischen Irrtum und Unverstand. Es gehört das zum Wichtigsten, weil die Bedingungen des Lebens heute so sind, so unübersichtlich, so schwer, so verwirrt, daß aus den gelegentlichen Dummheiten der einzelnen leicht eine konstitutionelle der Allgemeinheit werden kann. Das führt die Beobachtung also schließlich auch aus dem Bereich persönlicher Eigenschaften hinaus zu der Vorstellung einer mit geistigen Fehlern behafteten Gesellschaft. Man kann zwar, was psychologisch-real im Individuum vor sich geht, nicht auf Sozietäten übertragen, also auch nicht Geisteskrankheiten und Dummheit, aber man dürfte heute wohl vielfach von einer "sozialen Imitation geistiger Defekte" sprechen können; die Beispiele dafür sind recht aufdringlich.

Mit diesen Zusätzen ist der Bereich der psychologischen Erklärung natürlich wieder überschritten worden. Sie selbst lehrt uns, daß ein kluges Denken bestimmte Eigenschaften hat, wie Klarheit, Genauigkeit, Reichtum, Löslichkeit trotz Festigkeit und viele andere, die sich aufzählen ließen; und daß diese Eigenschaften zum Teil angeboren sind, zum Teil neben den Kenntnissen, die man sich aneignet, auch als eine Art Denkgeschicklichkeit erworben werden; bedeuten doch ein guter Verstand und ein geschickter Kopf so ziemlich das gleiche. Hierbei ist nichts zu überwinden als Trägheit und Anlage, das läßt sich auch schulen, und das komische Wort "Denksport" drückt nicht einmal so übel aus, worauf es ankommt.

Die "intelligente" Dummheit hat dagegen nicht sowohl den Verstand als vielmehr den Geist zum Widerpart, und wenn man sich darunter nicht bloß ein Häuflein Gefühle vorstellen will, auch das Gemüt. Weil sich Gedanken und Gefühle gemeinsam bewegen, aber auch weil sich in ihnen der gleiche Mensch ausdrückt, lassen sich Begriffe wie Enge, Weite, Beweglichkeit, Schlichtheit, Treue auf das Denken wie auf das Fühlen anwenden; und mag der daraus entstehende Zusammenhang selbst noch nicht ganz klar sein, so genügt es doch, um sagen zu können, daß zum Gemüt auch Verstand gehört und daß unsere Gefühle nicht außer Verbindung mit Klugheit und Dummheit sind. Gegen diese Dummheit ist durch Vorbild und Kritik zu wirken.

Max Kemmerich: Die Dummheit der Massen

Jahrtausendealte Erfahrung erbringt den unwiderleglichen Beweis dafür, daß ein großer und weiser Gedanke sehr lange braucht, um vom Volke angenommen zu werden. Ja, die größten Gedanken dringen überhaupt nicht in die Menge oder doch nur in einer Form, die wenig mehr vom Geiste ihres Schöpfers verrät. So wurde etwa aus den erhabenen Lehren Christi der Paganismus der römisch- und griechisch-katholischen Kirche. Die edle Weisheit eines Buddha konnte zum Lamaismus Tibets entarten; während die weltumstürzende Entdeckung eines Kopernikus Jahrhunderte brauchte, bis sie sich allseitig durchzusetzen vermochte.

Man wird das ganz natürlich finden und mit der mangelnden Bildung, dem Mangel an Intellekt, dem Trägheitsbedürfnis breiter Volksschichten motivieren.
Wie aber, wenn ein Gedanke absurd ist? Wenn der Wahnwitz ihm aus den Augen grinst? Wenn er jeder Vernunft, jeder Erfahrung widerspricht, seinen Anhängern die größten Mühen, Opfer und Gefahren an Gut und Blut auferlegt? – Dann wird er in zahllosen Fällen fanatisch aufgegriffen werden und mit elementarer Gewalt sich durchzusetzen versuchen. Der Träge wird zum Tatenmenschen, der Zauderer kühn, der Geizhalz verschwenderisch, der Feigling ein Held werden. Es ist nur nötig, daß der Gedanke einen Herold findet, der, selbst von ihm erfüllt, die Gewalt des Beispiels oder der Rede besitzt, mit möglichst überspannten Bildern und Zukunftshoffnungen nicht spart, der den mystischen Schleier des Geheimnisvollen zu weben versteht, und alles wird ihm folgen, wie einst die Kinder dem Rattenfänger von Hameln.

Das war zu allen Zeiten so, es ist so und wird so bleiben. Heute nennen wir die Kraft, die jene wunderbare Wirkung hervorruft: Suggestion; früher hatte sie keinen Namen. Man reihte sie in das große Gebiet der Magie oder Zauberei ein. Uns genügt die Feststellung, daß sie wirken kann, einen Fieberwahn hervorzurufen vermag, wenn sie – auf Dumme stößt. Diese Dummen aber findet sie immer und überall.

Hier bewährt sich die Allmacht der Dummheit in unheimlichster Weise: sie steckt an. Dieselben Leute, die unter normalen Umständen die Torheiten verlachen würden, machen sie mit, wenn sie andere sehen, die sie vormachen. Das Geheimnis der Massenpsyche, der die Hemmungen fehlen, ist nahezu unergründlich. Unergründlicher aber noch ist die Tiefe der Dummheit, die in solchen Momenten einem Vulkan gleich zur Oberfläche drängt, sich nun erst zeigt, während sie immer gegenwärtig ist. Und wie die glühenden Lavamassen eines Ätna, die sonst in den Eingeweiden der Erde schlummern, hier und da durch ein schwaches Rauchwölkchen ihr Dasein verratend, plötzlich zu neuem Leben erwachen, wie sie mit ihrer feurigen Flut blühende Landschaften, betriebsame Städte in Wüsten und Trümmerhaufen verwandeln, so sehen wir es auch hier.
Wehe, wenn die Dummheit, sonst mit möglichster Diskretion unsern Augen verborgen – etwa wie die Senkgruben der Häuser –, die so heilsame Hülle der Scham abwirft, wenn sie die Lächerlichkeit nicht mehr fürchtet, auf die Stimmen der Warner nicht mehr hört. Dann richtet sie furchtbareres Unheil an als alle Vulkane der Erde. Gewiß nicht immer. Bisweilen bleibt es bei harmlosen Versuchen, über die man bald wehmütig lächeln, bald laut lachen möchte, aber oft, nur allzuoft bahnt sie sich über Leichen ihren Weg.

Was etwa denken wir von den Kreuzzügen, die mindestens zwei Millionen wehrhafte Männer, die Blüte der Christenheit, mit unwiderstehlicher Gewalt in den Hades führten? Gewiß, die Folgen waren vielfach segensreich. Die Berührung mit fremden Völkern und Zonen erweiterte den Horizont, gab dem glücklich Heimkehrenden manch fruchtbares Samenkorn in die Hand, das im Heimatlande üppig erblühen sollte. Aber die Idee selbst? Die Art der Verwirklichung? Wie müssen wir den Kinderkreuzzug des Jahres 1212 beurteilen, als Tausende und Abertausende, den Ruf des Heilands "Lasset die Kindlein zu mir kommen" mißverstehend, auszogen, um im fremden Lande elend unterzugehen? Reiners Annalen vom Jahre 1212 berichten dazu, daß ex arte magica dieses Phänomen bewirkt worden sei. Wir aber sagen: es war die gewissenlose Dummheit der Eltern und Seelsorger, die namenloses Leid über unzählige Familien brachte.

Stehen hier gleich am Anfange klassische Beispiele für den Heroismus, die Todesverachtung, zu der die Dummheit die Massen fortzureißen vermag, so werden wir im bunten Wechsel einer Fülle von Gesichten begegnen, die, kaleidoskopisch an unserm Auge vorbeiziehend, neben den edelsten Regungen des Menschenherzens auch dessen gemeinste enthüllen.

Wie die gewaltige Autorität der Kirche die treibende Kraft der Kreuzzüge war, so werden wir finden, daß sie fast ausnahmslos auch die anderen Dummheiten bewußt oder unbewußt veranlaßte. Fast immer aber sind es religiöse Motive, die den grandiosesten Erscheinungen der Massendummheit als Triebfedern zugrunde liegen.
Wir sahen, daß die Kirche seit je der Askese das Wort geredet hat. Während im allgemeinen der Mensch es sich lieber gut sein läßt, die Feste feiert, wie sie fallen, gibt es auch Zeiten großer Erregung, in denen die unvermeidlichen Übel nicht zu genügen scheinen, in denen man danach trachtet, sich "zur Buße" für etwas, was man meistens weder direkt noch indirekt verschuldete, noch andere Leiden freiwillig zuzufügen.

Hierher gehören die Geißelfahrten des Mittelalters.

Die Kirche hat es von je gern gesehen, wenn Büßer sich mit eigener Hand geißelten. Gab es Virtuosen dieser Art der Askese, so fehlte es auch nicht an gekrönten Häuptern, die ihnen nur wenig nachstanden. Daß selbst Kaiser und Könige, ein Otto III., Heinrich II. von England, Otto IV., Ludwig IX. von Frankreich, ja noch ein Maximilian I. von Bayern sich mit eigener Hand züchtigten, ist hinlänglich bekannt. Besonders abschreckend – nach unsern Begriffen – ist das Verfahren Otto IV., der an den Folgen eines in zu großer Dosis genommenen Abführmittels starb. Am 18. Mai 1218 hatte der erst 36jährige Fürst aus dem alten Welfenhause gebeichtet. Doch das genügte ihm nicht. An seinem siechen Körper wollte er abbüßen, was seine Seele gesündigt hatte. So ließ er denn Ruten herbeischaffen und unter den Klängen des Miserere sich von den Geistlichen damit schlagen. Die Streiche schienen ihm zu milde. Bis aufs Blut sollte man ihn peitschen. Endlich wurde er erschöpft in sein Bett getragen, in dem er andern Tags seine Seele aushauchte.

Wo das Volk solches bei seinen Führern sah, ist es nicht so wunderlich, daß es in schweren Zeiten an Nachahmung dachte. So entwickelte sich denn die Geißelwut zu einer Massenepidemie, die riesige Dimensionen annahm.

Das kam so: Aus dem 1. Kapitel des Neuen Testamentes ließ sich berechnen, daß das große Jahr des Gerichtes 1260 eintreten würde. Denn die 42 Geschlechter von Abraham bis Jesus Christus, jedes zu 30 Jahren berechnet, ergaben in Anwendung auf die Zukunft der Menschheit die Zahl 1260. Ein Irrtum war völlig ausgeschlossen, da ja das große Sterben des Jahres 1259, das Italien heimsuchte, deutlich auf das Ende aller Dinge hinwies. Ein gewaltiger Bußeifer, geschürt durch das Tertiariertum des Ordens vom hl. Franz, ergriff die weitesten Kreise. Ein alter Einsiedler, Rainerio Fasani genannt, trat in der Nähe von Assisi als einer der ersten Führer von größeren Bußbrüderschaften, die sich öffentlich geißelten, auf. Von Perugia aus, wo er die Genossenschaft von "Geißlern Jesu Christi" gründete, verbreitete sich die Seuche weiter nordwärts. Halbnackt zogen die Büßer, von fanatischen Mönchen geführt, von Stadt zu Stadt, im Takt der gesungenen Bußpsalmen die Geißeln auf ihre Körper fallen lassend und ihre Wege mit Blutspuren bezeichnend. In die Gegend von Modena und Parma fällt der Hauptschauplatz dieses Treibens. Man wäre über den Po vordringend bis in die Lombardei gezogen, hätte nicht der Tyrann Pallavicini von Cremona Verstand genug besessen, dieses Korps der Rache von seinem Gebiete fernzuhalten. So bewirkte sein Eingreifen das baldige Abflauen der Bewegung. Schon mit dem Ende des Jahres 1260 hörten die Geißelfahrten auf, um sich für viele Jahrzehnte nicht zu wiederholen.

Übrigens betrugen sich die frommen Büßer nichts weniger als gesittet. Ihr wüstes Geheul, ihr Benehmen fremdem Eigentum gegenüber – wo ihren Betteleien kein geneigtes Ohr geschenkt wurde, scheuten sie auch vor Gewalttaten nicht zurück – heilte manchen der Bewegung sonst freundlich gegenüberstehenden Christen. So auch Salimbene, den Augenzeugen und Berichterstatter der merkwürdigen Epidemie.

Erst das furchtbare Pest- und Hungerjahr 1348/49 ließ wieder Geißelfahrten im großen Stile aufkommen. Nicht mehr Prozessionen, sondern Wallfahrten großer Massen zogen im Lande herum, nicht mehr auf Italien beschränkte sich die Epidemie, wenn sie auch wieder von dessen Norden ausging, sondern Ungarn und Polen, Österreich, Böhmen, Sachsen, Thüringen, die Gegenden des Ober- und Niederrheins, die Niederlande, ja England und Jütland samt den dänischen Inseln wurden zum Schauplatz dieses Völkerwahns. Frankreich wurde nur mit Mühe freigehalten.

Die Wallfahrer gaben sich durch Bezeichnung ihrer Mäntel und Hüte mit roten Kreuzen sowie durch Vorantragen von Fahnen und Kreuzen als eine Art von Kreuzfahrern aus und behaupteten, durch einen von Christus selbst geschriebenen und von einem Engel dem Patriarchen von Jerusalem überbrachten Brief zu ihren Bußübungen aufgefordert zu sein.

Als Geißelwerkzeug bedienten sich die sonderbaren Heiligen kurzer Stöcke, mit je drei Strängen daran, durch deren dicke Endknoten je zwei scharfe Stacheln kreuzweise hindurchgetrieben waren. Auch mit ihrer Körperhaltung und ihren Manipulationen ahmten sie das Kreuz nach, indem sie sich bei Absingung des Bußliedes an den drei Stellen, wo der Refrain wiederkehrte:

Jesus der wart gelabt mit gallen
des süllen wir an ein criuze vallen

mit kreuzweise ausgetreckten Armen zu Boden warfen und für die Dauer von fünf Paternostern liegen blieben. Am Schluß des Gesanges schlugen sie sich mit kreuzweise ausgebreiteten Armen an die Brust.

War Frankreich von der großen Geißelbewegung von 1348/49 verschont geblieben, so holte es das damals Versäumte doch später nach. Wo hätte je das zündende Beispiel der Dummheit nicht epochemachend gewirkt?! In Südfrankreich und Spanien trat unter Führung des gewaltigen Bußpredigers Vincentius Ferrer (V 1419) im Jahre 1399 die Bewegung mit größter Kraft auf. Es sollen sich um ihn 80.000 Büßer gesammelt haben, die unter den Rufen "(dies geschieht) zu Ehren des Leidens Jesu Christi!" oder "Zur Erlangung der Vergebung meiner Sünden" oder "Herr Gott habe Erbarmen" barfüßig einherzogen und sich öffentlich geißelten. Übrigens wurde die Kirche, die hier im großen und ganzen den kühlen Kopf behielt, den sie der privaten Geißelung gegenüber verloren hatte, dieser Bewegung gleichfalls Herr, wenn auch nach nicht geringem Kraftaufwande.

Dieser Wahn hat sich in scheußlichster Form sogar bis in unsere Zeit erhalten!

Unweit Messina geißelten sich im Jahre 1891 bei einer Prozession am Feste "U. L. Frau in Ketten" die Büßer mit Eisenketten so grausam an Brust, Schultern, Schenkeln und Waden, daß im Volke eine lebhafte Erregung entstand. Von Bußschmerz und Bewunderung ergriffen, leckten Weiber den blutbesprengten Boden der Kirche, in der die Prozession zum Hochaltar zog, ab! Zwei Männer sollen damals an ihren Wunden gestorben sein.

Eine Fraternidad piedosa in Neu-Mexiko vereint in der Karwoche Geißelungen mit Schaustellungen der Kreuzigung. Einzelne ihrer Büßer schleppen schwere Holzkreuze auf den Knien über steinigen Boden hinrutschend einen steilen Hügel hinauf. Einer derselben ließ sich – um das Jahr 1870 – in Puerto de Luna ans Kreuz nageln, was seinen Tod verursachte. In Santa Rita in Südkalifornien sind ähnliche Aufführungen auch heute noch im Schwange, doch lassen sich die Büßer vorsichtshalber nur anbinden.

Auf die grausigste Form dieser Raserei, die Kreuzigung, werden wir weiter unten noch zurückkommen.

Daß die katholische Kirche durch ihre wahnwitzige Teufels- und Hexentheorie, sowie durch ihre Verfolgung der Hexen und Hexenmeister diesen fürchterlichen Blödsinn noch gewaltsam zu einer Zeit aufrechterhielt, wo das Volk schon längst angefangen hatte ihn abzulegen – nicht die einzige Dummheit, die durch die kirchliche Autorität aufrechterhalten wurde und wird –, ist eine schon häufig betonte Tatsache. Aber auch eine andere merkwürdige Erscheinung, die Lykanthropie, ist auf die Einwirkung der alleinseligmachenden Kirche zurückzuführen.

Diese Lykanthropie besteht in dem Wahn oder namentlich in der Furcht, daß Menschen zu reißenden Tieren werden, oder daß Kinder durch Hexen in "Werwölfe" verwandelt werden können. Eine solche merkwürdige Epidemie kam in den Jahren 1598 bis 1600 im schweizerischen Jura zu St. Claude bei Freiburg vor. Einige Frauen bildeten sich ein, sie seien Werwölfe, und eine fiel auch wirklich Kinder an und tötete sie. Die Untersuchung wurde mit christlicher oder doch kirchlicher Milde geführt. Da es ganz klar auf der Hand lag, daß es sich hier um einen Satansbund handelte, so ließ der Richter Bouquet 600 Personen aus der Jura-Landschaft hinrichten.

Harmloser war die sogenannte Laira-Krankheit, die im Jahre 1613 die Gemeinde Amon bei Dax in Südfrankreich ergriff. Mehr als hundertundzwanzig Frauen, sicher ein sehr hoher Prozentsatz der weiblichen Bevölkerung der Ortschaft, wurde von dem merkwürdigen Drange ergriffen, laut und andauernd ein heulendes Bellen, so wie die den Vollmond anbellenden Hunde, auszustoßen. Ferner wälzten sie sich wütend am Boden herum, schlugen um sich, bissen und benahmen sich wie wilde Tiere. Am heftigsten wurde das Bellen, wenn die Frauen zum Gottesdienst versammelt waren. Natürlich waren auch hier wieder Hexen schuldig, die sich deutlich dadurch verrieten, daß die Besessenen die Nähe einer solchen durchs Gefühl merkten und sofort einen heftigen Anfall bekamen. Allein die Hexen waren so zahlreich, da außer den Richtern und den Besessenen die Mehrzahl der Ortsbewohner verdächtigt worden waren, daß man sich damit begnügte, nur eine beschränkte Anzahl hinzurichten, darunter allerdings einige, die selbst von dem Wahne befallen waren.

Das störte die Richter aber in keiner Weise, da ja der Teufel, wie sie meinten, den Hexen die List eingeflößt habe, die Krankheit nur vorzutäuschen.

[...]

Zu den grausigsten Äußerungen der Dummheit gehört wohl unzweifelhaft in neuerer Zeit die russische Sekte der Skopzen, d. h. der Selbstverstümmler. Sie zählt mehrere tausend Anhänger, meistens aus dem niederen Volke, besonders Soldaten, aber auch sehr reiche Kaufleute, die große Geldsummen dafür, früher namentlich zur Bestechung der Obrigkeit, hingeben. Sie berufen sich für ihren Wahnwitz auf zwei Bibelstellen (Matth 19, 12 und Luk 23, 29), wiewohl in der ersteren nur von Verschnittenen die Rede ist, ohne jede Nutzanwendung, es in der zweiten aber heißt: "Die Zeit wird kommen, wo man sagen wird: selig sind die Unfruchtbaren, die Leiber, die nicht geboren, die Brüste, die nicht gesäugt haben." Das ist aber völlig genügend, und vielleicht noch weniger wäre es, denn die Dummheit stellt sehr bescheidene Ansprüche an das Material, aus dem sie ihre Schlüsse zieht.

Die eigentliche Lehre der Sekte nimmt an, daß der Sündenfall Adams die geschlechtliche Vermischung gewesen sei, denn die Menschen sollten sich nur durch "heilige Küsse" fortpflanzen. Aus dieser ersten Sünde seien alle übrigen gekommen und die Welt sei jetzt sehr verderbt. Die Hauptlehre Christi, die Erlösung, bestehe aber in nichts anderem als der "Feuertaufe", d.h. der Entmannung durch glühendes Eisen. Diese, jetzt durchs Messer ausgeführt, besteht entweder in vollständiger Entfernung oder in Kastration, das "große und kleine Siegel". Damit verbinden sich chiliastische Ideen. Im Anfange des 19. Jahrhunderts war ein gewöhnlicher Bauer Seliwanoff der inkarnierte Christus und auch zugleich der Zar Peter III., der nicht wirklich getötet worden sein soll. Dagegen ist der herrschende Zar der Antichrist. Ferner fordern die Skopzen geheime Versammlungen, in denen wildes Tanzen und Singen, inspiriertes, sinnloses Predigen und wohl auch wirklich ekstatische Zustände die Hauptsache sind. Die Neubekehrten werden dabei in narkotischen Schlaf versetzt und entmannt, die Weiber verschneiden ihre Brüste. Geschlechtlicher Verkehr ist die größte Sünde. Deshalb fluchen die Skopzen ihren eigenen Eltern. Trotz aller Verfolgungen besteht die Sekte noch heute.

Eine sicherlich nicht minder furchtbare Sekte, wie die Skopzen, ist in Rußland die der Teufelsanbeter, die dem Satan Opfer darbieten. Ferner gibt es in Sibirien die Morelschiki, die es für ihre Pflicht halten, sich "Gott ganz darzubieten" und sich in ganzen Scharen gegenseitig niederstechen und verbrennen. Das taten im Jahre 1868 auf dem Gute eines Herrn von Gurieff an der Wolga 47 Männer und Frauen gleichzeitig. Um 1870 sollen hundert, ja Hunderte auf diese Weise zugleich gestorben sein.
Die Geißlersekte der Chlysten, die stündlich den Weltuntergang erwartet, sowie das Reich des Antichrist gerät unter wilden Tänzen und Sängen in eine ekstatische Wut, wobei sie sich nicht nur selbst furchtbar mißhandeln und durchpeitschen, sondern im Jahre 1869 sich einmal auf die harmlosen Zuschauer stürzten und einige totprügelten.
Im Gouvernement Kiew bei Tiraspol weihten sich 25 Sektierer, beinahe alle Bewohner eines Gehöftes, freiwillig dem Opfertod, indem sie sich auf Anstiften einer Frau den Tod durch Einmauernlassen und Verhungern gaben.

Noch am Ende des 19. Jahrhunderts bestand in unserem so gesitteten und aufgeklärten Europa, nämlich in Appelteren bei Amsterdam, eine Sekte, die mehrfach zu religiösen Zwecken geheime Morde begangen haben soll. Gerichtlich konnten etwa 40 Mitglieder ermittelt werden. Sicher ist, daß der Knecht Brinkman, in Diensten bei einem Bauern Scherf, bei einer "Teufelsaustreibung" ums Leben kam. Man sprach bei einer Versammlung dieser ultraorthodoxen Protestanten im Hause Scherfs die Überzeugung aus, der Teufel sei im Hause und habe speziell von Brinkman Besitz ergriffen. Zunächst soll Scherf nach dem Beispiel Abrahams seine eigenen 5 Kinder als Opfer angeboten haben. Da man sie aber nicht im Hause fand, so ging man um 1 Uhr nachts, sofort nach Schluß der Sitzung, zu Brinkman, den man aus dem Schlafe weckte. Scherf begann die Teufelsbeschwörung, worauf der Knecht mit Stangen und Stöcken von allen totgeschlagen wurde. Am nächsten Tage richtete man für die "Brüder und Schwestern" ein festliches Mahl her und sang dabei zahlreiche religiöse Lieder. Bei der folgenden Verhaftung gab der Gemeindevorsteher Spiering an, er habe die feste Absicht gehabt, auch noch eines seiner Kinder zu opfern. Wer an den heute noch in der protestantischen theologischen Literatur spukenden Teufelsglauben sich erinnert, wird sich nicht im mindesten darüber wundern, daß Bauern das praktisch üben, was ihre Seelenhirten theoretisch begründen.

Es läßt sich ja überhaupt nicht in Abrede stellen, daß alle diese Massendummheiten auf kirchliche oder biblische Einflüsse zurückgehen. Entweder wird eine kirchliche theoretische Forderung praktisch und im großen Stile geübt, wie wir es bei den verschiedenen Formen der Askese sahen. Oder es wird ein Beispiel aus der Geschichte unserer Religion nachgeahmt, wie etwa die Kreuzigung Christi, oder aber eine in den Evangelien enthaltene oder auch nur angedeutete Lehre wird weiter entwickelt. Dahin gehört der kirchlich – vom Katholizismus so gut wie vom Protestantismus – sanktionierte und in ein System gebrachte Hexen- und Teufelsglaube. Oder man beruft sich, wie etwa die Skopzen, auf teils mißverstandene, teils isoliert betrachtete und ganz einseitig, monomanisch, zur Lebensrichtschnur gemachte Bibelstellen. Schließlich können die Skopzen sich mit dem gleichen dogmatischen Recht auf ein Bibelwort hin verstümmeln, wie das Papsttum auf ein anderes seine Macht des Bindens und Lösens aufbaut.
Es ist eben immer eine ungeheure Dummheit, sich irgendeinem Ausspruch, irgendeiner Autorität mit Kadavergehorsam zu unterwerfen, auf Buchstaben und Worte zu schwören. Damit soll natürlich nicht gesagt sein, daß es nicht auch sehr klug sein kann, sich die Weisheit und Lebenserfahrung anderer zunutze zu machen. Aber maßgebend soll eben doch stets die Art der Interpretation, die Kritik, die Beurteilung des Falles, kurz der eigene gesunde Menschenverstand bleiben.

Ein anderer religiöser Gedanke, der auch auf die Bibel zurückgeht, ist der des Tausendjährigen Reiches. Ja, für die Wiederkehr Christi können sich Gläubige sogar auf seine eigenen Worte berufen. Da ist es nur natürlich, wenn sie für ihr Leben die Konsequenzen daraus ziehen. Die Dummheit besteht eben auch hier wieder in der willenlosen Unterordnung unter eine fremde Autorität. Aber auch diese Willenlosigkeit, dieser freiwillige Verzicht auf Kritik, ist von den Kirchen mit Feuer und Schwert gezüchtet worden, wie die Geschichte der Glaubensverfolgungen lehrt. Ist aber einmal das eigene Urteil zum Schweigen gebracht, ist der Fromme gezwungen, mancherlei, was Vernunft und Erfahrung widerspricht, unter dem Drucke kirchlicher Autorität bedingungslos zu glauben, dann ist der Geist für die gläubige Hinnahme jeder Ungeheuerlichkeit entsprechend präpariert.

Übrigens hat die gewissenhafte Befolgung des "Wachet und betet" auch manches Gute im Gefolge, und die Verirrungen der Chiliasten sind im Vergleich mit jenen, die wir oben kennenlernten, recht harmloser Natur.

Einer solchen Form der Narretei huldigt eine Sekte in Amerika, die sich Shaker nennt und Mitte vorigen Jahrhunderts etwa 4000 Mitglieder zählte. Auch sie sind Chiliasten, unterscheiden sich aber nicht unwesentlich von zahlreichen Glaubensgenossenschaften, die gleichfalls an die Wiederkehr des Messias glauben, dadurch, daß sie vom bereits erfolgten Eintritt dieses Zustandes fest überzeugt sind. Und zwar war es ein weiblicher Messias, namens Ann Lee, in der die Wiederverkörperung Christi zu erblicken ist. Diese Ann Lee, die zu Bolton in Lancashire 1758 einer kleinen Gemeinde von Mystikern beitrat und durch mancherlei Verfolgungen sich genötigt sah, im Jahre 1772 nach Amerika auszuwandern, ist als "Schwester und Braut Christi" die einzige Heilige, die die Shaker verehren.

Die Lehre ist sehr einfach: Im Jahre 452 begann mit der Begründung der päpstlichen Macht das Reich des Antichrists, das nach der Offenbarung Johannis dem zweiten irdischen Auftreten des Heilandes vorangehen soll. Seit der Reformation, die den "großen Drachen" nicht tötete, sondern nur in zwei Teile zerriß, nahm dieses Reich allmählich wieder ab. Während dieser Herrschaft des Antichrists war der göttliche Geist Christi in den Himmel zurückgekehrt, um dort seine "Wiederkunft in und mit der heiligen Braut, welche die Tochter der ewigen Weisheit ist", vorzubereiten. Anno 1747 ließ er sich auf Ann Lee herab, um durch eine zweite Erlösung der Menschheit sein Tausendjähriges Reich zu gründen, in dem die Sünde keine Stätte hat.

Die friedliche, arbeitsame und überhaupt brave Gemeinde scheut vor allem jeden geschlechtlichen Verkehr. Gott feiert sie durch tägliche Tänze, nach flotten Melodien. Warum sollten allein die Beine den Schöpfer nicht loben dürfen?

Schlimmer war die Millermanie in Amerika, die verursacht wurde durch die Prophezeiungen eines gewissen William Miller (¬ 1772, V 1849) aus dem Staate Neu-York. Seit dem Jahre 1831 kündigte er das Erscheinen des Herrn am Himmel an sowie das Ende aller Dinge für den März 1843. In Neu-York, Maine, Massachusetts und anderwärts scharten sich Leute, denen er seine Wahnideen zu suggerieren verstand, um ihn. Als Adventisten, wie sie sich im Glauben an die Wiederkehr Christi in sichtbarer Gestalt nannten, verloren sie alles Interesse an irdischen Dingen. Sie gaben ihre Geschäfte auf, überließen zum Teil ihre Familien dem Elend, um in Versammlungen zu beten und zu predigen und sich auf diese Weise für den großen Tag vorzubereiten. Als dieser aber nicht eintraf, tröstete man sich mit der Annahme, daß die Berechnung des Datums falsch sei und die Prophezeiung sich am 22. November 1844 nach jüdischem Kalender erfüllen müsse.

Manche Anhänger der Millersekte verfielen infolge der andauernden religiösen Exaltation in unheilbare Geisteskrankheit, wähnten sich im Himmel oder verzichteten auf Nahrung, weil sie nur noch die Kost der Engel benötigten. Als nun auch das zweite Datum sich als falsch herausstellte, genügte selbst diese Enttäuschung nicht, die Adventisten von ihrer Torheit zu heilen. Vielmehr war die einzig bedeutsame Folge lediglich die, daß die Anhängerschaft sich in mehrere Sekten spaltete. Noch heute gibt es in Amerika gegen 65.000 solcher sonderbarer Heiliger, während die europäische Generalkonferenz im Jahre 1901 mit Stolz auf eine Gemeinde von 7700 Seelen blicken konnte.

[...]

Wenn wir im Kometenjahr 1910 soundso oft in den Zeitungen von Leuten lesen mußten, die aus Furcht vor dem Weltuntergang selbst Hand an sich legten, so waren das ja alles gewiß keine Beweise von hoher Intelligenz. Immerhin ist der Gedanke, durch Zusammenstoß mit einem Himmelskörper vernichtet zu werden, vielleicht falsch, aber an sich keineswegs dumm. Der Halleysche Komet stand ja am Himmel, er näherte sich mit unheimlicher Geschwindigkeit; daß die Erde in seine Nähe kommen würde, war gewiß; also war doch zweifellos eine Ursache der Furcht vorhanden, wenn auch nicht für Naturkundige. Zudem handelte es sich wohl ausnahmslos um Landleute, die ein sicheres Ende einem möglichen vorzogen, und ferner betreffen die Fälle meist Ungarn und weniger zivilisierte Länder.

Was aber sagen wir dazu, wenn im aufgeklärten Deutschland im Jahre 1912 sich in Bad Godesberg, in nächster Nachbarschaft der Universitätsstadt Bonn eine Sekte bildet, die den Weltuntergang prophezeit, und zwar ausgerechnet auf den 21. März 1912, und wenn diese Sekte Gläubige in gebildeten Kreisen findet?

Ein wahnwitziger Schwärmer hatte aus der Bibel den untrüglichen Beweis für seine Prophezeiung erbracht. Seine Weisheit hatte er in einem Schauertraktätchen unter die Leute verteilt. Natürlich fand er Gläubige, die sich auf diesen großen Tag entsprechend vorbereiten wollten. Unter ihnen befand sich auch eine Dame besten Standes, die, "um ganz rein vor dem Heiland zu erscheinen", sich einer radikalen Leibesreinigung unterzog. Ein einfaches Bad genügte ihr nicht in ihrem frommen Sinne, und so schüttete sie denn in das Badewasser ein großes Quantum Salzsäure. Die Folge blieb nicht aus: beim Verlassen des Wassers löste sich die Haut vom ganzen Körper ab, so daß die Unglückliche in die Klinik verbracht werden mußte, wo sie wohl inzwischen ihren Leiden erlegen ist.

Wir sind am Ende!

Wer bezweifelt noch, daß es ausnahmslos die Autoritäten, und zwar fast ausschließlich die religiösen Autoritäten waren und sind, die durch törichte Lehren der Dummheit oft in ihren furchtbarsten Formen Anregung boten und Vorschub leisteten, ja noch leisten? Die Dummheit aber gehört zum kostbar gehüteten, unverlierbaren Besitz der Menschheit.

José Ortega y Gasset: Warum die Massen in alles eingreifen, und warum sie nur mit Gewalt eingreifen

Wir stellten fest, daß sich etwas überaus Paradoxes, aber im Grunde ganz Natürliches zugetragen hat: rein weil dem Mittelmäßigen Welt und Leben offenstanden, hat sich seine Seele geschlossen. Nun wohl; diese Verhärtung der Durchschnittsseelen, behaupte ich, hat den Aufstand der Massen verschuldet, der seinerseits das schwerste Problem bedeutet, das der heutigen Menschheit aufgegeben ist.

Ich weiß, daß manche, die mich lesen, anders denken als ich. Auch das ist sehr natürlich und bestätigt die Theorie. Denn würde sich meine Ansicht am Ende selbst als irrig erweisen, so bliebe doch immer die Tatsache, daß viele dieser Andersmeiner keine fünf Minuten über eine so verwickelte Frage nachgedacht haben. Wie sollten sie also mit mir übereinstimmen? Aber indem sie sich eine Meinung über einen Gegenstand anmaßen, ohne daß sie sich vorher die Mühe genommen hätten, sich eine zu bilden, verraten sie ihre Zugehörigkeit zu jener absonderlichen Spielart von Menschen, die ich die aufständische Masse nannte. Genau das meinte ich, wenn ich von verstockten, verrammelten Seelen sprach. In diesem Fall würde es sich um intellektuelle Verstocktheit handeln. Der Mensch hat einen gewissen Ideenvorrat in sich; er findet, es sei daran genug und er geistig vollkommen ausgestattet. Da er nichts vermißt, was über seinen Horizont geht, richtet er sich endgültig mit diesem Vorrat ein. Das ist der Mechanismus der Verstockung.

Der Massenmensch findet sich vollkommen. Der hervorragende Mensch muß, um sich vollkommen zu finden, ausgesprochen eitel sein. Die Überzeugung von seiner Vollkommenheit ist ein Fremdkörper in seinem Wesen; sie ist nicht ursprünglich in ihm, sondern ein Produkt seiner Eitelkeit und trägt sogar für ihn selbst einen vorgetäuschten, scheinhaften und fragwürdigen Charakter. Darum braucht der Eitle die anderen, damit sie ihm die Meinung, die er gern von sich selber hätte, bestätigen. So daß der Edle auch in diesem krankhaften Fall, auch verblendet durch Eitelkeit, nicht zum rechten Glauben an seine Vollkommenheit gelangen kann. Dem mittelmäßigen Menschen unserer Tage, dem neuen Adam, dagegen fällt es nicht ein, an seiner Gottähnlichkeit zu zweifeln. Sein Selbstvertrauen ist paradiesisch wie Adams; es hindert ihn daran, sich mit anderen zu vergleichen, was die erste Bedingung für die Entdeckung seiner Unzulänglichkeit wäre. Er müßte dazu eine Weile aus seinem eigenen Leben hinaus- und in das seines Nächsten hinüberwandern. Aber die gemeine Seele versteht sich nicht auf Seelenwanderungen – den sublimsten Sport.

Wir haben es hier mit demselben Unterschied zu tun, der seit Ewigkeiten den Narren vom Weisen trennt. Dieser ertappt sich selbst immer zwei Finger breit von einer Torheit; darum bemüht er sich, der ständig lauernden zu entkommen, und in dieser Bemühung liegt seine Klugheit. Der Einfältige aber ist ohne Arg gegen sich selbst; er dünkt sich gewaltig gescheit, und daher die beneidenswerte Genügsamkeit, mit der sich Beschränkte in ihrer eigenen Geistesarmut zur Ruhe setzen. Wie jene Insekten, die man auf keine Weise aus ihren Löchern ausräuchern kann, läßt sich der Dumme nicht aus seiner Dummheit werfen; unmöglich, ihn ein Weilchen ohne Scheuklappen umherzuführen und ihn zu zwingen, daß er sein dumpfes Weltbild mit anderen feineren Arten des Sehens zusammenhält. Dummheit ist lebenslänglich und hoffnunsglos. Darum meinte Anatole France, sie sei verhängnisvoller als Bosheit; denn Bosheit setzt manchmal aus, Dummheit nie.

Nicht daß der Massenmensch dumm wäre. Im Gegenteil, der gegenwärtige ist gescheiter, hat größere intellektuelle Fähigkeiten als irgendeiner in der Vergangenheit. Aber diese Fähigkeiten helfen ihm nicht; im Grunde hilft ihm das undeutliche Bewußtsein ihres Besitzes nur dazu, daß er sich noch hermetischer in sich verschließt und sie erst recht nicht gebraucht. Den Wust von Gemeinplätzen, Vorurteilen, Gedankenfetzen oder schlechtweg leeren Worten, den der Zufall in ihm aufgehäuft hat, spricht er ein für allemal heilig und probiert mit einer Unverfrorenheit, die sich nur durch ihre Naivität erklärt, diesem Unwesen überall Geltung zu verschaffen. Das ist es, was ich im ersten Kapitel als das Kennzeichen unserer Epoche hinstellte: nicht daß der gewöhnliche Mensch glaubt, er sei außerordentlich und nicht gewöhnlich, sondern daß er das Recht auf Gewöhnlichkeit und die Gewöhnlichkeit als Recht proklamiert und durchsetzt.

Nichts an der gegenwärtigen Situation ist so neu und unvergleichbar mit irgendeinem Geschehen der Vergangenheit wie die Herrschaft, welche die geistige Plebs heute im öffentlichen Leben ausübt. In der europäischen Geschichte wenigstens hat sich bis zum heutigen Tag das Volk noch niemals eingebildet, "Ideen" über irgend etwas zu haben. Es hatte Glaubenslehre, Überlieferungen, Erfahrungen, Sprichwörter, Denkgewohnheiten; aber es dünkte sich nicht im Besitz theoretischer Einsichten in das Sein oder Soll-Sein der Dinge – in Politik etwa oder Literatur. Was der Politiker plante oder tat, erschien ihm gut oder schlecht; es stimmte für oder gegen; aber es beschränkte sich darauf, im einen oder anderen Sinn den Resonanzboden für die schöpferische Tat anderer abzugeben. Den "Ideen" des Politikers seine eigenen gegenüberzustellen, ja sie auch nur vor das Tribunal anderer "Ideen" zu ziehen, die es zu besitzen glaubte, wäre ihm niemals eingefallen. Und ebenso in der Kunst und den übrigen Ordnungen des öffentlichen Lebens. Ein angeborenes Gefühl für seine Begrenztheit, seine Uneignung zu theoretischem Denken hinderte es daran. Die selbstverständliche Folge war, daß das Volk auch nicht entfernt daran dachte, auf irgendeinem Gebiet der öffentlichen Tätigkeiten, die größtenteils theoretischer Art sind, Entscheidungen zu treffen.

Heute dagegen hat der Durchschnittsmensch die deutlichsten Vorstellungen von allem, was in der Welt geschieht und zu geschehen hat. Dadurch ist ihm der Gebrauch des Gehörs abhanden gekommen. Wozu hören, wenn er schon alles, was not tut, selber weiß? Es ist nicht mehr an der Zeit zu lauschen, sondern zu urteilen, zu befinden, zu entscheiden. Im öffentlichen Leben gibt es keine Frage, in die er sich, taub und blind wie er ist, nicht einmischte, seine Ansichten durchsetzend.

Aber ist das nicht ein Vorteil? Bedeutet es nicht einen gewaltigen Fortschritt, wenn die Massen "Ideen" haben, das heißt gebildet sind? Ganz und gar nicht. Die "Ideen" dieses durchschnittlichen Menschen sind keine echten Ideen, noch ist ihr Besitz Bildung. Die Idee ist ein Schach, das man der Wahrheit bietet. Wer Ideen haben will, muß zuerst die Wahrheit wollen und sich die Spielregeln aneignen, die sie auferlegt. Es geht nicht an, von Ideen oder Meinungen zu reden, wenn man keine Instanz anerkennt, welche über sie zu Gericht sitzt, keine Normen, auf welche man sich in der Diskussion berufen kann. Diese Normen sind die Grundlagen der Kultur. Es kommt mir nicht auf ihren Inhalt an. Was ich sagen will, ist, daß es keine Kultur gibt, wenn es keine Normen gibt, auf die wir und unsere Gegner zurückgreifen können. Es gibt keine Kultur, wenn es keine Prinzipien des bürgerlichen Rechts gibt. Es gibt keine Kultur, wenn es keine Ehrfurcht vor gewissen Grundwahrheiten der Erkenntnis gibt. Es gibt keine Kultur, wo die wirtschaftlichen Beziehungen von keiner Verkehrsordnung beherrscht werden, unter deren Schutz man sich stellen kann. Es gibt keine Kultur, wo ästhetische Polemiken es nicht für notwendig erachten, das Kunstwerk zu rechtfertigen.

Wo dies alles fehlt, gibt es keine Kultur; es herrscht im genauesten Sinn des Wortes Barbarei. Und Barbarei ist es, geben wir uns keinen Täuschungen hin, die dank der zunehmenden Aufsässigkeit der Massen in Europa anzubrechen droht. Der Reisende, der in ein barbarisches Land kommt, weiß, daß dort keine Bindungen gelten, auf die er sich verlassen kann. Barbarische Normen im eigentlichen Verstand gibt es nicht. Barbarei ist die Abwesenheit von Normen und Berufungsinstanzen.
Der Grad der Kultur bemißt sich nach der Genauigkeit der Normen. Wo sie gering ist, ordnen sie das Leben nur im Groben; wo sie groß ist, durchdringen sie bis ins einzelne die Ausübung aller Lebensfunktionen.

Niemand kann sich dem Eindruck entziehen, daß in Europa seit Jahren seltsame Dinge vor sich gehen. Als greifbares Beispiel möchte ich gewisse politische Bewegungen wie den Syndikalismus und den Faschismus nennen. Man sage nicht, daß sie seltsam erscheinen, einfach weil sie neu sind. Die Begeisterung für das Neue ist dem Europäer in solchem Maße eingeboren, daß er sich das bewegteste von allen historischen Schicksalen bereitet hat. Wenn also diese neuen Begebenheiten sonderbar anmuten, ist es nicht, weil sie neu, sondern weil sie höchst befremdlich geartet sind. Unter den Marken des Syndikalismus und Faschismus erscheint zum erstenmal in Europa ein Menschentypus, der darauf verzichtet, Gründe anzugeben und recht zu haben, der sich schlechtweg entschlossen zeigt, seine Meinung durchzusetzen. Das ist neu: das Recht darauf, nicht recht zu haben, Grundlosigkeit als Grund. Die neue Einstellung der Masse manifestiert sich nach meiner Meinung am sinnfälligsten in ihrem Anspruch, die Gesellschaft zu führen, ohne dazu fähig zu sein. Aber wenn die Struktur der neuen Seele auch nirgends so grob und unverhüllt zutage tritt wie in ihrem politischen Gebaren, der Schlüssel liegt doch in ihrer geistigen Absperrung. Der durchschnittliche Mensch entdeckt "Gedanken" in sich, aber er kann nicht denken. Er ahnt nicht einmal, wie scharf und rein die Luft ist, in der Gedanken leben. Er will "meinen", aber er will die Bedingungen und Voraussetzungen alles Meinens nicht anerkennen. Darum sind seine Gedanken in Wahrheit nur Triebe in logischer Verkleidung.

Man ist nur dann im Besitz einer Idee, wenn man im Besitz ihrer Gründe zu sein glaubt, wenn man demnach an Begründbarkeit überhaupt, an die Existenz eines Reiches einsichtiger Wahrheiten glaubt. Es gibt kein Denken noch Meinen, das nicht an eine solche Instanz appelliert, sich ihr beugt, ihren Kodex und Wahrspruch anerkennt und also die überlegenste Form menschlicher Beziehungen in dem Zwiegespräch sieht, in dem die Vernunftgründe unserer Gedanken erwogen werden. Aber der Massenmensch wäre verloren, wenn er sich in Diskussionen einließe; instinktiv schreckt er zurück vor der Nötigung, diese höchste objektive Instanz anzuerkennen. Das Neueste in Europa ist es daher, "mit den Diskussionen Schluß zu machen", und man verabscheut jede Form geistigen Verkehrs, die, vom Gespräch über das Parlament bis zur Wissenschaft, ihrem Wesen nach Ehrfurcht vor objektiven Normen voraussetzt. Das heißt, man verzichtet auf ein kultiviertes Zusammenleben, das ein Zusammenleben unter Normen ist, und fällt in eine barbarische Gemeinschaft zurück. Der Massenmensch verachtet alle normalen Zwischenstufen und schreitet unmittelbar zur Durchsetzung seiner Wünsche. Die Unzugänglichkeit seiner Seele, die ihn, wie wir sagen, anstachelt, sich in alle öffentlichen Angelegenheiten zu mischen, führte ihn auch unausweichlich zu einem einzigen Interventionsverfahren: der "direkten Aktion".

Wenn man später einmal die Anfänge unserer Zeit zu rekonstruieren versucht, wird man finden, daß die ersten Takte ihrer eigentümlichen Melodie um 1900 bei jenen syndikalistischen und realistischen Gruppen in Frankreich erklangen, die das Wort und die Sache der action directe erfanden. Der Mensch hat immer wieder seine Zuflucht zur Gewalt genommen; zuweilen war dieser Rekurs schlechthin ein Verbrechen und geht uns nichts an. Aber zuweilen war die Gewalt das Mittel, zu dem er griff, wenn vorher alle anderen versagt hatten. Man mag es beklagen, daß die menschliche Natur gelegentlich zu Gewalttaten führt; aber sind sie nicht im Grunde die schönste Ehrenbezeigung vor Vernunft und Gerechtigkeit? Denn was ist Gewalt anderes als Vernunft, die verzweifelt; als ultima ratio? Törichterweise ist diese Wendung, die doch die vorangegangene Unterwerfung der Gewalt unter die Norm der Vernunft sehr gut veranschaulicht, meist ironisch verstanden worden. Zivilisation ist der Versuch, die Gewalt zur ultima ratio zu machen. Das wird uns jetzt nur allzu klar, denn die direkte Aktion dreht die Ordnung um und proklamiert die Gewalt als prima ratio, genauer als unica ratio. Sie ist die Norm, die jede Norm aufhebt, die alle Zwischenglieder zwischen unserem Vorsatz und seiner Durchführung ausschaltet. Sie ist die Magna Charta der Barbarei.

Wir erinnern daran, daß die Masse, sooft sie aus diesem oder jenem Grund handelnd in das öffentliche Leben eingriff, es in Form der direkten Aktion getan hat, die also immer die natürliche Art des Vorgehens für sie war. Und die These dieses Buches wird kräftig durch die offenkundige Tatsache gestützt, daß gerade jetzt, da die Führung des öffentlichen Lebens durch die Massen aus einem zufälligen und gelegentlichen zum gewöhnlichen Zustand geworden ist, die direkte Aktion von Rechts wegen und als anerkannte Norm auf der Szene erscheint.

Die neue Ordnung, welche die vermittelnden Instanzen unterdrückt, ergreift schon das ganze Gemeinschaftsleben. Der gesellige Verkehr verzichtet auf die gute Erziehung. Literatur als direkte Aktion besteht aus Schmähungen. Die Beziehungen zwischen den Geschlechtern vereinfachen ihre Präliminarien.

Verhandlungen, Normen, Höflichkeit, Rücksichten, Gerechtigkeit, Vernunft! Warum erfand man das alles? Wozu der ganze Umstand? All das läßt sich in dem Wort der Zivilisation zusammenfassen, das durch den Begriff des civis, des Bürgers, hindurch seinen Ursprung enthüllt. Es dient dazu, die civitas, die Gemeinschaft, das Zusammenleben, zu ermöglichen. Wenn wir in diese Hilfsmittel der Zivilisation hineinleuchten, finden wir darum in allen den gleichen Kern. Sie alle bekunden den ursprünglichen und fortwirkenden Wunsch jedes Individuums, mit allen übrigen zu rechnen. Zivilisation ist in erster Linie Wille zur Gemeinschaft. Man ist so unzivilisiert und barbarisch, wie man rücksichtslos gegen seinen Nächsten ist. Die Barbarei ist die Neigung zur Auflösung der Gesellschaft. Darum waren alle barbarischen Epochen Zeiten der menschlichen Vereinzelung, eines Gewimmels kleinster, getrennter und feindlicher Gruppen.

Die politische Form, die den höchsten Willen zur Gemeinschaft verkörpert hat, ist die liberale Demokratie. Sie zeigt die Bereitschaft zur Anerkennung des Mitmenschen in vollster Entfaltung und ist das Urbild der indirekten Aktion. Der Liberalismus ist das politische Rechtsprinzip, nach welchem die öffentliche Gewalt, obgleich sie allmächtig ist, sich selbst begrenzt und, sei es auch auf ihre eigenen Kosten, in dem Staat, den sie beherrscht, eine Stelle für jene frei läßt, die anders denken und fühlen als sie, das heißt als die Starken, als die Majorität. Der Liberalismus – wir dürfen das heute nicht vergessen – ist die äußerste Großmut; er ist das Recht, das die Majorität der Minorität einräumt, und darum die edelste Losung, die auf dem Planeten erklungen ist. Er verkündet den Entschluß, mit dem Feind, mehr noch: mit dem schwachen Feind zusammenzuleben. Die Wahrscheinlichkeit war gering, daß die Menschheit eine so schöne, geistreiche, halsbrecherische und widernatürliche Sache erfinden würde. So ist es kein Wunder, wenn nun diese selbe Menschheit entschlossen scheint, sie aufzugeben. Ihre Ausübung ist allzu schwierig und verwickelt, als daß sie auf dieser Erde Wurzel schlagen könnte.

Mit dem Feind zusammenleben! Mit der Opposition regieren! Ist eine solche Humanität nicht fast schon unbegreiflich? Nichts verrät die Beschaffenheit der Gegenwart schonungsloser als die Tatsache, daß die Zahl der Länder, wo es eine Opposition gibt, immer mehr abnimmt. Fast überall lastet eine gleichförmige Masse auf der Staatsgewalt und erdrückt jede oppositionelle Gruppe. Die Masse – wer würde es denken beim Anblick ihrer Dichte und Zahl – wünscht keine Gemeinschaft mit dem, was nicht zu ihr gehört; sie hat einen tödlichen Haß auf alles, was nicht zu ihr gehört.

Eugen Gürster: Dummheit als Ausdruck einer falschen Totalität

[...]

Die Torheit ist monistischer Natur. Sie visiert Mensch und Ding aus einem Sehwinkel an, sie will Ereignisse und Begebenheiten aus einer Ursache und die menschliche Natur aus einem Grundantrieb – unter bewußter, aber auch unbewußter Vernachlässigung anderer Motive – am liebsten "ein für allemal" erklären. Wenn der große La Rochefoucauld in Übereinstimmung mit allen professionellen Enthüllern und Anklägern kategorisch erklärt: "Helden sind aus demselben Holz geschnitzt wie andere Menschen", so reagiert Jacob Burckhardt mit einem kurzen "Faktisch falsch" und besteht darauf, daß auch große Handlungen nicht immer aus klaren Ansichten zu entspringen brauchen: "Sie können halb planlos geschehen und doch nur einem großen Menschen möglich sein." Er erwähnt ausdrücklich die Gefahr, "zu tief in das eigene Selbst blicken zu wollen", und mag dabei daran gedacht haben, daß es von dem durch ein optimistisches oder pessimistisches Grundvorurteil verzerrten Willen des Betrachters abhängt, ob er nicht bei diesem Fischzug im eigenen Innern eine Torheit an das Tageslicht befördert.

In diesem Sinne kann Pessimismus um jeden Preis nicht weniger eine Attitüde der Dummheit sein als der unentwegte Optimismus. Beides sind erstarrte Positionen, kraft deren man sich der geistigen Pflicht entzieht, in jedem Lebensmoment auf Grund seiner immer einmaligen Bedingungen sich neu zu orientieren.

In diesem Sinne wird jedes "geschlossene System" schon dadurch zu einem Samenbeet der Dummheit, weil es uns zu der Illusion verführt, daß man sich der täglich neue Rätsel, neue Möglichkeiten aufwerfenden Lebensfülle überhaupt durch ein System und noch dazu durch ein "geschlossenes" bemächtigen dürfe und könne.

Der entschlossene Pessimismus und der entschlossene Optimismus haben sich vor allem dazu "entschlossen", alle jene Lebenselemente zu ignorieren, die sich nicht mit dem von vornherein akzeptierten Gefühls- oder Gedankenschema in Einklang bringen lassen. Sich der unübersehbaren, nie völlig zu deutenden Fülle der Lebenserscheinungen gegenüber in einer mehr oder minder eingefrorenen Gefühlsattitüde behaupten zu wollen, bekundet nicht weniger den Willen zur Torheit als jene Geistesattitüde, mittels deren man das nach allen Richtungen unübersehbar flutende Meer des Seins in die Schutzmauern eines Systems einschließen möchte.

Vielleicht ist der Optimist dem Sturmzentrum der Dummheit näher als der Pessimist, weil er ein Grundelement des Seins, das Böse oder – konkreter ausgedrückt – den Zerstörungskoeffizienten des Lebens, so lange ignoriert, bis er ihn am eigenen Leibe zu spüren bekommt. Durch die andere Entschlossenheit aber, alle Erscheinungsformen des Lebens und der Gesellschaft unzulänglich oder gar vernichtenswert zu finden, verstellt man sich die Möglichkeit, das Leben zu begreifen, auf ebenso törichte Weise wie durch den natürlichen, aber leichtfertigen Hang, überall um jeden Preis das Gute zu entdecken.

Nicht nur in der Verengung, sondern auch in der Vereinfachung unserer menschlichen Perspektive wird die Dummheit wirksam. In Wahrheit ist der Mensch in eine immer prekäre Mitte zwischen beiden Positionen gestellt, er ist zu einem moralischen Balanceakt verurteilt und gleicht dem Akrobaten, der sich auf einer dem Drahtseil aufliegenden Stange jeden Moment neu im Gleichgewicht halten muß, wenn er nicht abstürzen will. Eine junge Akrobatin hat mir anschaulich geschildert, wie schwer es manchmal sei, der Versuchung, sich in die Tiefe fallen zu lassen, nicht nachzugeben. Diese Verführung erweise sich zuweilen stärker als der Gedanke an die Folgen für Leben und Gesundheit.

Zum Rätsel der Dummheit gehört es, daß das "Tat twam asi", die Urempfindung der Leidensverbundenheit aller Wesen, durch Betörung abgestumpft und schließlich ausgeschaltet werden kann. Man spürt die Tiefendimension dieser Dummheit der Verdrängung, wenn man wieder einmal die berühmte Stelle aus dem "Kaufmann von Venedig" liest, in der Shylock über diese animalische und geistige Wesensverwandtschaft aller Geschöpfe alltäglich banale und doch nie völlig in unser Wesen aufgenommene Gedanken äußert:

Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?
Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht?
Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht?
Und wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht rächen?

Wer sich im Sinne Rousseaus in den durch eine törichte Vereinfachung ermöglichten Glauben verrannt hat, daß der natürliche Mensch "gut" ist, wird sich leicht einreden lassen, daß dieser natürliche "normale" Zustand der Güte und Friedlichkeit, wenn es denn sein muß, auch auf gewaltsamem Wege wiederhergestellt werden müsse und daß es genüge, alle bestehenden Einrichtungen zu zerstören, um an einem Nullpunkt auf einer Trümmerlandschaft den natürlich guten Menschen neu aufblühen zu sehen. Erst so wird eine bestimmte Art von Ideologendummheit möglich, die zur Zerstörung unserer Welt das Entscheidende beigetragen hat.

Der russische Schriftsteller Alexander Herzen fühlte sich von der Hoffnung auf die Verwirklichung eines "Himmels auf Erden" so überwältigt, daß er sich zu einer Verneinung des Körpers verstieg, weil der Körper bei der Verwirklichung unserer geistigen Idole störe. Man ist in solcher Stimmung sogar bereit, den Menschen zu verstümmeln, auf daß das Idol lebe. Wo immer eine auf Totalität angelegte Idee verwirklicht werden soll, da hat die alte Göttin Dummheit den Mut zu solchen Verstümmelungen befeuert. Sich mit einem ideologisch oder gefühlsmäßig verstümmelten Leben zu begnügen, gehört zu den elementaren Attitüden der Dummheit. Wer sich dem Leben von vornherein "in der Theorie" nähert, hat bereits ein verstümmeltes Leben im Sinn, das zu seinen Theorien passen muß. "Rußland kannten sie nicht", sagt Herzen von seinen jungen Nachfolgern in der russischen Intelligentsia, sie näherten sich ihm in der Theorie durch Lektüre. "Fiat iustitia – fiat stultitia – pereat mundus."

Die Gegenposition: "Ein Mensch ist dem anderen ein Wolf" aber lädt dadurch, daß sie die bloße Möglichkeit liebender Verbundenheit leugnet, zu einer Gegendummheit ein. Man denkt alle in der menschlichen Geschichte wie im Leben des Einzelnen belegbaren Fälle von Güte und uneigennütziger Liebe aus der Wirklichkeit hinaus und glaubt sich dann berechtigt, den Hinabstieg ins zoologisch Brutale und Grausame ohne weitere Behinderung durch geistige und moralische Einwände zu vollziehen. Erst so beschafft man sich die geistige Legitimation zu dem unser Selbstbewußtsein befeuernden Gefühl, den "anderen" zu verabscheuen, abzulehnen und unter Umständen zu vernichten. Ob Nietzsche nach den Erfahrungen von 1914 und 1933 noch stolz darauf wäre, daß er entschiedener als ein Denker vor ihm "den Menschen in die Tierreihe zurückgestellt" hat? Jedenfalls wäre ohne Nietzsches resolute Rebiologisierung des Menschen jene gefährliche Halbwahrheit Oswald Spenglers nicht möglich geworden: "Der Mensch ist ein Raubtier", das doch der in seinem Werk Der Untergang des Abendlandes entwickelten Geschichtsvision zugrunde liegt.

Erst der als Raubtier entdeckte Mensch konnte die den Gedanken einer menschlichen Leidensgemeinschaft radikal negierenden "totalen" Kriege führen, die die konkret gewordene Dummheit der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ausmachen.

Das Verführerische einer solchen alle menschlichen Erfahrungen simplifizierenden Torheit beruht darauf, daß nunmehr alles an Gewalttat, an Grausamkeit erlaubt erscheint, was der Sicherung der eigenen, zur Zentralinstanz des Lebens aufgeblähten Art, der Befriedigung ihres Machtstrebens dient. Auch die Dummheiten genialer Menschen dienen einer unerlaubten Vereinfachung, einer "Abblendung". Vorschnell wird Gewaltsamkeit und Grausamkeit als Uranlage des Menschen entdeckt, ihrer Befriedigung steht nichts mehr im Wege. Alles, was der Mensch an Ideen gedacht hat, alle Ideale, an die er geglaubt hat, die Hoffnungen und geistigen Sehnsüchte von vielen Generationen, werden jetzt als Verdeckungen und Verkleidungen und Selbsttäuschungen "entlarvt", hinter denen der Kenner, der im Grunde ein armer "Verkenner" ist, die Urbestialität des Menschen zu entdecken glaubt.

Jede Zeit hat die Dummheit, die sie verdient und die sie im Grunde haben will, und auch ihre großen Männer scheinen nicht abgeneigt, auf das Stichwort der Zeit zu hören und der Generaldummheit ihrer Zeit die geistigen Argumente oder die dichterische Verklärung zu liefern. Wenn man auch nur einen Teil der allumfassenden Wahrheit der Existenz oder der konkreten Wirklichkeit wegdenkt, so landet man mit Sicherheit bei einer sich zur Totalwahrheit aufblähenden Halbwahrheit, die man manipulieren und in den Dienst der in der Zeit gerade grassierenden Leidenschaften stellen kann. Es braucht dann nur eine solche durch simplifizierende Dummheit zustande gekommene Halbwahrheit unter die Menge geworfen zu werden, und es werden die Denker und Dichter auftauchen, die sich von ihr zu Spezialtorheiten verleiten lassen. Kaum war das nationalsozialistische Teufels-Evangelium von der Alleinberechtigung, ja der Vollkommenheit der "eigenen Art" durch einen rücksichtslos eingesetzten Machtapparat gestützt und zur alleinberechtigten Grundidee der staatlichen Gemeinschaft proklamiert worden, da waren auch schon Denker zur Stelle, die jene Dummheit als die große Idee des Jahrhunderts zu feiern bereit waren.

Ein klassischer Philologe, der sein Leben lang ein liberal denkender Mann gewesen war, ein Mann, der die Hymnen Pindars übersetzt und Aufsätze über die Entwicklung der Freiheitsidee in der klassischen Periode der griechischen Literatur geschrieben hatte, beendete damals einen Brief an mich mit dem lapidaren Satz: "Es gibt heute keine Reservate mehr, nicht einmal mehr private Angelegenheiten." Und ein Stuttgarter Mediziner veröffentlichte einen Aufsatz, in dem er, unter dem Druck der Betörung durch die Rassenlehre, entdeckte, daß der "jüdische Organismus" spezifisch jüdische Krankheiten entwickle: "Wir kennen zwei Krankheiten, die ausschließlich hereditär, in jüdischen Familien oder bei Abkömmlingen von Juden auftreten; es handelt sich dabei um Speicherungskrankheiten bestimmter Gewebesysteme; selbst in der Krankheit kommt noch die Raffgier ihrer körperlichen Organe zum Ausdruck." Der Aufsatz schloß hoffnungsfreudig: "Man bedenke, was es in der letzten Konsequenz für uns bedeuten würde, den Nichtarier mit dem Reagenzglas festlegen zu können. Da hilft dann keine Tarnung mehr, keine Taufe, kein Namenswechsel, kein Staatsbürgerrecht, ja nicht einmal eine wohlgelungene Nasenoperation."

Die Auflage der oben genannten Zeitschrift betrug über hunderttausend, sie wurde als ständige Beilage sämtlichen deutschen medizinischen Zeitschriften vom "Deutschen Ärzteblatt" bis zum "Drogenhändler" beigelegt. Tausende von Medizinstudenten wurden mit solchen von Wahnwitz geprägten Vorstellungen bekannt gemacht. Wir wissen nicht, wie die Empfänger reagiert haben, fest steht nur, daß solche Gedankengänge zwölf Jahre lang verkündet werden konnten und daß Generationen von Medizinern in ihrem Geiste erzogen worden wären, wenn das tausendjährige Reich nicht schließlich durch den "Zufall" äußerer Gewalt untergegangen wäre. Die Dummheit hat sich nicht selbst ad absurdum geführt, sie hat vielmehr ein zähes Beharrungsvermögen bewiesen, und es fanden sich überall genügend Helfershelfer, um später aus so unergründlichen törichten Scheinerkenntnissen die fürchterlichsten Konsequenzen zu ziehen.

Der Musikkritiker aber, der treu und bieder seiner liberalen Zeitung gedient und für Gustav Mahler geschwärmt hatte, war plötzlich zu entdecken bereit, daß ein Dirigent wie Bruno Walter selbstverständlich "aus seiner, dem deutschen Wesen so artfremden Veranlagung heraus" Wagners "Ring des Nibelungen" gar nicht aus dem Geist des Komponisten heraus dirigieren könne.

Schon hier sei darauf hingewiesen, daß das Verlangen, die innere Verantwortung auf äußere Instanzen abzuschieben, kurzum, den Sinn des Lebens von außen zu beziehen, das Anzeichen einer spezifischen Dummheit ist: Die Ausweichhaltung von Naturen, die nichts verantworten, an nichts schuld sein wollen, zum Zentrum des eigenen Wesens nie hinfinden können und darum danach verlangen, aus einer inneren Selbstverachtung heraus sich selbst irgendwohin abwälzen zu können. Diese Sorte Dummheit darf sich in sogenannten großen Zeiten ans Tageslicht vorwagen und sich dort breitmachen. Ihre Vertreter sind es, die in Kriegen und Revolutionen gern und immer vorschnell "das Pochen der Weltgeschichte" vernehmen.

Das ganze Leben schien dadurch vereinfacht worden zu sein, daß man irgendeinen Teil der Lebensbeziehungen zum Ganzen aufblähte und verklärte. Den Teil für das Ganze zu nehmen und diese Verengung bewußt zu bejahen, darin liegt bereits eine Urmanifestation der Dummheit. Nicht nur steht jedes Lebewesen unter dem beständigen Druck des Willens zur Macht, zur falschen "Ganzheit" und ist darum der Verführung ausgesetzt, nicht nur sich selbst, eine Partikel, als Ganzes mißzuverstehen und aufzublähen, sondern jeder unserer Triebe: der Sexualtrieb, die Eitelkeit, die Gier in jeder ihrer vielen Gestalten, ist von dem unersättlichen Hunger erfüllt, sich zum "Ganzen" aufzuwerfen. Die Dummheit bemächtigt sich solchen Hungers, solcher Unersättlichkeit und stellt die für die "Abblendung" nötigen Kulissen mit bereitwilliger Eile auf, so daß wir "verblendet" nur mehr das Eine wollen: die rasche und totale Erfüllung eines Wunsches, eines animalischen oder emotionellen, aber auch eines geistigen Impulses, durch den sich gebieterisch, aber trügerisch das Leben selbst vernehmbar zu machen scheint.

Ist es der Dummheit dann gelungen, uns "abzublenden" und zur rücksichtslosen Verwirklichung eines Wunschbildes, zur mehr oder weniger brutalen Befriedigung eines Triebes oder eines Instinktes zu verführen, dann baut sie ihre zu unserer Verblendung aufgebauten Kulissen rasch wieder ab und läßt uns in einer Trümmerlandschaft allein, so daß wir später kaum mehr begreifen, wie uns eine spezielle Begierde oder ein partieller Wunsch verführen konnte, unser Leben auf die eine Karte einer Teilbefriedigung zu setzen.

Honoré de Balzac hat einmal die Liebe eine "immense Verwüstung der Vernunft" genannt. Kein anderer Gefühlsimpuls besitzt eine ähnliche Kraft, sich als Repräsentant des Lebens selbst aufzudrängen, keine andere Leidenschaft vermag die Bedenken unseres Verstandes und die Einwände unseres Gewissens so zu überschwemmen und zu betäuben, daß sie sich nur noch schwach vernehmbar machen können. Balzacs Romanwerk ist reich an Gestalten, die die Gefangenen eines einzigen ihre Seele wie ein Unkraut überwuchernden Wunsches, einer einzigen Leidenschaft geworden sind, die sich für das Ganze des Lebens ausgeben konnte. Fast immer stellt sich heraus, daß diese Gestalten, die wie "Cousine Bette", die ihr ganzes Leben in den Dienst ihres heftigen Wunsches nach Genugtuung für ihre soziale Zurücksetzung gestellt hat, oder der Baron Hulot desselben Romans, der sein ganzes Ich zur Funktion des Phallus reduziert, trotz einem äußerlich bewegten Leben eine arme und kümmerliche Existenz führen, sozusagen das Fragment eines Lebens, das infolge einer in die Tiefe ihrer Person eingenisteten Dummheit auf die Erfüllung eines Wunsches oder eines Instinktes reduziert ist. Ein Leben dieser Art wird der Farbigkeit und wechselnden Buntheit der Lebenskulissen zum Trotz schon darum ein von Bitterkeit durchtränktes Leben sein, weil sich solche Gestalten durch die Verengung des inneren Blicks auf eine einzige Möglichkeit gegen die Leiden immunisiert und abgestumpft haben, die sie durch ihre Leidenschaft oder ihre "fixe Idee" über die in ihrem Umkreis lebenden Menschen verhängen. Sie haben sich durch die Reduktion des Lebensgefühls auf einen einzigen Wunsch oder Impuls aus dem auch für sie unentbehrlichen Kontakt mit ihren Mitmenschen gelöst. Auch hier erscheint die Dummheit als Ausdruck einer falschen Totalität. Man lebt befeuert und beflügelt von einem allumfassenden Lebensgefühl oder irgendeinem alle Bedenken wegschwemmenden Enthusiasmus oder unter dem Drucke einer Idee in einer Phantomwelt, in der man für den Leidenscharakter der Welt erblindet und vor allem für die Leiden und Zerstörungen, die man durch Abblendung auf eine physische oder geistige Leidenschaft, ein enthusiastisches Gefühl in die Welt hereinruft.

Die Hingabe an eine falsche Totalität, die sich als das Ganze des Seins ausgibt, macht uns zu Halbmenschen, zu dummen Funktionären eines einzigen Impulses. Baron Hulot in dem oben erwähnten Roman von Balzac gesteht sich selbst in einem bestimmten Moment, daß er, ein auf ganz andere, reichere, wertvollere Möglichkeiten angelegter Mensch, geradezu zum Funktionär eines einzigen Triebes, des sexuellen, geworden sei. Er sagt es selbst, und daß er es ohne Reue sagen kann, als wäre er ein dem Gravitationsgesetz unterworfener Stein, macht seine spezielle Dummheit aus. Bei dem Versuch, seiner seelisch und körperlich durch seine Passion ruinierten Frau sich und sein Verhalten zu erklären, beschreibt er seine Situation, als spräche er von einem fremden Menschen: "Es ist furchtbar, daß die Befriedigung eines Lasters mehr Geld verschlingt als die Fürsorge für meine Familie ... Aber so etwas ist unwiderstehlich ... Ich könnte tausendmal versprechen, nie mehr zu jener abscheulichen Frauensperson zurückzukehren, aber wenn sie mir auch nur zwei Zeilen schriebe, so würde ich durchs Feuer für sie gehen wie seinerzeit für Napoleon."

Balzac, ein Meister in der Gestaltung solcher, an selbstgewählter Verengung auf eine Möglichkeit zugrunde gehender Gestalten, gibt ein paar Seiten vorher eine treffende Darstellung des Unterschieds zwischen einem "Wilden" und einem sogenannten "zivilisierten Menschen". Bei diesem vermöchten die Ideen und Ideale noch "in das Herz hinabzusteigen", das durch sie vielleicht umgeformt werde. Ein solcher Mensch sei reicher und umfassender geworden, er habe tausend Interessen, Gefühle verschiedenster Art können sich bei ihm vernehmlich machen, während der Kopf des "Wilden", des "Dummen" nur noch für eine Idee Platz habe, der er sich völlig ergibt. "Ein Parfumeur, dessen Kopf von einer einzigen Idee erfüllt ist, ist ein mächtigerer Mann als ein Mann von Geist, der zahlreiche Ideen in seinen Kopf eintreten läßt", sagt Balzac in dem Roman Les Chouans.

Ein eigensinniges Kind ist Erwachsenen dadurch immer überlegen, daß es auf der unbedingten sofortigen Erfüllung irgendeines törichten Wunsches besteht, der seine Phantasie völlig beherrscht. Nicht nur der Leser eines einzigen Buches ist zu fürchten, weil er einem Teilaspekt der Bildung zum Opfer gefallen ist, sondern auch der Eintreiber eines einzigen Wunsches oder einer einzigen geistigen oder moralischen Forderung, die ihm die Fülle des Lebens verstellt und ihn darum verdummt. Henrik Ibsen hat in dem Schauspiel Die Wildente in der Gestalt des Gregor Werle das Urbild des betörten, verderbenstiftenden Idealisten gestaltet.

Friedrich Schiller hat für die Gestalt seines Franz Moor das Wort "Mißmensch" geprägt, weil diesem der Haß auf seinen von Natur aus besser weggekommenen Bruder die ganze Sphäre menschlicher Verpflichtungen "verstellt" und verdunkelt, das heißt unsichtbar macht. Erst solcher blinder Haß und solche selbstgewollte, also selbstverschuldete Betäubung machte Franz Moor zum Monstrum: er handelt und scheitert als die haßerstarrte, auf eine einzige törichte Empfindung reduzierte Gegenfigur zu seinem Bruder.
Die Macht der Dummheit beruht auf der stumpfen Hartnäckigkeit, mit der sie irgendeinen begrenzten Wunsch durchzusetzen oder an einer einzigen einmal ergriffenen Idee gegen alle Einwände der Vernunft oder des Gewissens festzuhalten entschlossen ist. Man denke da an den Patriarchen in Lessings Nathan dem Weisen, dem ein wohlmeinender Tempelherr alle möglichen Argumente unterbreitet, um das Leben des weisen Nathan zu retten, und der sein Ohr aus dummer Überzeugtheit von vornherein verschließt und nur noch die stereotype Antwort bereit hat: "Tut nichts, der Jude wird verbrannt."

Auf solche Typen paßt ein Satz von Georg Christoph Lichtenberg: "Die meisten Glaubenslehrer verteidigen ihre Sätze nicht, weil sie von der Wahrheit derselben überzeugt sind, sondern weil sie diese Wahrheit einmal behauptet haben." Auch eine Wahrheit kann "einfrieren" und mumifizieren, wenn der Mensch, der für sie eintritt, das vitale persönliche Verhältnis zu ihr eingebüßt hat. Auch Wahrheiten können "dumm" werden, wenn der Erlebnisstrom vertrocknet, der sie mit denen verbindet, die für sie eintreten. Wie oft kommt es vor, daß Menschen einander Wahrheiten an den Kopf werfen, die im Grunde nur noch Scheingebilde sind, verblaßte, von der Torheit gezeichnete Schemen, die nur zum Scheingebrauch bei Kampfgesprächen zu verwenden sind. Erst für solche Fälle gilt Nietzsches Wort, daß Überzeugungen ärgere Feinde der Wahrheit sein können als Lügen.

Selbst ursprünglich echt erlebte Ideale können zu lebensfeindlichen Dummheiten erstarren, wenn die sogenannten Idealisten, von nichts als einem stumpfen Beharrungswillen erfüllt, die Trägheit ihrer auf einem Geleise festgefahrenen Phantasie nicht mehr zu überwinden vermögen.

Vor Jahren hatte Peter Altenberg in einem Gespräch solchen Idealisten die Diagnose gestellt: "Wenige leben einer Idee zuliebe, die meisten verrennen sich aus Ehrgeiz und Größenwahn vorzeitig irgendwohin und kämpfen dann unerbittlich, um sich selbst einen Idealismus zu beweisen, den sie gar nicht haben."

Die Dummheit der Erstarrung auf ein Scheinziel des Geistes oder des Gefühls läßt an jenen Offizier in Strindbergs Traumspiel denken, der tagelang mit einem längst verwelkten Blumenstrauß an der Bühnentüre auf eine von ihm scheinbar geliebte Schauspielerin wartete, ohne sich vergewissert zu haben, ob die Angebetete noch in ihrer Garderobe sei oder überhaupt noch dem Theater angehöre, vor dem er in phantasieloser Versteinerung eines früher einmal lebendigen Gefühls wartet. Es entbehrt nicht des Symbolwerts, daß er gar nicht bemerkt hat, daß die Bühnentür, vor der er so lange auf und ab gegangen ist, schon vor längerer Zeit zugemauert worden war.

Die natürliche Beziehung zwischen einem Wunsch und dem Menschen, der ihn hegt, wird dann ebenso töricht ins Gegenteil pervertiert wie die Beziehung zwischen einer Idee oder einem Ideal und dem, dessen Geist sich ihnen eröffnet hat. Ideen und Idealen ist ein rasant-blinder Drang zu ihrer totalen Verwirklichung zu eigen, der sich der Menschen bedient, die sich ihnen mit Haut und Haar verschrieben haben. Statt daß der Mensch einen Wunsch hat, eine Idee oder ein Ideal, sind es dann die Wünsche und Ideen oder Ideale, die den Menschen "haben", ihn efeuhaft überwuchern und durch ihn ohne Rücksicht auf die in ihrem Dienst sich ergebenden Zerstörungen ihre unbedingte Verwirklichung betreiben.

Wie viele Scheinidealisten haben auf die Verwirklichung von Idealen gewartet (und Gut und Blut an ihre Durchsetzung verschwendet), ohne sich zu vergewissern, ob die Zeit für ihre Realisierung nicht vielleicht schon abgelaufen sei. Betörte Idealisten verweigern sich der Einsicht, daß das Schicksal gewisse Türen längst zugemauert hat.

Jean Paul: Das Lob der Dumheit

Euch, ihr neun Musen, bei denen jeder Dichter um die Narheit bettelt, welche ihm sein Nervensaft, sein Wein oder seine Geliebte in zu kleinem Masse erteilt, euch ruff’ ich nicht an, mich zu meinem Lobe zu begeistern: denn ich hasse, wie jeder Gelerte von ächter Antikheit alles Schöne und Deutliche, und schäzze den Unsin am meisten, der auf gelerten Füssen daherstolpert. Aber euch ruff’ ich an, geerte und mächtige Dumköpfe von A bis Z herab, die ihr meine ächten Söne, und nur darum Menschen seid, um die andern von der Aufklärung zu erlösen; die ihr mich durch die Kunst, die Dumheit mit der Weisheit zu nären, noch übertreffet, und eure Ere blos deswegen mit einem Anschein von Vernunft beflekt, um die meinige zu erhalten; die ihr aus jedem Feinde der Dumheit einen Feind Gottes macht, und bald das Unverständliche durch unverständliche Worte demonstrirt, bald das Widersprechende durch theologische Beweise beweiset – – Befeuert mich iezt zu meinem Lobe, wie ich euch oft zu dem eurigen befeuert habe, giest in mich alle den Stolz aus, der nirgends als in euren Verstandleren Köpfen Raum genug findet und lert mich eure Kunst, heilig und tiefsinnig zu scheinen, one es mer als ihr zu sein!!

Wenn die Achtung, die uns andre erzeigen, uns mit einer noch grössern für uns selbst erfült; wenn sich jeder Nar unter den Narren noch schäzzenswerter findet und jeder Dumme durch seine Freunde desto mer sein eigner wird: wie ser mus ich mich vereren, wenn ich die Menge derer überschaue, die mich vereren, und wie leicht mus mich dieser Stolz fähig machen, ihm noch merere Narung zu verschaffen! Meine vorige Anruffung gleicht also den gewönlichen in Gedichten nicht: denn sie ist nicht unnötig. Eben durch sie stelt’ ich mir die Menge, die Macht und den Rum aller meiner Vererer vor, und sezte mich in das Feuer, das ich nötig habe, um andre für mich warm zu machen.

Da ich kein Gedicht verfertige, d.h. niemand grillenm ässig in den Schlaf singen wil, und da ich so weit gekommen bin, daß ich anfangen kan, so wil ich anfangen – und wir wollen also, meine Freunde, mit einander, one fernere Weitläuftigkeit, dem Beweis unsrer Sache näher kommen und erstlich den Nuzzen im Algemeinen betrachten, den ich den Mensche[n] verschaffe, und dan unsre Aufmerksamkeit auf die Vorteile richten, die jeder besondre Stand der Menschen mir zu danken hat; wo ich zugleich zur Vergrösserung meines Lobs der Ere, die mir durch den Zusammenhang mit sovielen gar berümten, gelerten und frommen Leuten zu Teil wird, Meldung zu tun nicht ermangeln werde. – Ich gebe das, was die Ärzte selten geben, aber wol mit eigner Geschiklichkeit und besondrer Methode nemen können – die Gesundheit. Dieses könt’ ich so demonstriren, wie man sonst zu demonstriren pflegt. Ich könte nämlich aus der Abhängigkeit des Körpers von der Sele, und umgekert, ser leicht dartun, wie ser das Denken schwäche, und wie ser die Dumheit stärke; wie die, mit jeder Tätigkeit der Sele verbundnen, Bewegungen im Gehirn, den Nervensaft von andern Teilen des Körpers nach dem Kopfe zu reizen, und wie eben dadurch vielerlei Übel entstehen. Allein ich befürchte, des selenverderblichen Materialismi beschuldigt zu werden, wenn ich von dem Zusammenhange zwischen der Sele und dem Körper mer als nichts denke. Ich wil aber auf eine andre Art zeigen, daß die Dumheit die langgesuchte Universalmedizin gegen alle Krankheiten sei. Betrachtet den glüklichen Sterblichen, dessen Magen nie durch den Kopf an der Verdauung ist gehindert worden, und der seinen Nervensaft nie zur Befruchtung irgend eines Gedanken verschwendet hat – sein Körper ist das Bild der Gesundheit. Man sieht zwar auf seinem Gesichte kein Verzeichnis von tiefsinnigen Gedanken; allein eben darum auch keine Spuren der verwüstenden Sele. Er versteht die Kunst, zu hungern, zu essen und zu verdauen: denn sie ist seine einzige, wenigstens die einzige, an welcher seine Sele Anteil nimt. Sein Kopf ist keine Werkstätte der Gedanken; aber eben darum auch keine der Schmerzen. Er kent ienes Übel, die Hypochondrie, nicht, welche den Gelerten aller der Freuden beraubt, die er vorher zu verachten schien. Die Reizbarkeit seiner Nerven ist weder so klein, daß sie ihn gegen den Genus der sinlichen Vergnügungen gleichgültig macht, noch so gros, daß sie jede lebhafte Wollust in empfindliche Schmerzen verwandelt. Stellet neben dieses Bild das Bild des Weisen. Man sieht es ihm an, daß er eine Sele hat: denn es ist oft zweifelhaft, ob er einen Körper hat. Dieser Körper hat sich im beständigen Dienste des Geistes aufgerieben und scheint durch seine Abname sich der Unkörperlichkeit des Wesens zu nähern, das in ihm denkt. Das Gesicht wird von Runzeln durchschnitten, diesen Narben jedes Streiters gegen die Dumheit, und der Kopf, gleichsam schwer von vielem Wissen und angefült von den geraubten Kräften der übrigen Glieder, neigt sich gegen die Erde. Wenn der Weise spricht, so hört man ihn so wenig, daß man ihn allemal misverstehen mus. Dieienige Malzeit, die blos eine für seinen Körper ist, ist ihm die mühsamste Beschäftigung, und seinem Magen felt alles Feuer zum Kochen, weil es sich in seinem Kopfe befindet. Das Feuer seines Geistes, das, wie das Feuer der Vestalinnen, nie auslöscht, lekt nach und nach alle seine Säfte auf, und seine Sele und sein Körper überleben endlich gleichsam das Leben, so daß iene die Weisheit einer abgestorbnen Sele, und dieser die Magerheit eines abgestorbnen Körpers erhält.

Man sieht nun ein, wie ser ich die Gesundheit befördere; aber man sieht auch, wie undankbar dieienigen gegen mich sind, die meine Arbeit von dem Arzt zerstören lassen, oder ihm das danken, was er selbst mir danken mus. – Eine Ausschweifung, die eigentlich nur eine zu sein scheint, wird dem Vorigen neue Stärke und meiner Gestalt neuen Glanz verschaffen. – Man streitet schon lange über die in jedem Betrachte wichtige Frage: wie der Genus ienes bekanten Apfels die physische Ursache von den Krankheiten des menschlichen Körpers sein könne. Da es weder möglich noch theologisch war, diese Sache durch Gründe auszumachen: so muste man sich auf das Träumen legen. Allein es wurde auch dadurch nichts bewiesen und als war festgesezt, weil nicht alle Träumer einerlei geträumt hatten. Mir blos ist die Auflösung dieser theologischen Frage aufbehalten worden.

Der Baum des Erkentnisses des Bösen und Guten ist, wie die Benennung selbst anzeigt, die Fähigkeit zu denken, oder die Wissenschaften. Wenn nun gesagt wird, daß Eva von einem Apfel dieses Baums gegessen habe, so heist dies unfigürlich also: sie fieng an über das summum bonum, den Zankapfel aller Philosophen, nachzudenken und also die heidnische Philosophey zu treiben. Die Schlange, welche Evam zum Denken verfürte, mag dieienige gewesen sein, welche nachher das Bild der Pallas Polias auf der Akropolis zu Athen beschüzte. Dieses wird warscheinlich, wenn man mit dem heil. Bernhardo annimt, daß der Luzifer, oder diese Schlange auf den Berg des Erkentnisses geflohen sei. Diesen Berg nanten die blinden Heiden den Parnassus. Also das Denken, zu welchem die Menschen durch den Apollo, oder Asmodi, durch die Musen oder Teufel – welches im Grunde einerlei ist – sind verfürt worden, ist die Ursache von allen den Krankheiten, deren Anzal durch nichts als die Dumheit verringert wird. Diese Erfindungen liessen sich in einer Inauguraldisputazion zum Nuzzen aller lebenden Christen, mit aller üblichen Weitläuftigkeit ausfüren und mit allen den Zitazionen begleiten und verschönern, die ich hier auslasse, weil ich nicht gleich dieienigen finden kan, die sich nicht hieher schicken.

Folgendes wird den Einflus der Dumheit auf die Gesundheit noch deutlicher dartun. Warum sind die Tiere so gesund? weil sie noch weniger denken, als dieienigen Menschen, die sich am meisten mit ihnen beschäftigen. Warum die Wilden? weil sie noch im halben Stande der Unschuld leben, und, gleich andern heiligen Männern, die nach eben diesem Stande trachten, keine Gedanken haben. Warum die Mönche? weil sie immer beten, Messe lesen, predigen und desgleichen. – Ein dicker Bauch ist bei vielen eine Wirkung meines gütigen Einflusses; daher ist er einem gewissen Stande vorzüglich eigen; daher hat Shakespear mit Recht gesagt: volle Wänste pflegen lere Köpfe zu haben. Dieses sieht man auch an den unberümten Männern, die in berümten Ämtern stehen. Ihr Körper nimt zu, weil sie aufgehört haben, ihres Amts würdig zu sein, seitdem sie es bekommen haben, und weil sie alle die Verdienste verloren haben, die man an ihnen belont hat. In ihrem Amt, in welchem sie um alle den Verstand kommen, den sie in demselben brauchen, wird ihre Gehirnmasse so klein wie die eines Straussen, deren hundert erst eine Abendmalzeit für den Heliogabalus ausmachten; allein rechnet ihr dafür ihren Wachstum an – Fet nicht? Wer also in seinem Amte gleichsam auf Mastung stehen wil, der mus seiner Sele jeden Gedanken, jeden scharfen Blik verweren; eben so macht man die Vögel am fettesten, wenn man sie blendet. Wenn man noch nicht einsieht, daß das Nichtdenken mit zur Diät gehört: so frage man den Arzt; unter den vielen Diätsregeln, die er giebt, ist diese die einzige, die nicht erdichtet ist, die er selbst beobachtet.

Ich erhalte nicht blos die Gesundheit des Körpers, ich erhalte auch die Gesundheit der Sele. Denn erstlich, ich mache den Menschen heilig, d.h. ich zeige ihm den leichtesten Weg, in den Himmel zu kommen, one ihn mer als jeder andre zu verdienen. Beides wil ich beweisen. Einige Menschen bilden sich fälschlich ein, daß die Frömmigkeit in einem aufrichtigen Nachdenken über die Religionswarheiten, und in einer fleissigen Ausübung der erkanten – Pflichten bestehe. Mein Heiliger macht es besser. Er untersucht niemals; aber er glaubt alzeit. Er hat keine Augen zum Sehen; allein wol Oren zum Hören. Sein Vater hinterlies ihm, bei seinem Ableben, nebst Haus, Hof, Äcker, Ochsen, u. dgl., auch seinen Glauben. Diesen findet der christliche Son in dem Gesang- Gebet- Predigt- und Evangelienbuch so wol verwart, wie die alten verschlagnen Münzen in den angezeigten Beuteln. Er liest von Sontag zu Sontag die Meinungen der ältesten und raresten Kerntheologen, um sie zu glauben; er drükt sie tief in’s Gedächtnis, um seinen Verstand fest davon zu überzeugen. Er glaubt sie, one sie zu untersuchen: denn er weis gewis, daß sie ihre Urheber erfanden, one zu denken. Den Teufel, der ihm zuweilen in der Gestalt der Vernunft zusezt, treibt er mit Seufzern zurük, und seine, in Schweinsleder eingebundne, Postille braucht er zum undurchdringlichen Schilde gegen die Pfeile der Weisheit. Ferner, er ist so heilig, daß er selten tugendhaft zu sein braucht. Beten ist seine Hauptsache: denn seine Zunge ist das einzige Glied, welches er mit der grösten Leichtigkeit und dem wenigsten Verstand bewegen kan. Vor den glänzenden Lastern der Heiden hütet er sich mer als vor ihren nichtglänzenden, und alle seine gottesfürchtigen Handlungen quintessenzirt er in einen einzigen Seufzer. Er flieht die Arbeit, um besser den Müssigang [!] seiner Sele zu betrachten, und Wetterbeobachtungen über die aufsteigenden Dünste aus seinem Unterleibe anzustellen. Er kan niemals seinem Nächsten dienen: denn er mus immer Got dienen. Ja, er tut ihm oft aus christlicher Liebe einen kleinen Schaden an, um ihn zur Busse zu leiten, und wird zum Schein der Todfeind seines Nachbars, um keinen Anteil an seiner Vernunft zu nemen. Sein Has wird nicht selten durch die Erleuchtung von oben noch heftiger; so wie der Essig durch den Stral der Sonne noch schärfer wird. Allein gegen seine Selenschwester beweist er ware Bruderliebe; vermutlich, weil sie seine geistigen Entzückungen durch andre unterhält, und ihm ser oft besondre Belerung über wichtige Tropen in der Mystik erteilt.

Die unreinen Gedanken, die von unten herauf zu seinem Kopfe steigen, verwandeln sich oben in gesalbte Wörter und heilige Seufzer – eben so werden die Dünste, die aus kotigten Örtern emporsteigen, in der Höhe zu Schnee. Allein die Liebe seiner Schwester löset iene Seufzer, so wie die Wärme diesen Schnee, in ihre ersten Urstoffe auf. Wenn er weint, so ist er am meisten zu fürchten; eben so klagt das Krokodil mit menschlicher Stimme, wenn es einen Menschen berücken und erwürgen wil. Er hat die ganze Bibel im Kopfe; allein so, wie der Walfisch den Propheten im Bauch hatte – er närt weder seinen Verstand noch sein Herz mit derselben, und kent alle Tugenden, um keine auszuüben. Ist es aber nicht leicht, from zu sein, wenn man nur dieienigen Laster abzulegen braucht, die sich der Obrigkeit nicht verbergen lassen, nur dieienigen Tugenden anzunemen braucht, hinter welchen sich ein ganzes Her von Felern verstecken kan? Und mir blos hat man dies zu danken; nur auf die Dumheit läst sich diese Heiligkeit pfropfen, und nur durch mich traben diese Heiligen in den Himmel, wie Muhammed auf seinem Esel in’s Paradies. Denn wenn der Schimmer der Vernunft eines Heiligen vor dem Glanz einer andern Erleuchtung verblast; wenn alles, was er spricht, so heilig ist, daß es keinen Sin hat; wenn er sich mit seiner Phantasie über das Gebiet des gesunden Menschenverstandes erhebt, um näher beim Himmel zu sein; wenn er, um in seinem Fluge zu den ätherischen Gegenden durch nichts Irdisches gehindert zu werden, die Vernunft, wie Elias seinen Mantel bei seiner Himmelfart, hinter sich wegwirft, und sich den Kindern gleich zu machen sucht, indem er seinen Verstand dem ihrigen gleich macht: – was kan anders daraus folgen, als daß ein so grosser Grad von Heiligkeit nur durch einen so grossen Grad von Dumheit erworben wird?

Und diese Menschen allein sind es, die sich meines Besizzes nicht schämen. Sol ich mer zu diesem Lobe hinzusezzen? – nur die können mer hinzusezzen, denen ich es schuldig bin.

Ich mache den Dummen durch seinen Kopf eben so glüklich wie durch sein Herz. Ich gebe ihm zwar nicht die Weisheit; aber doch die Meinung, sie zu haben. Der Mangel der Weisheit schüzt ihn vor allen Gefaren, die den Denker in’s zeitliche und ewige Verderben stürzen. Er überläst sich nie dem Mere der Zweifel, um nach dem Lande der Warheit zu schiffen; er liest nie andre Bücher als solche, die seine Sele in Hofnung und seinen Körper in Schlaf wiegen. Daher ist er immer ruhig: denn er ist zu blind, etwas Fürchterliches zu sehen; daher ist er immer sich selbst gleich in seinen Meinungen: denn er kent nur dieienigen, die er glaubt. Die Maschine seines Geistes geht jeden Tag gerade so, wie sie durch das Gewicht seines Körpers aufgezogen ist, und alle vier und zwanzig Stunden erneuert sie den vorigen Lauf. Allein alle diese Vorteile erhalten erst durch den Stolz ihren grösten Wert. Ich mache jeden Dummen stolz, und ebendeswegen auch glüklich. Derienige mus sich alzeit über seinen Wert schäzzen, der nur einen kleinen hat. Da er von vielen übertroffen wird, so nötigt ihn seine Eigenliebe, Vorzüge an sich aufzusuchen, die andre nicht zu haben scheinen, sie zu vergrössern und endlich mit einem Glanze zu verschönern, der alle übrigen Feler unbemerkbar macht – und da er wenig zu schäzzen weis, so bewegt ihn seine Dumheit, die Mängel zum Range auszeichnender Vorzüge zu erheben. Dieser Stolz läst sich jeden Tag an jedem Dummen bemerken. Jeder Tor im Amte, der seit vielen Jaren die Belonung seiner Dumheit geniest; jeder Geistliche, der neue Bücher aus Vorurteil und alte aus Trägheit nicht liest und jeden Sontag einer Probe seiner Unwissenheit und Faulheit ablegt; jeder Schullerer, den ein weiser Gönner wegen seiner Unwissenheit und seinen Lastern zu nichts anderm als einem Lerer der Weisheit und Tugend machen konte, und der seinen Eleven mit Mühe die Dumheit einprügelt, die ihm eingeprügelt worden ist; jeder Dümling, dessen Dumheit in der Jugend zu ser belont wurde, als daß sie nicht im Alter hätte wachsen sollen und der im Amte das vergist, was er als unwissender Jüngling noch wuste – – alle diese sind fast eben so stolz, als sie dum sind, alle diese hängen die wichtige Amtsmiene vor ihr einfältiges Gesicht und machen ihre Zunge zum beständigen Lobredner ihrer Feler. Aber dieser Stolz ist jedem unentberlich, der ihn hat; er ist die gröste Woltat, die ich meinen Vererern erweisen kan. Das Lob, welches der selige Sancho Pansa dem Schlaf giebt, läst sich eben so gut auf den Stolz anwenden. "Gesegnet sei der Man", solte der zweite Sancho sagen, "der den Stolz erfand (der bin ich). Der Stolz ist ein Mantel, der alle Grillen bedekt, eine (Selen-) Speise für den, der hungert, ein (Selen-) Trank für den, der durstet, eine Wagschale, die den Schäfer dem Könige, und den Dumkopf dem Klugen gleich macht, kurz eine algemeine Münze, für die man alle Dinge kaufen kan." Der Stolz ist eine Fee, die alle Wünsche des Dummen erfült. Er braucht eine Volkommenheit nur am andern zu finden, um sie an sich zu finden, oder er braucht sie nur nicht zu haben, um sie zu verachten. Hat sich der Andre durch irgend ein Verdienst gros genug gemacht, um von den verkleinernden Augen des Dummen bemerkt zu werden: so schwingt sich dieser leztere auf den Flügeln des Stolzes über den Verdienstvollen hinauf, und sieht dan von seiner Höhe mit Mitleid auf den vergötterten Pigmäen herab. – Durch den Stolz kan er ein Amt verwalten, das er durch Dumheit erhalten hat. Der Dumme würde eine Höhe verlassen, für die er nicht geboren ist, wenn er sich nicht auf seinem Tron aufblähte, so wie lere Blasen auf hohen Bergen aufschwellen; er würde sinken, wenn er sich nicht durch den Stolz in der Höh’ erhielte, so wie der Schwimmer durch Blasen sein Sinken verhütet. Wenn z.B. Ihro Hochwürden einen Kandidaten, der von seiner Orthodoxie noch keinen sinlichen Beweis bei Ihrer Frau abgelegt hat, als ein Schlachtopfer Ihres heiligen Zorneifers in Ihre Hände bekommen – wenn denn der Arme, der noch Verstand genug hat, um nicht den Ihrigen zu haben, und Vernunft genug, um Ihnen ein Kezzer zu scheinen, wenn dieser klüger antwortet als Sie fragen und anders antwortet als Sie aufgeschrieben haben – wenn er den hebräischen Text anders giebt, als Sie zwischen die Zeilen Ihres Kodex gekrizzelt haben, oder wenn er gar in der Dogmatik Gründe vorbringt und die Ihrigen verlangt, weil Sie die seinigen verwerfen – – sagen Sie selbst, wer steht Ihnen iezt bei, damit Sie das scheinen, was Sie nicht sind? ist’s nicht Ihr Stolz, den der Kluge unmöglich dem Dummen nachamen kan, welcher auf Ihrem Gesichte alle die Wichtigkeit verbreitet, die Sie sich durch Ihre Gelersamkeit nicht geben können; welcher dem Kandidaten den Mut benimt, der den Ihrigen schwächt, und ihn endlich beredet, mer Ihre Gewalt als Ihr Recht, mer Ihr Herz als Ihren Verstand zu fürchten? – Auf diese Art siegt die Dumheit über die Weisheit; auf diese Art mach’ ich den Genus meiner Woltaten durch die Überwindung neuer Hindernisse noch fortdauernder, noch reizender, und verdiene noch mer Lob, als dieienigen, die durch mich siegen.

Dieses Lob wird durch die Erfarung vergrössert, daß man nichts nötig hat, um unglüklich zu sein, als weise zu sein, und daß im Gegenteil die meisten ihre Ämter nur durch mich erhalten. Diesen lezten Saz werden nur die nicht glauben, die ihn durch ihr eigen Beispiel beweisen: denn jeder glaubt sein Glük einer andern Sache als seinen Felern schuldig zu sein. Ich wil iezt nichts vorbringen, als das, was sich alle Tage sehen läst; daraus wird folgen, daß die Weisheit notwendig unglüklich, und die Dumheit notwendig glüklich mache, und daß iene al des Lobs unwürdig ist, welches blos ich verdiene. Da sich darüber nicht zu viel sagen läst, so wil ich darüber viel sagen.

An jedem Orte sind reiche und mächtige Dumköpfe gepflanzt, die reichlichen Schatten über ihre Mitbrüder verbreiten, und die nahe Verwandschaft mit ihnen durch einen gemeinschaftlichen Has gegen den Klugen beweisen; Leute, die lange Oren an sich und andern schäzzen, die die Verläumdung zum Ordenszeichen ihrer Brüderschaft wälen und den Aufgeklärten als einen Rebellen aus dem friedlichen Reiche der Esel verbannen. Allein es giebt zweierlei Arten von Dummen, welche die Dumheit befördern; einige sind zu reich, um sich durch das Geschäfte des Denkens zu ermüden, zu reich, um ausser dem Gelde noch den Verstand zu schäzzen; andre sind zu alt und zu lang im Amte, um die Weisheit eines Jüngern der Dumheit eines Ältern vorzuziehen, und um die nicht zu hassen, die den Feler haben, geschäzte und belonte Feler nicht zu haben. Von den Leztern zuerst! Man glaube aber nicht, daß ich meine geliebten Dumköpfe tadle, wenn ich von ihnen in der Sprache rede, in der man sie gemeiniglich tadelt: denn ich mus ia menschlicherweise reden.

Alle dieienigen Dunsen, die in Ämtern alt geworden sind, die sie so wenig verdient haben, wie ihre Gönner die ihrigen – der Priester, der unter der Perrücke seines Grosvaters den Verstand seines Grosvaters trägt, der die gröste Heiligkeit zu besizzen glaubt, weil er sie seinen Zuhörern anempfielt, der alle Menschen für seine Schüler hält, weil er lange Zeit der Lerer seiner Gemeinde ist, und der seinen theologischen Galimathias für ausgemachte Warheit ansieht, weil er ihn seit vielen Jaren seinen Schafen one Widerspruch predigt – der Rechtsgelerte, der entweder als Richter seine Stupidität mit seinem Nuzzen vereinigt und ein dummes Urteil lieber wiederholt als es verbessert, oder der als Advokat den Verstand der Gesezze sucht und den seinigen verliert, wie der Hund in der Fabel sein Fleisch, der jeden Jüngern deswegen für ein[en] Esel hält, weil ihn der Aktenstaub noch zu keinem grauen macht, und der von dem wollöbl. Rat seines Städgens alle die Lobsprüche einsaugt, die Esel nur Eseln erteilen – der Arzt, der auf eine lange Praxis trozt, die nichts als die Wiederholung seiner Feler beweist, der, gleich einem kriegerischen Wilden, seine medizinische Tapferkeit nach der Menge der besiegten Pazienten abmist und lieber nach der medizinischen Halsgerichtsordnung seines Vaters fortexekutirt, als die Schlachtopfer seiner Unwissenheit durch das Studium der Neuern vermindert – der Schulpedant, der immer mit dem Stocke seine unnüzzen Leren in das Gedächtnis der Kinder eingräbt, der sich schon lang sein Leren sauer werden läst, um andern das Lernen sauer zu machen, und sich Glük wünscht, ein strenger Lerer der Dumheit und kein angenemer Lerer der Weisheit zu sein – der Philosoph, der älter als seine steinalte Logik ist, der zu lang geschlossen hat, um noch zu denken, zu lang mit dem Terminus Medius gespielt hat, um ernsthafter als seine gravitätischen Spielkollegen zu sein, und der seine schwache Vernunft durch die drei Buchstaben q. e. d. unter dem Gehorsam des Glaubens gefangen genommen hat, um, gleich seinen Kollegen, zwar kein Denker, aber doch ein volkomner Metaphysiker zu sein – kurz jede Reliquie der alten Zeit, die die gegenwärtige tadelt, und jeder abgenuzte Kopf, der in der Finsternis der aufgeklärten Welt, wie faules Holz in der Nacht, leuchten wil; alle diese schäzzen sich zu ser, um den Weisen zu schäzzen, sind zu ser von dem Gefül ihrer Superiorität durchdrungen, um es nicht durch Verachtung und Has gegen ihre Feinde zu äussern. Sie müssen aber auch den Klugen verachten und verläumden: denn die Achtung, die sie ihm erzeigten, würde ihre eigne schwächen, und die Anerkennung fremder Verdienste würde ihnen zum Vorwurfe des Mangels an eignen gereichen. Sie müsten sich nicht lieben, um den Aufgeklärten nicht zu hassen. Und wenn ich nun iezt zusammenrechne, was alle diese Dumköpfe vermögen, durch ihre vereinigte Macht, durch den Zusammenhang mit den Mächtigern und mit der Menge, durch die Hülfe der Religion, der Vorurteile, des Ansehens vermögen – wenn ich betrachte, wie ihr Eigennuz mit ihrer Eitelkeit vereint, sie zwinget, den Klugen nicht blos in Schande und Unglük zu stürzen, sondern auch ihr eigen Glük seinem Unglük, und seiner Schande ihre eigne Ere aufzuopfern; wie sie durch ihre Dumheit, die durch das Alter mer Zuwachs und durch die Belonung mer Mut erhalten hat, angetrieben werden, den kleinsten Verlust ihrer Achtung an denen zu rächen, die sie kaum als ihre Feinde anzusehen würdigen, und denen den Besiz gewisser Güter unmöglich zu machen, die ihn durch nichts als die Weisheit verdienen und durch nichts als eben diese entberen können – dan wundre ich mich, daß es Weise giebt, aber nicht, daß es unglükliche Weise giebt.

[...]

Eine Frau hat nicht nötig, klug zu sein: denn, weil sie schön ist, so ist sie schon alles das, zu was sie kaum die feurigste Einbildungskraft ihres Anbeters machen kan; sie ist also äusserst verständig. Ein schönes Weib ist klug, wenn sie auch dum ist: denn wer wolte eine dumme Rede im Munde eines schönen Frauenzimmers für eine dumme Rede halten, und wer wolte an einem weiblichen Geschöpf die Schönheit loben, one zugleich über den Verstand in Entzückung zu geraten, ia one diesen, der nicht wirklich ist, höher zu schäzzen, als iene, deren Wirklichkeit man empfindet? – Das vornemste Gebot für die Schönen ist: trachtet am ersten nach der Schönheit, das übrige wird euch alles zufallen. Im Grunde ist also die Schönheit das Band, welches die Schönen mit mir verbindet. Allein es ist ihnen nicht blos unnötig, klug zu sein; es ist ihnen auch unmöglich. Sie sind nicht geschaffen zu denken, sondern zu gefallen. Wenn Pope vom Menschen (eigentlich vom Manne) sagt: er trit auf, um sich einmal umzusehen und zu sterben: so kan man von der Frau sagen: sie trit auf, um sich einmal sehen zu lassen, und zu sterben. Daher hat sie ihre Sele, um ihren Körper zu vervolkomnen; daher hat die Natur bei dem Manne für den innern Bau des Kopfs, bei der Frau für den äussern Bau desselben gesorgt; daher hat iener seine Sele im Kopfe, diese die ihrige auf dem Gesichte. "Aber giebt es nicht Gelerte des andern Geschlechts?" Ich weis es nicht; allein wenn es solche giebt, so könte man die Litanei mit einer neuen und nötigen Bitte verstärken: denn es ist gewis, daß die Dumheit auf dem Wege zur Weisheit am ersten die Narheit umarmt. – Es ist also Lob für mich, daß ich dieienigen behersche, die, sich ausgenommen, fast alles beherschen; allein es wäre zu wenig, wenn sie nicht auch Vorteile hätten, meine Untertanen zu sein. Ich mache sie geschikt, alle die Kleinigkeiten zu ihren immerwärenden Beschäftigungen zu wälen, durch welche sie zwar ihre natürlichen Schönheiten verbergen, aber doch modischere an ihre Stelle sezzen. Wenn ich nicht in dem Geiste der Schönen lebte und webte, so würden sie wenigere Zeit an den Orten verschwenden, wo ovidische Verwandlungen vorgehen, wo verschiedne Schöpfer sich zur Umschaffung jeder häslich- oder schöngeschafnen Nymphe vereinigen und fremde Reize die Wangen mit einer lügenhaften Lokspeise bemalen – sie würden die gröste Langweile fülen, iene Spizzen- und Dratgebäude, die so künstlich und so zerstörbar, wie Systeme, gewebt sind, über ihren Häuptern aufzufüren, iene durchsichtigen Gewebe zur Bestrickung der schimmernden Mücken, die bald auf einer Blume, bald auf dem Kote sizzen, mit allen Vogelstellerskünsten auszubreiten, und durch Modekleider künstlich alle die Schönheiten zu verstecken, die ihre natürlichen sind, oder wenigstens nur die sehen zu lassen, die die Erbarkeit nicht gerne sieht, oder die nicht die ihrigen sind – kurz, wenn ich nicht wäre, so würde man an den Schönen alle die Zierraten vermissen, die nur dieienigen für Torheit halten, die an keine andre als die ihrige gewönt sind. Nur eine Sele, die noch kleiner als diese Kleinigkeiten ist, kan sich lang mit ihnen beschäftigen, und nur die, die selten denken, können gedankenlose Arbeiten lieben. Zwar wird sich die Narheit einen nicht kleinen Anteil von dieser Ere anmassen; allein ich glaube, es gehört mer als Narheit dazu, um langweilige Narheiten one Langweile zu treiben. Auch hier past, obwol mit einiger Veränderung, diese Bemerkung: l’exactitude dans les petites choses est la vertu des sots. Allein die Schönen haben noch andre Geschäfte, die ihnen anstat des Vergnügens Langweile verursachen würden, wenn sie sich durch etwas anders als ernsthafte Dinge Langweile verursachen liessen. One Langweile sich etliche Stunden mit einem Hündgen, oder mit einem seufzenden Liebhaber zu unterhalten – one Langweile ein ernsthaftes Buch durchzublättern und ein faselndes zu lesen, oder einen halben Morgen in der Kirche zu sizzen, oder am Fenster zu stehen – one Langweile einfältige Komplimente zu hören und zu erwiedern, oder einen ganzen Abend mit der Zunge, die dem Stachel der Biene gleicht, den Namen einer Nachbarin wund zu stechen, oder in der Geduld sich zu üben, den Lebenslauf eines neuen Bandes anzuhören – one Langweile Langweile zu machen und zu ertragen – – dazu gehört eine ungewönliche Stärke, dazu gehört eine weibliche Stärke, die durch mich verschaft und erhalten wird. Mir also haben es die Schönen zu danken, wenn sie sich weder durch den Eckel noch durch wichtige Dinge abhalten lassen, kleine und unwichtige zu treiben. Kaum darf ich mir das, darausfliessende, Lob zueignen: denn es ist zu gros, als daß es die Lobredner der Narheit nicht vermindern solten, und übrigens ist die Dumheit selbst noch galant genug, um viele dumme Handlungen für galante zu erklären.

Nun wil ich zeigen, wie ich den Schönen die Herschaft über die Männer verschaffe. Anfangs wolte ich zuerst von den unverheirateten und dan von den verheirateten Frauenzimmern sprechen. Allein ich sahe bald ein, daß in diesem aufgeklärten Jarhunderte zwischen beiden keine andre Distinkzion als höchstens eine theologische, d.h. eine unsichtbare und geistliche stat finde. Denn die unverheirateten und verheirateten Schönen haben einander ihre unterscheidenden Feler mitgeteilt und um noch grösserer Änlichkeit willen, die unterscheidenden Tugenden klüglich abgelegt, so daß der Unterschied zwischen beiden nur dieser ist: die eine kauft ihre Narheiten mit dem Gelde ihres Vaters, die andre mit dem Gelde ihres Mannes; die eine hat viele Liebhaber, die andre viele Männer, die eine macht ihren Anbeter zum belachenswerten, die andre ihren Man zum beweinenswerten Narren. – Genug alle Schönen haben mir ihren Tron zu danken; sie regieren alle nur von der Dumheit Gnaden. Wenn sich die Jünglinge den Weibern gleich machen, um ihre Sklaven zu sein, um Weiber gegen Weiber zu sein, und die Narrenmontur anlegen, in welcher man der regierenden Törin dient – wenn sich jeder, gleich dem Pasquin in Rom, von den Franzosen als die Statue gebrauchen läst, an welche diese ihre Pasquille auf die Deutschen, hängen, und keiner Vernunft genug hat, mit andern als nachgeamten Torheiten zu pralen – wenn man den Verstand einer Schönen bewundert, weil er der Verstand einer Schönen ist, und das verständige Geschlecht ernsthafte Urteile zurükhält, um die faselnden und törichten des flatterhaften Geschlechts zu beklatschen – wenn der, mit den Erfindungen der Narren behängte, Nar sich zum Sklaven eines weiblichen Blickes macht und mit höflichem Verdrehen der Glieder jeden Befel seiner Gebieterin empfängt und befolgt – kurz wenn Männer eine Zusammensezzung von den Felern der zwei Geschlechter, eine Mischung von mänlichen und weiblichen Torheiten werden – – sagt selbst, ihr, die ihr diese Ere so schäzt, daß ihr jede vernünftige verschmäht, ist nicht die Dumheit wenigstens der Grund, auf welchem sich so ausschweifende Torheiten bauen lassen? Ich verdiene von euch noch mer Vererung als eure Schuzgöttin; diese giebt euch Schönheit, ich gebe eurer Schönheit ihre gröste Wirkung; diese hat euch zum Weib des Mannes, ich hab’ euch zur Beherscherin desselben gemacht. Und solt’ ich nun nicht von euch erwarten dürfen, daß ihr, als neue Amazonen, meine Herschaft durch dieienige vermert, die ihr mir zu danken habt? – Dan möchten immerhin die Priester vernünftig werden; ich würde Priesterinnen haben!! –

Wenn ich nicht ein Weib wäre, so würd’ ich fast müde werden, meine Verdienste um die Weiber zu erzälen. Ich mache den Eheman geschikt, sich unter das Joch der weiblichen Herschaft zu beugen. Es ist war, die meisten Männer werden durch goldne Ketten und seidne Fäden geleitet; allein es ist auch war, daß ihnen nur durch meine Veranstaltung die Fesseln unsichtbar bleiben, welche zu zerreissen sie mächtig genug wären. Von diesen mannigfaltigen Künsten der Weiber, die durch mich ihren Endzwek erreichen, wil ich einige angeben. Der eine Man wird dem Hymen von dem Amor schon gebunden überliefert, und er verliert, gleich dem Simson, in dem Schosse seiner Deli[l]a seine mänliche Stärke. Ein andrer wird von seiner Frau mit Hülfe seiner Feler beherscht und jede seiner Torheiten dient einer andern Torheit seiner Frau zur Ursache oder zur Entschuldigung: diese steht mit seinen Leidenschaften, durch die man den Menschen, wie gewisse Tiere an den Oren, festhält, in einem geheimen Verständnisse, und wenn, nach Plato’s Allegorie, der menschliche Wagen durch die Leidenschaften, als die Pferde, gezogen wird, so sezt sich das Weib fast allemal auf den Kutschbok, um spazieren zu faren. Eine andre Schöne macht ihren Man zum Vorwurfe der Spöttereien ihrer Verwandten und Freundinnen, und bezwingt seinen mänlichen Arm durch die Menge weiblicher Zungen – eben so treibt oft ein Schwarm stechender Bienen den Bären endlich vom Honig ab. Noch eine andre gehorcht einmal, um das zu erlangen, was sie hernach befelen wil; sie überwältigt durch angenommene Schwächen und siegt durch eine scheinbare Flucht. Eine dritte löst ihren harten Man in erzwungnen Tränen auf, wie den Zucker im Thee, und die Schönheit verteidigt sich durch dasselbe Element, aus welchem sie geboren wurde. Und endlich, die Schlimste der Schlimmen beherscht ihren Man durch die wiederholte Anmerkung, daß er sein Glük, seine Ere, sein Amt denen Verdiensten zu danken habe, die seine – Frau besizt. – Man verzeihe diese Ausschweifung, und bemerke nun, daß die meisten dieser Kunstgriffe dem Manne nur durch meine Hülfe unsichtbar bleiben, nur durch mich folgenden Endzwek erreichen. Es ist dieser, daß der Man seiner Frau eine Lebensart erlaube, die iezt die gewönlichste ist, und die ich, zur Darstellung der Dumheit des Mannes und zur Vergrösserung meines Lobes, kurz schildern mus. – Eine Frau, die nach der Mode lebt, lebt blos für ihr Vergnügen, und ihre Vereinigung mit dem Manne verbindet sie zu keiner andern Pflicht, als die, die Vergnügungen mit ihm zu teilen, die man nur durch die Mitteilung geniest. Sie ist zu zart, zu arbeiten, und hat kaum Kräfte genug, den Müssiggang zu ertragen. Der Zustand des Hauswesens; wie wolte sie der bekümmern, da sie nicht Magd, sondern Frau ist? Ihre Pflicht in ihrem Ehestande ist ia nicht, die Güter ihres Mannes zu vermeren oder zu erhalten, sondern sie zu geniessen; und wenn hätte sie Zeit, nüzliche Dinge zu tun? Sie hat kaum Zeit genug, unnüzliche zu tun; der halbe Teil des dem Schlafe entzognen Vormittags reicht kaum zu, die Sorge für den Puz zu endigen, und die Zeit läuft soviel geschwinder als der Müssiggang, daß die Schöne, kaum noch vor dem Mittagsessen, die Folgen von der Unmässigkeit der vorigen Nacht mit einer fremden Schamröte übertünchen kan. Ihren Kindern nüzliche Leren zu geben – so weit läst sie sich nicht herab; doch mus man gestehen, daß sie sich erniedrigen wird, ihnen andre als nüzliche Leren zu geben, wenn das Mädgen alt genug sein wird, um die Regeln zu fassen, wie man aus Männern Narren, und mer als Narren, Weiber machen sol, oder ihr Söngen verständig genug, um kindische Torheiten gegen modische vertauschen, und ein Geschlecht vergöttern zu lernen, das er blos zu lieben weis. Übrigens ist sie nur in so weit Mutter ihrer Kinder, als sie Vergnügen hat, es zu sein. Wenn sie nicht in Geselschaft müssig sein kan, so ist sie in der Einsamkeit müssig; sie liest. Sie lernt durch die Bücher nicht denken, aber doch reden; nicht das Nüzliche schäzzen, aber doch es verachten; nicht die Torheiten ablegen, aber doch mit ihnen pralen. Um den Nachmittag nicht one Müssiggang verstreichen zu lassen, begiebt sie sich in eine Versamlung, wo sie höchstens kleine Arbeiten verfertigt, um an ihnen die Länge der verschwendeten Zeit zu berechnen; wo sie, gleich der Bienenkönigin, Königin und Geliebte zugleich ist, oder wo sie mit eignen Felern pralt und fremde sucht und mit ihrer Zunge die kleinsten Mängel aus ihren Winkeln hervorzieht, wie der Ameisenbär die Ameisen mit der seinigen. Kurz, um eine Frau nach dem iezzigen Schlage zu sein, ist sie alles das, was eine Frau nicht sein sol. Wenn nun der Man alles dieses zugiebt, wenn er dieienigen, die ihn mit ihren Zetteln erinnern, daß er eine Frau hat, bezalt; wenn er seiner Frau, die er nur mit ihren natürlichen Reizen geniest, alle dieienigen kauft, mit welchen sie seine Freunde geniessen, und sich seine unverdiente Schande mer kosten läst, als mancher seine unverdiente Ere; und wenn er endlich in ihr noch ihre Torheit und ihre Bösartigkeit anbetet, um dem Ägypter zu gleichen, der den Affen und das Krokodil anbetete – – sagt es selbst, ihr Schönen, ist das nicht ein Man, wie man sonst keinen fand, wie ich ihn erst in diesem Jarhundert gebildet habe? – Ich wil nun den lezten Vorteil anfüren, den mir die Schönen schuldig sind. Ich werde aber nie von ihrer Schamhaftigkeit fordern, das zu gestehen, was sie blos den Mut haben, zu tun. Man wird sich aus einem alten, alten Historienbuch erinnern, daß die Weiber treu waren. Allein diese Treue existirt nur in den Gesezzen, die sie gebieten, und in den Geschichtsbüchern, die sie erdichten. Wer wil nun aber die Männer, die alte Wunder glauben und neue erwarten, dahinbringen, daß sie das nicht sehen, was die Weiber nicht tun sollen, und das hoffen, was diese zu galant sind, noch zu kennen? – blos ich. Da die Frau mit dem Manne den Ehekörper ausmacht, so hält sie’s für gut, wenn sie die Bibel befolgen und woltätig sein wil, daß die linke Hand – der Man geht bekantlich zur Linken – nicht wisse, was die rechte tut. Allein die Frau mus nicht nur listig genug sein, um betrügen zu können; der Man mus auch dum genug sein, um sich betrügen zu lassen. Alle die Frauen daher, wo die eine ihre Andacht mit dem Priester teilt, und sich von ihm das sinlich erklären läst, was er sonst nur in Hebraismen verbietet – wo die andre einen Dichter in ihrem Schos aufnimt, der, zwar nicht wie Jupiter in Gestalt eines goldnen Regens, aber doch in Gestalt eines durch den Mond versilberten Tränenregens ankomt – und wo die lezte gefärlich krank ist, weil sie sich von einem iungen Doktor heilen lassen, weil sie ihre Treue an ihrer Krankheit sterben lassen und das Krankenbette zum Todtenbette ihrer Ere machen wil – alle diese, sag’ ich, können nur durch meine Hülfe ihren Männern die Liebe gegen einen andern verbergen, die sie one mich durch die Affektazion einer grössern gegen sie, umsonst zu verbergen suchen. – Können nun die Schönen von mir mer fordern, als ich ihnen leiste? und kan ich von irgend iemand mer Lob fordern, als sie mir schuldig sind? Gewis, ich bin nächst ihnen selbst, nächst ihrem Schoshunde oder ihrer Schoskazze und nächst ihrem Puzze, der würdigste Gegenstand ihrer Achtung und ihres Lobes.

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