Auszüge aus Bernt Engelmann's
"Über den Haß hinaus"

Texte zum 8. Mai 1945

Am 8. Mai schwiegen in Europa die Waffen. Die Nazi-Wehrmacht, die 1939 mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg ausgelöst hatte, mußte ihre vollständige Niederlage eingestehen. Die Herausgeber haben literarische Texte internationaler Schriftsteller zusammengestellt, die vielschichtiges Material zur Auseinandersetzung mit dem wichtigsten Kapitel der jüngsten deutschen Geschichte liefern. Dabei trefen sich die Autoren, so unterschiedlich ihre Standpunkte und Erfahrungen auch sein mögen, in ihrer Liebe zur Menschheit und ihre aufrüttelnden Appell zum Frieden.

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Vorwort

"Wer sich der Vergangenheit nicht erinnern kann, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen", heißt es bei William Saroyan, dem großen amerikanischen Denker und Schriftsteller. Eine entsetzliche Vorstellung: Die sich ihrer blutigen, erst vierzig Jahre zurückliegenden Vergangenheit nicht mehr erinnernden Bürger der Bundesrepublik Deutschland müßten die verdrängte und verharmloste Nazizeit nochmals erleben!

Leser der BILD-Zeitung – falls man sie als Leser bezeichnen kann – wird dieser Gedanke kaum schrecken, erfahren sie doch Tag für Tag Grauenerregendes, zum Beispiel: "... drangen in das Schlafzimmer ein und erschossen den schlafenden Tankwart vor den Augen seiner ...", "... folterten den in einen Steinbruch verschleppten 63-jährigen Sparkassendirektor mit Hilfe ...", "... schlugen die Schaufensterscheiben ein. Der dazwischentretende Ladenbesitzer Werner K. (67) wurde durch brutale Hiebe mit Stahlruten und Fahrradketten ..."

Ja, genauso war es damals, nach 1933 – allerdings mit zwei nicht ganz unwesentlichen Unterschieden: Zum einen handelte es sich nicht um Rohheitsdelikte einzelner Verbrecher, sondern um zehntausendfachen, am Ende gar millionenfachen Terror, der nicht von Polizei und Justiz zu ahnden versucht, sondern im Gegenteil staatlich sanktioniert, geduldet oder sogar behördlich organisiert wurde – zur Einschüchterung des Volkes, zur Ausrottung aller Regimegegner und Unliebsamen mit dem Ziel, jeglichen Widerstand zu brechen, der der Ausführung verbrecherischer Weltherrschaftspläne im Wege stand. Zum anderen aber konnte man damals über die einzelnen Untaten sehr wenig in den Zeitungen lesen. Ab und zu stand im Lokalblatt, ein verhafteter "Staatsfeind" sei "auf der Flucht erschossen", ein "Volksschädling" zur Besserung durch Arbeit "in ein Konzentrationslager eingewiesen", eine Anhängerin einer verbotenen Partei "wegen Vorbereitung zum Hochverrat zum Tode verurteilt und hingerichtet" worden oder, wenn es sich um die jüdischen Nachbarn handelte, die man wie Vieh verfrachtet und ins Gas getrieben hatte, sie wären "ordnungsgemäß evakuiert" worden. Alles war "rechtens" –so jedenfalls sollte das deutsche Volk es glauben, und was nicht rechtens war – die normale Kriminalität, die sozusagen privaten Verbrechen –, wurde ebenfalls vertuscht, denn der Faschismus gaukelte den Menschen eine heile Welt vor, in der endlich Gesetz und Ordnung herrschten.

Wozu geschah das alles? War "das Verhängnis" über uns gekommen, "schicksalhaft", unabwendbar? Oder hatten plötzlich Blutrausch und Sadismus die Menschen ergriffen wie eine Seuche, deren Ursachen noch unbekannt waren und gegen die es keine Hilfe gab? Oder steckt hinter der "Machtergreifung" der Nazis ein teuflischer Plan, den niemand zu durchschauen vermochte und dem wir hilflos zum Opfer fielen?

Nichts dergleichen! Hitlers und seiner Kumpanen Ziele und Absichten, auch ihre Methoden, waren seit 1924 bekannt –nachzulesen in "Mein Kampf", einem Buch, das vor 1933 bereits in Hunderttausenden von Exemplaren verbreitet war. Die Konzernherren, Bankiers, Großgrundbesitzer und Großaktionäre, die die Nazi-Partei seit 1923 mit Millionenbeträgen finanziert hatten, wußten genau, was sie damit bezweckten, und erst recht wußten sie Bescheid, als sie noch um die Jahreswende 1944/45 zum letztenmal Riesensummen an den "Reichsführer SS" überwiesen – "zur Förderung seiner Arbeit ..."

Der Faschismus wurde in Deutschland geplant und installiert zur Durchführung gigantischer Geschäfte; Terror und Angriffskrieg, Versklavung ganzer Völker und Ausrottung von Millionen gehörten dazu. Sie waren nicht Selbstzweck, sondern die nun einmal erforderlichen Mittel, ohne die sich der geplante Riesenprofit nicht erzielen ließ. Natürlich gab es, wie bei jedem Geschäft, ein Risiko. Das trugen die Ausführenden, und am Ende war es das ganze Volk, das unter den katastrophalen Folgen einer gescheiterten Welteroberung zu leiden hatte.

Dergleichen kann sich jederzeit wiederholen. Alle Voraussetzungen sind nach wie vor gegeben: Die Macht- und Profitgier einiger Weniger ist nicht kleiner geworden, die Gutgläubigkeit des Volkes hat sich auch nicht vermindert. Ein faschistisches Potential gibt es unter den Bürgern der Bundesrepublik –wie in jedem anderen Staat –so gut oder so schlecht wie vor 1933; es macht nur einen Bruchteil der Bevölkerung aus – wie damals, und die große Mehrheit kann diese potentiellen Nazis stets und völlig unter Kontrolle halten, vorausgesetzt, sie ist sich der latenden Gefahr stets bewußt und einig darin, daß sie abgewehrt werden muß. "Wehret den Anfängen" gilt für nichts mehr als für die immer vorhandene Gefahr eines neuerlichen Faschismus.

Dieses Buch soll dazu dienen, die Erinnerung an diese Gefahr wachzuhalten, die Abwehrbereitschaft zu stärken.

Berthold Brecht: Die zwei Söhne

Eine Bäuerin im Thüringischen träumte im Januar 1945, als der Hitlerkrieg zu Ende ging, daß ihr Sohn im Feld sie rief, und schlaftrunken auf den Hof hinausgehend, glaubte sie ihren Sohn an der Pumpe zu sehen, trinkend. Als sie ihn ansprach, erkannte sie, daß es einer der jungen russischen Kriegsgefangenen war, die auf dem Hof Zwangsarbeit verrichteten. Einige Tage darauf hatte sie ein merkwürdiges Erlebnis. Sie brachte den Gefangenen ihr Essen in ein nahes Gehölz, wo sie Baumstümpfe auszugraben hatten. Im Weggehen sah sie über die Schulter zurück denselben jungen Kriegsgefangenen, übrigens einen kränklichen Menschen, das Gesicht nach dem Blechtopf wenden, den ihm jemand mit der Suppe reichte, und zwar in einer enttäuschten Weise, und plötzlich verwandelte sich dieses Gesicht in das ihres Sohnes. Schnelle und schnell verschwimmende Verwandlungen des Gesichts eben dieses jungen Menschen in das ihres Sohnes passierten ihr in den nächsten Tagen öfter. Dann wurde der Kriegsgefangene krank; er blieb ohne Pflege in der Scheuer liegen. Die Bäuerin spürte einen zunehmenden Drang, ihm etwas Kräftigendes zu bringen, jedoch wurde sie daran gehindert durch ihren Bruder, einen Kriegsinvaliden, der den Hof führte und die Gefangenen roh behandelte, besonders nun, wo alles anfing, drunter und drüber zu gehen, und das Dorf die Gefangenen zu fürchten begann. Die Bäuerin selbst konnte sich seinen Argumenten nicht verschließen; sie hielt es keineswegs für recht, diesen Untermenschen zu helfen, über die sie schreckliche Dinge gehört hatte. Sie lebte in Furcht, was die Feinde ihrem Sohn antun mochten, der im Osten stand. So hatte sie ihren halben Vorsatz, diesem Gefangenen zu helfen in seiner Verlassenheit, noch nicht ausgeführt, als sie eines Abends im verschneiten Obstgärtchen eine Gruppe der Gefangenen bei einer eifrig geführten Unterredung überraschte, die wohl, um im geheimen vorgehen zu können, in der Kälte stattfand. Der junge Mensch stand dabei, fieberzitternd, und wahrscheinlich seines besonders geschwächten Zustands wegen erschrak er am tiefsten vor ihr. Mitten im Schrecken nun geschah wieder die sonderbare Verwandlung seines Gesichts, so daß sie in das Gesicht ihres Sohnes schaute, und es war sehr erschrocken. Das beschäftigte sie tief, und wiewohl sie pflichtgemäß ihrem Bruder von der Unterredung im Obstgärtchen berichtete, beschloß sie doch, dem jungen Menschen die bereitgestellte Schinkenschwarte nunmehr zuzustecken. Dies stellte sich, wie manche gute Tat im Dritten Reich, als äußerst schwierig und gefahrvoll heraus. Sie hatte bei diesem Unternehmen ihren eigenen Bruder zum Feind, und sie konnte auch der Kriegsgefangenen nicht sicher sein. Dennoch gelang es ihr. Allerdings entdeckte sie dabei, daß die Gefangenen wirklich vorhatten, auszubrechen, da die Gefahr für sie täglich wuchs, daß sie vor den anrückenden Roten Armeen nach Westen verschleppt oder einfach niedergemacht werden würden. Die Bäuerin konnte gewisse, ihr pantomimisch und mit wenigen Brocken Deutsch klargemachte Wünsche des jungen Gefangenen, an den sie ihr merkwürdiges Erlebnis band, nicht abschlagen und ließ sich so in die Fluchtpläne der Gefangenen verwickeln. Sie besorgte eine Jacke und eine große Blechschere. Eigentümlicherweise fand die Verwandlung von da ab nicht mehr statt; die Bäuerin half jetzt lediglich dem fremden jungen Menschen. So war es ein Schock für sie, als eines Morgens Ende Februar ans Fenster geklopft wurde und sie durch das Glas im Dämmer das Gesicht ihres Sohnes erblickte. Diesmal war es ihr Sohn. Er trug die zerfetzte Uniform der Waffen-SS, sein Truppenteil war aufgerieben, und er berichtete aufgeregt, daß die Russen nur noch wenige Kilometer vom Dorf entfernt seien. Seine Heimkunft mußte unbedingt geheimgehalten werden. Bei einer Art Kriegsrat, den die Bäuerin, ihr Bruder und ihr Sohn in einem Winkel des Dachbodens abhielten, wurde vor allem beschlossen, sich der Kriegsgefangenen zu entledigen, da sie möglicherweise den SS-Mann gesehen hatten und überhaupt voraussichtlich über ihre Behandlung Aussage machen würden. In der Nähe war ein Steinbruch. Der SS-Mann bestand darauf, daß er in der kommenden Nacht sie einzeln aus der Scheuer locken und niedermachen müßte. Dann konnte man die Leichen in den Steinbruch schaffen. Am Abend sollten sie noch einige Rationen Branntwein bekommen; das konnte ihnen nicht allzusehr auffallen, meinte der Bruder, weil dieser zusammen mit dem Gesinde in der letzten Zeit schon ausgemacht freundlich zu den Russen gewesen war, um sie im letzten Augenblick noch günstig zu stimmen. Als der junge SS-Mann den Plan entwickelte, sah er plötzlich seine Mutter zittern. Die Männer beschlossen, sie auf keinen Fall mehr in die Nähe der Scheuer zu lassen. So erwartete sie voller Entsetzen die Nacht. Die Russen nahmen den Branntwein anscheinend dankend an, und die Bäuerin hörte sie betrunken ihre melancholischen Lieder singen. Aber als ihr Sohn gegen elf Uhr in die Scheuer ging, waren die Gefangenen weg. Sie hatten die Trunkenheit vorgetäuscht. Gerade die neue unnatürliche Freundlichkeit des Hofs hatte sie überzeugt, daß die Rote Armee sehr nahe sein mußte. – Die Russen kamen in der zweiten Hälfte der Nacht. Der Sohn lag betrunken auf dem Dachboden, während die Bäuerin, von Panik erfaßt, seine SS-Uniform zu verbrennen versuchte. Auch ihr Bruder hatte sich betrunken; sie selbst mußte die russischen Soldaten empfangen und verköstigen. Sie tat es mit versteinertem Gesicht. Die Russen zogen am Morgen ab, die Rote Armee setzte ihren Vormarsch fort. Der Sohn, übernächtigt, verlangte von neuem Branntwein und äußerte die feste Absicht, sich zu den rückflutenden deutschen Heeresteilen durchzuschlagen, um weiterzukämpfen. Die Bäuerin versuchte nicht, ihm klarzumachen, daß Weiterkämpfen nun sicheren Untergang bedeutete. Verzweifelt warf sie sich ihm in den Weg und versuchte, ihn körperlich zurückzuhalten. Er schleuderte sie auf das Stroh zurück. Sich wieder aufrichtend, fühlte sie ein Deichselscheit in der Hand, und weit ausholend schlug sie den Rasenden nieder.

Am selben Vormittag fuhr mit einem Leiterwagen eine Bäuerin in dem nächstgelegenen Marktflecken bei der russischen Kommandantur vor und lieferte, mit Ochsenstricken gebunden, ihren Sohn als Kriegsgefangenen ab, damit er, wie sie einem Dolmetscher klarzumachen suchte, sein Leben behalte.

Bruno Apitz: Buchenwald befreit sich selbst

Noch während die Sirene in das Dröhnen und Knattern des Kampfes rundum im Land hineinschrie, waren die Führer der Gruppen nach Block 17 gejagt. Auf den Wegen wimmelte es von aufgescheuchten Häftlingen. In ihnen allen, in Bochow und den Männern des ILK (Internationales Lagerkomitee; Anm. d. Hrsg.), die ebenfalls nach Block 17 geeilt waren, loderte die Entscheidung.

Die Stunde war da! Sie glich der Stunde zwölf, die übermächtig die erzene Glocke zum Schwingen bringt.

"Alarmstufe drei! Die Waffen werden freigegeben! Die Gruppen in ihre Ausgangsstellungen. Der Ausbruch erfolgt unmittelbar!" befahl Bochow.

Pribula riß die Fäuste über den Kopf. Er brachte keinen Ton heraus, obwohl sein ganzer Körper nach dem befreienden Schrei lechzte. Mit den Führern der Gruppen jagte er davon.

Plötzlich gab es in den Blocks laute Kommandos.

"Alle Gruppen antreten!"

Noch ehe die überraschten Häftlinge begriffen, was hier geschah, formierten sich vor den Blocks geschlossene Abteilungen. Ohne von der Überraschung, die ihr Auftauchen verursachte, Notiz zu nehmen, liefen die Gruppen im Eilschritt fort, in bestimmte Blocks hinein, hinunter nach dem Revier und dorthin, wo es Heizungskanäle und Abwasserleitungen gab. Die in all diesen Stellen verteilten Angehörigen des Lagerschutzes warteten bereits. Fußböden wurden aufgerissen, Mauerwerk zerschlagen, mit Picken und Schaufeln verborgene Gruben freigelegt, und überall kamen Waffen zum Vorschein, Waffen, Waffen!

Pribula und seine Leute der polnischen Gruppen zerschlugen die Blumenkästen an den Fenstern der Revierbaracken und zerrten die ölgetränkten Lappen von den Karabinern.

Nach der Schreibstube eilte eine Gruppe mit einem Maschinengewehr. In Krämers Raum, der sich in gerader Richtung zum Torgebäude befand, wurde es aufgestellt. Bochow übernahm das Kommando.

Eine ungeheure Erregung brodelte durch das Lager.

In wenigen Minuten hatte sich die Bewaffnung vollzogen, und die Gruppen hatten ihre Ausgangsstellungen besetzt. Nicht eine Minute länger als notwendig wurde gezögert, und schon krachten am Nordhang die ersten Schüsse, und die Kugeln pfiffen um die Köpfe der erschrockenen Posten.

Der Sturm brach los!

Die Gruppen am Nordhang rannten im freien Gelände auf die neutrale Zone zu. Abteilungen der Deutschen und Jugoslawen sicherten mit gezieltem Feuer auf die Türme der Umgebung die Flanken. Schon hatten die Gruppen der Polen, von Pribula geführt, die Bretter und Türen über die spanischen Reiter geworfen. An fünf, sechs Stellen zugleich wurde der Draht durchschnitten, und mit wildem Siegesgeschrei krochen Pribula und seine Leute durch die Löcher. Von weiter abliegenden Türmen wurden sie mit Maschinengewehren beschossen, aber die Gruppen der Deutschen und Jugoslawen waren da, hielten die schießenden und wild mit Handgranaten um sich werfenden Posten in Schach. Brandflaschen wurden auf die Türme geschleudert, die mit hartem Knall zerbarsten. Die auflodernden Flammen trieben die Posten herunter. Mit einem Trupp war Pribula in einen der Türme eingedrungen, im kurzen Handgemenge wurden die Posten überwältigt, und Pribula riß das Maschinengewehr herum und jagte wild jubelnde Salven auf die noch besetzten Türme.

Gleichzeitig mit dem Ausbruch am Nordhang begann der Sturm auf das Tor.

Riomand am Maschinengewehr, der hinter schützender Fensterscheibe genau anvisiert hatte, fetzte mit knappen Strichen die Salve auf den Rundgang des Hauptturmes. Die zerschossene Scheibe umsplitterte ihn. Einer der Posten war getroffen. Er warf die Arme in die Luft und sackte zusammen. Die anderen Posten duckten sich, vom Feuerstoß überrascht.

Sekunden nur, und die Hinterhalte der ersten Blockreihen brachen berstend auf. Vom eigenen, vielsprachigen Kampfgeschrei getrieben, stürmten die Bewaffneten über den Platz, Deutsche, Franzosen, Tschechen, Holländer.

Riomands Maschinengewehr spie zornwilde Atemstöße auf die Türme zu beiden Seiten des Tores, und unter dem Schutz dieser Flankendeckung erreichten die Sonderabteilungen des Lagerschutzes das Tor. Mit Brechstangen sprengten sie die schmiedeeiserne Tür.

"Feuer einstellen!" schrie Bochow Riomand zu, und das Maschinengewehr verhielt augenblicklich seinen Zorn. Oben am Tor, fast gleichzeitig, hasteten die Männer der Sonderabteilungen die Treppen zum Hauptturm hinauf und stürmten Hunderte der anderen Gruppen durch die Bresche der aufgerissenen Tür nach links und rechts am Zaun entlang. Handgranaten wurden auf die Anstürmenden geworfen, Maschinengewehre ratterten, aber wie Hornissenschwärme fielen die Ausgebrochenen in die Türme ein. Ihr Kampfgeschrei und das Krachen und Knattern rings um den Zaun mischten sich mit dem Kriegsgetümmel draußen im Land. Hinter dem Berg stiegen braungelbe Rauchpilze zum Himmel hinauf. Das Beobachtungsflugzeug war wieder aufgetaucht, jetzt zog es fast unmittelbar über dem Lager seine langsamen Kreise. Tiefflieger schossen zur Erde nieder. Deutlich war das Knattern ihrer Maschinengewehre zu vernehmen, sie beschossen fliehende faschistische Panzer.

Die von ihren Führern im Stich gelassenen Posten, vom plötzlichen Überfall verwirrt, waren dem Ansturm nicht gewachsen. Die seit Jahren aufgespeicherte Wut der Häftlinge glich einer Explosion. Zwischen der sichtbar gewordenen Front und den Tausenden rasender Häftlinge eingekeilt, deren Kampfkraft mit jedem erbeuteten Karabiner, mit jedem abmontierten Maschinengewehr größer wurde, hatten die Posten nicht mehr die moralische Kraft, sich gegen den Sturm zur Wehr zu setzen.
Was nicht geflohen war, wurde gefangengenommen, was sich nicht ergeben wollte, niedergemacht. Turm um Turm wurde von den Kampfgruppen erobert und sofort besetzt.

Plötzlich war Krämer verschwunden.

Köhn, der mit den Verwundeten zu tun hatte, die eingebracht wurden, hatte auf die herbeigestürzten Pfleger eingeschrien: "Ihr Idioten habt nicht aufgepaßt! Zwei Lungenschüsse! Soll sich der Kerl verbluten? Lauft! Sucht ihn! Schleppt ihn her!"

Wie mochte es Krämer fertiggebracht haben, sich ohne Hilfe fortzuschleichen?

Nur mit Hose und Hemd bekleidet, den Mantel über die Schultern geworfen, hatte er sich in einem unbewachten Augenblick davongemacht. Er kam nicht weit. Keuchend torkelte er in Block 38 hinein. Ächzend sank er auf eine Bank nieder. Die im Block Verbliebenen und nicht zu den Kampfgruppen Gehörigen umringten ihn. "Wo kommst du her"?

Krämer atmete abgehetzt, das heiße Fieber glänzte ihm aus den Augen.

"Mensch, Walter, du mußt sofort wieder ins Revier."

Unwillig stieß Krämer Runki beiseite, der ihn stützen wollte. "Pfoten weg!" Doch Runki ließ sich nicht abdrängen. "Du bist auf den Tod verwundet."

Andere wollten helfend zugreifen.

"Weg!" knurrte Krämer. "Ich bleibe hier!"

Er blickte auf die Häftlinge, sah nicht deren Angst um ihn in ihren Gesichtern, horchte aufmerksam nach draußen, wo es knallte und rumorte.

"Verflucht! Daß es mich noch zuletzt erwischen mußte ..."

"Walter, du wirst wieder gesund, wenn du dich schonst."

Vorsichtig legte ihm Runki die Hand auf die Schulter.

"Wo ist das Wurm, das Kind? Ich habe es euch doch gebracht. Wo habt ihr es?"

"Hier ist es doch, Walter, hier."

Einige waren nach dem Schlafsaal gelaufen. Sie brachten ihm das Kind, stellten es ihm zwischen die Knie.

Krämers Züge entspannten sich. Er lachte warm und tief in sich hinein, strich über das Köpfchen.

"Kleiner Maikäfer ..."

Plötzlich wurde Krämer weich und bittend. "Laßt mich hier, Kumpels. Laßt mich bei euch bleiben. Mir geht es schon ganz gut."

Sie brachten einen Strohsack herbei und bauten ihm eine Rückenlehne zwischen Tisch und Bank. Krämer lehnte sich dankbar zurück und lachte Runki zu, der ihn bemutterte: "Na, Otto, alter Junge ..."

Runki lächelte, tätschelte.

Wie immer, wenn sich die Männer viel zu sagen hatten, wurden die Worte karg. Aber in Krämers rauherzlichem Anruf und in Runkis ungeschickter Zartheit lag das Unaussprechbare, das sich jetzt draußen vollzog, und der Lärm und die Schüsse ums Lager gaben ihm die Deutung.

Krämer schloß die Augen.

...

Schuzo Nishio: Hiroshima

Der Morgen graute.
Das Feuer erlosch.
Von den leuchtenden Strahlen der Morgensonne übergossen,
zogen wir den Berg hinunter in die Stadt.
Wo ich auch hinschaute, lagen die Toten.
Tote mit mächtig angeschwollenen Brandblasen.
Tote, denen eine ölige zähe Flüssigkeit aus den Augen quoll.
Ich fürchtete mich sehr, mir wankten die Beine.
Ich konnte nicht weitergehen.
Viele Bekannte lagen unter den Leichen.
Die Stadt war zu Asche verbrannt.
Die Straßen lagen unter der Asche begraben.
Wir wateten durch sie hindurch.
Sie war noch heiß.
Ein ekelhafter Geruch entströmte ihr.
Wir hielten uns die Nase zu.
Über die weiße Asche hinweg kehrten wir heim.
Wo einst unser Haus gestanden hatte,
erblickte ich geschwärzte Mauern und verkohlte Balken.
Und – weiße Asche.
Bruder und Schwester fanden wir nicht –
nur Asche.
Gestern noch waren sie gesund mit uns zusammen,
jetzt sind sie diese Asche ...
Ich hocke auf der Asche.
Meine Tränen fallen auf sie.
Wo sie niederfallen entstehen kleine schwarze Löcher,
viele, viele, viele kleine schwarze Löcher ...

Inhaltsverzeichnis

Vorwort
Franz Fühmann: DAS GOTTESGERICHT
Nazim Hikmet: ÜBER DEN SIEG
James Langston Hughes: BEDRÄNGNIS
Erich Weinert: WIEGENLIED / MOSKAU
Richard Limpert: RUCKI WERCH, FRITZ, HÄNDE HOCH!
Ernest Hemingway: KRIEG AN DER SIEGFRIED-LINIE
Pablo Neruda: GESANG AUF DIE ROTE ARMEE
Bertold Brecht: DIE ZWEI SÖHNE
Erich Kästner: DRESDEN
Heinrich Böll: WANDERER, KOMMST DU NACH SPA
Karl Taefler: KALENDERNOTIZ
Gerd Fuchs: DIE AMIS KOMMEN
Fania Fénelon: MEINE KLEINE SÄNGERIN
Heiner Müller: DAS EISERNE KREUZ
Bruno Apitz: BUCHENWALD BEFREIT SICH SELBST
Ingeborg Drewitz: KALENDERBLÄTTER BERLIN 1945
Christa Wolf: BLICKWECHSEL
Willy Bredel: DIE LETZTEN STUNDEN
Hermann Hesse: DEM FRIEDEN ENTGEGEN
Pablo Neruda: DER MORGEN IN BERLIN
Erich Kästner: DIE MAULWÜRFE oder EUER WILLE GESCHEHE
Semjon Gudsenko: NEUNZEHNHUNDERTFÜNFUNDVIERZIG
Fritz Trost: ÜBER DEN HAß HINAUS
Maja Surányi: FRIEDEN
Peter Härtling: DER FRIEDENSBOTE
Stephan Hermlin: DIE ZEIT DER WUNDER
Vítĕzclav Nezval: DER SANG DES FRIEDENS
Thomas Mann: DEUTSCHE HÖRER!
Günter Eich: INVENTUR
Stephan Hermlin: BALLADE FÜR DIE GUTEN LEUTE
Nelly Sachs: CHOR DER GERETTETEN
Walter Kolbenhoff: DER KRIEG IST AUS
Schuzo Nishio: HIROSHIMA
August Kühn: DA IST ES MIR AUFGEGANGEN
Alfred Döblin: ALS ICH WIEDERKAM
Alfred Andersch: WINTERSENDE IN EINER FRIERENDEN STADT
Michail Lukonin: DIE AUS DEM KRIEG HEIMKEHREN
Werner Bergengruen: DIE LETZTE EPIPHANIE
Wolfgang Borchert: DAS IST UNSER MANIFEST
Christa Reinig: EINE RUINE
Ernst Schnabel: SIE SEHEN DEN MARMOR NICHT
Wolfgang Weyrauch: NÜRNBERG
Jacques Prévert: ES IST AUS
Elisabeth Langgässer: FRÜHLING 1946
Walter Lowenfels: DER GROßE FRIEDE
Nikolay Sidorenko: WIEDER DAHEIM
Bertolt Brecht: DER ANACHRONISTISCHE ZUG oder FREIHEIT UND DEMOCRACY
Jewgeni Jewtuschenko: MEINST DU, DIE RUSSEN WOLLEN KRIEG?

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