Auszüge aus Erich Fromm's
"Die Furcht vor der Freiheit"

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Freiheit – ein psychologisches Problem?

Im Mittelpunkt der modernen europäischen und amerikanischen Geschichte steht das Bemühen, sich von den politischen, wirtschaftlichen und geistigen Fesseln zu befreien, welche die Menschen gefangen hielten. Der Kampf um die Freiheit wurde von den Unterdrückten, die neue Freiheiten beanspruchten, gegen jene ausgefochten, die Privilegien zu verteidigen hatten. Immer wenn eine Klasse um ihre eigene Befreiung kämpfte, so tat sie das in dem Glauben, für die menschliche Freiheit als solche zu kämpfen, so daß sie an ein Ideal, an die Sehnsucht nach Freiheit bei allen Unterdrückten appellieren konnte. In diesem langen und praktisch noch immer andauernden Kampf um die Freiheit liefen jedoch Klassen, die gegen die Unterdrückung gekämpft hatten, in einem gewissen Stadium zu den Feinden der Freiheit über, nämlich dann, wenn der Sieg errungen war und es galt, neue Privilegien zu verteidigen.

Trotz vieler Rückschläge sind für die Freiheit manche Schlachten gewonnen worden. Viele sind in diesen Schlachten in der Überzeugung gestorben, es sei besser, im Kampf gegen die Unterdrückung zu sterben, als ohne Freiheit zu leben. Ein solcher Tod war für sie die höchste Bestätigung ihrer Individualität. Die Geschichte schien zu beweisen: Der Mensch kann sich selbst regieren, er kann selbst seine Entscheidungen treffen und denken und fühlen, was er für richtig hält. Die volle Entfaltung aller im Menschen schlummernden Möglichkeiten schien das Ziel zu sein, dem sich die gesellschaftliche Entwicklung mit raschen Schritten näherte. In den Grundsätzen des ökonomischen Liberalismus, der politischen Demokratie, der religiösen Autonomie und des Individualismus im persönlichen Leben kam die Sehnsucht nach Freiheit zum Ausdruck. Diese Prinzipien schienen die Menschheit der Verwirklichung dieser Sehnsucht näherzubringen. Eine Fessel nach der anderen wurde gesprengt. Der Mensch befreite sich aus seiner Beherrschung durch die Natur und machte sich zu ihrem Herrn; er beseitigte seine Beherrschung durch die Kirche und durch den absolutistischen Staat. Die Abschaffung der äußeren Botmäßigkeit [altdt.: unterwürfige Gehorsamkeit] schien die notwendige, aber auch hinreichende Vorbedingung für die Erreichung des ersehnten Ziels zu sein: der Freiheit des Individuums. ...

Fluchtmechanismen

Mancher Leser wird vielleicht fragen, ob die bei der Beobachtung von Einzelpersonen gewonnenen Erkenntnisse sich auch auf die psychologische Beurteilung von Gruppen anwenden lassen. Diese Frage ist nachdrücklich zu bejahen. Jede Gruppe besteht ja aus Individuen und aus nichts anderem als Individuen. Daher kann es sich bei den psychologischen Mechanismen, die wir bei einer Gruppe am Werk sehen, nur um Mechanismen handeln, die auch beim einzelnen am Werk sind. Wenn wir uns mit der Individualpsychologie als der Grundlage für das Verständnis der Sozialpsychologie beschäftigen, so tun wir etwas, was mit der Untersuchung eines Objektes unter dem Mikroskop vergleichbar ist. Es gibt uns die Möglichkeit, eben die Einzelheiten der psychologischen Mechanismen zu entdecken, die im großen Maßstab im Gesellschaftsprozeß am Werk sind. Wenn unsere Analyse der sozio-psychologischen Phänomene sich nicht auf die detaillierte Untersuchung individuellen Verhaltens gründete, so würde ihr der empirische Charakter und daher die Gültigkeit abgehen.

Aber selbst wenn man zugibt, daß das Studium individuellen Verhaltens eine solche Bedeutung besitzt, könnte man doch fragen, ob die Untersuchung von Menschen, die man gemeinhin als Neurotiker bezeichnet, für die Betrachtung der Probleme der Sozialpsychologie von irgendwelchem Nutzen sein kann. Auch diese Frage glauben wir mit "ja" beantworten zu müssen. Die Phänomene, die wir bei neurotischen Personen beobachten, unterscheiden sich nicht grundsätzlich von denen, die wir bei normalen Menschen finden. Sie sind nur akzentuierter und deutlicher zu erkennen, und häufig sind sie auch dem Neurotiker leichter zugänglich als dem Normalen, der gar nicht merkt, daß er Probleme hat, die eine nähere Untersuchung rechtfertigen könnten.

Um dies noch deutlicher zu machen, scheint mir eine kurze Diskussion der Begriffe "neurotisch" und "normal" oder "gesund" angebracht. Man kann den Begriff "normal" oder "gesund" auf zweierlei Weise definieren. Erstens kann man vom Standpunkt einer funktionierenden Gesellschaft aus den als normal oder gesund bezeichnen, der imstande ist, die ihm zufallende Rolle in der betreffenden Gesellschaft zu erfüllen. Konkreter ausgedrückt bedeutet das, daß er in der Lage ist, so zu arbeiten, wie es in der betreffenden Gesellschaft erforderlich ist, und daß er außerdem an ihrem Fortbestand mitwirken, das heißt, eine Familie gründen kann. Zweitens verstehen wir vom Standpunkt des Individuums aus unter Gesundheit und Normalität ein Optimum an Wachstum und Glück.

Wenn eine bestimmte Gesellschaft so strukturiert wäre, daß sie dem einzelnen eine optimale Möglichkeit zu seinem Glück böte, so würden beide Standpunkte sich decken. In den meisten uns bekannten Gesellschaften – einschließlich unserer eigenen – ist dies jedoch nicht der Fall. Wenn sie sich auch hinsichtlich des Grads, in dem sie dem individuellen Wachstum förderlich sind, unterscheiden, so besteht doch immer eine Diskrepanz zwischen den Zielen einer reibungslos funktionierenden Gesellschaft und der vollen Entfaltung des Individuums. Wir müssen daher scharf zwischen beiden Auffassungen von "Gesundheit" unterscheiden. Die eine Auffassung wird durch die gesellschaftlichen Erfordernisse bestimmt, die andere durch Werte und Normen, welche die Lebensziele des einzelnen Menschen betreffen.

Leider wird diese Unterscheidung oft nicht gemacht. Für die meisten Psychiater ist die Struktur ihrer eigenen Gesellschaft etwas so Selbstverständliches, daß für sie ein nicht gut angepaßter Mensch das Stigma der Minderwertigkeit trägt. Andererseits gibt man einer gut angepaßten Person auf der Skala menschlicher Werte einen höheren Rang. Wenn wir die beiden Begriffe "normal" und "neurotisch" einander gegenüberstellen, so kommen wir zu folgendem Schluß: Der gut angepaßte, normale Mensch ist im Hinblick auf die menschlichen Werte oft weniger gesund als der neurotische. Oft ist er nur deshalb so gut angepaßt, weil er sein Selbst aufgegeben hat, um mehr oder weniger so zu werden, wie man es von ihm erwartet. Dabei kann ihm jede echte Individualität und Spontaneität verloren gegangen sein. Andererseits kann man den Neurotiker als einen Menschen charakterisieren, der nicht bereit ist, im Kampf um sein Selbst völlig die Waffen zu strecken. Sicherlich war sein Versuch, das individuelle Selbst zu retten, nicht von Erfolg gekrönt, und anstatt sein Selbst produktiv zum Ausdruck zu bringen, suchte er sein Heil darin, daß er neurotische Symptome entwickelte und sich in ein Phantasieleben zurückzog. Trotzdem ist er vom Standpunkt der menschlichen Werte aus weniger verkrüppelt als der Normale, der seine Individualität völlig eingebüßt hat. Selbstverständlich gibt es auch Menschen, die keine Neurotiker sind und deren Individualität trotzdem nicht im Anpassungsprozeß untergegangen ist. Aber das dem Neurotiker anhaftende Stigma scheint mir unbegründet und nur insoweit gerechtfertigt, als man ihn unter dem Gesichtspunkt seiner Leistungsfähigkeit innerhalb der Gesellschaft beurteilt. Man kann eine ganze Gesellschaft nicht als in diesem Sinne neurotisch bezeichnen, da eine Gesellschaft nicht existieren könnte, wenn ihre Mitglieder ihre sozialen Aufgaben nicht erfüllen können. Vom Standpunkt der menschlichen Werte aus könnte man dagegen eine Gesellschaft als durchaus neurotisch in dem Sinn bezeichnen, daß ihre Mitglieder in bezug auf das Wachstum ihrer Persönlichkeit verkrüppelt sind. Weil aber der Begriff "neurotisch" so oft angewandt wird, um ein mangelhaftes Funktionieren in der Gesellschaft zu bezeichnen, möchte ich lieber statt von einer neurotischen Gesellschaft von einer solchen sprechen, die dem Glück und der Selbstverwirklichung des Menschen im Wege steht. ...

Flucht ins Autoritäre

Der erste Fluchtmechanismus, mit dem wir uns befassen wollen, ist die Tendenz, die Unabhängigkeit des eigenen Selbst aufzugeben und es mit irgend jemand oder irgend etwas außerhalb seiner selbst zu verschmelzen, um auf diese Weise sich die Kraft zu erwerben, die dem eigenen Selbst fehlt. Es handelt sich also darum, neue "sekundäre Bindungen" als Ersatz für die verlorenen primären Bindungen zu suchen. Deutlich erkennbare Formen dieses Mechanismus sind das Streben nach Unterwerfung und nach Beherrschung oder – besser gesagt – die masochistischen und sadistischen Strebungen, wie sie in unterschiedlichem Grad bei normalen und bei neurotischen Menschen anzutreffen sind. Wir wollen zunächst diese Tendenzen beschreiben und dann zeigen, daß beide eine Flucht vor einem unerträglichen Alleinsein sind.

Die häufigsten Formen, in denen masochistische Strebungen auftreten, sind Gefühle von Minderwertigkeit, Ohnmacht und individueller Bedeutungslosigkeit. Die Analyse von Personen, die von diesen Gefühlen besessen sind, zeigt, daß sie zwar bewußt über derartige Empfindungen klagen und sie loswerden möchte, sie aber unbewußt von einer Macht in ihrem Inneren getrieben werden, sich minderwertig und unbedeutend zu fühlen. Diese Gefühle bedeuten nicht nur, daß die Betreffenden sich ihrer wirklichen Benachteiligungen und Schwächen bewußt sind (obwohl sie gewöhnlich das behaupten); solche Menschen zeigen vielmehr die Neigung, sich selbst noch weit mehr herabzusetzen, sich als besonders schwach und leistungsunfähig hinzustellen. Mit ziemlicher Regelmäßigkeit zeigen sie eine deutliche Abhängigkeit von äußeren Gewalten, von anderen Menschen oder Institutionen oder auch von der Natur. Sie setzen sich gewöhnlich nicht durch, sie tun nicht, was sie gern möchten, sondern unterwerfen sich den tatsächlich gegebenen oder angeblichen Anordnungen jener äußeren Mächte. Oft sind sie völlig unfähig, das Gefühl "ich möchte" oder "ich bin" zu erleben. Für sie ist das ganze Leben etwas so überwältigend Schweres, daß sie es nicht zu meistern oder kontrollieren vermögen.

In extremeren Fällen – und deren gibt es viele – findet man neben der Neigung, sich herabzusetzen und sich äußeren Mächten zu unterwerfen, die Tendenz, sich selbst zu verletzen und leiden zu machen. Diese Neigung kann verschiedene Formen annehmen. Es gibt Menschen, die in Selbstbeschuldigung und Selbstkritik schwelgen, wie sie selbst ihre ärgsten Feinde kaum gegen sie vorbringen würden. Andere – wie zum Beispiel manche Zwangsneurotiker – neigen dazu, sich mit Zwangsriten und Zwangsvorstellungen zu peinigen. Bei einem gewissen Typ der neurotischen Persönlichkeit treffen wir auf die Tendenz, körperlich krank zu werden und bewußt oder unbewußt geradezu auf eine Krankheit zu warten, so als ob es sich dabei um ein Geschenk des Himmels handelte. Oft erleiden sie auch Unfälle, zu denen es nicht gekommen wäre, wenn nicht eine unbewußte Neigung dazu bei ihnen vorhanden wäre. Diese gegen sich selbst gerichteten Tendenzen kommen oft auch in weniger offenen und dramatischen Formen vor. So können zum Beispiel manche Menschen im Examen Fragen nicht beantworten, obgleich sie die Antwort zur Zeit des Examens und auch hinterher genau wissen. Andere sagen Dinge, welche Menschen, die sie lieben oder von denen sie abhängig sind, gegen sie aufbringen, obgleich sie selbst jene Menschen gern haben und so etwas eigentlich gar nicht zu ihnen sagen wollten. Es ist fast so, als ob ein Feind ihnen geraten hätte, sich so zu verhalten, wie es ihnen am meisten schadet.

Diese masochistischen Tendenzen werden oft als deutlich pathologisch und irrational empfunden. Aber noch häufiger werden sie von dem Betreffenden rationalisiert. Die masochistische Abhängigkeit wird als Liebe oder Loyalität, Minderwertigkeitsgefühle werden als adäquater Ausdruck eines tatsächlichen Zukurzgekommenseins empfunden, und daß man leidet, wird ganz und gar auf unvermeidliche Umstände geschoben. ...

Flucht ins Destruktive

Wie bereits erwähnt, ist zwischen den sado-masochistischen Strebungen und der Destruktivität zu unterscheiden, obwohl beide meist miteinander verquickt sind. Die Destruktivität unterscheidet sich insofern, als ihr Ziel nicht die aktive oder passive Symbiose, sondern die Vernichtung ihres Objektes ist. Aber auch sie wurzelt darin, daß Ohnmacht und Isolierung für den einzelnen unerträglich sind. Ich kann dem Gefühl meiner Ohnmacht gegenüber der Welt außerhalb von mir dadurch entrinnen, daß ich sie zerstöre. Sicher bleibe ich auch dann, wenn es mir gelungen ist, sie zu beseitigen, immer noch allein und isoliert, aber ich befinde mich dann in einer splendid isolation, in der ich nicht von einer überwältigenden Macht von Objekten außerhalb meiner selbst zermalmt werden kann. Die Zerstörung der Welt ist der letzte, verzweifelte Versuch, mich davor zu retten, von ihr zermalmt zu werden. Ziel des Sadismus ist die Einverleibung des Objekts, Ziel der Destruktivität ist dessen Beseitigung. Der Sadismus strebt danach, das atomisierte Individuum durch die Herrschaft über andere zu stärken; die Destruktivität erstrebt das gleiche durch die Beseitigung jeder Bedrohung von außen.

Wer die persönlichen Beziehungen in unserem gesellschaftlichen Leben betrachtet, muß bestürzt sein über das Ausmaß der überall herrschenden Destruktivität. Meist ist man sich ihrer nicht unmittelbar bewußt, sondern rationalisiert sie auf verschiedene Weise. Tatsächlich gibt es praktisch nichts, was nicht zur Rationalisierung der Destruktivität herangezogen wird. Liebe, Pflicht, Gewissen und Patriotismus benutzte und benutzt man als Masken, um andere oder sich selbst zu zerstören. Es ist jedoch zwischen zwei verschiedenen Arten destruktiver Tendenzen zu unterscheiden. Es gibt destruktive Tendenzen, die aus einer besonderen Situation als Reaktion auf Angriffe auf unser Leben oder auf das Leben anderer, auf unsere Integrität oder auch auf Ideen, mit denen wir uns identifizieren, erwachsen. Diese Art der Destruktivität ist eine natürliche und notwendige Begleiterscheinung unserer Lebensbejahung.

Dagegen handelt es sich bei der hier zur Erörterung stehenden Destruktivität nicht um diese rationale – oder man könnte auch sagen "reaktive" – Feindseligkeit, sondern um eine in einem Menschen ständig bereitliegende Tendenz, die sozusagen nur auf eine passende Gelegenheit wartet, sich zu manifestieren. Wenn wir für die Destruktivität eines Menschen keinen objektiven "Grund" feststellen können, bezeichnen wir ihn als geisteskrank oder als psychisch krank (auch wenn er selbst sich gewöhnlich irgendeine Rationalisierung zurechtgemacht hat). Meist werden die destruktiven Impulse jedoch so rationalisiert, daß zum mindesten einige andere Personen oder gesellschaftliche Gruppen an diese Rationalisierung glauben und sie für "realistisch" halten. Aber die Objekte der irrationalen Destruktivität und die speziellen Gründe dafür, daß man sich gerade sie auswählt, sind nur von sekundärer Bedeutung. Die destruktiven Impulse sind eine Leidenschaft im Menschen, und es gelingt ihnen immer, ein Objekt zu finden. Wenn aus irgendeinem Grund andere Personen nicht zum Objekt der Destruktivität eines Menschen werden können, kann es leicht geschehen, daß er selbst zum Objekt wird. Wenn das in einem erheblichen Ausmaß geschieht, ist oft eine körperliche Erkrankung die Folge – ja es kann sogar zu einem Selbstmordversuch kommen.

Wir gingen von der Annahme aus, daß die Destruktivität eine Flucht vor dem unerträglichen Gefühl der Ohnmacht ist, da sie darauf abzielt, alle Objekte zu beseitigen, mit denen der Betreffende sich auseinanderzusetzen hat. Aber angesichts der ungeheuren Rolle, welche die destruktiven Tendenzen im menschlichen Verhalten spielen, scheint mir diese Interpretation keine ausreichende Erklärung. Isolierung und Ohnmacht sind auch der Grund für die Angst und für die "Vereitelung" des Lebens als zwei weiteren Quellen von Destruktivität. Was die Angst betrifft, so ist darüber nicht viel zu sagen. Jede Bedrohung vitaler (materieller oder emotionaler) Interessen verursacht Angst (vgl. K. Horney, 1939), und destruktive Tendenzen sind die häufigste Reaktion auf diese Angst. Die Bedrohung kann von bestimmten Personen in einer bestimmten Situation ausgehen. In einem solchen Fall richtet sich die Destruktivität gegen diese Personen. Er kann sich aber auch um eine konstante – wenn auch nicht unbedingt bewußte – Angst handeln, die dem ebenfalls konstanten Gefühl entspringt, von der Außenwelt bedroht zu sein. Diese Art einer konstanten Angst entspringt der Situation des isolierten, ohnmächtigen Individuums und ist eine weitere Quelle des Reservoirs von Destruktivität, das in seinem Inneren entsteht. ...

Flucht ins Konformistische

Bei den bisher erörterten Mechanismen überwindet der einzelne sein Gefühl der Ohnmacht gegenüber der überwältigenden Macht der Außenwelt, indem er entweder auf seine individuelle Integrität verzichtet oder indem er andere zerstört, so daß die Welt für ihn nicht länger bedrohlich ist.

Andere Fluchtmechanismen bestehen darin, daß man sich so total von der Welt zurückzieht, daß diese ihren bedrohlichen Charakter verliert, und daß man sich psychologisch in einem solchen Maße aufbläht, daß die Außenwelt vergleichsweise klein wird. Wenn diese Fluchtmechanismen für die Individualpsychologie auch wichtig sind, so sind sie kulturell nur von untergeordneter Bedeutung. Ich möchte deshalb hier nicht näher darauf eingehen und mich lieber einem weiteren Fluchtmechanismus zuwenden, der von größter gesellschaftlicher Bedeutung ist.

Dieser Mechanismus stellt die Lösung dar, für die sich die meisten normalen Menschen in unserer heutigen Gesellschaft entscheiden. Er besteht kurz gesagt darin, daß der einzelne aufhört, er selbst zu sein; er gleicht sich völlig dem Persönlichkeitsmodell an, das ihm seine Kultur anbietet, und wird deshalb genau wie alle anderen und so, wie die anderen es von ihm erwarten. Die Diskrepanz zwischen dem "Ich" und der Welt verschwindet und damit auch die bewußte Angst vor dem Alleinsein und der Ohnmacht. Man könnte diesen Mechanismus mit der Schutzfärbung gewisser Tiere vergleichen. Diese sehen ihrer Umgebung so ähnlich, daß sie kaum von ihr zu unterscheiden sind. Wer sein Selbst aufgibt und zu einem Automaten wird, der mit Millionen anderer Automaten in seiner Umgebung identisch ist, fühlt sich nicht mehr allein und braucht deshalb keine Angst mehr zu haben. Aber der Preis, den er dafür zahlen muß, ist hoch, es ist der Verlust seines Selbst.

Die Annahme, der "normale" Weg, seine Einsamkeit zu überwinden, sei, zum Automaten zu werden, widerspricht nun aber einer der verbreitetsten Vorstellungen vom Menschen in unserer Kultur. Von den meisten wird angenommen, daß sie Individuen sind, denen es freisteht zu denken, zu fühlen und zu handeln, wie es ihnen beliebt. Es ist dies nicht nur die allgemeine Ansicht über den modernen Individualismus, jeder einzelne ist auch der aufrichtigen Überzeugung, daß er "er" ist und daß seine Gedanken, Gefühle und Wünsche die "seinen" sind. Obwohl es auch unter uns eigenständige Persönlichkeiten gibt, so ist diese Meinung doch in den allermeisten Fällen eine Illusion – und eine gefährliche noch dazu – denn sie verhindert, daß wir die Bedingungen beseitigen, die an diesem Stand der Dinge schuld sind. ...

Die Psychologie des Nazismus

Im vorigen Kapitel haben wir unsere Aufmerksamkeit auf zwei psychologische Typen konzentriert: den autoritären und den konformistischen Charakter. Ich hoffe, daß die ausführliche Beschreibung dieser Typen auch das Verständnis der in diesem und im nächsten Kapitel behandelten Probleme erleichtern wird: die Psychologie des Nazismus und die der modernen Demokratie.
Wenn wir uns mit der Psychologie des Nazismus beschäftigen, müssen wir zunächst eine einleitende Frage stellen – die Frage nach der Relevanz psychologischer Faktoren für das Verständnis des Nazismus.

In wissenschaftlichen und noch mehr in populären Diskussionen über den Nazismus werden häufig zwei entgegengesetzte Ansichten vertreten: Einmal heißt es, die Psychologie biete keine Erklärung für ein wirtschaftliches und politisches Phänomen wie den Faschismus, zum anderen wird behauptet, der Faschismus sei ein rein psychologisches Problem.
Erstere Auffassung sieht im Nazismus entweder das Ergebnis einer ausschließlich ökonomischen Dynamik – der Expansionstendenzen des deutschen Imperialismus – oder ein im wesentlichen politisches Phänomen – die Eroberung der Staatsgewalt durch eine von Industriellen und Junkern unterstützten politischen Partei. Kurz gesagt sieht man im Sieg des Nazismus das Ergebnis eines Betrugs und des Zwanges, den eine Minderheit auf die Mehrheit der Bevölkerung ausübte.

Dagegen stehen die Vertreter der zweiten Auffassung auf dem Standpunkt, man könne den Nazismus nur psychologisch oder, besser gesagt, psychopathologisch erklären: Hitler sei ein Wahnsinniger oder ein »Neurotiker«, und seine Gefolgsleute seien ebenfalls verrückt oder seelisch labil. Nach dieser Deutung, die unter anderem L. Mumford vertritt, sind die wirklichen Quellen des Faschismus »in der menschlichen Seele, und nicht in der Wirtschaft« zu suchen. Und Mumford fährt fort: »Im unmäßigen Hochmut, in der Lust an der Grausamkeit und in neurotischen Verfallserscheinungen – hierin, und nicht im Versailler Vertrag oder in der Unfähigkeit der Deutschen Republik liegt die Erklärung für den Faschismus« (L. Mumford, 1940, S. 118).
Meiner Auffassung nach ist weder die eine noch die andere dieser Erklärungen richtig, welche die politischen und wirtschaftlichen Faktoren unter Ausschluß der psychologischen – oder umgekehrt – als Ursache ansehen. Der Nazismus ist ein psychologisches Problem, aber man muß die psychologischen Faktoren aus den sozio-ökonomischen Faktoren heraus verstehen; der Nazismus ist ein ökonomisches und politisches Problem, aber daß er ein ganzes Volk erfaßt hat, ist mit psychologischen Gründen zu erklären. Ich möchte mich in diesem Kapitel mit diesem psychologischen Aspekt des Nazismus, mit seiner menschlichen Grundlage befassen. Damit stellen sich uns zwei Probleme: die Charakterstruktur der Menschen, die er angesprochen hat, und die psychologischen Merkmale der Ideologie, die ihn zu einem so wirksamen Instrument zur Beeinflussung eben dieser Leute machten.

Wenn man die psychologischen Hintergründe für den Erfolg des Nazismus untersucht, muß man von Anfang an folgende Unterscheidung treffen: Da ist einerseits der Teil der Bevölkerung, der sich der Naziherrschaft beugte, ohne wesentlichen Widerstand zu leisten, der aber andererseits nicht zu den Bewunderern der Nazi-Ideologie und ihren politischen Methoden gehörte. Und da waren andererseits jene, welche sich zu der neuen Ideologie stark hingezogen fühlten und fanatische Anhänger derjenigen wurden, die sie proklamierten. Erstere Gruppe bestand hauptsächlich aus Angehörigen der Arbeiterklasse und des liberalen und katholischen Bürgertums. Trotz ihrer vorzüglichen Organisation, besonders was die Arbeiterschaft betrifft, und trotz ihrer feindlichen Einstellung gegen den Nazismus von seinen Anfängen bis 1933 zeigten sie jedoch nicht den inneren Widerstand, den man aufgrund ihrer politischen Überzeugung von ihnen hätte erwarten können. Ihr Widerstandswille brach schnell zusammen, und sie haben seither dem Regime kaum noch Schwierigkeiten gemacht (abgesehen natürlich von der kleinen Minderheit, die in all den Jahren einen heroischen Kampf gegen den Nazismus geführt hat). Psychologisch scheint diese Bereitschaft, sich dem Nazi-Regime zu unterwerfen, vor allem auf eine innere Müdigkeit und Resignation zurückzuführen zu sein, die – wie wir im nächsten Kapitel zeigen werden – selbst in demokratischen Ländern für die Menschen unserer Zeit charakteristisch sind. In Deutschland kam für die Arbeiterklasse noch die Niederlage hinzu, die sie nach ihren ersten Erfolgen in der Revolution von 1918 erlitten hatte. Sie war mit großen Hoffnungen in die Nachkriegszeit eingetreten. Sie hatte mit der Verwirklichung des Sozialismus oder doch wenigstens mit einer beträchtlichen Besserung ihrer politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage gerechnet. Aber aus welchen Gründen auch immer hatte sie eine ununterbrochene Folge von Niederlagen hinnehmen müssen, weshalb sie schließlich alle Hoffnungen aufgab. Anfang 1930 war fast alles, was die Arbeiter mit ihren anfänglichen Siegen erreicht hatten, wieder verloren gegangen, und die Folge war eine tiefe Resignation, Mißtrauen gegen ihre Führer und Zweifel am Wert einer jeden politischen Organisation und Aktivität. Sie blieben zwar noch Mitglied ihrer jeweiligen Partei und glaubten in ihrem Bewußtsein auch noch weiter an ihre politischen Doktrinen; tief im Inneren hatten viele von ihnen aber jede Hoffnung auf die Wirksamkeit einer politischen Tätigkeit aufgegeben.

Nach Hitlers Machtergreifung kam für die Mehrzahl der Bevölkerung noch ein weiterer Beweggrund hinzu, sich der Nazi-Bewegung anzuschließen. Für Millionen wurde damals das Hitler-Regime gleichbedeutend mit »Deutschland«. Nachdem er einmal die Regierungsgewalt innehatte, bedeutete ein Widerstand gegen ihn, daß man sich von der Gemeinschaft der Deutschen ausschloß. Als die anderen politischen Parteien abgeschafft waren und die Nazi-Partei Deutschland »war«, bedeutete ein Widerstand gegen sie Widerstand gegen Deutschland. Es scheint, daß für den Durchschnittsmenschen nichts schwerer zu ertragen ist als das Gefühl, keiner größeren Gruppe zuzugehören. Ein Deutscher kann noch so sehr ein Gegner der Grundsätze des Nazismus sein – wenn er zu wählen hat, ob er lieber allein stehen oder sich Deutschland zugehörig fühlen will, wird er sich meist für letzteres entscheiden. Man kann beobachten, daß vielfach auch Menschen, die selbst keine Nazis sind, den Nazismus gegen die Kritik von Ausländern verteidigen, weil sie das Gefühl haben, daß ein Angriff auf die Nazis ein Angriff auf Deutschland ist. Die Angst vor der Isolierung und die relative Schwäche moralischer Prinzipien helfen jeder Partei, einen großen Teil der Bevölkerung für sich zu gewinnen, wenn sie erst einmal im Staat an die Macht gekommen ist.

Aus diesen Erwägungen ergibt sich ein für die politische Propaganda wichtiger Grundsatz: Jeder Angriff auf Deutschland selbst, jede diffamierende Propaganda gegen »die Deutschen« (wie zum Beispiel ihre Bezeichnung als »Hunnen« im Ersten Weltkrieg) verstärkt nur die Loyalität auch derer gegenüber dem Nazi-System, die sich noch nicht völlig damit identifiziert haben. Freilich läßt sich dieses Problem auch durch eine noch so geschickte Propaganda nicht grundsätzlich lösen, sondern nur dadurch, daß sich in allen Ländern eine Grundwahrheit siegreich durchsetzt, daß nämlich die ethischen Grundsätze über die Existenz der Nation gehen und daß jemand, der sich zu ihnen bekennt, der Gemeinschaft all derer angehört, die diese Überzeugung teilen, geteilt haben und auch in Zukunft teilen werden.

Während die Arbeiterschaft und das liberale und katholische Bürgertum zur Nazi-Ideologie eine negative oder resignierte Haltung einnahmen, wurde sie vom Kleinbürgertum, das sich aus Geschäftsleuten, Handwerkern und kleinen Angestellten zusammensetzt, leidenschaftlich begrüßt. (Vgl. zu diesem ganzen Kapitel und insbesondere zur Rolle des Kleinbürgertums H. D. Lasswell, 1933, S. 374, und F. L. Schuman, 1939.)

Die Angehörigen der älteren Generation dieser Bevölkerungsgruppe bildeten die eher passiv eingestellte Massenbasis; ihre Söhne und Töchter waren die aktiveren Kämpfer. Diese fühlten sich von der Nazi-Ideologie ungeheuer angesprochen, von ihrem Geist blinden Gehorsams gegenüber dem Führer, vom Haß gegen rassische und politische Minderheiten, vom Streben nach Eroberung und Herrschaft, und von der Verherrlichung des deutschen Volkes und der »nordischen Rasse«; und dieser Appell an ihre Emotionen gewann sie für die Sache der Nazis und machte sie zu ihren begeisterten Anhängern und Verfechtern. Die Antwort auf die Frage, weshalb die Nazi-Ideologie das Kleinbürgertum derart ansprach, ist im Gesellschafts-Charakter dieses Kleinbürgertums zu suchen. Dieser Gesellschafts-Charakter unterschied sich deutlich von dem der Arbeiterschaft und der höheren Schichten des Mittelstandes wie auch von dem des Adels in der Zeit vor 1914. Es gibt gewisse Charakterzüge, die für diesen Teil des Mittelstandes von jeher kennzeichnend waren: seine Vorliebe für die Starken und sein Haß auf die Schwachen, seine Kleinlichkeit, seine feindselige Haltung, seine übertriebene Sparsamkeit sowohl in bezug auf seine Gefühle wie auch in bezug auf das Geld, und ganz besonders seine asketische Einstellung. Der Horizont des Kleinbürgertums war eng begrenzt, es verachtete und haßte die Fremden, es war neugierig und neidisch auf die eigenen Bekannten, spionierte sie aus und rationalisierte seinen Neid als moralische Entrüstung. Sein ganzes Leben gründete sich auf das Prinzip der Sparsamkeit – wirtschaftlich und psychologisch.

Wenn wir feststellen, daß der Gesellschafts-Charakter des Kleinbürgertums sich von dem der Arbeiterschaft unterschied, so heißt das nicht, daß diese Charakterstruktur nicht auch in der Arbeiterklasse zu finden gewesen wäre. Aber sie war typisch für das Kleinbürgertum, während nur eine Minderheit in der Arbeiterschaft dieselbe Charakterstruktur in so ausgeprägter Form aufwies. Aber der eine oder andere Charakterzug, wie etwa der übertriebene Respekt vor der Autorität und der Sparsinn waren – wenn auch in einer weniger intensiven Form – ebenso bei den meisten Angehörigen der Arbeiterschaft zu finden. Andererseits hat es den Anschein, daß ein großer Teil der kleinen Angestellten – vielleicht sogar die meisten von ihnen – in bezug auf ihre Charakterstruktur mehr den Handarbeitern (besonders den Arbeitern in den großen Fabriken) als den Mitgliedern des »alten Mittelstandes« ähnlich waren, die nicht am Aufstieg des Monopolkapitalismus teilgehabt hatten, sondern sich im wesentlichen von diesem bedroht fühlten.

Wenn auch der Gesellschafts-Charakter des Kleinbürgertums schon lange vor dem Ersten Weltkrieg der gleiche war, so ist doch andererseits unverkennbar, daß die Ereignisse nach dem Krieg eben die Charakterzüge noch verstärkten, auf welche die Nazi-Ideologie eine so große Anziehungskraft ausübte: das Streben nach Unterwerfung und die Gier nach Macht.

In der Zeit vor der Deutschen Revolution von 1918 hatte sich die wirtschaftliche Lage der unteren Schichten des alten Mittelstandes bereits verschlechtert, doch war die Situation dieser kleinen Geschäftsleute und Handwerker nicht verzweifelt; es gab immerhin noch eine Reihe von Faktoren, die ihnen eine gewisse Sicherheit gewährten. Die Autorität der Monarchie war noch unangefochten, und dadurch, daß das Kleinbürgertum sich an sie anlehnte und sich mit ihr identifizierte, fühlte es sich sicher und war von einem narzißtischen Stolz erfüllt. Auch die Autorität der Religion und der herkömmlichen Moral war noch fest verwurzelt. Die Familie war noch unerschüttert und ein sicherer Zufluchtsort in einer feindlichen Welt. Der einzelne hatte das Gefühl, einem stabilen gesellschaftlichen und kulturellen System anzugehören, in dem jeder seinen bestimmten Platz hatte. Seine Unterwürfigkeit und seine Loyalität gegenüber der Autorität waren eine befriedigende Lösung für seine masochistischen Strebungen. Allerdings gab er sich noch nicht völlig selber auf und bewahrte sich noch ein Gefühl der Wichtigkeit seiner eigenen Persönlichkeit. Für das, was ihm an Sicherheit und Aggressivität als Individuum abging, fand er eine Entschädigung in der Macht der verehrten Autoritäten. Kurz, seine wirtschaftliche Lage war noch so solide, daß sie ihm ein Gefühl des Stolzes auf sich selbst und einer relativen Sicherheit gab, und die Autoritäten, an die er sich anlehnte, waren ihrerseits so stark, daß sie ihm zusätzlich die Sicherheit gaben, die ihm seine persönliche Situation nicht gewähren konnte.

Nach dem Krieg änderte sich diese Situation beträchtlich. Erstens ging es nun mit dem alten Mittelstand wirtschaftlich immer schneller bergab. Dies wurde noch durch die Inflation beschleunigt, die 1923 ihren Höhepunkt erreichte und die die Ersparnisse aus der Arbeit vieler Jahre fast völlig hinwegraffte.

Zwar war das Kleinbürgertum in den Jahren zwischen 1924 und 1928 wirtschaftlich wieder besser gestellt und schöpfte erneut Hoffnung, doch gingen diese Vorteile durch die Wirtschaftsdepression nach 1929 wieder verloren. Wie in der Inflationszeit war der zwischen die Arbeiterschaft und die Oberschicht gepreßte Mittelstand die wehrloseste und daher auch die am schwersten betroffene Gruppe. (Vgl. F. L. Schuman, 1939, S. 104.)

Aber neben diesen wirtschaftlichen Faktoren gab es auch psychologische Probleme, die die Situation noch verschlimmerten. Dazu gehörte der verlorene Krieg und der Zusammenbruch der Monarchie. Monarchie und Staat waren psychologisch gesehen der Fels gewesen, auf den das Kleinbürgertum seine Existenz aufgebaut hatte; daher erschütterte deren Mißerfolg und ihr Zusammenbruch die eigene Existenzgrundlage. Wenn man in aller Öffentlichkeit den Kaiser lächerlich machen und die Offiziere attackieren konnte, wenn der Staat seine Regierungsform ändern und sich »rote Agitatoren« als Staatsminister und einen Sattlermeister als Reichspräsidenten gefallen lassen mußte, worauf konnte dann der kleine Mann noch bauen? Er hatte sich in seiner subalternen [unterwürfigen, unterordnenden] Art mit all diesen Institutionen identifiziert. Was sollte er nun tun, nachdem sie alle dahin waren?
Auch die Inflation spielte nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht, sondern ebenso psychologisch eine wichtige Rolle. Sie bedeutete einen ebenso tödlichen Schlag für den Grundsatz der Sparsamkeit wie für die Autorität des Staates. Wenn die Ersparnisse vieler Jahre, für die man auf so viele kleine Annehmlichkeiten verzichtet hatte, ohne eigenes Verschulden verloren gehen konnten, was hatte es dann überhaupt noch für einen Sinn zu sparen? Wenn der Staat die Versprechungen, die er auf seine Banknoten und Anleihen gedruckt hatte, brechen konnte, wessen Versprechungen konnte man dann überhaupt noch trauen?

Und nicht nur mit der wirtschaftlichen Situation des Kleinbürgertums ging es nach dem Krieg immer schneller bergab, es verlor auch sein gesellschaftliches Ansehen. Vor dem Krieg konnte man sich als etwas Besseres vorkommen als ein Arbeiter. Nach der Revolution hob sich das gesellschaftliche Prestige der Arbeiterschaft beträchtlich, und entsprechend schwand das Ansehen des Kleinbürgertums dahin. Es war jetzt keiner mehr da, auf den man hätte herabsehen können – ein Vorrecht, das bei den kleinen Geschäftsleuten und ihresgleichen immer eine wichtige Rolle gespielt hatte.

Schließlich geriet auch noch das letzte Bollwerk für die Sicherheit des Mittelstandes ins Wanken: die Familie. Nach dem Kriege war in Deutschland vielleicht noch mehr als in anderen Ländern eine Entwicklung eingetreten, bei der die Autorität des Vaters und die alte bürgerliche Moral schwer erschüttert wurden. Die jüngere Generation tat, was sie wollte, und kümmerte sich nicht mehr darum, ob ihre Eltern damit einverstanden waren oder nicht.

Die Ursachen für diese Entwicklung sind zu vielfältig und komplex, als daß wir sie hier in allen Einzelheiten diskutieren könnten. Ich möchte nur einiges dazu bemerken. Der Zerfall der alten gesellschaftlichen Autoritätssymbole wie Monarchie und Staat beeinflußte auch die Rolle der individuellen Autoritäten, nämlich der Eltern. Wenn sich jene Autoritäten als schwach erwiesen, die – wie die jüngere Generation von ihren Eltern gelernt hatte, zu respektieren waren – dann verloren auch die Eltern ihr Ansehen und ihre Autorität. Hinzu kam noch, daß die ältere Generation durch die veränderte Lage und insbesondere durch die Inflation selbst verwirrt und ratlos war und sich mit den neuen Bedingungen weit weniger abzufinden wußte als die wendigere jüngere Generation. So fühlte diese sich ihren Eltern überlegen und nahm sie samt ihren guten Lehren nicht immer ganz ernst. Außerdem waren die Eltern durch die Verarmung des Mittelstandes nicht mehr in der Lage, die Zukunft ihrer Kinder finanziell sicherzustellen.

So kam es, daß die ältere Generation im Kleinbürgertum immer verärgerter und verbitterter wurde, wenn sie sich dabei auch passiv verhielt. Die jüngere Generation dagegen drängte zur Tat. Die Grundlage für eine unabhängige wirtschaftliche Existenz, die ihre Eltern noch besessen hatten, war ihnen verloren gegangen; der Arbeitsmarkt war gesättigt, alle Berufe waren überfüllt, und sie hatten kaum eine Chance, sich einmal als Arzt oder Rechtsanwalt ihren Lebensunterhalt verdienen zu können. Wer im Krieg mitgekämpft hatte, meinte ein Anrecht auf ein besseres Los zu haben. Vor allem die vielen jungen Offiziere, die jahrelang daran gewöhnt waren, zu kommandieren und Macht auszuüben, konnten sich natürlich nicht damit abfinden, daß sie jetzt als Büroangestellte oder Vertreter arbeiten sollten.

Diese wachsende gesellschaftliche Frustration führte zu einer Projektion, die bei der Ausbreitung des Nationalsozialismus eine wichtige Rolle spielte. Der alte Mittelstand sah in seiner schlechten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage nicht so sehr das eigene Schicksal, als vielmehr das Schicksal des deutschen Volkes. Man schob den eigenen – sozialen – Abstieg auf die nationale Niederlage und den Versailler Vertrag und machte diese zum Symbol der eigenen Entbehrungen.

Es heißt oft, die Behandlung der Deutschen durch die Siegermächte 1918 sei einer der Hauptgründe für das Aufkommen des Nazismus gewesen. Diese Behauptung bedarf einer Qualifikation. Die meisten Deutschen empfanden den Friedensvertrag als ungerecht; aber der Mittelstand war über den Versailler Vertrag weit erbitterter, als es die Arbeiter waren. Diese hatten das alte Regime bekämpft, und der verlorene Krieg war für sie gleichbedeutend mit der Niederlage dieses Regimes. Sie hatten das Gefühl, tapfer gekämpft zu haben, und empfanden die Niederlage nicht als persönliche Schmach. Außerdem war die Revolution nur durch die Niederlage der Monarchie ermöglicht worden, und sie hatte ihnen wirtschaftliche, politische und menschliche Vorteile eingebracht. Der Groll auf Versailles kam aus dem Kleinbürgertum; der Groll der Nationalsozialisten war eine Rationalisierung, eine Projektion der eigenen gesellschaftlichen Benachteiligung auf die Benachteiligung der Nation.

Diese Projektion kommt in Hitlers persönlicher Entwicklung deutlich zum Ausdruck. Er war ein typischer Vertreter des Kleinbürgertums, ein Niemand ohne alle Zukunftsaussichten, der das intensive Gefühl hatte, ein Ausgestoßener zu sein. In Mein Kampf spricht Hitler an mehreren Stellen von sich als dem »Niemand«, als dem »Unbekannten«, der er in seiner Jugend gewesen sei. Aber obwohl dies im wesentlichen an seiner eigenen gesellschaftlichen Stellung lag, verstand er es mit nationalen Symbolen zu rationalisieren. Da er außerhalb des Reiches geboren war, fühlte er sich nicht so sehr gesellschaftlich als in nationaler Beziehung ausgestoßen, und das Großdeutsche Reich, in das alle seine Söhne heimkehren sollten, wurde für ihn zum Symbol für gesellschaftliches Prestige und Sicherheit. (Vgl. A. Hitler, 1933, S. 4 f.)

Das Gefühl der Ohnmacht und Angst beim alten Mittelstand, seine Isolierung innerhalb der Gesellschaft und seine aus dieser Lage entspringende Destruktivität waren nicht die einzige psychologische Quelle des Nazismus. Die Bauern waren aufgebracht gegen ihre städtischen Kreditgeber, bei denen sie verschuldet waren, und die Arbeiter waren tief enttäuscht und entmutigt darüber, daß sie nach ihren anfänglichen Siegen 1918 politisch immer mehr ins Hintertreffen gerieten und daß ihre Führung jede strategische Initiative eingebüßt hatte. Der größte Teil der Bevölkerung wurde von jenem Gefühl der Bedeutungslosigkeit und Ohnmacht des einzelnen erfaßt, das wir bereits als typisch für den monopolistischen Kapitalismus beschrieben haben.
Diese psychologischen Bedingungen waren nicht die »Ursache« des Nazismus. Sie waren nur die menschliche Basis, ohne die er sich nicht hätte entwickeln können; aber jede Analyse des Gesamtphänomens des Aufstiegs und Siegs des Nazismus muß sich neben seinen psychologischen Voraussetzungen auch mit seinen rein wirtschaftlichen und politischen Ursachen befassen. In Anbetracht der umfangreichen Literatur über letztere Aspekte und der speziellen Absicht, die wir mit diesem Buch verfolgen, brauchen wir uns mit diesen ökonomischen und politischen Fragen nicht zu beschäftigen. Ich möchte den Leser lediglich an die Rolle erinnern, welche die Vertreter der Großindustrie und die halb bankerotten Junker bei der Errichtung der Naziherrschaft spielten. Ohne ihre Unterstützung hätte Hitler niemals gewinnen können, und sie unterstützten ihn weit mehr aus der Erkenntnis heraus, daß sie damit ihren eigenen wirtschaftlichen Interessen dienten, als aus psychologischen Gründen.

Die besitzende Klasse sah sich einem Reichstag gegenüber, in dem 40 Prozent der Abgeordneten Sozialisten und Kommunisten waren und Gruppen repräsentierten, die mit dem bestehenden Gesellschaftssystem unzufrieden waren, und in dem sich auch immer mehr Nazi-Abgeordnete befanden, die ebenfalls eine Bevölkerungsschicht repräsentierten, die sich in einer erbitterten Opposition gegen die mächtigsten Vertreter des deutschen Kapitalismus befand. Ein Parlament, in welchem die Mehrheit der Abgeordneten Tendenzen vertrat, die sich gegen deren wirtschaftliche Interessen richteten, mußte gefährlich erscheinen. Daher behauptete man, die Demokratie funktioniere nicht. Tatsächlich hätte man jedoch sagen können, die Demokratie funktioniere nur allzu gut. Der Reichstag repräsentierte auf ziemlich adäquate Weise die Interessen der verschiedenen Schichten der deutschen Bevölkerung, weshalb das parlamentarische System sich nicht mehr mit dem Bedürfnis der Großindustrie und der halbfeudalen Großgrundbesitzer vereinbaren ließ, sich ihre Privilegien zu erhalten. Die Vertreter der privilegierten Gruppen erwarteten vom Nazismus, daß er den sie bedrohenden emotionalen Unwillen in andere Kanäle leiten und daß er gleichzeitig das deutsche Volk in den Dienst ihrer eigenen wirtschaftlichen Interessen stellen würde. Alles in allem wurden sie nicht enttäuscht, wenn sie sich auch in unwesentlichen Einzelheiten irrten. Hitler und seine Gefolgsleute waren keine willigen Werkzeuge, die sich von den Thyssens und Krupps herumkommandieren ließen; diese mußten vielmehr ihre Macht mit der Nazi-Herrschaft teilen und oft sogar sich ihr unterordnen. Aber während die Nazis alle anderen Schichten der Bevölkerung wirtschaftlich schädigten, dienten sie den Interessen der wichtigsten Machtgruppen der deutschen Industrie. Das Nazi-System ist die »Stromlinienform« des deutschen Vorkriegsimperialismus und setzte den Weg da fort, wo die Monarchie gescheitert war. (Die Weimarer Republik hatte die Entwicklung des deutschen Monopolkapitalismus nicht wirklich unterbrochen, sondern sie effektiv mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln gefördert.)

Mancher Leser dürfte sich hier die Frage stellen, wie sich die Behauptung, der Mittelstand sei psychologisch für den Nazismus am empfänglichsten gewesen, mit der Feststellung in Einklang bringen lasse, der Nazismus diene den Interessen des deutschen Imperialismus? Die Antwort hierauf ist im wesentlichen die gleiche wie die auf die Frage, welche Rolle das städtische Bürgertum in der Epoche des aufkommenden Kapitalismus spielte. In der Nachkriegszeit war der Mittelstand und insbesondere das Kleinbürgertum vom Monopolkapitalismus bedroht. Seine Angst und der daraus entspringende Haß versetzten es in eine Panik, in der es ebenso sehr nach Unterwerfung wie nach Beherrschung der Machtlosen verlangte. Diese Gefühle nutzte eine völlig andere Bevölkerungsschicht für ein Regime aus, das sie ihren eigenen Interessen dienstbar zu machen gedachte. Hitler erwies sich hierzu als ein so geeignetes Werkzeug, weil er die Charakterzüge des erbitterten, haßerfüllten Kleinbürgers, mit dem sich das Kleinbürgertum emotional und gesellschaftlich identifizieren konnte, mit denen eines Opportunisten verband, der bereit war, sich in den Dienst der deutschen Großindustriellen und Junker zu stellen. Ursprünglich gab er sich als Messias des alten Mittelstandes. Er versprach, die Warenhäuser abzuschaffen und die »Zinsknechtschaft zu brechen« und dergleichen. Aber er hat diese oft geäußerten Versprechen nie erfüllt. Nicht als ob das etwas ausgemacht hätte. Der Nazismus besaß niemals irgendwelche genuine politische oder wirtschaftliche Prinzipien. Man versteht ihn nur richtig, wenn man begreift, daß sein eigentliches Prinzip ein radikaler Opportunismus war. Es kam ihm darauf an, daß Hunderttausende von Kleinbürgern, die bei einer normalen Entwicklung der Dinge kaum eine Chance gehabt hätte, zu Macht und Geld zu gelangen, jetzt als Funktionäre der Nazi-Bürokratie ein großes Stück vom Kuchen mitbekamen, indem sie die Oberschicht zwangen, ihren Reichtum und ihr Prestige mit ihnen zu teilen. Andere, die dem Nazi-Apparat nicht angehörten, bekamen gute Stellen, die man den Juden und den politischen Gegnern wegnahm, und was den Rest betraf, so bekamen sie zwar nicht mehr Brot, dafür aber »Spiele«. Die emotionale Befriedigung, welche ihnen diese sadistischen Schauspiele gewährten, und eine Ideologie, die ihnen ein Gefühl der Überlegenheit über den Rest der Menschheit gab, entschädigte sie – wenigstens eine Zeitlang – dafür, daß ihr Leben wirtschaftlich und kulturell verarmt war.

Wir sahen, daß bestimmte sozio-ökonomische Veränderungen, besonders der Niedergang des Mittelstandes und die wachsende Macht des Monopolkapitals, eine tiefe psychologische Wirkung ausübten. Die Wirkung wurde durch eine politische Ideologie noch verstärkt und in ein System gebracht, wie dies im 16. Jahrhundert durch eine religiöse Ideologie geschehen war – und die so geweckten psychischen Kräfte sollten sich dann in einer Richtung auswirken, welche den ursprünglichen wirtschaftlichen Interessen dieser Bevölkerungsschicht genau entgegengesetzt war. Der Nazismus erweckte das Kleinbürgertum psychologisch zu neuem Leben, trug aber gleichzeitig mit dazu bei, daß ihm seine alte wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung verloren ging. Er mobilisierte seine emotionalen Energien, die zu einer wichtigen Kraft im Kampf um die wirtschaftlichen und politischen Ziele des deutschen Imperialismus werden sollten.
Ich möchte auf den folgenden Seiten zu zeigen versuchen, daß Hitlers Persönlichkeit, seine Lehren und das Nazi-System eine extreme Form jener Charakterstruktur darstellen, die wir als »autoritär« bezeichnet haben, und daß er eben hierdurch jene Teile der Bevölkerung so stark ansprach, die – mehr oder weniger – die gleiche Charakterstruktur besaßen. Hitlers Autobiographie bietet eine vorzügliche Illustration des autoritären Charakters, und da sie außerdem das repräsentativste Dokument der Nazi-Literatur ist, möchte ich sie als Hauptquelle für meine Analyse der Psychologie des Nazismus benutzen.

Wir haben das gleichzeitige Vorhandensein von sadistischen und masochistischen Strebungen als das Wesentliche beim autoritären Charakter bezeichnet. Unter Sadismus verstanden wir das Streben nach uneingeschränkter Macht über einen anderen Menschen, das mehr oder weniger mit Destruktivität vermischt ist. Der Masochismus dagegen zielt darauf ab, daß der Betreffende sich in einer überwältigend starken Macht auflöst und so an deren Kraft und Ruhm teilhat. Ursache sowohl für die sadistischen als auch für die masochistischen Tendenzen ist die Unfähigkeit des isolierten einzelnen, auf eigenen Füßen zu stehen, und sein Bedürfnis nach einer symbiotischen Beziehung, welche diese Vereinsamung überwindet

In Hitlers Autobiographie Mein Kampf kommt dieses sadistische Streben nach Macht auf mannigfache Weise zum Ausdruck. Es kommt in Hitlers Beziehung zu der Masse des deutschen Volkes zum Ausdruck, die er – auf typisch sadistische Weise – gleichzeitig verachtet und »liebt«, und es spricht ebenso aus seiner Haltung den politischen Gegnern gegenüber, die jene destruktiven Elemente aufweist, welche eine so wesentliche Komponente des Sadismus darstellen. Er spricht von der Befriedigung, welche die Herrschaft den Massen gewährt: »Was sie wünscht, ist der Sieg des Stärkeren und die Vernichtung des Schwachen oder seine bedingungslose Unterwerfung.« (A. Hitler, 1933, S. 372.) »Gleich dem Weibe, ... das sich lieber dem Starken beugt als den Schwächling beherrscht, liebt auch die Masse mehr den Herrscher als den Bittenden und fühlt sich im Innern mehr befriedigt durch eine Lehre, die keine andere neben sich duldet, als durch die Genehmigung liberaler Freiheit; sie weiß mit ihr auch meist nur wenig anzufangen und fühlt sich sogar leicht verlassen. Die Unverschämtheit ihrer geistigen Terrorisierung kommt ihr ebensowenig zum Bewußtsein wie die empörende Mißhandlung ihrer menschlichen Freiheit, ahnt sie doch den inneren Irrsinn der ganzen Lehre in keiner Weise« (a.a.O., S. 44).

Als wesentlichen Faktor in der Propaganda bezeichnet er es, den Willen der Zuhörer durch die überlegene Kraft des Redners zu brechen. Er scheut sich nicht einmal zuzugeben, daß die körperliche Ermüdung der Zuhörer ihm höchst willkommen ist, da sie dann leichter zu beeinflussen sind. Zur Frage, welche Tageszeit für politische Versammlungen die geeignetste sei, sagt er: »Morgens und selbst tagsüber scheinen die willensmäßigen Kräfte des Menschen sich noch in höchster Energie gegen den Versuch der Aufzwingung eines fremden Willens und einer fremden Meinung zu sträuben. Abends dagegen unterliegen sie leichter der beherrschenden Kraft eines stärkeren Wollens. Denn wahrlich stellt jede solche Versammlung einen Ringkampf zweier entgegengesetzter Kräfte dar. Der überragenden Redekunst einer beherrschenden Apostelnatur wird es nun leichter gelingen, Menschen dem neuen Wollen zu gewinnen, die selbst bereits eine Schwächung ihrer Widerstandskraft in natürlichster Weise erfahren haben, als solche, die noch im Vollbesitz ihrer geistigen und willensmäßigen Spannkraft sind« (a.a.O., S. 531 f.).

Hitler kennt sehr genau die Voraussetzungen dafür, daß sich jemand nach Unterwerfung sehnt, und gibt eine ausgezeichnete Schilderung eines solchen Menschen, der eine Massenversammlung besucht: »Die Massenversammlung ist auch schon deshalb notwendig, weil in ihr der einzelne, der sich zunächst als werbender Anhänger einer jungen Bewegung vereinsamt fühlt und leicht der Angst verfällt, allein zu sein, zum erstenmal das Bild einer größeren Gemeinschaft erhält, was bei den meisten Menschen kräftigend und ermutigend wirkt ... Wenn er aus seiner kleinen Arbeitsstätte oder aus dem großen Betriebe, in dem er sich recht klein fühlt, zum ersten Male in die Massenversammlung hineintritt und nun Tausende und Tausende von Menschen gleicher Gesinnung um sich hat, ... dann unterliegt er selbst dem zauberhaften Einfluß dessen, was wir mit dem Wort Massensuggestion bezeichnen« (A. Hitler, 1933, S. 536).

Entsprechend beschreibt auch Joseph Goebbels die Masse in seinem Roman Michael, wenn er sagt, das Volk wolle nichts anderes als anständig beherrscht werden, und deshalb den Staatsmann mit einem Künstler vergleichen kann: »Für ihn ist das Volk nichts anderes, als was für den Bildhauer der Stein ist. Führer und Masse, das ist ebensowenig ein Problem wie etwa Maler und Farbe« (J. Goebbels, 1931, S. 31).

In seinem Tagebuch Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei gibt Goebbels eine genaue Beschreibung der Abhängigkeit des Sadisten von seinen Objekten; wie schwach und leer er sich fühlt, wenn er nicht über jemanden Macht besitzt, und wie diese Macht ihm Kraft verleiht. Was in ihm selbst vor sich geht, beschreibt Goebbels folgendermaßen: »Ich werde mit einem Beifallsorkan empfangen. Das reißt mich wieder etwas hoch, und dann rede ich in beiden Sälen. Die Leute ahnen gar nicht, wie schlecht es um mich bestellt ist« (J. Goebbels, 1934, S. 120).

Eine aufschlußreiche Beschreibung jener besonderen Art von Macht über die Menschen, welche die Nazis als »Führertum« bezeichnen, gibt der Führer der Deutschen Arbeitsfront, Robert Ley. Über die bei einem Nazi-Führer erforderlichen Eigenschaften und über die Ziele der Ausbildung zum Führer schreibt er: »Wir wollen wissen, ob diese Männer den Willen zum Führer in sich tragen, zum Herrsein, mit einem Wort zum Herrschen ... Wir wollen herrschen, wir haben Freude am Herrschen ... So werden diese Männer z.B. reiten lernen ..., um das Gefühl zu haben, ein lebendes Wesen absolut beherrschen zu können« (R. Ley, zit. nach K. Heiden, 1937, S. 177).

Den gleichen Nachdruck auf die Macht legt Hitler in Mein Kampf bei der Formulierung der Ziele der Erziehung. Von dem »jungen Volksgenossen« sagt er: »Seine gesamte Erziehung und Ausbildung muß darauf angelegt werden, ihm die Überzeugung zu geben, anderen unbedingt überlegen zu sein« (A. Hitler, 1933, S. 456).

Daß er an einer anderen Stelle erklärt, man müsse dem Schüler beibringen, auch Ungerechtigkeit zu ertragen, ohne dagegen aufzubegehren, dürfte den Leser inzwischen nicht mehr befremden. Dieser Widerspruch ist typisch für die sado-masochistische Ambivalenz zwischen der Machtgier und dem Streben nach Unterwerfung.

Der Wunsch nach Macht über die Massen ist es, was die »Elite«, die Nazi-Führer beseelt, und – wie die oben angeführten Zitate zeigen – geben sie es manchmal mit fast erstaunlicher Offenheit zu. Manchmal kleiden sie es in eine weniger offensive Form und betonen, beherrscht werden, das sei es, was die Massen wollen. Manchmal sieht Hitler sich auch genötigt, den Massen zu schmeicheln, und um seine zynische Verachtung zu verbergen, greift er zu Tricks wie dem folgenden: Vom Selbsterhaltungstrieb, der – wie wir noch sehen werden – für ihn mehr oder weniger mit dem Trieb zur Macht identisch ist, sagt er, dieser habe beim Arier seine edelste Form erreicht, »indem er das eigene Ich dem Leben der Gesamtheit willig unterordnet und, wenn die Stunde es erfordert, auch zum Opfer bringt« (a.a.O., S. 326).

Die »Führer« genießen die Macht zwar an erster Stelle, aber deshalb müssen die Massen keineswegs die sadistische Befriedigung entbehren. Die rassischen und politischen Minderheiten in Deutschland und dann andere Nationen, die als schwach und dekadent hingestellt werden, sind die Objekte des Sadismus, mit dem die Massen abgespeist werden. Während Hitler und seine Gefolgsleute die Macht über die Masse des deutschen Volkes genießen, bringt man diesen Massen selbst bei, die Macht über andere Völker zu genießen und leidenschaftlich nach Weltherrschaft zu streben.

Hitler scheut sich nicht, diesen Wunsch nach Weltherrschaft offen als sein Ziel und als das Ziel seiner Partei zu beschreiben. Den Pazifismus verspottet er und meint: »Tatsächlich ist die pazifistisch-humane Idee vielleicht ganz gut dann, wenn der höchststehende Mensch sich vorher die Welt in einem Umfange erobert und unterworfen hat, der ihn zum alleinigen Herrn dieser Erde macht« (A. Hitler, 1933, S. 315).

Im Schlußwort zum zweiten Band heißt es: »Ein Staat, der im Zeitalter der Rassenvergiftung sich der Pflege seiner besten rassischen Elemente widmet, muß eines Tages zum Herrn der Erde werden« (a.a.O., S. 782).

Für gewöhnlich versucht Hitler, sein Machtstreben zu rationalisieren und zu rechtfertigen; dabei bedient er sich mit Vorliebe folgender Rechtfertigungen: Seine Herrschaft über andere Völker sei nur zu deren Besten und komme nur der Kultur der Welt zugute; der Wille zur Macht sei in den ewigen Gesetzen der Natur begründet, und er habe lediglich diese Gesetze erkannt und befolge sie; er selbst handele nach dem Gebot einer höheren Macht – Gottes, der Vorsehung, der Geschichte oder der Natur; sein Streben nach Herrschaft diene lediglich der Verteidigung gegen die Versuche anderer, ihn und das deutsche Volk zu beherrschen. Er selbst wolle nur Frieden und Freiheit.

Ein Beispiel für die erste Art Rationalisierungen ist folgende Stelle aus Mein Kampf: »Würde das deutsche Volk in seiner geschichtlichen Entwicklung jene herdenmäßige Einheit besessen haben, wie sie anderen Völkern zugute kam, dann würde das Deutsche Reich heute wohl die Herrin des Erdballs sein. Die Weltgeschichte hätte einen anderen Lauf genommen«, ein Friede wäre erreicht worden, »gestützt nicht durch die Palmwedel tränenreicher pazifistischer Klageweiber, sondern begründet durch das siegreiche Schwert eines die Welt in den Dienst einer höheren Kultur nehmenden Herrenvolkes« (A. Hitler, 1933, S. 437 f.).

In den letzten Jahren ist jeder Zeitungsleser mit Hitlers Versicherungen vertraut geworden, sein Ziel sei nicht nur das Wohlergehen Deutschlands, sondern er diene mit seinen Taten gleichzeitig dem Wohl der Zivilisation im allgemeinen. Die Behauptung, seine Machtgelüste entsprächen den Gesetzen der Natur, ist mehr als eine bloße Rationalisierung; sie entspringt dem Wunsch, sich einer Macht außerhalb des eigenen Ich zu unterwerfen, wie er speziell in Hitlers grober Popularisierung des Darwinismus zum Ausdruck kommt. Er ist der Überzeugung: »Der Trieb der Arterhaltung ist die erste Ursache zur Bildung menschlicher Gemeinschaften« (a.a.O., S. 165).

Der Selbsterhaltungstrieb führt zum Kampf des Stärkeren um die Beherrschung des Schwächeren und auf wirtschaftlichem Gebiet zur Auslese des Besten. Die Gleichsetzung des Selbsterhaltungstriebs mit der Macht über andere findet einen besonders verblüffenden Ausdruck in Hitlers Versicherung: »Sicher fußte die erste Kultur der Menschheit weniger auf dem gezähmten Tier als vielmehr auf der Verwendung niederer Menschen« (a.a.O., S. 323). Er projiziert den eigenen Sadismus auf die Natur, »die grausame Königin aller Weisheit« (a.a.O., S. 144), und er vertritt die Ansicht, die Erhaltung der Kultur sei »gebunden an das eherne Gesetz der Notwendigkeit und des Rechtes des Sieges des Besten und Stärksten« (a.a.O., S. 316).

Es ist interessant zu beobachten, daß der »Sozialist« Hitler im Zusammenhang mit diesem vergröberten Darwinismus für die liberalen Grundsätze eines uneingeschränkten Wettbewerbs eintritt. In einer Polemik gegen die Bildung einer Arbeitsgemeinschaft nationalistischer Verbände sagt er: »Auch wird durch solchen Zusammenschluß das freie Spiel der Kräfte unterbunden, der Kampf zur Auslese der Besten abgestellt und somit der notwendige und endgültige Sieg des Gesünderen und Stärkeren für immer verhindert« (a.a.O., S. 577). An einer anderen Stelle nennt er das freie Spiel der Kräfte die Weisheit des Lebens.

Sicher drückt sich in Darwins Theorie selbst kein sado-masochistischer Charakter aus. Ganz im Gegenteil entsprach sie für viele ihrer Anhänger der Hoffnung auf eine Weiterentwicklung der Menschheit zu höheren Kulturstufen. Für Hitler aber war sie Ausdruck und Rechtfertigung des eigenen Sadismus. Er enthüllt ganz naiv, welche psychologische Bedeutung die darwinistische Theorie für ihn hatte. Als er – noch unbekannt – in München wohnte, pflegte er »jeden Morgen früh schon vor fünf Uhr aufzuwachen« und hatte sich »die Spielerei angewöhnt, den Mäuslein, die in der kleinen Stube ihre Unterhaltung trieben, ein paar Stücklein harte Brotreste oder -rinden auf den Fußboden zu legen und nun zuzusehen, wie sich die possierlichen Tierchen um diese paar Leckerbissen herumjagten« (A. Hitler, 1933, S. 239). Dieses »Spiel« war der Darwinsche »Kampf ums Dasein« im kleinen. Es war für ihn der kleinbürgerliche Ersatz für die Zirkusspiele der römischen Cäsaren und ein Vorspiel für den historischen Zirkus, den er der Welt vorführen sollte.

Die letzte Rationalisierung für seinen Sadismus, nämlich die Rechtfertigung seines Sadismus als eine Verteidigung gegen die Angriffe anderer, finden wir in vielfältiger Form in Hitlers Äußerungen. Er und das deutsche Volk sind immer die Unschuldigen, und seine Gegner sind immer die sadistischen Bestien. Ein großer Teil dieser Propaganda besteht aus absichtlichen, bewußten Lügen. Teilweise jedoch besitzt sie die gleiche emotionale »Aufdringlichkeit« wie paranoide Beschuldigungen. Diese Anschuldigungen haben immer die Funktion, eine Entdeckung des eigenen Sadismus und der eigenen Destruktivität zu verhüten. Sie richten sich nach der Formel: Du bist es, der die sadistischen Absichten hat, deshalb bin ich unschuldig. Bei Hitler ist dieser Abwehrmechanismus äußerst irrational, da er seine Feinde eben der Dinge anklagt, die er ganz offen als seine eigenen Ziele zugibt. So beschuldigt er die Juden, die Kommunisten und die Franzosen derselben Dinge, die er in bezug auf seine eigenen Aktionen als völlig legitime Ziele hinstellt. Er macht sich kaum die Mühe, diesen Widerspruch mit Rationalisierungen zu tarnen. Er beschuldigt die Juden, Negertruppen aus Französisch-Nordafrika an den Rhein gebracht zu haben, »immer mit dem gleichen Hintergedanken und dem klaren Ziele, durch die dadurch zwangsläufig eintretende Bastardisierung die ihnen verhaßte weiße Rasse zu zerstören, (sie) von ihrer kulturellen und politischen Höhe zu stürzen und selber zu ihren Herren aufzusteigen« (a.a.O., S. 357). Hitler muß den Widerspruch entdeckt haben, der darin lag, daß er andere um dessentwillen verurteilte, was er für das edelste Ziel seiner Rasse erklärte, und er versucht den Widerspruch damit zu rationalisieren, daß er behauptet, dem Selbsterhaltungstrieb der Juden fehle »die idealistische Gesinnung der arischen Rasse« (a.a.O., S. 330).

Dasselbe wirft er auch den Franzosen vor. Er beschuldigt sie, sie wollten Deutschland erwürgen und ihm seine Kraft rauben. Er benutzt diese Anschuldigung als Rechtfertigung für die »Verteidigung Deutschlands gegen das die Welt und ihren Frieden dauernd störende Frankreich« (a.a.O., S. 765) und bekennt: »Wäre ich selbst Franzose und wäre mir somit Frankreichs Größe so lieb, wie mir die Deutschlands heilig ist, so könnte und wollte auch ich nicht anders handeln, als es am Ende Clemenceau tut« (a.a.O., S. 766).

Die Kommunisten beschuldigt er der Brutalität, und den Erfolg des Marxismus schreibt er dessen politischem Willen und seiner aktivistischen Brutalität zu. Gleichzeitig jedoch erklärt er: »Was das nationale Deutschland von jeder praktischen Gestaltung der deutschen Entwicklung ausschaltete, war das Fehlen einer geschlossenen Zusammenarbeit brutaler Macht mit genialem politischem Wollen« (a.a.O., S. 596). Die tschechische Krise von 1938 und der gegenwärtige Krieg lieferten viele Beispiele derselben Art. Es gab keinen Akt nationalsozialistischer Unterdrückung, der nicht als Verteidigung gegen die Unterdrückung durch andere erklärt wurde. Es ist anzunehmen, daß diese Beschuldigungen reine Propagandalügen waren und daß ihnen auch die paranoide »Aufrichtigkeit« abging, die seine Vorwürfe gegen die Juden und die Franzosen gefärbt haben mag. Ihr Propagandawert lag darin, daß besonders das Kleinbürgertum, das aufgrund der eigenen Charakterstruktur für solche paranoide Beschuldigungen anfällig ist, sie glaubte.

Hitlers Verachtung für die Machtlosen wird besonders deutlich, wenn er von Menschen spricht, deren politische Ziele – der Kampf um ihre nationale Freiheit – den Zielen, zu denen er sich bekannte, ähnlich waren. Nirgends vielleicht kommt die Unaufrichtigkeit seines Interesses an der nationalen Freiheit eklatanter zum Ausdruck als in seiner Verachtung für machtlose Revolutionäre. So spricht er voller Ironie und Verachtung von der kleinen Gruppe von Nationalsozialisten, der er sich zu Anfang in München angeschlossen hatte. Auf der ersten Versammlung, die er besuchte, hatte er den Eindruck: »Fürchterlich, fürchterlich! Das ist ja eine Vereinsmeierei allerärgster Art und Weise. In diesen Klub also sollte ich eintreten? Dann kam die Neuaufnahme zur Sprache, das heißt: es kam meine Einfangung zur Behandlung« (a.a.O., S. 241).

Er bezeichnet sie als »lächerliche kleine Schöpfung«, und ihr einziger Vorzug sei gewesen, »die Möglichkeit einer wirklichen persönlichen Tätigkeit dem einzelnen freizustellen« (a.a.O., S. 243).
Er sagt, es wäre ihm nie eingefallen, einer der bereits bestehenden großen Parteien beizutreten, eine Einstellung, die für ihn höchst charakteristisch ist. Er mußte in einer Gruppe anfangen, von der er das Gefühl hatte, daß sie ihm unterlegen und schwach war. Eine Konstellation, in der er gegen eine bereits bestehende Macht hätte ankämpfen oder wo er sich mit seinesgleichen hätte messen müssen, hätte seine Initiative und seinen Mut nicht angestachelt.

Die gleiche Verachtung für die Machtlosen spricht aus seinen Äußerungen über die indischen Revolutionäre. Der gleiche Mann, der sich häufiger als irgend jemand sonst für die eigenen Zwecke des Schlagworts der nationalen Freiheit bediente, hat nur Verachtung übrig für diese Revolutionäre, die ohne über Macht zu verfügen es wagten, dem mächtigen britischen Weltreich entgegenzutreten. Er schreibt, er erinnere sich noch »der ebenso kindlichen wie unverständlichen Hoffnungen, die in den Jahren 1920/21 plötzlich in völkischen Kreisen auftauchten, England stände in Indien vor dem Zusammenbruch. Irgendwelche asiatische Gaukler, vielleicht meinetwegen auch wirkliche indische ›Freiheitskämpfer‹, die sich damals in Europa herumtrieben, hatten es fertiggebracht, selbst sonst ganz vernünftige Menschen mit der fixen Idee zu erfüllen, daß das britische Weltreich, das seinen Angelpunkt in Indien besitze, gerade dort vor dem Zusammenbruch stehe ... Indischen Aufrührern wird dies aber nie gelingen ... Es ist eben eine Unmöglichkeit, einen machtvollen Staat, der entschlossen ist, für seine Existenz, wenn nötig, den letzten Blutstropfen einzusetzen, durch eine Koalition von Krüppeln zu berennen. Als völkischer Mann, der den Wert des Menschentums nach rassischen Grundlagen abschätzt, darf ich schon aus der Erkenntnis der rassischen Minderwertigkeit dieser sogenannten ›unterdrückten Nationen‹ nicht das Schicksal des eigenen Volkes mit dem ihren verketten« (a.a.O., S. 746 f.).

Die Liebe zu den Mächtigen und der Haß auf die Machtlosen, die so typisch für den sado-masochistischen Charakter sind, erklären vieles an der politischen Handlungsweise Hitlers und seiner Gefolgsleute. Die republikanische Regierung meinte, man könne die Nazis »beschwichtigen«, wenn man nachsichtig mit ihnen umginge. Aber der Versuch mißlang nicht nur, ihr Haß wurde nur noch angestachelt, als die Regierung sich als schwach und ohnmächtig erwies. Hitler haßte die Weimarer Republik, weil sie schwach war, und er bewunderte die Großindustriellen und Militärs, weil sie über Macht verfügten. Er hat nie gegen eine etablierte starke Macht gekämpft, sondern immer nur gegen Gruppen, von denen er annahm, daß sie im Grunde schwach waren. Hitlers – und übrigens auch Mussolinis – »Revolution« erfolgte unter der Protektion der an der Macht Befindlichen, und sie richtete sich mit Vorliebe gegen solche, die sich nicht wehren konnten. Man könnte sogar vermuten, daß Hitlers Haltung gegenüber Großbritannien unter anderem von diesem psychologischen Komplex bestimmt war. Solange er das Gefühl hatte, daß England mächtig war, liebte und bewunderte er es. In seinem Buch spricht er von dieser Liebe zu England. Als er dann aber vor und nach München die Schwäche der englischen Position erkannte, verwandelte sich seine Liebe in Haß und in den Wunsch, England zu vernichten. Eine »Beschwichtigungs«-Politik war bei einer Persönlichkeit wie Hitler dazu angetan, Haß und nicht Freundschaft zu erzeugen.
Wir haben bisher von der sadistischen Seite von Hitlers Ideologie gesprochen. Wie wir jedoch bei der Diskussion des autoritären Charakters sahen, gibt es neben der sadistischen auch die masochistische. Sie besteht in dem Verlangen, sich einer überwältigend starken Macht zu unterwerfen, das Selbst auszulöschen, und dies neben dem Wunsch, Macht über hilflose Wesen zu haben. Diese masochistische Seite der Nazi-Ideologie und -Praxis kommt in der Art, wie man die Massen behandelt, besonders deutlich zum Ausdruck. Man sagt ihnen immer wieder: Der einzelne ist nichts und zählt nicht. Er sollte seine persönliche Bedeutungslosigkeit hinnehmen, sich in einer höheren Macht auflösen und dann stolz darauf sein, an der Stärke und Glorie dieser höheren Macht teilzuhaben. Hitler drückt dies in seiner Definition des Idealismus deutlich aus: »Er allein führt die Menschen zur freiwilligen Anerkennung des Vorrechtes der Kraft und der Stärke und läßt sie so zu einem Stäubchen jener Ordnung werden, die das ganze Universum formt und bildet« (A. Hitler, 1933, S. 328).

Goebbels gibt in seinem Roman Michael eine ähnliche Definition dessen, was er unter Sozialismus versteht, wenn er sagt, »Sozialist sein: das heißt, das Ich dem Du unterordnen, die Persönlichkeit der Gesamtheit zum Opfer bringen« (J. Goebbels, 1931, S. 38).

Wenn man den einzelnen zum Opfer bringt und ihn auf ein Staubkörnchen, auf ein Atom reduziert, so bedeutet das nach Hitler den Verzicht auf das Recht, die individuelle Meinung, die eigenen Interessen und das eigene Glück zu behaupten. Dieser Verzicht macht das innerste Wesen einer politischen Organisation aus, in welcher »der einzelne auf die Vertretung seiner persönlichen Meinung sowohl als seiner Interessen verzichtet ...« (A. Hitler, 1933, S. 326). Er preist die »Selbstlosigkeit« und lehrt: »... im Jagen nach dem eigenen Glück stürzen die Menschen aus dem Himmel erst recht in die Hölle« (a.a.O., S. 328). Ziel der Erziehung ist es, dem einzelnen beizubringen, daß es ihm nicht zusteht, sich persönlich durchzusetzen. Schon der Schuljunge muß »lernen zu schweigen, nicht nur, wenn er mit Recht getadelt wird, sondern soll auch lernen, wenn nötig, Unrecht schweigend zu ertragen« (a.a.O., S. 459). In bezug auf das höchste Ziel, das es zu erreichen gilt, schreibt er: »Der völkischen Weltanschauung muß es im völkischen Staat endlich gelingen, jenes edlere Zeitalter herbeizuführen, in dem die Menschen ihre Sorge nicht mehr in der Höherzüchtung von Hunden, Pferden und Katzen erblicken, sondern im Emporheben des Menschen selbst, ein Zeitalter, in dem der eine erkennend schweigend verzichtet, der andere freudig opfert und gibt« (a.a.O., S. 449).

Dieser letzte Satz ist etwas überraschend. Nach der Beschreibung des einen Menschentyps, der »erkennend schweigend verzichtet«, hätte man erwartet, daß er im Gegensatz dazu vielleicht den Menschen beschrieben hätte, der die Führung und Verantwortung übernimmt oder dergleichen. Statt dessen definiert Hitler diesen anderen Typ ebenfalls mit seiner Opferbereitschaft. Es fällt schwer, den Unterschied zwischen jemand, der »schweigend verzichtet« und jemand, der »freudig opfert« zu erkennen. Ich möchte vermuten, daß Hitler in Wirklichkeit zwischen den Massen, die verzichten, und dem Herrscher, der herrschen sollte, unterscheiden wollte. Aber wenn er auch gelegentlich sein eigenes Machtstreben und das seiner »Elite« offen zugibt, so bestreitet er es doch auch oft. An dieser Stelle wollte er offenbar nicht mit der Sprache heraus und ersetzte daher den Willen zu herrschen durch die Bereitschaft »freudig Opfer zu bringen«.

Hitler ist sich völlig darüber klar, daß seine Philosophie der Selbstverleugnung und des Opferbringens für jene bestimmt ist, denen ihre wirtschaftliche Lage nicht erlaubt, glücklich zu sein. Er hat nicht im Sinn, eine Gesellschaftsordnung zu begründen, die jedem einzelnen den Weg zu seinem persönlichen Glück erschließt; die Armut der Masse ist ihm gerade recht, weil sie so eher an sein Evangelium der Selbstaufgabe glaubt. Und so erklärt er auch ganz offen: »Wir ... wenden uns an die große Armee derjenigen, die zu arm sind, als daß ihr persönliches Leben höchstes Glück auf der Welt bedeuten könnte« (A. Hitler, 1933, S. 449).

Seine ganze Predigt von der Selbstaufopferung hat offensichtlich nur den einen Zweck, der Masse klarzumachen, daß sie verzichten und sich unterordnen muß, wenn der Führer und seine »Elite« ihr Machtstreben verwirklichen wollen.

Aber auch Hitler selbst ist von dieser masochistischen Sehnsucht erfüllt. Für ihn heißt die höhere Macht, der er sich unterwirft, Gott, die Vorsehung, die Notwendigkeit, die Geschichte oder die Natur. Tatsächlich besitzen alle diese Begriffe für ihn die gleiche Bedeutung, sie symbolisieren eine überwältigend starke Macht. Er beginnt seine Autobiographie mit der Bemerkung: »Als glückliche Bestimmung gilt es mir heute, daß das Schicksal mir zum Geburtsort gerade Braunau am Inn zuwies« (a.a.O., S. 1; – Hervorhebung E. F.). Er sagt dann weiter, das ganze deutsche Volk müsse in einem einzigen Staat vereinigt werden, weil erst dann, wenn dieser Staat für alle zu klein würde, aus der Not des eigenen Volkes »das moralische Recht zur Erwerbung fremden Grund und Bodens« erstehen werde. (Vgl. a.a.O.)

Die Niederlage im Ersten Weltkrieg ist für ihn »eine verdiente Züchtigung der ewigen Vergeltung« (a.a.O., S. 250). Völker, die sich mit anderen Rassen vermischen, »sündigen gegen den Willen der ewigen Vorsehung« (a.a.O., S. 359) oder – wie er an anderer Stelle sagt, »wider den Willen des ewigen Schöpfers« (a.a.O., S. 314). Deutschlands Mission ist ihm »vom Schöpfer des Universums zugewiesen« (a.a.O., S. 234). Der Himmel steht über den Menschen, und er nennt es ein einziges »Glück in diesem Jammer«, »daß man wohl Menschen betören, den Himmel aber nicht bestechen kann« (a.a.O., S. 762; alle vorstehenden Hervorhebungen E. F.).

Die Macht, die Hitler vielleicht noch mehr als Gott, die Vorsehung und das Schicksal beeindruckt, ist die Natur. Während die geschichtliche Entwicklung in den letzten vierhundert Jahren darauf hinauslief, die Herrschaft über den Menschen durch die Herrschaft über die Natur zu ersetzen, beharrt Hitler darauf, daß man zwar Menschen beherrschen kann und beherrschen sollte, daß man aber die Natur nicht beherrschen könne. Wir zitierten bereits seine Behauptung, die erste Kultur der Menschheit habe wahrscheinlich nicht mit der Zähmung von Tieren, sondern mit der Verwendung niederer Menschen begonnen. Er macht sich über die Idee lustig, daß der Mensch die Natur überwinden könne, und verspottet die, welche glauben, sie könnten die Natur beherrschen, während »ihnen jedoch als Waffe nichts weiter als eine Idee zur Verfügung steht«. Er sagt, daß der Mensch »nicht die Natur beherrscht, sondern nur auf Grund der Kenntnis einzelner Naturgesetze und Geheimnisse zum Herrn derjenigen anderen Lebewesen aufgestiegen ist, denen dieses Wissen eben fehlt« (a.a.O., S. 314). Auch hier stoßen wir wieder auf denselben Gedanken, daß die Natur jene große Macht ist, der wir uns zu unterwerfen haben, daß wir hingegen Menschen sehr wohl beherrschen sollten.

Ich habe in Hitlers Äußerungen zwei Tendenzen nachzuweisen versucht, die wir bereits als grundlegend für den autoritären Charakter beschrieben haben: das Streben nach Macht über Menschen und zugleich das Verlangen, sich einer überwältigend starken äußeren Macht zu unterwerfen. Hitlers Ideen sind mit der Ideologie der Nazi-Partei mehr oder weniger identisch. Die in seinem Buch zum Ausdruck gebrachten Ideen hat er in zahllosen Reden wiederholt und damit die Massen für seine Partei gewonnen. Diese Ideologie erwuchs aus seiner Persönlichkeit, die mit ihren Minderwertigkeitsgefühlen, mit ihrem Haß auf das Leben, ihrem Asketentum und ihrem Neid auf all jene, die sich des Lebens freuen, der Boden für seine sado-masochistischen Strebungen war.
Sie wandte sich an Menschen, die aufgrund ihrer ähnlichen Charakterstruktur sich von diesen Lehren angezogen und erregt fühlten und zu glühenden Anhängern des Mannes wurden, der das aussprach, was sie fühlten. Aber nicht nur die Nazi-Ideologie befriedigte das Kleinbürgertum; die Nazis setzten mit ihren politischen Methoden das in die Praxis um, was ihre Ideologie versprach. Sie errichteten eine Hierarchie, in der jeder jemand anderen über sich hat, dem er sich unterordnen kann, und einen anderen unter sich, den er seine Macht fühlen lassen kann. Der Mann an der Spitze, der Führer, hat die Vorsehung, die Geschichte, die Natur über sich als die Macht, in die er untertauchen kann. So befriedigt die Nazi-Ideologie und -Praxis die aus der Charakterstruktur eines Teiles der Bevölkerung entspringenden Wünsche. Denen aber, denen der Genuß, über andere zu herrschen und sie sich zu unterwerfen, versagt blieb und die resigniert und den Glauben ans Leben, an ihre Selbstbestimmung und alles übrige verloren haben, gibt sie eine Richtung an und eine Orientierungsmöglichkeit.

Ermöglichen uns diese Erwägungen eine Prognose, ob sich der Nazismus in Zukunft behaupten wird? Ich fühle mich nicht in der Lage, diesbezügliche Voraussagen zu machen. Immerhin dürfte es der Mühe wert sein, einige Punkte hervorzuheben, die sich aus den hier erörterten psychologischen Voraussetzungen ergeben. Erfüllt der Nazismus angesichts dieser psychologischen Situation nicht die emotionalen Bedürfnisse der Bevölkerung, und ist diese psychologische Funktion nicht ein wesentlicher Faktor für die zunehmende Stabilität des Nazismus?

Aus allem bisher Gesagten geht hervor, daß die Antwort auf diese Frage nur ein Nein sein kann. Die menschliche Individuation, die Zerstörung aller »primären Bindungen« läßt sich nicht rückgängig machen. Der Prozeß der Auflösung der mittelalterlichen Welt hat vierhundert Jahre gedauert und geht in unserer Zeit zu Ende. Wenn wir nicht unser gesamtes industrielles System, all unsere Produktionsweisen zerstören und wieder auf das vorindustrielle Niveau zurückschrauben wollen, wird der Mensch ein Individuum bleiben, das völlig aus der ihn umgebenden Welt emporgetaucht ist. Wir haben gesehen, daß der Mensch diese negative Freiheit nicht ertragen kann, daß er ihr in neue Bindungen zu entrinnen sucht, die ihm als Ersatz für die primären Bindungen, die er aufgab, dienen sollen. Aber diese neuen Bindungen stellen keine wirkliche Vereinigung mit der Welt dar. Er bezahlt die neue Sicherheit mit der Aufgabe der Integrität seines Selbst. Die tatsächlich vorhandene Dichotomie zwischen ihm und diesen Autoritäten verschwindet nicht. Sie beeinträchtigen sein Leben und lassen es verkümmern, auch dann, wenn er sich ihnen bewußt freiwillig unterwirft. Gleichzeitig lebt er in einer Welt, in der er sich nicht nur in ein »Atom« verwandelt hat, sondern die ihm auch alle Möglichkeiten bietet, zu einem Individuum zu werden. Das moderne Industriesystem ist nicht nur praktisch in der Lage, einem jeden eine wirtschaftlich gesicherte Existenz zu verschaffen; von dieser materiellen Basis aus gibt es ihm auch die Möglichkeit, seine intellektuellen, sinnlichen und emotionalen Potentialitäten voll zur Entfaltung zu bringen bei einer beträchtlichen Verkürzung der Arbeitszeit.

Die Funktion einer autoritären Ideologie und Praxis läßt sich mit der Funktion neurotischer Symptome vergleichen. Diese Symptome entspringen einer unerträglichen psychologischen Situation und bieten gleichzeitig eine Lösung, die das Weiterleben möglich macht. Aber diese Lösungen führen nicht zum Glück oder zur Entfaltung der Persönlichkeit, denn die Bedingungen, welche die neurotische Lösung notwendig machen, bleiben ja unverändert bestehen. Die Dynamik der menschlichen Natur veranlaßt den Menschen, nach befriedigenderen Lösungen zu suchen, soweit eine Möglichkeit besteht, sie zu erreichen. Die Einsamkeit und Ohnmacht des einzelnen, sein Streben nach Verwirklichung der in ihm angelegten Möglichkeiten, die objektive Tatsache der gesteigerten Produktionskapazität unserer Industrie sind dynamische Faktoren, welche die Grundlage für ein zunehmendes Streben nach Freiheit und Glück bilden. Die Flucht in eine symbiotische Bindung kann das Leiden eine Zeitlang mildern, aber sie kann es nicht aus der Welt schaffen. Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte der wachsenden Individuation, aber sie ist auch die Geschichte der wachsenden Freiheit. Das Streben nach Freiheit ist keine metaphysische Erscheinung und läßt sich nicht mit dem Naturgesetz erklären; es ist vielmehr das unausbleibliche Resultat des Individuationsprozesses und des Wachstums der Kultur. Die autoritären Systeme können die Grundbedingungen nicht beseitigen, die zum Streben nach Freiheit führen, und sie können auch das Freiheitsverlangen nicht ausrotten, das diesen Bedingungen entspricht.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort
1. Freiheit – ein psychologisches Problem?
2. Das Auftreten des Individuums und das Doppelgesicht der Freiheit
3. Freiheit im Zeitalter der Reformation
a) Mittelalterlicher Hintergrund und Renaissance
b) Das Zeitalter der Reformation
4. Die beiden Aspekte der Freiheit für den modernen Menschen
5. Fluchtmechanismen
a) Flucht ins Autoritäre
b) Flucht ins Destruktive
c) Flucht ins Konformistische
6. Die Psychologie des Nazismus
7. Freiheit und Demokratie
a) Die Illusion der Individualität
b) Freiheit und Spontaneität
Anhang: Charakter und Gesellschaftsprozeß
Literaturverzeichnis
Fußnoten

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