Auszüge aus Erich Fromm's
"Jenseits der Illusionen"

Die Bedeutung von Marx und Freud

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Die Frage zu beantworten, warum man sich gerade für jene Bereiche des Denkens interessiert, die nun einmal im eigenen Leben wichtig geworden sind, fällt nicht leicht. Vielleicht ist die Neigung zu bestimmten Fragen angeboren, vielleicht ist es der Einfluß bestimmter Lehrer oder gerade aktueller Ideen, vielleicht sind es persönliche Erlebnisse, die in die Richtung der späteren Interessen gewiesen haben: Wer kann schon sagen, welcher dieser Faktoren seinen späteren Lebensweg bestimmt hat. Wollte man ganz genau die jeweilige Bedeutung all dieser Faktoren erkennen, so könnte man nur mit einer ausführlichen Autobiographie den Versuch einer Antwort wagen.

Da dieses Buch nicht als eine historische, sondern nur als eine Art "intellektuelle" Autobiographie gedacht ist, möchte ich nur einige Erlebnisse aus meiner Jugendzeit herausgreifen, die für mein späteres Interesse an den Theorien von Marx und Freud sowie an dem, was beide verbindet, bedeutsam wurde.

Warum ich ein so großes Interesse für die Frage entwickelte, warum die Menschen sich gerade so und nicht anders verhalten, dafür mag der Hinweis hilfreich sein, daß ich das einzige Kind eines ängstlichen und launischen Vaters und einer zu Depressionen neigenden Mutter bin. Ich begann mich für die merkwürdigen und geheimnisvollen Ursachen menschlicher Reaktionen zu interessieren. Ganz lebhaft entsinne ich mich noch an eine Begebenheit – ich war damals etwa zwölf Jahre alt – die mein Denken weit mehr beschäftigte als alles, was ich zuvor erlebt hatte, und die jenes Interesse an Freud vorbereitete, das dann zehn Jahre später offenkundig wurde.

Folgendes war geschehen: Ich kannte eine junge Frau, etwa fünfundzwanzigjährig, eine Freundin meiner Familie. Sie war schön und attraktiv, und außerdem war sie Malerin – die erste Malerin, der ich begegnet war. Ich entsinne mich, gehört zu haben, daß sie verlobt gewesen war, aber nach einiger Zeit die Verlobung wieder gelöst hatte; auch erinnere ich mich, daß sie fast stets in Begleitung ihres verwitweten Vaters war. Soweit ich mich erinnern kann, war ihr Vater ein alter, uninteressanter Mann von wenig anziehendem Äußeren. (Das fand ich wenigstens damals, aber vielleicht war mein Urteil auch etwas von Eifersucht getrübt.) Eines Tages hörte ich die erschütternde Nachricht, daß der Vater gestorben sei und sie unmittelbar darauf sich das Leben genommen und ein Testament hinterlassen habe, in dem sie erklärte, sie wolle zusammen mit ihrem Vater begraben werden.

Ich hatte damals noch nie etwas von Ödipuskomplex oder von inzestuöser Fixierung zwischen Tochter und Vater gehört. Aber ich war tief betroffen. Ich hatte mich zu der jungen Frau stark hingezogen gefühlt und den wenig anziehenden Vater verabscheut. Und ich hatte zuvor noch niemanden gekannt, der sich das Leben genommen hatte. Der Gedanke durchfuhr mich: "Wie ist so etwas möglich? Wie ist es möglich, daß eine junge, schöne Frau so in ihren Vater verliebt ist, daß sie ein Grab an seiner Seite den Freuden des Lebens und des Malens vorzieht?"
Ich wußte natürlich keine Antwort auf diese Fragen, aber das "Wie ist so etwas möglich?" blieb haften. Und als ich mit Freuds Theorien bekannt wurde, schienen sie mir die Antwort auf ein rätselhaftes und erschreckendes Erlebnis meiner Jugendzeit geben zu können.

Mein Interesse an den Ideen von Marx hatte einen anderen Ursprung. Ich wuchs in einer religiösen jüdischen Familie auf, und die Schriften des Alten Testaments bewegten und fesselten mich mehr als alles andere, das mir begegnete. Allerdings galt dieses Interesse nicht für alle Schriften des Alten Testaments in gleichem Maße. So langweilte mich die Geschichte von der Eroberung Kanaans durch die Hebräer, ja sie stieß mich ab. Mit den Geschichten über Mordechai oder Ester wußte ich nichts anzufangen, und auch das Hohelied wußte ich – zu dieser Zeit – noch nicht zu schätzen. Doch die Geschichten vom Ungehorsam Adams und Evas, von Abrahams Ringen mit Gott um die Rettung der Bewohner von Sodom und Gomorrha, von Jonas Sendung nach Ninive und viele andere Details der Bibel faszinierten mich. Am allermeisten aber bewegten mich die Schriften der Propheten Jesaja, Amos und Hosea, und zwar nicht sosehr wegen ihrer Warnungen und ihrer Prophezeiung des Untergangs, sondern wegen ihrer Verheißung des Jüngsten Tages, wo die Völker "Pflugscharen aus ihren Schwertern und Winzermesser aus ihren Lanzen" schmieden werden (Jes 2,4); wo die Verheißung galt: "Man zieht nicht mehr das Schwert, Volk gegen Volk, und übt sich nicht mehr für den Krieg" (Jes 2,4); wo alle Völker Freunde werden, "denn das Land ist erfüllt von der Erkenntnis des Herrn, so wie das Meer mit Wasser gefüllt ist" (Jes 11,9).

Die Vision eines universalen Friedens und der Gedanke einer Harmonie zwischen allen Völkern rührte mich, als ich etwa zwölf oder dreizehn Jahre alt war. Der Grund für dieses Interesse an der Idee des Friedens und des Internationalismus dürfte in der Situation zu suchen sein, in der ich mich damals befand: Ich war ein jüdischer Junge in einer christlichen Umwelt, machte gelegentlich Erfahrungen mit dem Antisemitismus und – was noch entscheidender war – empfand die Fremdheit und die engherzige Abgrenzung gegen Andersartige auf beiden Seiten. Mir mißfiel diese Engherzigkeit um so mehr, als ich von dem überwältigenden Wunsch erfüllt war, aus der emotionalen Isolation eines einsamen, verwöhnten Jungen herauszukommen. Was konnte für mich da aufregender und schöner erscheinen als die prophetische Vision von der Brüderlichkeit aller Menschen und von einem universalen Frieden?

Vielleicht hätten mich alle diese persönlichen Erlebnisse nicht so tief und nachhaltig berührt ohne das Ereignis, das meine Entwicklung mehr als alles andere bestimmte: der Erste Weltkrieg. Als dieser Krieg im Sommer 1914 ausbrach, war ich ein Junge von vierzehn Jahren, den die Aufregungen des Krieges, die Siegesfeiern, die Tragödie des Todes einzelner Soldaten, die ich persönlich kannte, mehr als alles andere beeindruckten. Das Problem des Krieges als solches interessierte mich nicht. Seine sinnlose Unmenschlichkeit war mir nicht aufgegangen. Aber bald änderte sich das alles, wozu auch einige Erlebnisse mit meinen Lehrern beitrugen. Mein Lateinlehrer, der in den beiden Jahren vor dem Krieg in seinen Unterrichtsstunden die Devise: Si vis pacem para bellum ("Willst du den Frieden, so halte dich kriegsbereit" – Vegetius Renatus) als seinen Wahlspruch verkündet hatte, war begeistert, als der Krieg ausbrach. Ich merkte jetzt, daß seine angebliche Sorge um die Erhaltung des Friedens nicht echt gewesen sein konnte. Wie war es möglich, daß ein Mann, dem die Erhaltung des Friedens so am Herzen zu liegen schien, jetzt über den Krieg frohlockte? Von da an fiel es mir schwer zu glauben, daß Aufrüstung dem Frieden diene, selbst wenn Menschen dafür eintreten, die mehr guten Willen haben und aufrichtiger sind als mein ehemaliger Lateinlehrer.

Bestürzt war ich auch über den hysterischen Haß gegen die Engländer, der damals ganz Deutschland erfüllte. Plötzlich waren es elende, bösartige und skrupellose Söldner, die unsere unschuldigen und allzu vertrauensseligen deutschen Helden zu vernichten trachteten. Inmitten dieser nationalen Hysterie ist mir ein entscheidendes Ereignis in Erinnerung geblieben. Wir hatten in unserem Englischunterricht die Aufgabe bekommen, die englische Nationalhymne auswendig zu lernen. Diese Aufgabe war uns vor den Sommerferien gestellt worden, als noch Frieden herrschte. Als dann der Unterricht wieder begann, sagten wir Jungen zu unserem Lehrer – teils aus Ungezogenheit und teils weil wir vom "Haß gegen England" angesteckt waren –, wir weigerten uns, die Nationalhymne unseres schlimmsten Feindes auswendig zu lernen. Ich sehe ihn noch vor der Klasse stehen, wie er mit einem ironischen Lächeln über unseren Protest ruhig sagte: "Macht euch nichts vor; bis jetzt hat England noch nie einen Krieg verloren." Hier sprach die Stimme der Vernunft und des Wirklichkeitssinns inmitten des aberwitzigen Hasses – und es war die Stimme eines verehrten und bewunderten Lehrers! Dieser eine Satz und die ruhige, vernünftige Art, in der er geäußert wurde, war für mich eine Erleuchtung. Er durchbrach die verrückte Haßwelle und die nationale Selbstvergötterung, und ich begann nachzudenken und mich zu fragen: "Wie ist so etwas möglich?"

Ich wurde älter, und meine Zweifel wuchsen. Einige meiner Onkel und Vettern und ältere Schulkameraden fielen im Krieg. Die Siegesprophezeiungen der Generale erwiesen sich als falsch, und bald lernte ich das zweideutige Gerede von "strategischen Rückzügen" und "siegreicher Verteidigung" verstehen. Und noch etwas anderes geschah. Die deutsche Presse hatte von Anfang an behauptet, der Krieg sei Deutschland von seinen neidischen Nachbarn aufgezwungen worden, die Deutschland den Hals zudrehen wollten, um einen erfolgreichen Rivalen loszuwerden. Der Krieg wurde als Kampf für die Freiheit hingestellt; kämpfte Deutschland nicht gegen die leibhaftige Verkörperung der Sklaverei und Unterdrückung – gegen den russischen Zaren?

Das klang zwar alles eine Zeitlang überzeugend, besonders da kein Widerspruch laut wurde, aber allmählich kamen mir doch Zweifel. Vor allem stimmte eine wachsende Zahl sozialistischer Abgeordneter im Reichstag gegen den Wehretat und die offizielle Stellungnahme der deutschen Regierung. Eine Flugschrift mit dem Titel J‘accuse ("Ich klage an") machte die Runde, in der die Kriegsschuldfrage – soweit ich mich entsinnen kann – im wesentlichen vom Standpunkt der westlichen Alliierten aus dargestellt wurde. Es wurde nachgewiesen, daß die Reichsregierung keineswegs das unschuldige Opfer eines Angriffs war, sondern daß sie zusammen mit der österreichisch-ungarischen Regierung für den Krieg weitgehend verantwortlich war.

Der Krieg ging weiter. Die Schützengräben erstreckten sich von der Schweizer Grenze nordwärts bis zum Meer. Man sprach mit Soldaten und erfuhr, welch ein Leben sie zusammengepfercht in den Schützengräben und Unterständen führten, wie sie dem konzentrierten Artilleriefeuer ausgesetzt waren, das einem feindlichen Angriff vorausging, und wie sie immer wieder von neuem einen Durchbruch versuchten, der ihnen immer wieder mißlang. Jahr um Jahr töteten sich die gesunden Männer der beteiligten Völker, die wie Tiere in Höhlen lebten, mit Gewehren, Handgranaten, Maschinengewehren und Bajonetten. Das Gemetzel ging immer weiter, begleitet von den falschen Versprechungen eines baldigen Sieges, von falschen Beteuerungen der eigenen Schuldlosigkeit, von falschen Beschuldigungen des teuflischen Feindes, von falschen Friedensangeboten und heuchlerischen Angeboten hinsichtlich der Friedensbedingungen.

Je länger sich der Krieg hinzog, um so mehr wurde ich aus einem Kind zum Mann und um so dringender stellte ich mir die Frage: "Wie ist so etwas möglich?" Wie ist es möglich, daß Millionen von Menschen weiterhin in den Schützengräben bleiben, um unschuldige Menschen anderer Völker zu töten und sich selbst töten zu lassen und so ihren Eltern, Frauen und Freunden den tiefsten Schmerz zuzufügen? Wofür kämpfen sie eigentlich? Wie ist es möglich, daß beide Seiten glauben, sie kämpften für Frieden und Freiheit? Wie konnte ein Krieg ausbrechen, wo doch jeder behauptet, er habe ihn nicht gewollt? Wie ist es möglich, daß der Krieg weitergeht, wo doch beide Seiten behaupten, es gehe ihnen nicht um Eroberungen, sondern nur um die Erhaltung ihres eigenen Gebietes und dessen Unantastbarkeit? Wenn aber, wie sich in der Folge herausstellte, beide Seiten doch Eroberungen machen wollten zum Ruhm ihrer politischen und militärischen Führer, wie war es dann möglich, daß Millionen auf beiden Seiten um einer Gebietserweiterung und um der Eitelkeit irgendwelcher Führer willen sich abschlachten ließen? Entsteht der Krieg durch einen sinnlosen Zufall, oder ist er die Folge bestimmter gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen, die ihren eigenen Gesetzen folgen und die man verstehen, ja sogar voraussagen kann, wenn man nur die Natur dieser Gesetze erkennt?

Als der Krieg 1918 zu Ende ging, war ich ein tief aufgewühlter junger Mensch, der von der Frage besessen war, wie Krieg möglich war, der unbedingt die Irrationalität menschlichen Massenverhaltens verstehen wollte und der von dem leidenschaftlichen Wunsch nach Frieden und internationaler Verständigung erfüllt war. Darüber hinaus hegte ich ein tiefes Mißtrauen gegen alle offiziellen Ideologien und Erklärungen und war überzeugt, daß man an allem zweifeln müsse.

Ich habe zu zeigen versucht, welche Erfahrungen in meiner Jugend die Voraussetzungen für mein leidenschaftliches Interesse an den Lehren von Freud und Marx erzeugten. Ich war tief beunruhigt durch Fragen, die individuelle und gesellschaftliche Erscheinungen betrafen, und suchte begierig nach einer Antwort. Ich fand Antworten sowohl im System von Freud wie auch von Marx. Aber auch die Gegensätze in beiden Systemen und der Wunsch, die Widersprüche aufzulösen, reizten mich. Schließlich zweifelte ich, je älter ich wurde und je mehr ich studierte, immer mehr an gewissen Auffassungen in beiden Systemen.

Mein Hauptinteresse war klar umrissen. Ich wollte die Gesetze verstehen lernen, die das Leben des einzelnen und der Gesellschaft – das heißt die Menschen in ihrer gesellschaftlichen Existenz – beherrschen. Ich versuchte die bleibenden Erkenntnisse Freuds gegen solche Annahmen abzugrenzen, die einer Revision bedurften. Dasselbe versuchte ich mit der Theorie von Marx und gelangte schließlich zu einer Synthese, die sich aus dem Verständnis beider Denker und aus der Kritik an ihnen ergab. Ich bemühte mich um dieses Ziel nicht nur mit Hilfe theoretischer Spekulationen. Nicht etwa, daß ich von der reinen Spekulation nichts hielte (es hängt ganz und gar davon ab, wer spekuliert). Da ich es aber für wertvoller halte, die empirische Beobachtung mit der Spekulation zu verbinden (viel Problematisches an den modernen Sozialwissenschaften rührt daher, daß sie über ihren empirischen Beobachtungen oft die Spekulation vernachlässigen), habe ich stets versucht, mich in meinem Denken von der Beobachtung von Tatsachen leiten zu lassen, und mich bemüht, meine Theorien zu revidieren, wenn meine Beobachtungen dies zu erfordern schienen.
Was meine psychologischen Theorien betrifft, so hatte ich ausgezeichnete Beobachtungsmöglichkeiten, da ich seit 1927 praktizierender Psychoanalytiker bin. Ich habe das Verhalten, die freien Assoziationen und die Träume der Menschen, die ich psychoanalytisch behandelt habe, aufs genaueste untersucht. Weder in diesem Buch, noch in irgendwelchen anderen meiner Schriften findet sich auch nur eine einzige theoretische Behauptung über die menschliche Psyche, die sich nicht auf kritische Beobachtungen menschlichen Verhaltens im Zusammenhang mit meiner Tätigkeit als Psychoanalytiker gründete. Meine Erforschung des gesellschaftlichen Verhaltens ist vergleichsweise nicht sosehr von der Praxis geprägt. Ich habe mich zwar, seit ich elf oder zwölf Jahre alt war (und mit einem im Geschäft meines Vaters beschäftigten Sozialisten politisierte), bis zum heutigen Tage leidenschaftlich für Politik interessiert, doch war ich mir stets darüber klar, daß ich mich meinem Temperament nach nicht für eine politische Tätigkeit eigne. So habe ich mich auch nicht direkt politisch betätigt, bin erst kürzlich der Amerikanischen Sozialistischen Partei beigetreten und arbeite erst jetzt aktiv in der Friedensbewegung mit. Ich tue das nicht deshalb, weil ich heute meine Fähigkeiten anders beurteile, sondern weil ich es für meine Pflicht halte, nicht passiv zuzusehen, wie unsere Welt sich auf eine selbstgewählte Katastrophe zubewegt. Aber ich möchte unterstreichen, daß ich es nicht nur aus Pflichtgefühl tue. Je verrückter und entmenschlichter unsere Welt zu werden scheint, um so mehr mag der einzelne das Bedürfnis spüren, sich mit anderen Männern und Frauen zusammenzutun, die einander durch die Sorge um die Menschheit verbunden sind. Ich selbst hatte dieses Bedürfnis sehr stark und ich bin dankbar für die anregende und ermutigende Kameradschaft aller, mit denen es mir vergönnt war zusammenzuarbeiten. Aber auch wenn ich mich nicht aktiv in der Politik betätigt habe, so habe ich meine soziologischen Ideen doch nicht nur aus Büchern bezogen. Zwar hätten meinem Denken ohne Marx und in geringerem Maß ohne andere Wegbereiter der Soziologie wichtige Anstöße gefehlt. Aber die geschichtliche Epoche, in der ich lebte, war ein nie versagendes gesellschaftliches Laboratorium für mich. Der Erste Weltkrieg, die deutsche und die russische Revolution, der Sieg des Faschismus in Italien und der allmählich immer näher rückende Sieg des Nazismus in Deutschland, der Verfall und die Entartung der russischen Revolution, der spanische Bürgerkrieg, der Zweite Weltkrieg und das Wettrüsten – all das bot mir ein Feld für empirische Beobachtungen, das mir die Aufstellung von Hypothesen und deren Verifizierung oder Verwerfung ermöglichte. Da ich ein leidenschaftliches Interesse daran hatte, politische Ereignisse zu verstehen, und mir immer wieder sagte, daß ich temperamentmäßig nicht dazu geeignet sei, aktiv tätig zu werden, besaß ich eine gewisse Objektivität, wenn auch nicht jene Leidenschaftslosigkeit, die gewisse Politologen für die Voraussetzung der Objektivität halten.
Ich habe bis jetzt versucht, den Leser an einigen Erfahrungen und Gedanken teilnehmen zu lassen, die mich in den zwanziger Jahren für die Ideen von Freud und Marx sehr empfänglich machten. Auf den folgenden Seiten möchte ich jetzt nicht weiter auf meine persönliche Entwicklung eingehen, sondern über die Ideen und theoretischen Vorstellungen von Freud und Marx sprechen, über die Widersprüche zwischen ihnen und auch darüber, wie man meiner Ansicht nach zu einer Synthese gelangen kann, wenn man versucht, diese Widersprüche zu verstehen und aufzuheben.
Eines möchte ich jedoch noch bemerken, bevor ich mit der Erörterung der Systeme von Marx und Freud beginne. Zusammen mit Einstein waren Marx und Freud die Baumeister des modernen Zeitalters. Alle drei waren durchdrungen von der Überzeugung der grundsätzlich geordneten Struktur der Wirklichkeit. Sie sahen im Wirken der Natur – von welcher der Mensch einen Teil bildet – nicht nur Geheimnisse, die es zu entdecken galt, sondern Modelle und Pläne, die zu erforschen waren. Daher haben sie in ihrem Werk – jeder auf seine besondere Art – teil an der höchsten Kunst und Wissenschaft, in der die Sehnsucht des Menschen nach Verstehen und sein Bedürfnis nach Wissen zum Ausdruck kommt.

Ich möchte mich in diesem Buch ausschließlich mit Marx und Freud beschäftigen. Wenn ich ihre beiden Namen so nebeneinanderstelle, könnte leicht der Eindruck entstehen, daß ich sie für zwei Menschen von gleicher Größe und gleicher geschichtlicher Bedeutung halte. Ich möchte aber von Anfang an klarstellen, daß dies nicht der Fall ist. Daß Marx eine Figur von weltgeschichtlicher Bedeutung ist, mit der Freud in dieser Hinsicht nicht zu vergleichen ist, braucht kaum besonders erwähnt zu werden. Selbst wenn man – so wie ich – tief bedauert, daß ein entstellter und unwürdiger Marxismus in fast einem Drittel der Welt gepredigt wird, so verringert das nicht die einzigartige historische Bedeutung von Marx. Aber von dieser geschichtlichen Tatsache ganz abgesehen, halte ich Marx als Denker für weit tiefgründiger und umfassender als Freud. Marx wußte das geistige Erbe des Aufklärungshumanismus und des Deutschen Idealismus mit der Realität wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Tatsachen in Zusammenhang zu bringen und so die Grundlagen für eine neue Wissenschaft vom Menschen und von der Gesellschaft zu legen, die gleichzeitig empirisch und vom Geist der humanistischen Tradition des Westens erfüllt ist. Wenn auch dieser Geist des Humanismus von den meisten Systemen, die im Namen von Marx zu sprechen behaupten, abgeleugnet und entstellt wird, so glaube ich doch, daß – wie ich in diesem Buch zeigen möchte – eine Renaissance des westlichen Humanismus Marx seinen hervorragenden Platz in der Geschichte des menschlichen Denkens zurückgeben wird. Aber auch wenn man all das einräumt, wäre es doch recht naiv, Freuds Bedeutung deshalb zu übersehen, weil er an Marx nicht heranreicht. Er ist der Begründer einer wahrhaft wissenschaftlichen Psychologie, und seine Entdeckung der unbewußten Prozesse und der dynamischen Eigenart der Charakterzüge ist ein einzigartiger Beitrag zur Wissenschaft vom Menschen, der das Bild vom Menschen für alle Zeiten verändert hat.. ...

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