Auszüge aus Erich Fromm's
"Märchen, Mythen, Träume"

Eine Einführung in das Verständnis einer vergessenen Sprache

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Vorwort

Diesem Buch liegen Vorlesungen zugrunde, die ich bei Einführungskursen für graduierte Studenten gehalten habe, welche zur weiteren Ausbildung das William Alanson White Institute of Psychiatry besuchten sowie vor nichtgraduierten Studenten im Bennington College. Es richtet sich an einen ähnlichen Leserkreis, an Studenten der Psychiatrie und Psychologie sowie an interessierte Laien. Wie aus dem Untertitel hervorgeht, handelt es sich um eine Einführung in das Verständnis der symbolischen Sprache. Aus diesem Grund beschäftigt es sich auch nicht mit vielen der verwickelteren Probleme auf diesem Gebiet. Ich gehe beispielsweise auf Freuds Theorie nur im Hinblick auf seine "Traumdeutung" ein und lasse die schwierigen Probleme, die er in seinen späteren Schriften entwickelte, unberücksichtigt. Ich setze mich auch nicht mit jenen Aspekten der Symbolsprache auseinander, die zwar zum vollen Verständnis der einschlägigen Probleme dazugehörten, die aber die allgemeine Information voraussetzen, welche diese Seiten zu vermitteln versuchen. All diesen weitergehenden Fragen möchte ich in einer späteren Veröffentlichung nachgehen.

Ich spreche im Titel ausdrücklich von einer Einführung in das Verständnis einer vergessenen Sprache und nicht, wie sonst üblich, von ihrer Deutung. Wenn – wie ich auf den folgenden Seiten zu zeigen versuche – die symbolische Sprache eine eigenständige Sprache ist, wenn sie tatsächlich die einzige universale Sprache ist, die die Menschheit jemals entwickelt hat, so geht es darum, sie zu verstehen, und nicht darum, sie zu deuten, so als ob man es mit einem künstlich hergestellten Geheimcode zu tun hätte. Nicht nur für den Psychotherapeuten, der seelische Störungen zu beheben versucht, sondern für jeden, der mit sich selbst in Berührung kommen möchte, ist es wichtig, diese Symbolsprache verstehen zu können. Deshalb sollte auf unseren höheren Schulen und auf den Universitäten ebenso wie der Unterricht in anderen "Fremdsprachen", so auch der Unterricht in der Symbolsprache in den Lehrplan aufgenommen werden. Dieses Buch möchte zur Verwirklichung dieses Zieles einen Beitrag leisten.

Mein Dank gilt Dr. Edward S. Tauber, der das Manuskript gelesen hat und mir mit seiner konstruktiven Kritik und seinen Anregungen eine große Hilfe war.

Einleitung

Wenn es stimmt, daß die Fähigkeit zu staunen der Anfang aller Weisheit ist, dann wirft das ein trauriges Licht auf die Weisheit des heutigen Menschen. Wir mögen über eine noch so hohe literarische und allgemeine Bildung verfügen, die Gabe, über etwas staunen zu können, haben wir verloren. Alles wird als bekannt vorausgesetzt, und wenn wir selbst nicht darüber Bescheid wissen, so gibt es irgendeinen Spezialisten, dessen Aufgabe es ist, das zu wissen, was wir selbst nicht wissen. Sich über etwas zu wundern, ist geradezu peinlich und gilt als Zeichen dafür, daß man geistig nicht auf der Höhe ist. Sogar unsere Kinder sind nur selten von etwas überrascht, oder sie versuchen es sich wenigstens nicht anmerken zu lassen. Mit zunehmendem Alter verlieren wir dann immer mehr die Fähigkeit, uns noch über etwas zu wundern. Uns kommt es darauf an, immer die richtige Antwort bereit zu haben; daß man die richtigen Fragen zu stellen weiß, gilt vergleichsweise als weit weniger wichtig.

Diese Einstellung könnte einer der Gründe dafür sein, daß eine der erstaunlichsten Erscheinungen in unserem Leben, nämlich unsere Träume, uns so wenig Anlaß zum Staunen und Fragen geben. Wir alle träumen; wir verstehen unsere Träume nicht und verhalten uns doch so, als ob im Schlaf nicht etwas Seltsames in uns vorginge, seltsam wenigstens verglichen mit unserem logischen, zweckorientierten Denken im wachen Zustand.

Wenn wir wach sind, sind wir aktive, vernünftige Wesen, eifrig darauf bedacht, das zu bekommen, was wir haben möchten, und bereit, uns gegen Angriffe zu wehren. Wir handeln und beobachten; wir sehen die Dinge um uns herum vielleicht nicht so, wie sie wirklich sind, aber doch wenigstens so, daß wir sie nutzen und handhaben können. Freilich besitzen wir nicht viel Vorstellungsvermögen – und sofern wir keine Kinder oder Dichter sind, beschränkt sich dieses meist darauf, die Geschichte und Pläne unserer alltäglichen Erlebnisse zu wiederholen. Wir sind tüchtig, doch dabei phantasiearm. Wir bezeichnen das, was wir tagsüber beobachten, als "die Wirklichkeit" und sind stolz auf unseren "Realismus", der uns in die Lage versetzt, sie so geschickt zu handhaben.

Wenn wir schlafen, erwachen wir zu einer anderen Daseinsform. Wir träumen. Wir erfinden Geschichten, die sich nie ereignet haben und für die es im wirklichen Leben manchmal keine Entsprechung gibt. Manchmal sind wir der Held, manchmal der Bösewicht; manchmal erleben wir die herrlichsten Dinge und sind glücklich; oft werden wir in höchsten Schrecken versetzt. Doch welche Rolle wir auch immer im Traum spielen, wir sind der Autor, es ist unser Traum, wir haben die Handlung erfunden.

Die meisten unserer Träume haben ein Merkmal gemeinsam: Sie richten sich nicht nach den Gesetzen der Logik, die unser waches Denken beherrschen. Die Kategorien von Raum und Zeit werden außer acht gelassen. Verstorbene sehen wir lebendig; viele Jahre zurückliegende Ereignisse erleben wir als gegenwärtig. Wir träumen von zwei Ereignissen, als ob sie sich gleichzeitig abspielten, während das in Wirklichkeit völlig unmöglich wäre. Ebensowenig kümmern wir uns um die Gesetze des Raumes. Es fällt uns keineswegs schwer, uns im Nu an einen fernen Ort zu begeben, an zwei Orten gleichzeitig zu sein, zwei Personen in eine zu verschmelzen oder eine Person plötzlich in eine andere zu verwandeln. Im Traum sind wir tatsächlich Schöpfer einer Welt, in der Zeit und Raum, die allen Betätigungen unseres Körpers Grenzen setzen, keine Macht besitzen.

Merkwürdig an unseren Träumen ist auch, daß wir uns an Begebenheiten und an Personen erinnern, an die wir jahrelang nicht mehr gedacht haben und die uns im wachen Zustand niemals mehr eingefallen wären. Im Traum tauchen sie plötzlich als gute Bekannte auf, an die wir oft gedacht haben. Es ist, als ob wir im Schlaf das große Reservoir von Erfahrungen und Erinnerungen anzapften, von dessen Existenz wir tagsüber nichts wissen.

Aber trotz all dieser merkwürdigen Eigenschaften sind unsere Träume – solange wir träumen – für uns ebenso wirklich wie nur irgendein Erlebnis unseres wachen Lebens. Im Traum gibt es kein "als ob". Der Traum ist gegenwärtiges, reales Erleben, und das so sehr, daß er uns zwei Fragen nahelegt: Was ist Wirklichkeit? Woher wissen wir, daß das, was wir träumen, unwirklich und das, was wir wachend erleben, wirklich ist? Ein chinesischer Dichter hat das treffend ausgedrückt: "Ich habe letzte Nacht geträumt, ich sei ein Schmetterling, und jetzt weiß ich nicht, ob ich ein Mensch bin, der träumt, er sei ein Schmetterling, oder ob ich vielleicht ein Schmetterling bin, der jetzt träumt, er sei ein Mensch."

All diese erregenden, lebhaften nächtlichen Erlebnisse verschwinden nicht nur, wenn wir aufwachen, es fällt uns sogar außerordentlich schwer, uns daran zu erinnern. Die meisten vergessen wir so gründlich, daß wir uns nicht einmal mehr daran erinnern, in dieser anderen Welt gelebt zu haben. An manche Träume erinnern wir uns im Augenblick des Erwachens noch undeutlich, und im nächsten Augenblick schon können wir sie uns nicht mehr ins Gedächtnis zurückrufen. An einige wenige erinnern wir uns tatsächlich, und diese Träume meinen wir, wenn wir sagen: "Ich habe einen Traum gehabt." Es ist, als ob wohlwollende oder böse Geister uns besucht hätten und bei Tagesanbruch plötzlich verschwunden wären; wir können uns kaum noch daran erinnern, daß sie da waren und wie intensiv wir uns mit ihnen beschäftigt haben.

Vielleicht noch erstaunlicher als alles bisher Erwähnte ist die Ähnlichkeit der Erzeugnisse unserer Kreativität im Schlaf mit den ältesten Schöpfungen der Menschheit – den Mythen. Allerdings machen uns die Mythen heute kein allzu großes Kopfzerbrechen mehr. Wenn sie dadurch, daß sie in unsere Religion eingingen, respektabel geworden sind, zollen wir ihnen eine konventionelle, oberflächliche Anerkennung als Teil einer ehrwürdigen Tradition. Besitzen sie diese traditionelle Autorität nicht, so sehen wir in ihnen kindliche Ausdrucksformen der Ideen von noch nicht durch die Wissenschaft aufgeklärten Menschen. Jedenfalls gehören die Mythen – ob ignoriert, verachtet oder respektiert – einer Welt an, die unserem heutigen Denken völlig fremd ist. Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, daß viele unserer Träume sowohl ihrem Stil als auch ihrem Inhalt nach den Mythen ähnlich sind, und wenn sie uns auch beim Erwachen seltsam und weit hergeholt vorkommen, so besitzen wir doch im Schlaf die Fähigkeit, diese mythenähnlichen Schöpfungen hervorzubringen.

Auch im Mythos gibt es dramatische Begebenheiten, die in einer von den Gesetzen von Zeit und Raum beherrschten Welt unmöglich wären: Der Held verläßt Vaterhaus und Vaterland, um die Welt zu erretten, oder er flieht vor seinem Auftrag und lebt im Bauch eines großen Fisches; er stirbt und wird wiedergeboren; der mythische Vogel verbrennt und steigt aus der Asche wieder hervor – schöner als zuvor.

Natürlich haben die verschiedenen Völker unterschiedliche Mythen geschaffen, wie ja auch verschiedene Menschen unterschiedliche Träume träumen. Aber trotz all dieser Unterschiede haben alle Mythen und Träume eines gemeinsam: Alle sind in der gleichen Sprache – der symbolischen Sprache geschrieben.

Die Mythen der Babylonier, Inder, Ägypter, Hebräer und Griechen sind in der gleichen Sprache geschrieben wie die der Aschantis und Irokesen. Die Träume eines heutigen Einwohners von New York oder Paris sind die gleichen wie die, welche von Menschen berichtet werden, die vor ein paar tausend Jahren in Athen oder Jerusalem lebten. Die Träume antiker und moderner Menschen sind in der gleichen Sprache geschrieben wie die Mythen, deren Urheber zu Beginn der Geschichte lebten. ...

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