Auszüge aus Erving Goffman's
"Stigma"

Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität

Normalität ist unter Psychologen und Soziologen ein reichlich unsicherer Begriff. Bestimmte erkennbare und erleidbare Arten der Abnormalität hat der amerikanische Soziologe Erving Goffman unter dem allgemeinen Begriff des Stigmas zusammengefaßt. Er schließt Körper-, Geistes- und Charakterdefekte gleichermaßen ein. Träger eines Stigmas leben ein schweres Leben: Sie werden abgelehnt, verbreiten Unbehagen, lösen Beklemmung aus bei den Gesunden, gefährden deren eigenes zerbrechliches Normal-Ich, soweit der Defekt für jeden erkennbar ist. Andere, mit geheimerem Stigma belastet, müssen verleugnen, täuschen, spielen, um weiterhin als normal zu gelten; sie leben in Angst vor Entdeckung und Isolierung. Einsam sind beide. [...]

Stigmatisierte haben zwei Identitäten: die der Normalen, mit der sie identifiziert bleiben, ohne sie zu erfüllen, und ihre reale, defekte, die hinter ihrem Ich-Ideal so schmählich zurückbleibt. Dies auszuhalten und zu ertragen ist die Grundleistung eines jeden Gezeichneten. Und weil die Toleranz der Normalen so verschwindend gering ist, haben die Kranken, nach Goffman, die Last der Anpassung zu tragen. Sie müssen, um die Normalen zu schonen, spielerische Leichtigkeit entwickeln im Umgang mit sich selbst, damit die Normalen nicht von Depression und Mitleid verschlungen werden. Tilmann Moser

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Vorwort

Schon seit mehr als einem Jahrzehnt wurde in der sozialpsychologischen Literatur gute Arbeit geleistet über Stigma – die Situation des Individuums, das von vollständiger sozialer Akzeptierung ausgeschlossen ist.Von Zeit zu Zeit wurde diese Arbeit durch nützliche klinische Studien ergänztund ihr Rahmen auf immer neue Personenkategorien ausgedehnt.

In dieser Abhandlungmöchte ich einige Arbeiten über Stigma besprechen, insbesondere einige populäre Arbeiten, um zu prüfen, was sie für die Soziologie beibringen können. Eine Aufgabe wird es sein, das Material über Stigma von benachbarten Sachverhalten abzugrenzen, zu zeigen, wie dieses Material innerhalb eines einzigen Begriffsschemas rationell beschrieben werden kann, und die Relation von Stigma zum Thema Devianz zu klären. Diese Aufgabe wird es mir erlauben, einen speziellen Begriffsapparat zu formulieren und anzuwenden, Begriffe, die auf "soziale Information" zielen, jene Information, die das Individuum direkt über sich erteilt.

Dear Miß Lonelyhearts

Ich bin jetzt sechzehn Jahre alt, und ich weiß nicht, was ich tun soll, und ich möchte Sie bitten, mir zu sagen, was ich tun soll. Als ich ein kleines Mädchen war, war es nicht so schlimm, weil ich mich daran gewöhnt hatte, daß die Kinder aus unserem Viertel sich über mich lustig machten, aber jetzt möchte ich gerne Freunde haben wie andere Mädchen und samstags abends ausgehen, aber kein Junge will mit mir gehen, weil ich ohne Nase geboren wurde – obwohl ich gut tanzen kann und eine hübsche Figur habe und mein Vater mir schöne Kleider kauft.

Den ganzen Tag sitze ich da und sehe mich an und heule. Mitten im Gesicht habe ich ein großes Loch, das die Leute und selbst mich erschreckt, so daß ich es den Jungen nicht übelnehmen kann, wenn sie nicht mit mir ausgehen wollen. Meine Mutter liebt mich, aber wenn sie mich ansieht, weint sie schrecklich.

Was habe ich nur getan, um ein so schlimmes Schicksal zu verdienen. Selbst wenn ich wirklich etwas Böses getan habe, tat ich es doch nicht, bevor ich ein Jahr alt war, und ich wurde schon so geboren. Ich habe Papa gefragt, und er sagt, er weiß es nicht, aber es kann ja sein, daß ich etwas in der anderen Welt tat, bevor ich geboren wurde, oder es kann sein, daß ich für seine Sünden bestraft bin. Aber das glaube ich nicht, weil er ein sehr netter Mann ist. Sollte ich Selbstmord begehen?

Es grüßt Sie Ihre Verzweifelte

Aus Miss Lonelyhearts von Nathanael West, S. 14-15. Copyright © 1962 bei New Directions.

Stigma und soziale Identität

Die Griechen, die offenbar viel für Anschauungshilfen übrig hatten, schufen den Begriff Stigma als Verweis auf körperliche Zeichen, die dazu bestimmt waren, etwas Ungewöhnliches oder Schlechtes über den moralischen Zustand des Zeichenträgers zu offenbaren. Die Zeichen wurden in den Körper geschnitten oder gebrannt und taten öffentlich kund, daß der Träger ein Sklave, ein Verbrecher oder ein Verräter war – eine gebrandmarkte, rituell für unrein erklärte Person, die gemieden werden sollte, vor allem auf öffentlichen Plätzen. Später, in christlichen Zeiten, wurden dem Begriff noch zwei metaphorische Inhalte hinzugefügt: der erste bezog sich auf körperliche Zeichen göttlicher Gnade, die in der Form von Blumen auf der Haut aufbrachen; der zweite, eine medizinische Anspielung auf diese religiöse Anspielung, bezog sich auf körperliche Zeichen physischer Unstimmigkeit. Heute wird der Terminus weitgehend in einer Annäherung an seinen ursprünglichen wörtlichen Sinn gebraucht, aber eher auf die Unehre selbst als auf deren körperliche Erscheinungsweise angewandt. Ferner sind Verschiebungen aufgetreten in den Arten von Unehre, die Betroffenheit auslösen. Die Wissenschaftler haben sich jedoch kaum bemüht, die strukturellen Vorbedingungen von Stigma zu beschreiben oder auch nur eine Definition des Begriffs zu liefern. Es scheint daher notwendig, mit dem Versuch zu beginnen, einige sehr allgemeine Annahmen und Definitionen zu skizzieren.

Die Gesellschaft schafft die Mittel zur Kategorisierung von Personen und den kompletten Satz von Attributen, die man für die Mitglieder jeder dieser Kategorien als gewöhnlich und natürlich empfindet. Die sozialen Einrichtungen etablieren die Personenkategorien, die man dort vermutlich antreffen wird. Die Routine sozialen Verkehrs in bestehenden Einrichtungen erlaubt es uns, mit antizipierten Anderen ohne besondere Aufmerksamkeit oder Gedanken umzugehen. Wenn ein Fremder uns vor Augen tritt, dürfte uns der erste Anblick befähigen, seine Kategorie und seine Eigenschaften, seine "soziale Identität" zu antizipieren – um einen Terminus zu gebrauchen, der besser ist als "sozialer Status", weil persönliche Charaktereigenschaften wie zum Beispiel "Ehrenhaftigkeit" ebenso einbezogen sind wie strukturelle Merkmale von der Art des "Berufs".

Wir stützen uns auf diese Antizipationen, die wir haben, indem wir sie in normative Erwartungen umwandeln, in rechtmäßig gestellte Anforderungen.

Es ist typisch, daß wir uns nicht bewußt werden, diese Forderungen gestellt zu haben, auch nicht bewußt werden, was sie sind, bis eine akute Frage auftaucht, ob sie erfüllt werden oder nicht. Zu diesem Zeitpunkt bemerken wir wahrscheinlich, daß wir immerzu bestimmte Annahmen darüber gemacht hatten, was unser Gegenüber sein sollte.
So könnten die Forderungen, die wir stellen, besser "im Effekt" gestellte Forderungen genannt werden, und der Charakter, den wir dem Individuum zuschreiben, sollte besser gesehen werden als eine Zuschreibung, die in latenter Rückschau gemacht ist – eine Charakterisierung "im Effekt", eine virtuale soziale Identität. Die Kategorie und die Attribute, deren Besitz dem Individuum tatsächlich bewiesen werden konnte, werden wir seine aktuale soziale Identität nennen.

Während der Fremde vor uns anwesend ist, kann es evident werden, daß er eine Eigenschaft besitzt, die ihn von anderen in der Personenkategorie, die für ihn zur Verfügung steht, unterscheidet; und diese Eigenschaft kann von weniger wünschenswerter Art sein – im Extrem handelt es sich um eine Person, die durch und durch schlecht ist oder gefährlich oder schwach. In unserer Vorstellung wird sie so von einer ganzen und gewöhnlichen Person zu einer befleckten, beeinträchtigten herabgemindert. Ein solches Attribut ist ein Stigma, besonders dann, wenn seine diskreditierende Wirkung sehr extensiv ist; manchmal wird es auch ein Fehler genannt, eine Unzulänglichkeit, ein Handikap. Es konstituiert eine besondere Diskrepanz zwischen virtualer und aktualer sozialer Identität. Es sei angemerkt, daß es noch andere Arten der Diskrepanz zwischen virtualer und aktualer sozialer Identität gibt, zum Beispiel die, die uns veranlaßt, ein Individuum von einer sozial antizipierten Kategorie in eine andere, aber ebenfalls wohlantizipierte zurückzustufen, oder diejenige, die uns veranlaßt, unsere Einschätzung des Individuums nach oben zu ändern. Angemerkt sei auch, daß nicht alle unerwünschten Eigenschaften strittig sind, sondern nur diejenigen, die mit unserem Stereotyp von dem, was ein gegebener Typus von Individuum sein sollte, unvereinbar sind.

Der Terminus Stigma wird also in bezug auf eine Eigenschaft gebraucht werden, die zutiefst diskreditierend ist, aber es sollte gesehen werden, daß es einer Begriffssprache von Relationen, nicht von Eigenschaften bedarf. Ein und dieselbe Eigenschaft vermag den einen Typus zu stigmatisieren, während sie die Normalität eines anderen bestätigt, und ist daher als ein Ding an sich weder kreditierend noch diskreditierend. Zum Beispiel zwingen einige Jobs in Amerika diejenigen ihrer Inhaber, die nicht die erwartete Collegeausbildung haben, diese Tatsache zu verheimlichen; andere Jobs jedoch können die wenigen Inhaber, die eine Hochschulbildung haben, dazu führen, gerade dies geheimzuhalten, um nicht als Versager oder Außenseiter gekennzeichnet zu werden. Ähnlich wird ein Junge aus dem Mittelstand keine Gewissensbisse fühlen, wenn er beim Gang in die Bücherei gesehen wird; ein Berufsverbrecher jedoch schreibt:

Ich kann mich an mehr als eine Gelegenheit von früher erinnern, zum Beispiel, wenn ich in eine öffentliche Bücherei in der Nähe meiner Wohnung ging, daß ich einige Male über meine Schulter zurückblickte, bevor ich tatsächlich hineinging, nur um ganz sicher zu sein, daß keiner, der mich kannte, irgendwo herumstand und mich dabei sah.

So kann auch ein Individuum, das für sein Vaterland zu kämpfen begehrt, einen physischen Defekt verheimlichen, damit nicht sein beanspruchter physischer Zustand diskreditiert werde; später kann das gleiche Individuum, wenn es verbittert versucht, aus der Armee herauszukommen, mit Erfolg die Aufnahme ins Armeehospital durchsetzen, wo es wiederum diskreditiert würde, wenn sich herausstellte, daß es tatsächlich keine akute Krankheit hat. So ist also ein Stigma in der Tat eine besondere Art von Beziehung zwischen Eigenschaft und Stereotyp, aber ich möchte nicht vorschlagen, es weiterhin so zu nennen, unter anderem deswegen, weil es wichtige Eigenschaften gibt, die fast überall in unserer Gesellschaft diskreditierend sind.

Der Terminus Stigma und seine Synonyme verbergen eine doppelte Perspektive: Nimmt das stigmatisierte Individuum an, daß man über sein Anderssein schon Bescheid weiß oder daß es unmittelbar evident ist, oder nimmt es an, daß es weder den Anwesenden bekannt ist noch von ihnen unmittelbar wahrnehmbar? Im ersten Fall hat man es mit der Misere des Diskreditierten zu tun, im zweiten mit der des Diskreditierbaren. Das ist ein wichtiger Unterschied, obgleich ein stigmatisiertes Individuum wahrscheinlich mit beiden Situationen Erfahrungen haben wird. Ich werde mit der Situation des Diskreditierten beginnen und zum Diskreditierbaren fortschreiten, beide aber nicht immer voneinander trennen.

Drei kraß verschiedene Typen von Stigma können erwähnt werden. Erstens gibt es Abscheulichkeiten des Körpers – die verschiedenen physischen Deformationen. Als nächstes gibt es individuelle Charakterfehler, wahrgenommen als Willensschwäche, beherrschende oder unnatürliche Leidenschaften, tückische und starre Meinungen und Unehrenhaftigkeit, welche alle hergeleitet werden aus einem bekannten Katalog, zum Beispiel von Geistesverwirrung, Gefängnishaft, Sucht, Alkoholismus, Homosexualität, Arbeitslosigkeit, Selbstmordversuchen und radikalem politischen Verhalten. Schließlich gibt es die phylogenetischen Stigmata von Rasse, Nation und Religion. Es sind dies solche Stigmata, die gewöhnlich von Geschlecht zu Geschlecht weitergegeben werden und alle Mitglieder einer Familie in gleicher Weise kontaminieren. Jedoch werden in allen diesen verschiedenen Stigmabeispielen, einschließlich derer, die die Griechen meinten, die gleichen soziologischen Merkmale gefunden: Ein Individuum, das leicht in gewöhnlichen sozialen Verkehr hätte aufgenommen werden können, besitzt ein Merkmal, das sich der Aufmerksamkeit aufdrängen und bewirken kann, daß wir uns bei der Begegnung mit diesem Individuum von ihm abwenden, wodurch der Anspruch, den seine anderen Eigenschaften an uns stellen, gebrochen wird. Es hat ein Stigma, das heißt, es ist in unerwünschter Weise anders, als wir es antizipiert hatten. Uns und diejenigen, die von den jeweils in Frage stehenden Erwartungen nicht negativ abweichen, werde ich die Normalen nennen.

Die Haltungen, die wir Normalen einer Person mit einem Stigma gegenüber einnehmen, und die Art, in der wir ihr gegenüber agieren, sind wohlbekannt, da es ja diese Reaktionen sind, die durch wohlwollende soziale Verhaltensweisen gemildert und verbessert werden sollen. Von der Definition her glauben wir natürlich, daß eine Person mit einem Stigma nicht ganz menschlich ist. Unter dieser Voraussetzung üben wir eine Vielzahl von Diskriminationen aus, durch die wir ihre Lebenschancen wirksam, wenn auch oft gedankenlos, reduzieren. Wir konstruieren eine Stigma-Theorie, eine Ideologie, die ihre Inferiorität erklären und die Gefährdung durch den Stigmatisierten nachweisen soll; manchmal rationalisieren wir derart eine Animosität, die auf anderen Differenzen – wie zum Beispiel sozialen Klassendifferenzen – beruht. In unserer täglichen Unterhaltung gebrauchen wir spezifische Stigmatermini wie Krüppel, Bastard, Schwachsinniger, Zigeuner als eine Quelle der Metapher und der Bildersprache, bezeichnenderweise ohne an die ursprüngliche Bedeutung zu denken. Wir tendieren dazu, eine lange Kette von Unvollkommenheiten auf der Basis der ursprünglichen einen zu unterstellen und zur gleichen Zeit einige wünschenswerte aber unerwünschte Eigenschaften anzudichten, oft von übernatürlicher Färbung, wie zum Beispiel "sechster Sinn" oder "Intuition":

Einige können davor zurückscheuen, einen Blinden zu berühren oder zu führen, während für andere das wahrgenommene Unvermögen zu sehen zu einer "Gestalt" von Unfähigkeit verallgemeinert werden kann, so daß das Individuum die Blinden anschreit, als wären sie taub, oder versucht sie zu stützen, als wären sie verkrüppelt. Die mit Blinden umgehen, mögen einen ganzen Assoziationshof von Überzeugungen haben, die in dem Stereotyp verankert sind. Sie glauben sich zum Beispiel einer geheimnisvollen Beurteilung unterworfen, indem sie voraussetzen, das blinde Individuum verfüge über besondere Informationskanäle, die anderen nicht zugänglich sind.
Außerdem können wir die defensive Reaktion eines derartigen Stigmatisierten auf seine Situation als einen direkten Ausdruck seines Defekts auffassen und dann beide, Defekt und Reaktion, als gerechte Vergeltung für etwas sehen, das er, seine Eltern oder sein Stamm getan haben. Auf diese Weise verschaffen wir uns eine Rechtfertigung für die Art, wie wir ihn behandeln.

Wenden wir uns nun vom Normalen der Person zu, der gegenüber er normal ist. Es scheint allgemein wahr zu sein, daß die Mitglieder einer sozialen Kategorie einen Urteilsstandard nach Kräften unterstützen, von dem sie und andere übereinstimmend überzeugt sind, daß er nicht direkt auf sie anwendbar ist. So kann ein Geschäftsmann weibliches Verhalten von Frauen oder asketisches Verhalten von Mönchen fordern, sich selbst aber nicht deuten als jemanden, der einen von diesen beiden Verhaltensstilen realisieren sollte. Der Unterschied besteht zwischen dem Realisieren und dem bloßen Unterstützen einer Norm. Das Problem Stigma stellt sich nicht hier, sondern nur da, wo es von allen Seiten irgendwelche Erwartungen gibt, daß die unter einer gegebenen Kategorie subsumierten Individuen eine bestimmte Norm nicht bloß unterstützen sondern auch realisieren sollen.

Ferner scheint es möglich, daß ein Individuum im Leben das verfehlt, was wir effektiv von ihm verlangen, und dennoch von seinem Versagen relativ unberührt ist; abgesondert durch sein Fremdsein, geschützt durch seinen eigenen Identitätsglauben fühlt es sich als ein vollgültiges normales menschliches Wesen und empfindet uns als solche, die nicht ganz menschlich sind. Es trägt ein Stigma, scheint aber davon weder beeindruckt noch zu Reue bewegt zu sein. Diese Möglichkeit wird in exemplarischen Erzählungen über Mennoniten, Zigeuner, schamlose Schurken und sehr orthodoxe Juden verherrlicht.

In Amerika scheinen jedoch zur Zeit separate Ehrsysteme auf dem Abstieg zu sein. Das stigmatisierte Individuum tendiert zu denselben Auffassungen von Identität wie wir; dies ist ein Schlüsselfaktum. Seine innersten Gefühle über sein eigenes Wesen mögen besagen, daß es eine "normale Person" ist, ein menschliches Wesen wie jeder andere, daher eine Person, die eine faire Chance verdient. (Tatsächlich gründet der Stigmatisierte seine Ansprüche, wie immer er sie umschreibt, nicht auf das, was seiner Meinung nach jedermann zusteht, sondern nur jedem einer ausgewählten sozialen Kategorie, in die er fraglos paßt, zum Beispiel jedem seines Alters, Geschlechts, Berufs usw.). Doch kann er, gewöhnlich ganz richtig, wahrnehmen, daß die anderen, was immer sie versichern, ihn nicht wirklich akzeptieren und nicht bereit sind, ihm auf gleicher Ebene zu begegnen. Außerdem rüsten ihn die aus der Gesellschaft im Großen einverleibten Standards mit der intimen Gewißheit dessen aus, was andere als seinen Fehler sehen, wodurch er, sei es auch nur für Augenblicke, unweigerlich zu dem Eingeständnis gezwungen wird, daß er in der Tat hinter das zurückfällt, was er realiter sein sollte. Scham wird eine zentrale Möglichkeit, sie entsteht daraus, daß das Individuum eines seiner eigenen Attribute begreift als etwas Schändliches und als etwas, worauf es gern verzichten würde.

Die unmittelbare Gegenwart von Normalen verstärkt wahrscheinlich die Spaltung zwischen Ich-Ideal und Ich, aber Selbsthaß und Selbsterniedrigung können auch stattfinden, wenn nur das stigmatisierte Individuum und ein Spiegel vorhanden sind:

Als ich schließlich aufstand ... und gelernt hatte, wieder zu gehen, nahm ich eines Tages einen Handspiegel und ging zu einem großen Spiegel, um mich von allen Seiten anzusehen, und ich ging allein. Ich wollte nicht, daß irgend jemand ... wüßte, wie ich mich fühlte, als ich mich selbst zum ersten Male sah. Aber es gab keinen Lärm, keinen Aufschrei; ich heulte nicht vor Wut, als ich mich sah. Ich fühlte mich bloß betäubt. Diese Person da im Spiegel konnte ich nicht sein. Innerlich fühlte ich mich wie eine gesunde, gewöhnliche, glückliche Person – oh, nicht wie die da in dem Spiegel! Doch wenn ich mein Gesicht zum Spiegel wandte, waren da meine eigenen Augen, die brennend vor Scham zurückblickten ... Da ich nicht weinte oder irgendeinen Ton von mir gab, wurde es unmöglich, daß ich darüber zu irgend jemandem sprechen sollte, und die Verwirrung und die Panik meiner Entdeckung wurden damals und dort in mir eingeschlossen, um für eine sehr lange Zukunft allein ausgestanden zu werden.

Immer wieder vergaß ich, was ich im Spiegel gesehen hatte. Es konnte nicht in das Innerste meines Wesens eindringen und ein integrierter Teil von mir werden. Ich fühlte mich, als hätte es mit mir nichts zu tun; es war nur eine Verkleidung. Aber es war nicht die Art Verkleidung, die von der Person, die sie trägt, freiwillig angelegt wird in der Absicht, andere Menschen hinsichtlich ihrer Identität zu verwirren. Meine Verkleidung wurde mir ohne meine Einwilligung oder mein Wissen angelegt, wie die Verkleidungen im Märchen, und ich selbst war dadurch verwirrt hinsichtlich meiner eigenen Identität. Ich sah in den Spiegel und war von Grauen gepackt, denn ich erkannte mich selbst nicht. Auf dem Platz, wo ich stand, mit dieser beharrlichen romantischen Gehobenheit in mir, so als ob ich eine vom Glück begünstigte Person sei, der alles möglich wäre, sah ich einen Fremden, eine kleine, erbarmungswürdige, scheußliche Gestalt und ein Gesicht, das schmerzlich und rot wurde vor Scham, als ich es anstarrte. Es war nur eine Verkleidung, aber sie war an mir, lebenslänglich. Sie war da, sie war da, sie war wirklich. Jede dieser Begegnungen war wie ein Schlag auf den Kopf. Sie ließen mich jedesmal verwirrt und sprachlos und gefühllos zurück, bis langsam und hartnäckig meine robuste beharrliche Illusion, ganz in Ordnung und von persönlicher Schönheit zu sein, sich in mir wieder ganz und gar ausbreitete und ich die irrelevante Realität vergaß und wieder ganz unvorbereitet und verwundbar war.

Das zentrale Merkmal der Situation des stigmatisierten Individuums im Leben kann nun angegeben werden. Es steht in Bezug zu dem, was häufig, wenn auch vage, "Akzeptierung" genannt wird. Diejenigen, die mit dem Stigmatisierten zu tun haben, lassen es daran fehlen, ihm den Respekt und die Beachtung zu gewähren, die sie ihm unter dem Eindruck der nichtaffizierten Aspekte seiner sozialen Identität entgegenbringen wollten, während er unter demselben Eindruck erwartete, sie entgegennehmen zu dürfen; sein Echo auf diese Verweigerung ist die Empfindung, daß einige seiner eigenen Eigenschaften sie rechtfertigen.

Wie antwortet die stigmatisierte Person auf ihre Situation? In einigen Fällen wird es ihr möglich sein, einen direkten Versuch zu machen, das zu korrigieren, was sie als die objektive Basis ihres Fehlers sieht, etwa wenn eine physisch deformierte Person sich einer Behandlung durch plastische Chirurgie unterzieht, eine blinde Person einer Augenbehandlung, ein Ungebildeter einer abhelfenden Ausbildung, ein Homosexueller der Psychotherapie. (Wo eine solche Reparatur möglich ist, ist das Ergebnis oft nicht der Erwerb eines vollkommen normalen Status, sondern die Transformation eines Ich mit einem bestimmten Makel zu einem Ich mit dem Kennzeichen, einen bestimmten Makel korrigiert zu haben.) Hier muß die Bereitschaft, Betrügern zum Opfer zu fallen, angeführt werden. Sie ist ein Resultat des Ausgeliefertseins der stigmatisierten Person an betrügerische Helfer, die Sprachkorrektur verkaufen, Hautbleichmittel (für Farbige), Körpervergrößerungsgeräte, Jugendwiederhersteller (wie bei der Behandlung mit befruchtetem Eidotter), Gesundbeten und innere Ausgeglichenheit in der Konversation. Ob es sich nun um eine praktische Technik oder um Betrug handelt, die aus dieser Frage resultierende und oft geheimgehaltene Nachforschung gibt einen besonderen Hinweis auf die Extreme, bis zu denen die Stigmatisierten unter Umständen willens sind zu gehen, und von daher auf das Qualvolle einer Situation, die sie zu diesen Extremen führt. Hier mag ein Anschauungsbeispiel zitiert werden:

Miss Peck [eine bahnbrechende New-Yorker Sozialarbeiterin für Schwerhörige] sagte, daß am Anfang die Quacksalber und Werde-schnell-reich-Mediziner, von denen es mehr als genug gab, die Liga [für Schwerhörige] als ihren glückverheißenden Jagdgrund ansahen, ideal für die Propaganda für magnetische Kopfbedeckungen, wundertätige Vibriermaschinen, künstliche Trommelfelle, für Blasgeräte, Inhalierapparate, Massageapparate, magische Öle, Balsams und andere garantiert sicher wirkende positive und permanente Allheilmittel gegen unheilbare Taubheit. Anzeigen für solchen Hokus-Pokus bestürmten (bis in die zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts, als die Amerikanische Medizinische Vereinigung sich mit einer Untersuchungskampagne einmischte) die Schwerhörigen in den Seiten der Tageszeitungen, selbst in seriösen Zeitschriften.

Das stigmatisierte Individuum kann auch versuchen, seinen Zustand indirekt zu korrigieren, indem es viel private Anstrengung der Meisterung von Tätigkeitsbereichen widmet, von denen man gewöhnlich annimmt, daß sie für jemanden mit seiner Unzulänglichkeit aus akzidentellen und physischen Gründen verschlossen sind. Dies veranschaulicht der Gelähmte, der lernt oder wieder lernt zu schwimmen, zu reiten, Tennis zu spielen oder ein Flugzeug zu steuern; ähnlich der Blinde, der ein ausgezeichneter Skiläufer und Bergsteiger wird. Die Folter des Lernens kann natürlich verbunden sein mit der Folter der Darbietung dessen, was gelernt wurde, etwa wenn einer, der an einen Rollstuhl gefesselt ist, es fertigbringt, sich mit einem Mädchen in irgendeiner Art Mimikry des Tanzens auf dem Parkett zu bewegen. Schließlich kann die beschämend andersartige Person mit dem, was Realität genannt wird, brechen und eigensinnig versuchen, eine unkonventionelle Auffassung von der Eigenart ihrer sozialen Identität durchzusetzen.

Das stigmatisierte Individuum ist geneigt, sein Stigma für "sekundäre Gewinne" zu benutzen, als Entschuldigung für Mißerfolg, der ihm aus anderen Gründen widerfahren ist:
Jahrelang betrachtete man die Narbe, Hasenscharte oder mißgestaltete Nase als ein Handikap, und seine Bedeutung in der sozialen und emotionalen Anpassung ist unbewußt allumfassend. Es ist der "Haken", an dem der Patient alle Unzulänglichkeiten aufgehängt hat, alle Unzufriedenheiten, allen Aufschub und alle unangenehmen Pflichten des sozialen Lebens, und er wurde von ihm abhängig, nicht nur um dem Wettbewerb angemessen zu entrinnen, sondern auch um sich vor sozialer Verantwortung zu schützen.
Wenn man diesen Faktor durch chirurgische Ausbesserung entfernt, ist der Patient haltlos aus dem mehr oder weniger akzeptierbaren emotionalen Schutz, den er bot, geworfen und spürt bald zu seiner Überraschung und seinem Unbehagen, daß das Leben kein ganz und gar sanftes Dahinsegeln ist, selbst nicht für Leute mit makellosen "gewöhnlichen" Gesichtern. Er ist nicht vorbereitet, es mit dieser Situation ohne die Unterstützung durch ein "Handikap" aufzunehmen, und wendet sich möglicherweise dem weniger einfachen, aber ähnlichen Schutz der Verhaltensmuster von Neurasthenie, Konversionshysterie, Hypochondrie oder der akuten Angstzustände zu.
Er kann die Schicksalsprüfungen, die er erlitt, auch als Glück im Unglück sehen, besonders deswegen, weil gespürt wird, daß Leiden über das Leben und die Menschen belehren kann:

Aber jetzt, weit weg von der Krankenhauserfahrung, kann ich beurteilen, was ich gelernt habe [schreibt eine Mutter, die durch Poliomyelitis zeitlebens verkrüppelt ist]. Denn es war nicht allein Leiden: es war auch Lernen durch Leiden. Ich weiß, daß meine Kenntnis der Menschen sich vertieft und zugenommen hat, daß diejenigen, die mir nahestehen, damit rechnen können, all mein Wesen, mein Herz und meine Aufmerksamkeit auf ihre Probleme zu wenden. Ich hätte das nicht lernen können, wenn ich über einen ganzen Tennisplatz gerannt wäre.

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