Auszüge aus Erving Goffman's
"Wir alle spielen Theater"

Die Selbstdarstellung im Alltag

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Vorwort von Ralf Dahrendorf

Von Karl Mannheim wird erzählt, er habe während seiner Zeit an der London School of Economics gelegentlich seine Seminarteilnehmer davongeschickt mit dem Auftrag, in der benachbarten Fleet Street "Gesellschaft" zu beobachten und hernach im Seminar über ihre Beobachtungen zu berichten. Der Auftrag ist weder so absurd, wie er zunächst erscheinen könnte, noch etwa leicht auszuführen – und beides zu betonen ist am Platze zu Beginn des Buches von Erving Goffman, das hier auf deutsch vorgelegt wird und dessen Reiz nicht zuletzt im Sinn seines Autors für das Absurde und in seiner Fähigkeit der leichten Darstellung liegt.

Goffman hatte keinen Auftrag von Karl Mannheim, als er auf die Shetland-Inseln ging, um dort Beobachtungen zu machen. Doch war auch er nicht ausgezogen, um ein bestimmtes Thema zu erforschen, etwa die Familienstrukturen oder den Prozeß der Modernisierung. Nur gibt diese Tatsache bei Erving Goffman nicht Anlaß zur Kritik, wie sie an einer problemlosen empirischen Forschung mit Recht geübt wird. Ihm ging es nämlich darum, in der Fremde das deutlicher zu sehen, was es auch zu Hause und überhaupt unter Menschen gibt: Einzelne, die sich nach bestimmten Mustern, an bestimmten Orten, im gegenwärtigen oder angenommenen Ensemble darstellen.

Wie ist Gesellschaft möglich?

Die soziale Welt ist eine Bühne, eine komplizierte Bühne sogar, mit Publikum, Darstellern und Außenseitern, mit Zuschauerraum und Kulissen, und mit manchen Eigentümlichkeiten, die das Schauspiel dann doch nicht kennt. Das Bild ist alt; und es geht Goffman auch nicht darum, dieses Bild ein weiteres Mal zu entwerfen. Vielmehr steht sein so eingängiges Buch unter einer durchaus bestimmten Erkenntnisabsicht. Daß unser Handeln in Gesellschaft stets in sozialen Rollen erfolgt, kann eine bloße Konstruktion der Wissenschaft, es kann aber auch ein Stück unserer Existenz sein. "Soziale Rolle" kann, in der Sprache der Philosophie, ein Terminus oder aber eine Kategorie sein. Goffman geht es, neben anderen und spezielleren Thesen, um den Nachweis, daß die Selbstdarstellung des Einzelnen nach vorgegebenen Regeln und unter vorgegebenen Kontrollen ein notwendiges Element des menschlichen Lebens ist. Der Sozialwissenschaftler, der dieses Element in seine Begriffe hineinstilisiert – Rolle, Sanktion, Sozialisierung usw. –, nimmt nur auf, was die Wirklichkeit ihm bietet.

Karl Mannheim hatte in seinem Buch Ideologie und Utopie den "totalen Ideologieverdacht" erfunden. Erving Goffmans Buch belegt in immer neuen Anläufen einen totalen Rollenverdacht. Es stellt damit ein paar Fragen, die der Autor in der gelassenen Art seiner Darstellung zwar andeutet, aber mit einer wahrscheinlich täuschenden Distanziertheit dann doch unformuliert läßt. Das eine ist die Frage nach dem Selbst, das sich auf so verschiedenartige Weise darstellt, indes immer darstellen muß. Goffman spricht mehr von den Zwängen als von den Chancen, in denen menschliches Verhalten steht, so daß mancher sein Buch ernüchtert aus der Hand legen mag, ohne einen Blick zu gewinnen für die Möglichkeiten, aus der totalen Institution Gesellschaft auszubrechen.

Hier ist Goffmans Ironie vielleicht zu wenig engagiert. Seine Darstellung des Verhaltens auf und hinter der Bühne nimmt zwei soziale Orte als gegeben hin, deren Verhältnis auch anders sein könnte. Wie, wenn die "Verräter" und "Denunzianten" sich häufen? Wie, wenn mehr und mehr Darsteller verraten, was sich hinter der Bühne abspielt? Wie, wenn das Publikum mitzuspielen beginnt? Das alles mag nicht zu einem Ausbruch aus der Gesellschaft führen; es kann sie aber verändern, und zwar auch in Strukturen, die "normalerweise" als der Veränderung entzogen hingenommen werden. Verfolgt man diesen Gedanken weiter, dann scheint es überhaupt nicht mehr so ganz selbstverständlich, daß Gesellschaft in den uns bekannten Manifestationen nötig ist, und die Frage "Wie ist Gesellschaft möglich?" verwandelt sich bald in die ebenso schwierige andere Frage: Inwieweit ist Gesellschaft nötig?

Aber man wird Goffman schwerlich vorwerfen können, daß er diese Frage nicht gestellt hat: denn sein Buch macht erkennbar, daß er auch ihr gewachsen wäre. Er ist gewiß Interpret und nicht Veränderer – aber er ist dies mit einer Sensibilität, wie sie in der Geschichte der Sozialwissenschaften selten war. Nicht zufällig ist der erste Autor, den Goffman zitiert, Georg Simmel. Hier finden wir ein ähnliches Talent, beobachtete Wirklichkeit transparent zu machen für die in ihr erkennbaren Strukturen; hier finden wir auch einen ähnlichen Sinn für das scheinbar abwegige Detail. Die Exkurse der "Soziologie" von Simmel haben den Stil von Goffman prägen können, weil die Art der Erfahrung sozialer Wirklichkeit beide verbindet. In der gegenwärtigen deutschen Soziologie hat einen ähnlichen Stil der Erfahrung und der Darstellung Heinrich Popitz, dessen Schrift über den Begriff der sozialen Rolle als Element der soziologischen Theorie in den unmittelbaren gedanklichen Zusammenhang des Buches von Goffman gehört.

Für die Soziologie sind diese bedeutenden Autoren immer ein wenig ärgerlich. Sie gehen so unprätentiös an die Grundlagen der Disziplin, daß man daran zu zweifeln beginnen könnte, ob diese Disziplin denn nun den literarischen oder den exakten Wissenschaften zuzuordnen ist. Goffman vermeidet jedes terminologische Pathos. Die Wirkung, die er damit erzielt, ist bemerkenswert. Während man in den üblichen sozialwissenschaftlichen Schriften häufig im Jargon beinahe ertrinkt und erst in später Minute entdeckt, daß das rettende Ufer des common sense näher ist, als das Meer von Begriffen einem nahelegen würde, könnte Goffmans Buch im umgekehrten Sinne irreführen.

Die trotz der oft ausführlichen Zitate leichte, beinahe hingehauchte Darstellung täuscht nämlich über den theoretischen Gehalt einer Studie hinweg, die nicht nur das Simmelsche Grundproblem, sondern auch manche Fragen der Theorien der Sozialisation, der Sanktionen, des abweichenden Verhaltens und anderer Probleme mehr schon jetzt sehr befruchtet hat. Daß Goffman selbst in seinen späteren Studien (Asylums, Encounters) manches weitergeführt hat, was in diesem seinem ersten Buch nur anklingt, bestätigt diese Behauptung.

Die aktuelle Frage wird auch nach diesem Buch für manchen Leser die sein: Wie ist Soziologie möglich? Das heißt: Ist Soziologie mehr als die Übersetzung der Erfahrungen des intelligenten Zeitgenossen in eine nicht mehr intelligible Sprache? Es gibt zwei Gründe, aus denen ich zögere, Goffmans Buch eine Einführung in die Soziologie zu nennen. Der eine Grund liegt darin, daß sein Buch sich zwar so liest, wie eine gute Einführung sich lesen sollte, aber tatsächlich doch theoretisch ziemlich beladen ist. Wer dieses Buch als Einführung in das soziologische Denken liest, sollte sich keinen Illusionen darüber hingeben, wie viele neue Wege des Fragens und der Lösung von Fragen er gehen muß. Der andere Grund ist komplizierter und trifft unmittelbar den Inhalt dieses Buches. Soziologie macht das Selbstverständliche zum Gegenstand der Reflexion. Wer das Selbstverständliche wiedererzählt bekommt, hat es allerdings noch nicht verlassen. Mannheims Aufgabe für die Studenten seines Seminars war eine College-Aufgabe, eine Aufgabe für Anfänger im Fach. Erst wer sie gelöst hat, kann hoffen, seinen Beitrag dazu zu leisten, daß diese modische Disziplin ein paar Schritte weiter kommt auf einen Weg, wie ihn Goffman weist.

Vorwort von Goffman

Diese Untersuchung ist als Führer gedacht, der im einzelnen eine bestimmte soziologische Perspektive darlegt, aus der heraus man das soziale Leben – und zwar so, wie es in den räumlichen Grenzen eines Gebäudes oder einer Fabrik organisiert ist – studieren kann. Eine Reihe von Grundzügen wird beschrieben, die zusammen den Rahmen bilden, der für jedes soziale Gefüge, sei es häuslicher, industrieller oder kommerzieller Art, Gültigkeit hat.

Die Gesichtspunkte, die in diesem Bericht angewandt wurden, sind die einer Theatervorstellung, das heißt, sie sind von der Dramaturgie abgeleitet. Ich werde darauf eingehen, wie in normalen Arbeitssituationen der Einzelne sich selbst und seine Tätigkeit anderen darstellt, mit welchen Mitteln er den Eindruck, den er auf jene macht, kontrolliert und lenkt, welche Dinge er tun oder nicht tun darf, wenn er sich in seiner Selbstdarstellung vor ihnen behaupten will. Die offensichtliche Unzulänglichkeit eines solchen Verhaltensmodells sei nicht verschwiegen. Auf der Bühne werden Dinge vorgetäuscht. Im Leben hingegen werden höchstwahrscheinlich Dinge dargestellt, die echt, dabei aber nur unzureichend geprobt sind. Und was wohl noch entscheidender ist: Auf der Bühne stellt sich ein Schauspieler in der Verkleidung eines Charakters vor anderen Charakteren dar, die wiederum von Schauspielern gespielt werden; das Publikum ist der dritte Partner innerhalb der Interaktion – ein wichtiger Partner, und dennoch einer, der nicht da wäre, wenn die Vorstellung Wirklichkeit wäre. Im wirklichen Leben sind die drei Partner auf zwei reduziert; die Rolle, die ein Einzelner spielt, ist auf die Rollen abgestimmt, die andere spielen; aber diese anderen bilden zugleich das Publikum. Auf weitere Unzulänglichkeiten des Modells soll später eingegangen werden.

Das Material, das zur Illustrierung herangezogen wird, ist unterschiedlicher Herkunft: Einiges stammt aus fundierten Forschungen, in denen qualifizierte allgemeine Aussagen über zuverlässig feststellbare Gesetzmäßigkeiten gemacht werden; einiges stammt aus zwanglosen Lebenserinnerungen von in ihrer Art ausgeprägten Persönlichkeiten; vieles liegt dazwischen. Daneben ziehe ich häufig eine eigene Untersuchung über eine Kleinpächtergemeinschaft auf einer der Shetland-Inseln heran. Die Rechtfertigung einer derartigen Methode, die wohl auch Simmel für sich in Anspruch nimmt, liegt darin, daß die Beispiele sich in ein Bezugssystem einfügen lassen, das Erfahrungen miteinander verbindet, die der Leser bereits gemacht hat, und das zugleich dem Wissenschaftler einen Leitfaden bietet, der an Einzelstudien über institutionalisiertes Sozialleben überprüft werden kann.

Das Rahmensystem wird in logischen Schritten aufgebaut. Die Einleitung ist notgedrungen abstrakt und kann übersprungen werden.

Einleitung

Wenn ein Einzelner mit anderen zusammentrifft, versuchen diese gewöhnlich, Informationen über ihn zu erhalten oder Informationen, die sie bereits besitzen, ins Spiel zu bringen. Sie werden sich für seinen allgemeinen sozialen und wirtschaftlichen Status, sein Bild von sich selbst, seine Einstellung zu ihnen, seine Fähigkeit, seine Glaubwürdigkeit und dergleichen interessieren. Wenn es auch so scheint, als würden einige dieser Informationen um ihrer selbst willen gesucht, so stehen doch im allgemeinen praktische Gründe dahinter. Informationen über den Einzelnen tragen dazu bei, die Situation zu definieren, so daß die anderen im voraus ermitteln, was er von ihnen erwarten wird und was sie von ihm erwarten können. Durch diese Informationen wissen die anderen, wie sie sich verhalten müssen, um beim Einzelnen die gewünschte Reaktion hervorzurufen.

Den Anwesenden sind verschiedene Informationsquellen zugänglich, und es stehen ihnen verschiedene Vermittler (oder "Zeichenträger") zur Verfügung, die die Informationen überbringen. Kennen sie den Einzelnen nicht, so können die Beobachter seinem Verhalten und seiner Erscheinung Hinweise entnehmen, die es ihnen ermöglichen, entweder frühere Erfahrungen mit ähnlichen Personen auszuwerten oder – was entscheidender ist – nicht überprüfte Klischeevorstellungen auf ihn zu übertragen. Auf Grund ihrer früheren Erfahrungen können sie auch erwarten, in einer gegebenen sozialen Umgebung nur Personen einer bestimmten Art anzutreffen. Sie können sich auf das verlassen, was der Einzelne über sich selbst sagt, oder darauf, wie er sich ausweist. Kennen die anderen den Einzelnen oder wissen sie auf Grund von Erfahrungen, die der Interaktion vorangingen, etwas über ihn, können sie sich bei der Vorhersage seines gegenwärtigen und zukünftigen Verhaltens auf Annahmen über die Beständigkeit und Allgemeingültigkeit psychologischer Züge stützen.

Es kann aber vorkommen, daß, während der Einzelne sich in Gegenwart der anderen befindet, nur wenige Ereignisse eintreten, die ihnen schlüssige Informationen vermitteln, die sie benötigen, um ihr eigenes Verhalten richtig zu planen. Viele entscheidende Tatsachen liegen jenseits von Zeit und Raum der Interaktion oder bleiben in ihr verborgen. So können etwa die "wirklichen" oder "echten" Einstellungen, Überzeugungen und Gefühle des Einzelnen nur indirekt aus seinen Eingeständnissen oder seinem offenbar unabsichtlich sprechenden Verhalten erschlossen werden. Ebenso werden die anderen häufig, wenn der Einzelne ihnen eine Sache oder einen Dienst anbietet, die Verläßlichkeit seines Angebots nicht an Ort und Stelle überprüfen können. Sie werden dann gewisse Ereignisse als konventionelle oder natürliche Zeichen für etwas, das sie nicht unmittelbar wahrnehmen können, akzeptieren müssen. In der Terminologie G. Ichheisers gesprochen, wird der Einzelne so handeln müssen, daß er sich selbst absichtlich oder unabsichtlich ausdrückt und daß die anderen von ihm in bestimmter Weise beeindruckt werden.

Die Ausdrucksmöglichkeit des Einzelnen (und damit in seiner Fähigkeit, Eindrücke hervorzurufen) scheint zwei grundlegend verschiedene Arten von Zeichengebung in sich zu schließen: der Ausdruck, den er sich selbst gibt, und der Ausdruck, den er ausstrahlt. Die erste Art umfaßt Wortsymbole und ihre Substitute, die der Einzelne eingestandenermaßen und ausschließlich dazu verwendet, diejenigen Informationen zu vermitteln, die er und die anderen mit diesen Symbolen verknüpfen. Hier haben wir es mit Kommunikation im traditionellen und engeren Sinne zu tun. Die zweite Art umfaßt einen weiten Bereich von Handlungen, die von den anderen als aufschlußreich für den Handelnden aufgefaßt werden, soweit sie voraussetzen können, daß diese Handlungen aus anderen Gründen als denen der Information unternommen wurden. Wie wir sehen werden, besitzt diese Unterscheidung nur anfangs Gültigkeit. Der Einzelne kann natürlich mit beiden Kommunikationstypen absichtlich Fehlinformationen vermitteln, das eine Mal durch Täuschung, das andere Mal durch Verstellung.

Nehmen wir Kommunikation in ihren beiden obengenannten Bedeutungen, dann stellen wir fest, daß das Verhalten des Einzelnen in unmittelbarer Anwesenheit anderer eigentlich erst aus der Zukunftsperspektive beurteilt werden kann. Die anderen werden im allgemeinen nicht umhinkönnen, den Einzelnen auf Treu und Glauben zu akzeptieren und ihm so während seiner Anwesenheit eine angemessene Gegenleistung für etwas zu bieten, dessen wahrer Wert erst in seiner Abwesenheit festgestellt werden kann. Natürlich handeln die anderen auch in ihrem Verhalten gegenüber der dinglichen Welt auf Grund von Schlußfolgerungen; aber nur in der Welt der sozialen Interaktion erleichtern oder erschweren die Objekte, aus denen sie ihre Schlüsse ziehen, absichtlich diesen Prozeß. Der Grad von Sicherheit, den sie ihren Schlußfolgerungen über den Einzelnen beimessen können, ist natürlich abhängig von solchen Faktoren, wie etwa dem Ausmaß an Informationen, die sie bereits über ihn besitzen. Aber keine noch so große Anzahl früherer Aufschlüsse kann die Notwendigkeit ersetzen, auf Grund von Schlußfolgerungen zu handeln. So schreibt William I. Thomas:

Es ist sehr wichtig, sich über die Tatsache klarzuwerden, daß wir gewöhnlich weder nach statistischen noch nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten unser Leben führen, unsere Entscheidungen treffen und unsere Ziele erreichen. Wir können nur auf Grund von Schlußfolgerungen bestehen. Nehmen wir zum Beispiel an, ich sei Ihr Gast: Sie wissen nicht und können auch nicht wissenschaftlich ermitteln, ob ich nicht Ihr Geld oder Ihre Löffel stehlen werde. Aber man kann annehmen, daß ich es nicht tun werde, und auf Grund dieser Annahme sind Sie bereit, mich einzuladen.

Wenden wir uns nun von den anderen ab und dem Standpunkt des Einzelnen zu, der sich vor ihnen darstellt. Er kann wünschen, daß jene viel von ihm halten oder daß sie glauben, er halte viel von ihnen, wünschen, daß sie seine wahre Meinung über sie erfahren oder daß sie darüber keinen klaren Eindruck gewinnen; er kann wünschen, die Harmonie zu sichern, um die Interaktion aufrecht zu erhalten, oder versuchen, die anderen zu betrügen, sie loszuwerden, sie zu verwirren, sie irrezuführen, gegen sie anzukämpfen oder sie zu beleidigen. Abgesehen von dem unmittelbaren Ziel, das der Einzelne sich gesetzt hat, und von den Motiven dieser Zielsetzung, liegt es in seinem Interesse, das Verhalten der anderen, insbesondere ihr Verhalten ihm gegenüber, zu kontrollieren. Diese Kontrolle wird weitgehend dadurch bewirkt, daß er die Deutung der Situation beeinflußt, und zwar kann er das dadurch, daß er sich in einer Art und Weise ausdrückt, die bei den anderen einen Eindruck hervorruft, der sie veranlaßt, freiwillig mit seinen Plänen übereinzustimmen. So hat der Einzelne im allgemeinen allen Grund, sich anderen gegenüber so zu verhalten, daß er bei ihnen den Eindruck hervorruft, den er hervorrufen will. Da die Zimmergenossinnen eines Mädchens dessen Beliebtheit nach der Anzahl der Telefonanrufe einschätzen, die es empfängt, dürfen wir annehmen, daß manche Mädchen besondere Vorkehrungen treffen, um angerufen zu werden.

Die folgende Feststellung Willard Wallers überrascht uns daher nicht.

Es ist häufig beobachtet und berichtet worden, daß ein Mädchen, das im Wohnheim ans Telefon gerufen wird, sich mehrmals rufen läßt, um alle anderen merken zu lassen, daß es angerufen wird.

Von den zwei genannten Kommunikationstypen – Ausdruck, den sich der Einzelne gibt, und Ausdruck, den er ausstrahlt – wird sich die vorliegende Untersuchung primär mit dem zweiten Typ als dem bühnenmäßigeren und dem stärker in das Gesamtverhalten eingebundenen Typ beschäftigen, gleichgültig, ob diese Art der Kommunikation absichtlich hergestellt wurde oder nicht. Als Beispiel für das, was wir hier zu untersuchen haben, möchte ich eine Episode aus einem Roman zitieren, in der Preedy, ein Engländer auf Ferienreise, zum erstenmal am Badestrand seines Sommerhotels in Spanien auftritt:

Auf alle Fälle aber war er darauf bedacht, niemandem aufzufallen. Als erstes mußte er allen, die möglicherweise seine Gefährten während der Ferien sein würden, klarmachen, daß sie ihn überhaupt nichts angingen. Er starrte durch sie hindurch, um sie herum, über sie hinweg – den Blick im Raum verloren. Der Strand hätte menschenleer sein können. Wurde zufällig ein Ball in seine Nähe geworfen, schien er überrascht; dann ließ er ein amüsiertes Lächeln über sein Gesicht huschen (Preedy, der Freundliche), sah sich um, verblüfft darüber, daß tatsächlich Leute am Strand waren, und warf den Ball mit einem nach innen gerichteten Lächeln – nicht etwa mit einem, das den Leuten zugedacht wäre – zurück und nahm heiter seine absichtslose Betrachtung des leeren Raums wieder auf.

Aber jetzt war es an der Zeit, eine kleine Schaustellung zu inszenieren, die Schaustellung Preedys, des Geistmenschen. Durch geschickte Manöver gab er jedem, der hinschauen wollte, Gelegenheit, den Titel seines Buches zu bemerken – einer spanischen Homer-Übersetzung, also klassisch, aber nicht gewagt und zudem kosmopolitisch –, baute dann aus seinem Bademantel und seiner Tasche einen sauberen, sandsicheren Schutzwall (Preedy, der Methodische und Vernünftige), erhob sich langsam und räkelte sich (Preedy, die Raubkatze!) und schleuderte die Sandalen von sich (trotz allem: Preedy, der Sorglose!).

Preedys Hochzeit mit dem Meer! Es gab verschiedene Rituale.

Einmal jenes Schlendern, das zum Laufen und schließlich zum Kopfsprung ins Wasser wird, danach ruhiges, sicheres Schwimmen auf den Horizont zu. Aber natürlich nicht wirklich bis zum Horizont! Ganz plötzlich drehte er sich auf den Rücken und schlug mit den Beinen große weiße Schaumwogen auf; so zeigte er, daß er weiter hinaus hätte schwimmen können, wenn er nur gewollt hätte, dann reckte er den Oberkörper aus dem Wasser, damit jeder sehen konnte, wer er war.

Die andere Methode war einfacher. Sie schloß den Schock des kalten Wassers ebenso aus wie die Gefahr, übermütig zu erscheinen. Es ging darum, so vertraut mit dem Meer, dem Mittelmeer und gerade diesem Strand, zu erscheinen, daß es keinen Unterschied machte, ob er im Wasser oder draußen war. Langsames Schlendern hinunter an den Saum des Wassers – er bemerkt nicht einmal, daß seine Zehen naß werden: Land und Wasser sind für ihn eins! – die Augen zum Himmel gerichtet, ernst nach den für andere unsichtbaren Vorzeichen des Wetters ausspähend (Preedy, der alteingesessene Fischer).

Der Autor will zeigen, daß sich Preedy in übertriebener Weise mit den weitreichenden Eindrücken befaßt, die er durch sein bloßes körperliches Verhalten bei seiner Umgebung hervorzurufen glaubt. Wir können bösartig unterstellen, daß Preedy nur zu dem Zweck, einen bestimmten – und zwar einen falschen – Eindruck hervorzurufen, gehandelt hat und daß die anderen entweder völlig unbeeindruckt bleiben oder – noch schlimmer – den Eindruck haben, Preedy wolle diesen bestimmten Eindruck durch affektiert geheucheltes Verhalten bei ihnen hervorrufen. Wichtig aber ist für uns, daß der Eindruck, den Preedy hervorzurufen glaubt, eben von der Art ist, wie ihn die anderen, berechtigter- oder unberechtigterweise, empfangen, wenn einer in ihrer Mitte sich so verhält.

Wie schon gesagt, beeinflussen die Handlungen des Einzelnen, wenn er anderen gegenübertritt, deren Deutung der Situation. Manchmal wird sich nun der Einzelne rein berechnend verhalten, das heißt, sich nur darum in einer bestimmten Weise ausdrücken, um bei den anderen gerade den Eindruck hervorzurufen, der eine bestimmte, in seinem Interesse liegende Reaktion bewirken kann. Manchmal wird er sich auch berechnend verhalten, ohne sich dessen vollständig bewußt zu sein. Er kann sich auch absichtlich und bewußt in bestimmter Weise darstellen, weil die Traditionen seiner Gruppe oder seines sozialen Ranges diese Art der Selbstdarstellung vorschreiben; also nicht um irgendeiner bestimmten Reaktion (außer der allgemeinen Akzeptierung oder Zustimmung) willen, die dadurch bei den anderen hervorgerufen werden könnte. Gelegentlich veranlassen die Rollentraditionen, denen der Einzelne unterworfen ist, ihn dazu, einen komplexen Eindruck bestimmter Art hervorzurufen, obgleich er das weder bewußt noch unbewußt wollte. Die anderen können ihrerseits durch die Bemühungen des Einzelnen, etwas zu übermitteln, entweder einen angemessenen Eindruck erhalten oder die Situation mißverstehen und Schlußfolgerungen daraus ziehen, die weder den Absichten des Einzelnen noch den Tatsachen entsprechen. Jedenfalls können wir, insoweit die anderen sich so verhalten, als ob der Einzelne einen bestimmten Eindruck vermittelt habe, von einem funktionellen oder pragmatischen Standpunkt aus sagen, der Einzelne habe auf wirksame Weise eine bestimmte Deutung der Situation effektiv projiziert und tatsächlich ein Einverständnis geschaffen, das durch eine bestimmte Sachlage hervorgerufen wird.

Besonders muß hier noch ein Aspekt der Reaktion der anderen beachtet werden. Da sie wissen, daß sich der Einzelne wahrscheinlich in einem für ihn günstigen Licht darstellen wird, können sie an ihrer Beobachtung zwei Aspekte unterscheiden: einen Aspekt, den der Einzelne verhältnismäßig leicht und seinem Willen entsprechend manipulieren kann – dieser Teil besteht im wesentlichen aus seinen verbalen Äußerungen –, und einen, über den er nur wenig Macht und Kontrolle zu haben scheint, weil er sich hauptsächlich aus dem, was der Einzelne ausstrahlt, ableitet. Die anderen können dann die als nicht manipulierbar angesehenen Aspekte seines Verhaltens als Kriterium dafür verwenden, was in den vermittelten manipulierbaren Aspekten gültig ist. Hier zeigt sich eine fundamentale Asymmetrie des Kommunikationsprozesses, da der Einzelne sich anscheinend nur eines Kommunikationsstroms bewußt ist, während die Beobachter neben diesem noch einen zweiten Kommunikationsstrom wahrnehmen. So hörte sich beispielsweise die Frau eines Kleinpächters auf der Shetland-Insel, als sie einem Gast, der vom englischen Festland kam, einheimische Gerichte vorsetzte, seine höflichen Beteuerungen, das Essen schmecke ihm, mit ebenso höflichem Lächeln an; gleichzeitig aber beobachtete sie die Geschwindigkeit, mit der der Besucher Löffel und Gabel zum Mund führte, den Eifer, mit dem er die Speisen in den Mund schob, und das beim Kauen ausgedrückte Wohlbehagen und konnte an Hand dieser Anzeichen die beteuerten Empfindungen des Essenden auf ihre Richtigkeit hin überprüfen. Wollte sie feststellen, was ein Bekannter (A) "wirklich" von einem anderen Bekannten (B) hielt, wartete die gleiche Frau mit ihrem Urteil so lange, bis sich B in der Gesellschaft von A befand, jedoch mit einer anderen Person (C) ins Gespräch vertieft war. Sie beobachtete dann heimlich den Gesichtsausdruck von A, der B im Gespräch mit C beobachtete. Solange er sich nicht im Gespräch mit B befand und solange er nicht direkt von ihm beobachtet wurde, verlor A manchmal seine konventionellen Hemmungen, verzichtete auf die vom Taktgefühl diktierten Täuschungen und drückte ungehemmt das aus, was er "wirklich" von B hielt. Sie beobachtete, kurz gesagt, den unbeobachteten Beobachter.

Auf Grund der Tatsache nun, daß andere häufig die kontrollierbaren Aspekte des Verhaltens an Hand der weniger leicht kontrollierbaren überprüfen, kann man erwarten, daß der Einzelne gelegentlich versuchen wird, eben diese Möglichkeit auszunützen, indem er den Eindruck, den er hervorruft, durch die Bereiche seines Verhaltens beeinflußt, die als verläßlich informierend angesehen werden. Ein Einzelner, dem daran liegt, fest in einen geschlossenen sozialen Kreis aufgenommen zu werden, kann sich nicht darauf beschränken, nur dann durch sein Mienenspiel Zustimmung zu zeigen, wenn er jemandem zuhört, sondern er muß sich auch bemühen, den gleichen Gesichtsausdruck zu wahren, wenn er seinen Partner im Gespräch mit einem dritten beobachtet; die Beobachter des Beobachters werden dann seinen wirklichen Standpunkt nicht so leicht entdecken können. Ein bezeichnendes Beispiel kann von der Shetland-Insel angeführt werden: Kam ein Nachbar auf eine Tasse Tee zu Besuch, dann zeigte er meist wenigstens andeutungsweise ein erwartungsvolles Lächeln, wenn er die Kate betrat. Da man aber, weil nichts die Sicht versperrte und es in der Kate verhältnismäßig dunkel war, den Besucher schon, während er sich noch dem Haus näherte, unbemerkt beobachten konnte, sahen die Inselbewohner gelegentlich mit Vergnügen, wie der Besucher erst beim Eintreten eine gesellige Miene aufsetzte. Einige Besucher jedoch, die darüber Bescheid wußten, nahmen auf gut Glück schon in großer Entfernung vom Haus einen geselligen Gesichtsausdruck an und sicherten so, daß ihr Bild in den Augen der anderen konstant blieb.

Diese Art von Kontrolle, die der Einzelne ausübt, stellt die Symmetrie des Kommunikationsprozesses wieder her und schafft die Bühne für so etwas wie ein Informationsspiel – einen potentiell endlosen Kreislauf von Verheimlichung, Entdeckung, falscher Enthüllung und Wiederentdeckung. Es muß hinzugefügt werden, daß der Einzelne viel gewinnen kann, indem er kontrolliert, da die anderen im allgemeinen den scheinbar unkontrollierten Aspekten seines Verhaltens verhältnismäßig unkritisch gegenüberstehen. Die anderen können natürlich merken, daß er die scheinbar spontanen Seiten seines Verhaltens manipuliert, und in der Manipulation selbst nach Nuancen suchen, die der Einzelne nicht unter Kontrolle gebracht hat. Dadurch wird wieder eine Überprüfung des Verhaltens des Einzelnen, in diesem Fall seines scheinbar unbeabsichtigten Verhaltens, ermöglicht und so die Asymmetrie des Kommunikationsprozesses wiederhergestellt. Hier möchte ich nur noch hinzufügen, daß anscheinend die Techniken, die zur Entlarvung berechneter Spontaneität des Einzelnen angewandt werden, besser entwickelt sind als die Fähigkeit, unser eigenes Verhalten zu manipulieren, so daß unabhängig von der Zahl der abgelaufenen Phasen des Informationsspiels der Beobachter dem Darsteller gegenüber meist im Vorteil ist und dadurch die ursprüngliche Asymmetrie des Kommunikationsprozesses im allgemeinen erhalten bleibt.

Nehmen wir an, der Einzelne projiziere seine Situation vor anderen, so ist gleichzeitig festzustellen, daß die anderen, wie passiv ihre Rolle auch erscheinen mag, durch ihre Reaktion auf den Einzelnen und die Art des Verhaltens, die sie ihm ermöglichen, ebenfalls wirkungsvoll die Situation bestimmen. Normalerweise sind Situationsbestimmungen der einzelnen Mitglieder einer Gruppe so weitgehend aufeinander abgestimmt, daß keine offensichtlichen Widersprüche auftreten. Damit soll nicht gesagt sein, es bestehe jene Übereinstimmung, die sich einstellt, wenn der Einzelne offen das ausdrückt, was er wirklich fühlt, und mit den Gefühlen der anderen ehrlich übereinstimmt. Diese Art von Harmonie ist ein optimistisches Ideal und jedenfalls nicht unbedingt notwendig für das reibungslose Funktionieren der Gesellschaft. Man erwartet im Gegenteil von jedem Teilnehmer, daß er seine unmittelbaren tieferen Gefühle unterdrückt und einen Aspekt der Situation ausdrückt, den seiner Ansicht nach die anderen wenigstens vorübergehend akzeptieren können. Diese oberflächliche Übereinstimmung, die den Anstrich von Einigkeit hat, wird ohne Schwierigkeiten aufrechterhalten, wenn jeder seine eigenen Bedürfnisse hinter der Verteidigung von Werten verbirgt, denen sich alle Anwesenden verpflichtet fühlen. Weiterhin besteht im allgemeinen eine Art von Arbeitsteilung bei der Bestimmung der Situation. Es bleibt jedem Gruppenmitglied freigestellt, die vorläufig offizielle Meinung in jenen Punkten zu bilden, die für ihn entscheidend, aber für die anderen nicht von unmittelbarer Bedeutung sind, etwa Begründungen und Rechtfertigungen, durch die er sein eigenes, vorangegangenes Verhalten erklärt. Als Gegenleistung bleibt er in Fragen, die für ihn ohne entscheidende Bedeutung, aber für andere wichtig sind, stumm oder äußert sich unverbindlich. Es entsteht also eine Art von Modus vivendi innerhalb der Interaktion. Alle Gruppenmitglieder tragen gemeinsam zu einer umfassenden Bestimmung der Situation bei, die weniger auf echter Übereinstimmung über die Realität beruht als auf echter Übereinstimmung darüber, wessen Ansprüche in welchen Fragen vorläufig anerkannt werden sollen. Echte Übereinstimmung herrscht meist auch darüber, daß es wünschenswert ist, einen offenen Konflikt zwischen widersprechenden Bestimmungen der Situation zu vermeiden. Ich will diese Ebene der allgemeinen Zustimmung als "Arbeitsübereinstimmung" bezeichnen. Natürlich ist der Inhalt dieser Arbeitsübereinstimmung je nach dem Rahmen der Interaktion verschieden. So zeigen zwei Freunde beim gemeinsamen Mittagessen gegenseitige Zuneigung, Respekt und Sorge um den anderen. Im Dienstleistungsgewerbe erweckt dagegen der Fachmann häufig den Anschein, als sei er uneigennützig um die Probleme des Kunden besorgt, worauf der Kunde mit Respekt vor der Fähigkeit und Integrität des Fachmannes antwortet. Unabhängig von ihren inhaltlichen Unterschieden ist jedoch die allgemeine Form dieser Arbeitsübereinstimmungen die gleiche.

Berücksichtigen wir, daß die Partner einer Interaktion die Definitionsansprüche der anderen zu akzeptieren geneigt sind, so können wir die entscheidende Bedeutung verstehen, die gerade jenen Informationen zukommt, die der Einzelne anfangs über seine Partner erwirbt oder besitzt; denn auf der Grundlage dieser Anfangsinformationen beginnt er die Situation zu definieren und die Richtung seiner Reaktionshandlungen auszubauen. Seine anfängliche Projektion verpflichtet den Einzelnen auf das, was er zu sein behauptet, und zwingt ihn, jeden Anspruch fallenzulassen, etwas anderes zu sein. Im Verlauf der Interaktion wird der ursprüngliche Informationsbestand natürlich ergänzt und modifiziert, aber es ist dann wesentlich, daß die späteren Entwicklungen widerspruchslos mit den ursprünglichen Positionen der einzelnen Partner verknüpft und sogar auf sie aufgebaut werden. Es scheint, als sei es für den Einzelnen leichter, zu Beginn einer Begegnung auszuwählen, wie er von den anderen behandelt werden will, als später die Art der Behandlung zu verändern, wenn die Interaktion einmal begonnen hat.

Im Alltagsleben ist natürlich jedem klar, daß erste Eindrücke entscheidend sind. So hängt im Dienstleistungsgewerbe der Arbeitsverlauf häufig von der Fähigkeit des Angestellten ab, die Initiative zu ergreifen und beizubehalten, einer Fähigkeit, die eine versteckte Aggression auf seiten des Bediensteten voraussetzt, sofern sein sozialer und wirtschaftlicher Status niedriger ist als derjenige seines Kunden. W. F. Whyte führt als Beispiel die Kellnerin an:

Als erstes fällt auf, daß die Kellnerin, wenn sie sich gegen Druck zur Wehr setzt, nicht einfach auf den Kunden eingeht. Sie bemüht sich mit einiger Geschicklichkeit darum, sein Verhalten zu kontrollieren. Die erste Frage, die wir uns bei der Untersuchung der Beziehung zwischen Kellnerin und Gast stellen müssen, lautet: "Überfährt die Kellnerin den Gast, oder überfährt der Gast die Kellnerin?" Die geschickte Kellnerin weiß, wie entscheidend diese Frage ist ...

Die geschickte Kellnerin geht zuversichtlich und ohne Zögern auf den Gast zu. Sie stellt fest, daß sich ein neuer Gast an den Tisch gesetzt hat, bevor sie Zeit hatte, das schmutzige Geschirr abzuräumen und das Tischtuch zu wechseln. Er lehnt sich jetzt über den Tisch und liest die Speisekarte. Sie begrüßt ihn, sagt: "Darf ich bitte das Tischtuch wechseln?" und nimmt ihm, ohne auf Antwort zu warten, die Speisekarte weg, so daß er sich zurücklehnt. Dann geht sie an ihre Arbeit. Die Beziehung wird höflich, aber energisch gehandhabt, und es steht außer Zweifel, wer die Oberhand hat.

Ist die durch "erste Eindrücke" in Gang gesetzte Interaktion selbst nur die erste in einer längeren Reihe von Interaktionen zwischen denselben Partnern, dann halten wir es für wichtig, "von Anfang an den richtigen Eindruck zu machen". So nehmen etwa einige Lehrer den folgenden Standpunkt ein:

Man darf sie [die Schüler] nie die Oberhand gewinnen lassen, sonst ist man erledigt. Deshalb fange ich ganz hart an. Wenn ich eine neue Klasse bekomme, zeige ich ihnen am ersten Tag, wer der Stärkere ist ... Man muß hart beginnen, dann kann man später weicher werden. Wenn man weich anfängt und dann hart werden will, schauen sie einen nur an und lachen.

Ebenso glauben manchmal Wärter in Nervenheilanstalten, viele Schwierigkeiten könnten vermieden werden, wenn man dem Patienten gleich am ersten Tag klarmache, wer der Herr ist.

Davon ausgehend, daß der Einzelne in Gegenwart anderer eine Bestimmung der Situation projiziert, ist die Annahme berechtigt, daß innerhalb der Interaktion Ereignisse eintreten können, die dieser Projektion widersprechen, sie fragwürdig machen oder sie sonstwie zweifelhaft erscheinen lassen. Wenn solche störenden Ereignisse eintreten, kann die Interaktion in einen peinlichen und verwirrenden Stillstand geraten. Einige der Voraussetzungen, auf denen die Reaktionen der Partner basierten, werden hinfällig, und die Partner sehen sich in einer Interaktion gefangen, deren Ausgangssituation falsch bestimmt war und die nun überhaupt nicht mehr definiert ist. In einem solchen Augenblick kann es geschehen, daß der Einzelne, dessen Darstellung widerlegt wurde, beschämt ist, während die anderen Anwesenden feindliche Gefühle gegen ihn hegen, und alle Partner unruhig, verblüfft, verwirrt und beschämt sind und die Art von Anomie erfahren, die entsteht, wenn das exakt aufgebaute Sozialsystem einer unmittelbaren Interaktion zusammenbricht.

Wenn wir betonen, daß die erste Bestimmung der Situation, die ein Einzelner projiziert, den Plan für das kommende gemeinsame Handeln schon in sich trägt, wenn wir also den Handlungsaspekt betonen, dürfen wir dabei die entscheidende Tatsache nicht übersehen, daß jeder derartige Entwurf auch einen ausgeprägt moralischen Charakter hat. Mit eben diesem Aspekt werden wir uns hier hauptsächlich zu beschäftigen haben. Die Gesellschaft hat sich so etabliert, daß jeder mit Recht erwarten darf, von den anderen nach seinen sozialen Eigenschaften eingeschätzt und behandelt zu werden. Mit diesem Prinzip ist ein zweites verknüpft: daß nämlich jemand, der ausdrücklich oder stillschweigend zu verstehen gibt, er habe diese oder jene sozialen Eigenschaften, auch wirklich das sein soll, was er zu sein behauptet. Wenn daher jemand eine Bestimmung seiner Situation entwirft, indem er sich als eine Person einer bestimmten Art vorstellt, erhebt er damit automatisch die moralische Forderung, wonach die anderen ihn so einzuschätzen und zu behandeln hätten, wie es Personen seiner Art erwarten dürften. Zugleich gibt er stillschweigend jeden Anspruch auf, etwas zu sein, was er nicht zu sein scheint, und verzichtet damit auf eine Behandlung, die für andere Personen angemessen wäre. Unter diesen Voraussetzungen nehmen die anderen an, daß der Einzelne sie über das, was er ist, und über das, was sie als das "Ist" sehen sollten, informiert hat.

Man kann die Bedeutung der Pannen bei derartigen Situationsbestimmungen nicht daran messen, wie häufig sie auftreten; sie wären zweifellos häufiger, wenn nicht ständig Vorsichtsmaßnahmen getroffen würden. Tatsächlich kann man feststellen, daß immerzu Sicherungsmaßnahmen getroffen werden, um peinliche Situationen zu vermeiden, und daß ständig Korrekturmaßnahmen ergriffen werden, um diskreditierende Vorfälle auszugleichen, die nicht zu vermeiden waren. Wenn der Einzelne derartige Strategien und Taktiken anwendet, um seine Projektionen vor anderen zu sichern, können wir sie als "Verteidigungsmanöver" bezeichnen; wenn ein Partner sie anwendet, um die Projektionen des anderen zu bewahren, sprechen wir von "Schutzmanövern" oder von "Takt". Zusammen stellen Verteidigungs- und Schutzmanöver die Techniken dar, die zur Sicherung des Eindrucks angewandt werden, den ein Einzelner in Gegenwart anderer aufgebaut hat. Hier muß eine Bemerkung angefügt werden: Wir sehen zwar leicht ein, daß kein hervorgerufener Eindruck bestehen bleiben könnte, wenn keine Verteidigungsmanöver angewandt würden, sind aber vielleicht weniger bereit, einzusehen, daß nur wenige Eindrücke bestehen bleiben könnten, wenn diejenigen, die sie empfangen, sie ohne Takt aufnähmen.

Neben der Tatsache, daß Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden, um eine Zerstörung der Projektion zu verhindern, spielt auf der anderen Seite ein ausgeprägtes Interesse an derartigen Störungen im sozialen Leben der Gruppe eine bedeutsame Rolle. Es werden Streiche verübt und Gesellschaftsspiele gespielt, in denen nicht ernst zu nehmende peinliche Situationen absichtlich herbeigeführt werden. Es werden Phantastereien erdacht, in denen sich überwältigende Bloßstellungen abspielen. Es werden Anekdoten aus der Vergangenheit – wahre, ausgeschmückte und frei erfundene – erzählt und wiedererzählt, in denen Störungen geschildert werden, die eingetreten sind, beinahe eingetreten wären oder auf bewundernswürdige Weise überwunden wurden. Es scheint keine Gesellschaft zu geben, die nicht über einen Vorrat derartiger Spiele, Vorstellungen und warnender Erzählungen verfügt – als Quelle des Spaßes, Ausdruck der Befürchtungen und als Mittel, um jemanden zur Bescheidenheit in seinen Ansprüchen und zum Maßhalten in den von ihm projizierten Erwartungen zu veranlassen. Jeder Einzelne wird es sich eingestehen, daß er in seinen Träumen schon in unmögliche Situationen hineingeraten ist. Familien erzählen von dem Tag, an dem ein Gast seinen Terminkalender durcheinanderbrachte und zu einem Zeitpunkt erschien, zu dem weder das Haus noch irgendeiner seiner Bewohner zu seinem Empfang bereit waren. Journalisten schildern gern, wie allzu beziehungsreiche Druckfehler die vorgegebene Objektivität und Würde der Zeitung durch unfreiwilligen Witz diskreditiert haben. Beamte erzählen von dem Antragsteller, der ein Formular in lächerlicher Weise mißverstand und Antworten gab, die eine unerwartete und bizarre Wendung der Situation herbeiführten. Seeleute, die an eine ausgeprägt rauhe Männerumgebung gewöhnt sind, berichten, wie sie nach Hause kamen und aus Versehen ihre Mutter baten, "die verdammte Butter weiterzureichen". Diplomaten erzählen davon, wie eine kurzsichtige Königin den Gesandten einer Republik nach dem Befinden seines Königs fragte.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß ein Einzelner, wenn er vor anderen erscheint, zahlreiche Motive dafür hat, den Eindruck, den sie von dieser Situation empfangen, unter Kontrolle zu bringen. Diese Untersuchung befaßt sich mit einigen der üblichen Techniken, die angewandt werden, um hervorgerufene Eindrücke aufrechtzuerhalten, und mit einigen häufigen Folgeerscheinungen, die mit der Anwendung derartiger Techniken verbunden sind. Der spezifische Inhalt irgendeiner von einem Einzelnen vorgeführten Tätigkeit oder die Rolle, die sie in den interdependenten Tätigkeiten eines übergreifenden Sozialsystems spielt, stehen dabei nicht zur Debatte; ich werde hier ausschließlich die dramaturgischen Probleme des Gruppenmitglieds bei seiner Darstellung vor anderen untersuchen. Die Fragen, mit denen sich Schauspielkunst und Bühnentechnik befassen, sind manchmal trivial, aber sie sind allgemeingültig; sie treten offenbar überall im sozialen Leben auf und bilden einen klar abgegrenzten Rahmen für die formale soziologische Analyse.

Es wird nützlich sein, diese Einleitung durch einige Definitionen abzurunden, die im vorangehenden Text impliziert waren und für das Verständnis des folgenden notwendig sind. Für die Zwecke unserer Untersuchung kann "Interaktion" (das heißt: unmittelbare Interaktion) grob als der wechselseitige Einfluß von Individuen untereinander auf ihre Handlungen während ihrer unmittelbaren physischen Anwesenheit definiert werden. Eine Interaktion kann definiert werden als die Summe von Interaktionen, die auftreten, während eine gegebene Gruppe von Individuen ununterbrochen zusammen ist; der Begriff "Konfrontation" bedeutet das gleiche. Eine "Darstellung" (performance) kann als die Gesamttätigkeit eines bestimmten Teilnehmers an einer bestimmten Situation definiert werden, die dazu dient, die anderen Teilnehmer in irgendeiner Weise zu beeinflussen. Wenn wir einen bestimmten Teilnehmer und seine Darstellung als Ausgangspunkt nehmen, können wir diejenigen, die die anderen Darstellungen beisteuern, als Publikum, Zuschauer oder Partner bezeichnen. Das vorherbestimmte Handlungsmuster, das sich während einer Darstellung entfaltet und auch bei anderen Gelegenheiten vorgeführt oder durchgespielt werden kann, können wir "Rolle" (part) nennen. Diese, die Situation bezeichnenden Termini können leicht auf konventionelle strukturbezeichnende Termini übertragen werden. Wenn ein Einzelner oder ein Darsteller bei verschiedenen Gelegenheiten die gleiche Rolle vor dem gleichen Publikum spielt, entsteht mit großer Wahrscheinlichkeit eine Sozialbeziehung. Wenn wir soziale Rolle als die Ausübung von Rechten und Pflichten definieren, die mit einem bestimmten Status verknüpft sind, dann können wir sagen, daß eine soziale Rolle eine oder mehrere Teilrollen umfaßt und daß jede dieser verschiedenen Rollen von dem Darsteller bei einer Reihe von Gelegenheiten vor gleichartigem Publikum oder vor dem gleichen Publikum dargestellt werden kann.

Der Glaube an die eigene Rolle

Wenn der Einzelne eine Rolle spielt, fordert er damit seine Zuschauer auf, den Eindruck, den er bei ihnen hervorruft, ernst zu nehmen. Sie sind aufgerufen zu glauben, die Gestalt, die sie sehen, besitze wirklich die Eigenschaften, die sie zu besitzen scheint, die Handlungen, die sie vollführt, hätten wirklich die implizit geforderten Konsequenzen, und es verhalte sich überhaupt alles so, wie es scheint. Dem entspricht die allgemein verbreitete Meinung, daß der Einzelne seine Rolle für die anderen spiele und seine Vorstellung nur für sie inszeniere. Für unsere Analyse derartiger Darstellungen wird es sich als nützlich erweisen, von der entgegengesetzten Fragestellung auszugehen, und zu untersuchen, wieweit der Einzelne selbst an den Anschein der Wirklichkeit glaubt, den er bei seiner Umgebung hervorzurufen trachtet.

Da finden wir auf der einen Seite den Darsteller, der vollständig von seinem eigenen Spiel gefangengenommen wird; er kann ehrlich davon überzeugt sein, daß der Eindruck von Realität, den er inszeniert, "wirkliche" Realität sei. Teilt sein Publikum diesen Glauben an sein Spiel – und das scheint der Normalfall zu sein –, so wird wenigstens für den Augenblick nur noch der Soziologe oder der sozial Desillusionierte irgendwelche Zweifel an der "Realität" des Dargestellten hegen.

Auf der anderen Seite steht der Darsteller, den seine eigene Rolle überhaupt nicht zu überzeugen vermag. Diese Möglichkeit wird daraus verständlich, daß sich kein anderer Beobachter in einer auch nur annähernd so günstigen Lage befindet, das Spiel zu durchschauen, wie derjenige, der es inszeniert. Weiterhin ist es möglich, daß der Darsteller nur mittelbar und zu anderen Zwecken daran interessiert ist, die Überzeugungen seines Publikums zu beeinflussen, so daß ihm letztlich die Auffassung, mit der es ihm und seiner Situation gegenübersteht, gleichgültig ist. Ist der Darsteller nicht von seiner eigenen Rolle überzeugt und nicht ernsthaft an den Überzeugungen seines Publikums interessiert, mögen wir ihn "zynisch" nennen, während wir den Ausdruck "aufrichtig" für Darsteller reservieren, die an den Eindruck glauben, den ihre eigene Vorstellung hervorruft. Wir dürfen nicht vergessen, daß der zynische Darsteller bei allem bestehenden Desinteresse doch auch von seiner Maskerade befriedigt sein kann, wenn er die Tatsache, nach Belieben mit etwas spielen zu können, was sein Publikum ernst nehmen muß, als belebende geistige Aggression erfährt.

Wir nehmen natürlich nicht an, daß alle zynischen Darsteller aus Eigennutz oder zum Zweck persönlichen Gewinns daran interessiert sind, ihr Publikum zu täuschen. Der Zyniker kann sein Publikum zu dessen eigenem Besten oder um des Gemeinwohls willen irreführen. Beispiele hierfür brauchen wir nicht erst bei aufgeklärt-abgeklärten "Schauspielern" wie Marc Aurel oder Hsün-tzu zu suchen. Wir wissen, daß im Dienstleistungsgewerbe Menschen, die sonst aufrichtig sind, gelegentlich gezwungen werden, ihre Kunden zu täuschen, weil diese ein tiefes Bedürfnis danach äußern. Der Arzt, der sich veranlaßt sieht, harmlos-unwirksame Mittel zu verschreiben, der Tankwart, der resigniert immer wieder den Reifendruck am Wagen einer überängstlichen Fahrerin prüft, der Schuhverkäufer, der einen passenden Schuh verkauft, aber der Kundin die falsche Schuhnummer nennt – sie alle sind zynische Darsteller, denen ihr Publikum nicht gestattet, aufrichtig zu sein. Anscheinend führen auch mitfühlende Patienten in Nervenheilanstalten gelegentlich übersteigerte Symptome vor, um die Schwesternschülerinnen nicht zu enttäuschen. So braucht auch der sozial Tieferstehende, der dem Höherstehenden einen überschwenglichen Empfang bereitet, nicht von dem selbstsüchtigen Motiv des Einschmeichelns geleitet zu sein; es kann sich ebensogut um den taktvollen Versuch handeln, eine entspannte Atmosphäre zu erzeugen, indem er dem Höherstehenden die Art von Umwelt vorspielt, von der er annimmt, daß sie für diesen selbstverständlich sei.

Ich habe zwei Extreme beschrieben: der Einzelne kann von seinem eigenen Spiel getäuscht werden oder ihm zynisch gegenüberstehen. Diese zwei Extreme sind noch etwas anderes als nur Endpunkte einer kontinuierlichen Reihe. Jedes von ihnen versetzt den Einzelnen in eine Position, die deren spezifische Sicherungen und Schutzmittel einschließt, so daß derjenige, der einem der beiden Pole nahe gekommen ist, dazu neigen wird, auch den letzten Schritt zu vollziehen. Zunächst ohne rechte innere Überzeugung von der eigenen Rolle, kann der Einzelne einer natürlichen Entwicklung folgen, die von E. Park folgendermaßen beschrieben wird:

Es ist wohl kein historischer Zufall, daß das Wort "Person" in seiner ursprünglichen Bedeutung eine Maske bezeichnet. Darin liegt eher eine Anerkennung der Tatsache, daß jedermann überall und immer mehr oder weniger bewußt eine Rolle spielt ... In diesen Rollen erkennen wir einander; in diesen Rollen erkennen wir uns selbst.

In einem gewissen Sinne und insoweit diese Maske das Bild darstellt, das wir uns von uns selbst geschaffen haben – die Rolle, die wir zu erfüllen trachten –, ist die Maske unser wahreres Selbst: das Selbst, das wir sein möchten. Schließlich wird die Vorstellung unserer Rolle zu unserer zweiten Natur und zu einem integralen Teil unserer Persönlichkeit. Wir kommen als Individuen zur Welt, bauen einen Charakter auf und werden Personen.

Ein Beispiel dafür können wir dem Sozialleben auf der Shetland-Insel entnehmen. Seit einigen Jahren wird das Touristenhotel der Insel von einem Ehepaar betrieben, das aus Kleinpächterkreisen stammt. Von Anfang an waren die Eigentümer gezwungen, ihre eigenen Vorstellungen von richtiger Lebensführung hintanzustellen und im Hotel den vollen Spielraum mittelständischen Komforts und mittelständischer Dienstleistungen anzubieten. In der letzten Zeit scheinen nun die Hoteleigentümer dem Theater, das sie so spielen, weniger zynisch gegenüberzustehen; sie sind selbst zum Mittelstand übergewechselt und legen immer größeren Wert auf die Rolle, die ihre Gäste ihnen zuschreiben.
Ein anderes Beispiel bietet der frisch eingezogene Rekrut, der sich am Anfang an die Etikette der Armee hält, um physischen Strafen zu entgehen, und schließlich dahin gelangt, daß er die Regeln einhält, um keine Schande über seine Kompanie zu bringen und den Respekt seiner Offiziere und Kameraden zu gewinnen.

Wie schon angedeutet, kann man den Weg vom Unglauben zum Glauben auch in der entgegengesetzten Richtung beschreiten, kann also von einer Überzeugung oder einer ungesicherten Wunschvorstellung zum Zynismus gelangen. In Berufen, die von der Öffentlichkeit mit religiöser Ehrfurcht betrachtet werden, geht der Nachwuchs den Weg oft in dieser Richtung, und dies häufig nicht deswegen, weil er allmählich erkennt, daß das Publikum betrogen wird – gemessen an normalen sozialen Maßstäben können die aufgestellten Ansprüche durchaus gerechtfertigt sein –, sondern weil der Zynismus als Mittel zur Isolierung des inneren Selbst gegen den Kontakt mit dem Publikum verwendet werden kann. Wir können sogar typische "Laufbahnen" voraussagen, die mit einer gewissen Anteilnahme des Einzelnen an der Vorstellung, die er geben muß, beginnen, mehrfach zwischen Aufrichtigkeit und Zynismus schwanken, bis dann endlich alle Phasen und Wendepunkte des Selbstvertrauens, das der Rolle entspricht, durchlaufen sind. An medizinischen Fakultäten zum Beispiel verhält es sich so, daß idealistische Studenten der Anfangssemester im allgemeinen ihre noblen Zielsetzungen für einige Zeit in den Hintergrund drängen. In den ersten zwei Jahren entdecken sie, daß sie ihr Interesse an der Medizin aufgeben müssen, um ihre ganze Zeit darauf zu verwenden, zu lernen, wie man Prüfungen besteht. In den nächsten zwei Jahren sind sie zu sehr damit beschäftigt, sich Kenntnisse über Krankheiten anzueignen, um sich viel um den Patienten zu kümmern. Erst nachdem ihre medizinische Ausbildung beendet ist, können sich ihre ursprünglichen idealistischen Auffassungen vom Beruf des Arztes wieder Geltung verschaffen.

Während gewöhnlich also ein natürliches Schwanken zwischen Zynismus und Aufrichtigkeit zu erwarten ist, können wir doch die Möglichkeit einer Zwischenposition nicht ausschließen, die mit Hilfe von ein wenig Selbsttäuschung aufrechterhalten werden kann. Wir stellen fest, daß der Einzelne den Versuch machen kann, das Publikum zu einer bestimmten Beurteilung seiner selbst und der Situation zu veranlassen; daß er diese Beurteilung als Selbstzweck anstreben kann und daß er vielleicht dennoch nicht ganz davon überzeugt zu sein braucht, die Einschätzung seiner selbst zu verdienen, die er verlangt; daß er nicht restlos daran glauben muß, daß der Eindruck von Realität, den er hervorruft, gültig sei. Eine andere Mischung von Zynismus und Überzeugung wird in Kroebers Beschreibung des Schamanismus angedeutet:

Schließlich ist da noch die alte Frage nach der Täuschung. Vermutlich helfen die meisten Schamanen und Medizinmänner der Welt ihrer Heiltätigkeit und besonders ihren Machtdarbietungen durch Taschenspielertricks nach. Diese Taschenspielertricks sind manchmal beabsichtigt; in vielen Fällen aber mag das Wissen darum auch nicht tiefer als bis zur vorbewußten Stufe gehen. Die Einstellung dazu, ob derartiges Wissen unterdrückt wird oder nicht, scheint die gleiche zu sein wie die Einstellung zur pia fraus. Ethnologen scheinen im allgemeinen davon überzeugt zu sein, daß selbst Schamanen, die mit Tricks nachhelfen, an ihre Kräfte und besonders an die Kräfte anderer Schamanen glauben: sie ziehen sie zu Rate, wenn sie selbst oder ihre Kinder krank sind.

Fassade

Ich habe den Begriff "Darstellung" zur Bezeichnung des Gesamtverhaltens eines Einzelnen verwendet, das er in Gegenwart einer bestimmten Gruppe von Zuschauern zeigt und das Einfluß auf diese Zuschauer hat. Dementsprechend empfiehlt es sich, denjenigen Teil der Darstellung des Einzelnen "Fassade" zu nennen, der regelmäßig in einer allgemeinen und vorherbestimmten Art dazu dient, die Situation für das Publikum der Vorstellung zu bestimmen. Unter Fassade verstehe ich also das standardisierte Ausdrucksrepertoire, das der Einzelne im Verlauf seiner Vorstellung bewußt oder unbewußt anwendet. Zunächst wird es sich empfehlen, die Elemente zu unterscheiden und zu benennen, die in den meisten Fällen offensichtlich zur Fassade gehören.

Da finden wir zunächst das "Bühnenbild", das Möbelstücke, Dekorationselemente, Versatzstücke, die ganze räumliche Anordnung umfaßt – die Requisiten und Kulissen für menschliches Handeln, das sich vor, zwischen und auf ihnen abspielt. Ein Bühnenbild ist meist unbeweglich im geographischen Sinne, so daß diejenigen, die ein bestimmtes Bühnenbild als Teil ihrer Vorstellung verwenden wollen, ihr Spiel nicht beginnen können, bevor sie sich an den geeigneten Ort begeben haben, und ihre Vorstellung beenden müssen, wenn sie ihn verlassen. Nur unter außergewöhnlichen Umständen folgt das Bühnenbild den Darstellern; wir finden das bei Leichenzügen, Paraden und den Festzügen von Königen und Königinnen. Im wesentlichen scheinen derartige Ausnahmebedingungen zusätzliche Sicherungen für Darsteller zu gewähren, die sakrosankt sind oder es für den Augenblick geworden sind. Derartige Honoratioren dürfen natürlich nicht mit profanen Darstellern der Hausiererklasse verwechselt werden, die ihren Arbeitsort häufig notgedrungen zwischen den Vorstellungen wechseln. Für einen festen Ort als Bühnenbild zum eigenen Auftritt sind Herrscher oft zu heilig und Hausierer zu profan.

Wenn wir an den hier beschriebenen Teil der Fassade denken, neigen wir dazu, uns das Wohnzimmer in einem bestimmten Haus und die kleine Anzahl von Darstellern vorzustellen, die sich vollständig damit identifizieren können. Wir haben dann aber jenen Bühnenbildern zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, die viele Darsteller sich nur für kurze Zeit aneignen mögen. Es ist ein charakteristischer Zug der westeuropäischen Länder, zweifellos auch eine der Quellen ihrer Stabilität, daß es eine große Zahl von luxuriösen Bühnenbildern gibt, die jedermann zur Verfügung stehen, sofern er es sich leisten kann. Ein Beispiel hierfür kann aus einer Studie über den höheren Beamten in Großbritannien zitiert werden:

Die Frage, inwieweit Personen, die zu hohen Beamtenstellungen aufsteigen, den "Stil" oder das "Milieu" einer anderen Klasse als derjenigen, der sie von Geburt her angehören, annehmen, ist heikel und schwer zu beantworten. Die einzigen zuverlässigen Informationen, die uns zur Beantwortung dieser Frage zur Verfügung stehen, sind die Mitgliederzahlen der großen Londoner Klubs. Mehr als drei Viertel unserer höheren Verwaltungsbeamten sind Mitglieder eines oder mehrerer Klubs mit hohem Prestige und beachtlichem Luxus, in denen eine Aufnahmegebühr von zwanzig Guineas oder mehr und ein Jahresbeitrag von zwölf bis zwanzig Guineas üblich ist. Diese Institutionen gehören ihrer Lage, ihrer Ausstattung, dem in ihnen gepflegten Lebensstil und ihrer ganzen Atmosphäre nach der Oberklasse (nicht einmal dem oberen Mittelstand) an. Obgleich viele ihrer Mitglieder nicht als wohlhabend bezeichnet werden können, wäre nur ein wohlhabender Mann ohne äußere Unterstützung in der Lage, für sich und seine Familie Räumlichkeiten, Essen, Getränke, Dienstleistungen und andere Bequemlichkeiten des Lebens auf dem gleichen Niveau aufzubringen, wie er sie im Union Club, im Travellers’ Club oder im Reform Club vorfindet.

Die jüngste Entwicklung des Arztberufs ist ein weiteres Beispiel. Für einen Arzt wird es immer wichtiger, Zugang zu der komplizierten wissenschaftlichen Bühne zu bekommen, die durch die großen Krankenhäuser gegeben ist. Immer weniger Ärzte haben für ihr Auftreten einen Ort, dessen Tür sie abends hinter sich zumachen können.

Verstehen wir unter "Bühnenbild" die szenischen Komponenten des Ausdrucksrepertoires, so können wir mit dem Begriff "persönliche Fassade" jene anderen Ausdrucksmittel bezeichnen, die wir am stärksten mit dem Darsteller selbst identifizieren und von denen wir erwarten, daß er sie mit sich herumträgt. Zur persönlichen Fassade sind Amtsabzeichen oder Rangmerkmale, Kleidung, Geschlecht, Alter, Rasse, Größe, physische Erscheinung, Haltung, Sprechweise, Gesichtsausdruck, Gestik und dergleichen zu rechnen. Einige dieser Ausdrucksträger, zum Beispiel die rassischen Merkmale, sind in starkem Maße fixiert und verändern sich bei dem Einzelnen nicht von Situation zu Situation. Andere Ausdrucksträger, wie etwa die Mimik, sind dagegen verhältnismäßig flüchtig und können sich während der Darstellung von einem Augenblick zum anderen verändern.

Manchmal empfiehlt es sich, die persönliche Fassade zu trennen in "Erscheinung" und "Verhalten", und zwar entsprechend der Wirkung der durch sie übermittelten Information. Der Begriff "Erscheinung" bezieht sich dabei auf die Teile der persönlichen Fassade, die uns über den sozialen Status des Darstellers informieren. Zugleich werden wir durch sie über die augenblickliche Situation des Einzelnen unterrichtet, das heißt darüber, ob er in einer formellen gesellschaftlichen Rolle agiert, ob er arbeitet oder sich zwanglos erholt. Mit "Verhalten" sind dann die Teile der persönlichen Fassade gemeint, die dazu dienen, uns die Rolle anzuzeigen, die der Darsteller in der Interaktion zu spielen beabsichtigt. So kann hochmütiges, aggressives Verhalten den Eindruck erwecken, der Darsteller wolle die mündliche Interaktion in Gang setzen und ihren Verlauf beeinflussen. Bescheidenes und auf Verteidigung eingestelltes Verhalten hingegen kann den Eindruck erwecken, der Darsteller sei bereit, sich der Führung anderer unterzuordnen, oder er könne wenigstens dazu veranlaßt werden.

Häufig erwarten wir natürlich eine sich gegenseitig bestätigende Übereinstimmung zwischen Erscheinung und Verhalten; wir erwarten, daß sich der unterschiedliche Sozialstatus der Partner einer Interaktion auf irgendeine Weise durch entsprechende Unterschiede ausdrückt, die auf die erwarteten Interaktionsrollen hinweisen. Dieser Typ der Kohärenz der Fassade kann durch die folgende Beschreibung der Prozession eines Mandarins durch eine chinesische Stadt illustriert werden:

Dicht dahinter ... füllt die luxuriöse, von acht Trägern getragene Sänfte des Mandarins den freien Straßenraum. Er ist der Bürgermeister der Stadt, und für alle praktischen Bereiche ihr höchster Machthaber. Er hat die ideale Erscheinung eines Beamten, denn er ist von großer und umfangreicher Gestalt und besitzt zugleich jenen strengen, kompromißlosen Gesichtsausdruck, der für jeden Beamten, der seine Untergebenen in Zucht halten will, als unerläßlich gilt. Er wirkt streng und abweisend, als sei er auf dem Weg zum Richtplatz, um einen Verbrecher enthaupten zu lassen.

Das ist das Gehabe, das ein Mandarin zur Schau trägt, wenn er sich in der Öffentlichkeit sehen läßt. Im Laufe vieler Jahre habe ich noch nie einen von ihnen, vom höchsten bis zum niedrigsten, mit einem Lächeln im Gesicht oder dem Anschein der Sympathie für das Volk gesehen, solange er offiziell durch die Straßen getragen wurde.

Aber natürlich können Erscheinung und Verhalten einander widersprechen, so etwa, wenn ein Darsteller, der einen höheren Status zu genießen scheint als sein Publikum, sich unerwartet herablassend oder vertraulich oder unsicher verhält oder wenn der Darsteller einer Person von hohem Rang sich vor einer Person mit noch höherem Status präsentiert.

Außer der vermuteten Übereinstimmung zwischen Erscheinung und Verhalten erwarten wir natürlich auch noch eine gewisse Kohärenz zwischen Bühnenbild, Erscheinung und Verhalten. Eine solche Kohärenz bildet den Idealtypus, der uns dazu anregt, daß wir unser Augenmerk und Interesse auf die Ausnahme davon richten. Hier steht dem Forscher der Journalist zur Seite, denn die Abweichungen von der erwarteten Kohärenz zwischen Bühnenbild, Erscheinung und Verhalten bedingen Glanz und Pikanterie zahlreicher Karrieren und die Publikumswirksamkeit vieler Zeitschriftenartikel. So vermerkt etwa ein Porträt des erfolgreichen Grundstücksmaklers Roger Stevens in der Zeitschrift "The New Yorker" die verblüffende Tatsache, daß Stevens ein kleines Haus, ein bescheiden eingerichtetes Büro und kein Briefpapier mit Monogramm besitzt.

Um die Beziehungen, die zwischen den einzelnen Komponenten der sozialen Fassade bestehen, näher zu analysieren, muß ein bedeutsames Merkmal der durch die Fassade übermittelten Information in Betracht gezogen werden: ihr Abstraktionsgrad und ihre Allgemeingültigkeit.

So spezialisiert und einmalig eine Rolle auch sein mag: von wenigen Ausnahmen abgesehen besitzt ihre soziale Fassade doch immer die Tendenz, Fakten festzulegen, die ebensogut für eine andere, von ihr leicht abweichende Rolle beansprucht und behauptet werden könnten. So wird im Dienstleistungsgewerbe in zahlreichen Rollen dem Kunden eine Vorstellung geboten, die durch den dramaturgischen Ausdruck von Reinlichkeit, Modernität, Zuverlässigkeit und Kompetenz geprägt wird. Obgleich diese abstrakten Wertvorstellungen in unterschiedlichen Berufsvorstellungen eine verschiedenartige Bedeutung haben, wird der Zuschauer veranlaßt, die abstrakten Übereinstimmungen zu betonen. Er ist nicht gezwungen, für jeden ein wenig anderen Darsteller und jede Vorstellung ein neues Erwartungsmuster bereitzuhalten; er kann vielmehr die Situation unter eine weitgefaßte Kategorie subsumieren, auf die man seine bisherigen Erfahrungen und sein stereotypes Denken mühelos anwenden kann. Der Zuschauer muß also nur mit einem kleinen und infolgedessen handlichen Vokabular von Fassaden vertraut sein und auf sie zu reagieren wissen, um sich in sehr verschiedenen Situationen orientieren zu können. So erweckt etwa die in London bei Kaminkehrern und Parfümverkäufern um sich greifende Tendenz, weiße Laboratoriumskittel zu tragen, beim Kunden den Eindruck, daß diese Personen schwierige Aufgaben in einer standardisierten, klinisch reinen und vertrauenswürdigen Weise erfüllen.

Es bestehen Gründe für die Annahme, der Trend, eine große Anzahl verschiedenartiger Handlungen durch eine kleine Anzahl von Fassaden darzustellen, sei eine natürliche Entwicklungsrichtung in jeder sozialen Organisation. Radcliffe-Brown nimmt darauf Bezug, wenn er behauptet, ein "deskriptives" Verwandtschaftssystem, in dem jeder Person eine einmalige Stellung zugewiesen ist, sei zwar in sehr kleinen Gemeinschaften funktionsfähig, aber mit dem Anwachsen der Personenzahl sei eine Clan-Aufspaltung notwendig, um ein weniger kompliziertes System der Identifizierung und Verhaltensweise zu schaffen. Wir können Beispiele dieser Tendenz in Fabriken, Kasernen und anderen großen sozialen Institutionen finden. Den Organisatoren dieser Institutionen ist es unmöglich, für jede Statuskategorie eigene Kantinen, eigene Wege der Lohnzahlung, eigene Urlaubsrente und eigene sanitäre Installationen innerhalb der Organisation bereitzustellen; gleichzeitig haben sie aber das Gefühl, Personen mit verschiedenem Status sollten nicht wahllos zusammengeworfen oder gemeinsam klassifiziert werden. Als Kompromißlösung wird einerseits der volle Bereich der Unterschiedlichkeit an einigen entscheidenden Punkten segmentiert, und es wird dann den Angehörigen einer bestimmten Gruppe freigestellt oder sie werden dazu gezwungen, in gewissen Situationen die gleiche soziale Fassade zu zeigen.

Neben der Tatsache, daß für verschiedene Rollen die gleiche Fassade verwendet werden kann, muß angemerkt werden, daß eine vorgegebene soziale Fassade dazu geeignet sein kann, auf der Grundlage der abstrakten stereotypen Erwartungen, die sie erweckt, institutionalisiert zu werden, womit sie eine Bedeutung und eine Stabilität annimmt, die unabhängig von den spezifischen Aufgaben ist, die zu einem gewissen Zeitpunkt in ihrem Namen erfüllt werden. Die Fassade wird zu einer "kollektiven Darstellung" und zum Selbstzweck.

Wenn ein Darsteller eine etablierte soziale Rolle übernimmt, wird er im allgemeinen feststellen, daß es bereits eine bestimmte Fassade für diese Rolle gibt. Ob er die Rolle nun in erster Linie übernommen hat, weil er die gestellte Aufgabe erfüllen wollte, oder etwa, weil ihn die entsprechende Fassade reizte, immer wird er feststellen, daß er beiden entsprechen muß.

Wenn weiterhin der Einzelne eine Aufgabe übernimmt, die nicht nur ihm neu, sondern die zugleich auch in der Gesellschaft noch nicht etabliert ist, oder wenn er den Standpunkt, von dem aus seine Aufgabe betrachtet wird, verändern will, so wird er im allgemeinen feststellen, daß bereits mehrere wohletablierte Fassaden existieren, zwischen denen er seine Wahl zu treffen hat. Wenn also eine Aufgabe eine andere Fassade erhält, so ist sie doch selten wirklich neu.

Da Fassaden meist gewählt und nicht geschaffen werden, müssen wir damit rechnen, daß Schwierigkeiten auftreten, wenn diejenigen, die eine bestimmte Aufgabe erfüllen, gezwungen sind, unter mehreren unterschiedlichen Fassaden eine geeignete auszuwählen. So sehen sich militärische Organisationen ständig vor Aufgaben gestellt, die für den einen Dienstgrad zuviel an Autorität und Fähigkeiten voraussetzen, für den nächst höheren aber zuwenig. Da die Sprünge zwischen den Dienstgraden verhältnismäßig groß sind, ist der "Rang", den diese Aufgaben bieten, jeweils zu hoch oder zu niedrig.

Ein interessantes Beispiel für das Dilemma der Wahl zwischen verschiedenen, nicht ganz angemessenen Fassaden kann heute in amerikanischen Krankenhäusern schon bei der Frage auftauchen, wer die Narkosen gibt. In einigen Krankenhäusern narkotisieren noch immer Krankenschwestern, denen, unabhängig von den Aufgaben, die sie erfüllen, eine Fassade zugestanden wird, die durch zeremonielle Unterordnung unter die Ärzte und verhältnismäßig schlechte Bezahlung gekennzeichnet ist. Um die Anästhesie als Spezialgebiet für Fachärzte zu etablieren, mußten die interessierten Ärzte die Vorstellung unterstreichen, Anästhesie sei eine so komplexe und lebenswichtige Aufgabe, daß es berechtigt sei, denjenigen, die sie durchführen, die einem Arzt zustehende zeremonielle und finanzielle Honorierung zuteil werden zu lassen. Der Unterschied zwischen der Fassade, die ein Arzt aufrechterhält, und der Fassade, die eine Krankenschwester aufrechterhält, ist groß; Dinge, die für eine Krankenschwester akzeptabel erscheinen, sind unter der Würde eines Arztes. Manche Mediziner sind der Auffassung, eine Krankenschwester habe einen "zu niedrigen Rang" und ein Arzt einen "zu hohen Rang", um Narkosen durchzuführen: Wenn es einen etablierten sozialen Rang gäbe, der zwischen Krankenschwester und Arzt liegt, könnte vielleicht eine einfachere Lösung des Problems gefunden werden. Ähnlich hätte man in der kanadischen Armee den Hauptleuten des Zahnmedizinischen Korps, die häufig von ethnisch niedrig bewerteter Abstammung sind, einen Rang zuteilen können, der ihnen in den Augen der Armee vielleicht eher zugestanden hätte als der Hauptmannsgrad, den sie innehaben, wenn eben ein Rang zwischen Oberleutnant und Hauptmann existierte.

Ich will hier den Akzent nicht zu sehr auf eine formalisierte Organisation oder Gesellschaft legen; auch der Einzelne, dem eine begrenzte Auswahl von Ausdrucksträgern zur Verfügung steht, ist oft in der Wahl des einen oder anderen nicht glücklich. So boten in der von mir untersuchten Kleinpächtergemeinschaft Gastgeber einem Besucher häufig ein Glas Schnaps, ein Glas Wein oder eine Tasse Tee an. Je höher der Rang oder je zeremonieller die augenblickliche Situation des Besuchers war, desto stärkere Alkoholika wurden angeboten. Diese Art von Ausdrucksträger brachte nun das Problem mit sich, daß manche Pächter es sich nicht leisten konnten, eine Flasche Schnaps im Haus zu haben, so daß Wein im allgemeinen die großzügigste Geste darstellte, die ihnen möglich war. Eine vielleicht noch häufiger auftretende Schwierigkeit bestand jedoch darin, daß gewisse Besucher ihrem ständigen oder augenblicklichen Status gemäß zu bedeutend für das eine Getränk und zu unbedeutend für das andere waren: sie würden sich entweder zurückgesetzt fühlen, oder der teure und beschränkte Getränkevorrat des Gastgebers wäre verschwendet. Im Mittelstand entsteht eine ähnliche Situation, wenn sich die Gastgeberin entscheiden muß, ob sie das gute Besteck auflegen soll oder nicht, ob ihr bestes Nachmittags- oder ihr einfachstes Abendkleid angebracht ist.

Ich habe schon angedeutet, daß die Fassade in durch Tradition festgelegte Komponenten wie Bühnenbild, Erscheinung und Verhalten unterteilt werden kann und daß (da verschiedene Rollen durch die gleiche Fassade dargestellt werden können) nicht immer vollständige Übereinstimmung herrschen muß zwischen dem spezifischen Charakter einer Darstellung und der verallgemeinerten sozialen Rolle, in der sie vor uns erscheint. Daher ist es auch verständlich, daß Requisiten der Fassade einer bestimmten Rolle gleichzeitig für eine größere Anzahl anderer Rollen verwendet werden können und daß sich all diese Rollen, in denen das gleiche Requisit verwendet wird, als ein bestimmter Bereich von jenen Rollen unterscheidet, in denen ein anderes Requisit einen Teil der gleichen sozialen Fassade bildet. So kann sich etwa ein Rechtsanwalt in einer für diesen Zweck bestimmten Umgebung (Bühnenbild) mit seinen Mandanten unterhalten, aber die angemessene Kleidung, die er bei diesen Gelegenheiten trägt, wird er ebenso bei einem Bankett mit Kollegen oder bei einem Theaterbesuch mit seiner Frau tragen können. Die Bilder, die an seinen Wänden hängen, und der Teppich auf seinem Fußboden könnten allerdings auch Teile einer häuslichen und weniger offiziellen Umgebung sein. Natürlich können bei zeremoniellen Gelegenheiten hohen Ranges Bühnenbild, Verhalten und Erscheinung einmalig und spezifisch sein, das heißt, nur für Darstellungen einer einzigen bestimmten Rolle gebraucht werden; aber eine derartig exklusive Anwendung der Ausdrucksträger ist eher die Ausnahme als die Regel.

Die Technik der Eindrucksmanipulation

In diesem Kapitel möchte ich zusammenfassen, was über die Eigenschaften eines Darstellers gesagt wurde, soweit sie zur erfolgreichen Rolleninszenierung notwendig sind. Ich werde deshalb kurz auf einige technische Hilfsmittel der Eindrucksmanipulation Bezug nehmen, in denen sich diese Eigenschaften ausdrücken. Zur Vorbereitung empfiehlt es sich, auf einige typische Störungen, die in einer Vorstellung auftreten können, hinzuweisen; denn diese Störungen zu vermeiden, ist die Funktion der Technik der Eindrucksmanipulation.

Zu Beginn der vorliegenden Untersuchung, bei der Betrachtung der allgemeinen Darstellungsmerkmale, wurde darauf verwiesen, daß sich der Darsteller für das, was er ausdrückt, verantwortlich fühlen muß, weil zahlreiche unvorhergesehene kleinere Handlungen dazu angetan sind, im Augenblick unangebrachte Eindrücke zu vermitteln. Diese Ereignisse wurden als "unbeabsichtigte Gesten" bezeichnet. Ponsonby erzählt von einem Fall, in dem der Versuch des Regisseurs, eine unbeabsichtigte Geste zu vermeiden, eine andere heraufbeschwor:

Einer der Botschaftsattachés sollte das Kissen tragen, auf dem der Orden lag, und um zu verhindern, daß er herunterfiele, steckte ich die Nadel auf der Rückseite des Sterns durch das Samtkissen. Der Attaché war jedoch damit nicht zufrieden und steckte das Ende der Nadel in den Verschluß, um ganz sicher zu gehen. Die Folge war, daß Prinz Alexander, als er seine Rede gehalten hatte und nun versuchte, den Stern zu ergreifen, ihn fest an das Kissen geklammert fand und einige Zeit damit verbrachte, ihn wieder loszubekommen. Das verdarb den eindrucksvollsten Augenblick der Zeremonie.

Dem wäre hinzuzufügen, daß derjenige, der für eine ungewollte Geste als verantwortlich gilt, dadurch in erster Linie seine eigene Vorstellung, die Vorstellung eines seiner Ensemblegefährten oder die vom Publikum inszenierte Vorstellung in Mißkredit bringen mag.

Wenn ein Außenseiter zufällig eine Region betritt, in der eine Vorstellung stattfindet, oder wenn ein Zuschauer versehentlich den Raum hinter der Bühne betritt, ist es wahrscheinlich, daß er die Anwesenden in flagranti erwischt. Ohne daß irgend jemand es beabsichtigt hätte, können sie womöglich ganz offen bei einer Tätigkeit beobachtet werden, die vollkommen unvereinbar mit dem Eindruck ist, den sie aus umfassenden sozialen Gründen vor dem Eindringling erwecken wollen. Wir haben es hier mit einem Ereignis zu tun, das als "unpassendes Eindringen" bezeichnet werden kann.

Das Vorleben und die gegenwärtige Tätigkeit eines Darstellers enthalten im typischen Fall wenigstens ein paar Tatsachen, die, würden sie während der Vorstellung eingeführt, seine Behauptungen über sich selbst diskreditieren oder weniger glaubwürdig erscheinen ließen. Bei diesen Fakten mag es sich um wohlgehütete dunkle Geheimnisse oder um negativ bewertete Eigenschaften handeln, die jeder sehen kann, von denen aber keiner spricht. Werden solche Dinge aufgedeckt, so sind die Folgen meist peinlich. Die Aufmerksamkeit kann natürlich durch unbeabsichtigte Gesten oder unpassendes Eindringen auf diese Tatsachen gelenkt werden. Sie werden jedoch häufiger durch bewußte Aussagen oder durch Handlungen aufgedeckt, deren volle Bedeutung demjenigen, der sie in die Interaktion einführt, nicht bewußt ist. Nach dem üblichen Sprachgebrauch kann man eine solche Störung der Projektion als "Fauxpas" bezeichnen. Wo immer ein Darsteller unüberlegt, aber absichtlich durch Aussagen oder Handlungen das Image des eigenen Ensembles zerstört, können wir von "Taktlosigkeiten" sprechen. Wenn ein Darsteller das vom anderen Ensemble projizierte Selbstbild in Gefahr bringt, sagen wir, er sei "ins Fettnäpfchen getreten". Handbücher der Etikette enthalten klassische Warnungen vor derartigen Indiskretionen:

Ist irgend jemand anwesend, den du nicht kennst, dann sei vorsichtig mit Epigrammen und kleinen sarkastischen Bemerkungen. Du könntest dich jemandem gegenüber sehr witzig über Stricke äußern, dessen Vater gehenkt worden ist. Die erste Bedingung erfolgreicher Konversation ist es, genau zu wissen, in welcher Gesellschaft man sich befindet.

Triffst du einen Freund, den du einige Zeit nicht gesehen hast und über dessen Wohlergehen und Familiengeschichte du in letzter Zeit nichts oder nichts Genaues gehört hast, dann solltest du es vermeiden, dich nach bestimmten Personen in seiner Familie zu erkundigen, bevor du über sie Bescheid weißt. Manche sind vielleicht gestorben; und vielleicht haben sich andere schlecht benommen, sich getrennt oder einen schweren Schicksalsschlag erlitten.

Ungewollte Gesten, unpassendes Eindringen und Fauxpas sind Quellen von Peinlichkeit und Unstimmigkeit, die im typischen Fall der nicht beabsichtigt hat, der für sie verantwortlich ist, und die vermieden worden wären, hätte er im voraus erkannt, was daraus entsteht. Es gibt aber Situationen, die man in der Umgangssprache "Szenen" nennt, in denen ein Einzelner so handelt, daß er den höflichen Anschein der Übereinstimmung zerstört oder ernsthaft gefährdet; und während er das vielleicht nicht einfach darum tut, um Unfrieden zu stiften, so ist er sich doch dabei bewußt, wie leicht eine solche Unstimmigkeit entstehen kann. Die umgangssprachliche Formel "eine Szene machen" trifft den Tatbestand genau, weil durch derartige Störungen wirklich eine neue Szene geschaffen wird. Das vorangegangene und erwartete Zusammenspiel der Ensembles wird plötzlich beiseite geschoben, und ein neues Drama tritt an seine Stelle. Nicht von ungefähr gehört zu dieser neuen Szene häufig eine Neuaufteilung der bisherigen Ensemblemitglieder in zwei neue Ensembles.

Manche solcher Szenen ereignen sich, wenn die Mitglieder eines Ensembles gegenseitig die schlechte Vorstellung des anderen nicht mehr ertragen können und mit öffentlicher Kritik an eben den Personen plötzlich herausplatzen, mit denen sie eigentlich dramaturgisch zusammenarbeiten sollten. Derartiges schlechtes Benehmen wirkt oft verheerend auf die Vorstellung, die von den gegnerischen Parteien geboten werden sollte; ein solcher Streit bewirkt einmal, daß das Publikum plötzlich einen Blick hinter die Bühne werfen kann, und zum anderen, daß die Zuschauer die Überzeugung gewinnen, irgend etwas müsse an einer Darstellung faul sein, worüber sich diejenigen, die sie am besten kennen, nicht einigen können. Eine andere Szene ist es, wenn das Publikum beschließt, es könne oder wolle das höfliche Spiel der Interaktion nicht mehr mitspielen, und deshalb die Darsteller mit Tatsachen oder bedeutungsvollen Handlungen konfrontiert, die beide Ensembles nicht ohne weiteres hinnehmen können. Das geschieht zum Beispiel, wenn jemand seinen ganzen Mut zusammennimmt und sich entschließt "Klarheit zu schaffen" oder einem anderen "endlich die Meinung zu sagen". Dieser offene Streit ist in Strafprozessen und im letzten Kapitel von Kriminalromanen institutionalisiert, wo einer Person, die bis dahin überzeugend die Maske der Unschuld getragen hat, in Gegenwart anderer mit unwiderleglichen Beweisen vorgehalten wird, daß ihre Haltung nur Pose war. Es handelt sich ebenfalls um eine Szene, wenn die Interaktion zwischen zwei Personen so geräuschvoll, hitzig oder sonst irgendwie auffällig wird, daß nahestehende Personen, die mit ihrer eigenen Interaktion beschäftigt waren, notgedrungen zu Zeugen des Streits werden oder sogar Partei ergreifen müssen. Ein letzter Typus solcher Szenen mag noch erwähnt werden. Wenn einer, der als Ein-Mann-Ensemble auftritt, sich ernsthaft auf eine Behauptung oder einen Anspruch festlegt und sich keinen Ausweg für den Fall offenhält, daß der Anspruch vom Publikum nicht anerkannt wird, dann vergewissert er sich im allgemeinen vorher, ob es wahrscheinlich ist, daß seine Behauptung oder sein Anspruch vom Publikum akzeptiert oder anerkannt werden. Manchmal aber hat ein Einzelner Gründe dafür, eine Forderung zu stellen, von der er weiß, daß sein Publikum sie nicht akzeptieren wird. Er öffnet bewußt seinen Panzer und liefert sich der Gnade des Publikums aus. Durch eine solche Tat wendet sich der Einzelne mit der Bitte ans Publikum, sich selbst als Teil seines Ensembles zu betrachten oder es ihm zu gestatten, daß er sich als Teil des Publikumsensembles betrachte. So etwas ist schon an und für sich peinlich; wenn aber die unvorsichtige Bitte des Einzelnen ihm ins Gesicht hinein abgeschlagen wird, erleidet er das, was wir Erniedrigung nennen.

Wir haben einige der wichtigeren Ereignisse betrachtet, durch die Vorstellungen gestört werden können – unbeabsichtigte Gesten, unpassendes Eindringen, Fauxpas und Szenen. Diese Störungen bezeichnet man in der Alltagssprache oft als "Zwischenfälle". Wenn ein Zwischenfall eintritt, ist die vom Darsteller aufgebaute Realität bedroht. Die Anwesenden reagieren meist so darauf: sie werden unsicher, sind peinlich berührt, verlegen oder nervös. Alle Teilnehmer an der Interaktion werden buchstäblich aus der Fassung gebracht. Sind die Symptome der Verwirrung offenkundig, so wird die Realität, die die Vorstellung darbot, häufig noch weiter bedroht und abgeschwächt, denn solche Anzeichen von Nervosität sind in den meisten Fällen ein Aspekt des Einzelnen, der eine Rolle spielt, und nicht ein Aspekt der Rolle, die er spielt; sie drängen somit dem Publikum ein Bild des Mannes hinter der Maske auf.

Um Zwischenfälle und die damit verbundene Verlegenheit zu vermeiden, müssen alle Teilnehmer an einer Interaktion ebenso wie die Zuschauer gewisse Eigenschaften besitzen und sie dazu benützen, um die Darstellung zu schützen. Diese Eigenschaften und ihre Anwendung sollen unter drei Titeln besprochen werden: Verteidigungsmaßnahmen, die Darsteller anwenden, um ihre eigene Vorstellung zu retten; Schutzmaßnahmen, die von Zuschauern und Außenseitern getroffen werden, um den Darsteller bei der Rettung seiner Vorstellung zu unterstützen; und schließlich Maßnahmen, die der Darsteller treffen muß, um es Publikum wie Außenseitern zu ermöglichen, Schutzmaßnahmen im Interesse des Darstellers zu treffen.

Eigenschaften und Maßnahmen der Verteidigung

Offensichtlich müssen die Mitglieder eines Ensembles, wollen sie die Richtung, die sie eingeschlagen haben, beibehalten, so tun, als hätten sie bestimmte moralische Verpflichtungen übernommen. Sie dürfen die Geheimnisse des Ensembles außerhalb der Darstellungen nicht verraten – sei es im eigenen Interesse, sei es aus Prinzip, oder auch, um nicht indiskret zu sein. So müssen die älteren Familienmitglieder häufig die Kinder von ihrem Klatsch und ihren Geständnissen ausschließen, weil man nie sicher sein kann, wem ein Kind die Geheimnisse weitererzählt. Erst wenn ein Kind so alt ist, daß es verschwiegen ist, werden seine Eltern die Stimme nicht mehr dämpfen, sobald es ins Zimmer kommt. Schriftsteller des 18. Jahrhunderts, die sich mit dem Dienstbotenproblem beschäftigen, spielen auf ein ähnliches Problem der Illoyalität an, hier allerdings im Zusammenhang mit Personen, die alt genug sind, um es besser zu wissen:

Diese mangelnde Treue (der Dienstboten gegenüber ihren Herren) ließ mancherlei kleine Ärgernisse aufkommen, vor denen nur wenige Herren ganz geschützt waren. Nicht das geringste unter diesen Ärgernissen war die Neigung der Dienstboten, die Angelegenheiten ihres Herrn weiterzuerzählen. Defoe bemerkt dies und ermahnt weibliche Dienstboten: "Füge deinen anderen Tugenden Ehrfurcht hinzu, die dich die Weisheit lehren wird, Familiengeheimnisse zu bewahren; denn Mangel hierin ist ein großer Fehler ..."

Auch beim Nahen von Dienstboten dämpft man die Stimme, aber im 18. Jahrhundert wurde noch eine andere Maßnahme üblich, um Ensemblegeheimnisse vor den Dienstboten zu wahren:

Der "stumme Diener" war ein Serviertisch, der vor dem Diner von den Dienstboten mit Speisen, Getränken und Speiseutensilien gefüllt wurde, worauf sich die Dienstboten zurückzogen, und die Gäste sich selbst bedienten.

Über die Einführung dieser dramaturgischen Maßnahme in England berichtet Mary Hamilton:

Mein Vetter Charles Cathcart speiste mit uns bei Lady Stormont; wir hatten stumme Diener, und so wurde unsere Unterhaltung nicht dadurch eingeschränkt, daß Dienstboten im Zimmer waren. Beim Essen benützten wir die bequemen stummen Diener, so daß wir in unserer Unterhaltung nicht wegen der Aufwartung der Dienstboten gehemmt sein mußten.

Ebensowenig dürfen Mitglieder des Ensembles ihre Anwesenheit auf der Vorderbühne dazu ausnutzen, um ihre eigene Vorstellung zu inszenieren, wie es beispielsweise Stenotypistinnen im heiratsfähigen Alter tun, die manchmal ihre Büroumgebung mit dem üppigen Buschwerk hochgezüchteter Mode verstellen. Sie dürfen auch die Vorstellungszeit nicht dazu benützen, um ihr eigenes Ensemble anzugreifen. Sie müssen bereit sein, mit Anstand Nebenrollen zu übernehmen und enthusiastisch zu spielen, wann immer, wo immer und vor wem auch immer das Ensemble als Ganzes es beschließt. Und sie müssen so weit von ihrem eigenen Spiel gefangengenommen sein, wie es nötig ist, damit es vor dem Publikum nicht hohl und falsch klingt.

Das Schlüsselproblem bei der Aufrechterhaltung der Loyalität der Ensemblemitglieder (und anscheinend auch der Mitglieder anderer Kollektive) ist vielleicht, daß die Darsteller nicht so stark gefühlsmäßig an das Publikum gebunden sein dürfen, daß sie ihm die Konsequenzen des erweckten Eindrucks enthüllen oder sonstwie das Ensemble als Ganzes für ihre Gefühlsbindung aufkommen lassen. In kleinen Gemeinden in England beispielsweise verhalten sich die Geschäftsführer ihrem Laden gegenüber oft loyal, sie beschreiben das Produkt, das einem Kunden verkauft wird, in leuchtenden Farben und fügen noch ein paar falsche Ratschläge hinzu, aber es sind auch häufig Verkäufer anzutreffen, die nicht nur den Anschein erwecken, als übernähmen sie die Rolle des Kunden bei der Einkaufsberatung; sie tun dies vielmehr auch tatsächlich. Auf der Shetland-Insel zum Beispiel hörte ich, wie ein Verkäufer einem Kunden eine Flasche Kirschlimonade reichte und sagte: "Ich verstehe nicht, wie Sie das Zeug trinken können." Keiner der Anwesenden war über diese Aufrichtigkeit überrascht, und ähnliche Bemerkungen hörte man jeden Tag in den Läden der ganzen Insel. Auch sind dort Tankstellenpächter oft gegen Trinkgelder, weil das den Tankwart dazu verführen kann, einigen wenigen Auserwählten zu viele Gratisleistungen zu gewähren, während andere Kunden warten müssen.

Eine grundlegende Technik, mit der sich das Ensemble gegen derartige Illoyalität schützen kann, ist die Entwicklung einer starken Gruppensolidarität innerhalb des Ensembles, wobei gleichzeitig ein Publikumsbild hinter der Bühne geschaffen wird, das unmenschlich genug ist, den Darstellern vor den Zuschauern emotionale und moralische Immunität zu gewähren. In dem Maße, wie die Ensemblemitglieder und ihre Kollegen eine geschlossene soziale Gemeinschaft bilden, die jedem Darsteller – unabhängig davon, ob er seine Fassade vor dem Publikum erfolgreich aufrechterhält oder nicht – einen Platz und eine moralische Stütze bietet, können sich anscheinend auch die Darsteller vor Zweifeln und Schuldgefühlen schützen und jede Art von Täuschung verüben. Vielleicht sollten wir die herzlose Kunstfertigkeit der Thugs im Zusammenhang mit den religiösen Überzeugungen und Ritualen sehen, in die ihre Überfälle integriert waren, und vielleicht vermögen wir die erfolgreiche Kaltblütigkeit der Hochstapler zu verstehen, wenn wir die soziale Solidarität ihrer "Halbwelt" und ihre wohlformulierte Verteufelung der sogenannten "legitimen" Welt in Betracht ziehen. Vielleicht können wir aus dieser Konzeption heraus teilweise verstehen, warum Gruppen, die der Gemeinschaft entfremdet oder noch nicht in sie integriert sind, so vorzüglich für Berufe geeignet sind, die mit "schmutziger Arbeit" zu tun haben, bei denen routinemäßig betrogen wird.

Eine zweite Technik, die Gefahr von Gefühlsbindungen zwischen Darstellern und Zuschauern zu bannen, besteht darin, periodisch das Publikum zu wechseln. So wurden früher Tankstellenleiter periodisch von einer Tankstelle zur anderen versetzt, um enge persönliche Beziehungen zu einzelnen Kunden zu unterbinden. Es stellte sich heraus, daß der Geschäftsführer, wenn sich solche Beziehungen bildeten, zuweilen die Interessen eines kreditbedürftigen Freundes den Geschäftsinteressen vorzog.

Bankdirektoren und Pfarrer sind aus ähnlichen Gründen, ebenso wie Verwaltungsbeamte, im Kolonialdienst systematisch versetzt worden. Gewisse weibliche Gewerbe bilden ein weiteres Beispiel, wie wir aus dem folgenden Bericht über die organisierte Prostitution entnehmen können:

Darum kümmert sich heutzutage das Syndikat. Die Mädchen bleiben nicht lange genug in einer Stadt, um wirklich mit irgend jemand bekannt werden zu können. Dann passiert es nicht so leicht, daß sich ein Mädchen in irgendeinen Kerl verliebt – Sie verstehen, und Schwierigkeiten macht. Jedenfalls ist die Nutte, die diese Woche in Chicago ist, nächste Woche in St. Louis, oder wird in einem halben Dutzend Häusern in der Stadt herumgeschickt, bevor sie woanders hinkommt. Und sie wissen nie, wohin sie gehen, bevor man es ihnen sagt.

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