Auszüge aus Stanislav Grof's
"Auf der Schwelle zum Leben"

Die Geburt: Tor zur Transpersonalität und Spiritualität

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Vorwort von Anita Bachmann (Hrsg.)

Grundidee und Anliegen dieses Buches ist es, einem breiten Publikum ein leicht zugängliches Werk über die Gedanken und Arbeiten des tschechisch-amerikanischen Psychiaters Stanislav Grof anzubieten. In dieser Absicht führte ich ein langes, intensives Gespräch mit Herrn Grof auf der Terasse seines damaligen Hauses in Big Sur, Kalifornien, in unmittelbarer Nähe des berühmten Esalen Instituts, dessen Programm und Atmosphäre er viele Jahre lang mitprägte. Das Haus liegt hoch auf den Klippen über dem Pazifischen Ozean, wo die Walfische sich an jenem Märznachmittag in den vom Sonnenuntergang geröteten Wellen tummelten. Die Kulisse unseres Gesprächs ist wichtig, denn dort ist der Horizont endlos weit, so weit wie es auch der Horizont meines Gegenübers in bezug auf menschliches Erleben und menschliches Sein ist.
Vor mir liegt nun das Ergebnis dieses Gespräches, dem ich dort, wo es sinnvoll und passend erschien, einzelne Passagen aus Artikeln und Vorträgen, die bislang nicht in deutscher Sprache erschienen sind, einfügte.
Diese stammen aus:

Spiritual Emergency: The Understanding and Treatment of Transpersonal Crisis, Re-Vision Vol. 9 No. 1: "New Paradigm Thinking in the Life Sciences"
Journal of Transpersonal Psychology, 1983 Vol. 15/1: "East and West. Ancient Wisdom and Modern Science."

Ein wichtiger Bestandteil des Buches sind die Ausführungen zum Thema Transpersonale Krisen. Diese Krisen, die von der herkömmlichen Medizin unter solche Rubriken wie Schizophrenie oder Psychosen eingestuft und behandelt werden, können aber mit der richtigen Unterstützung heilende Transformationen hervorrufen. Im Mittelpunkt steht der Erfahrungsbericht von Christina Grof über eine solche transpersonale Krise, ausgelöst durch Meditationspraktiken. Sie schildert mit eindringlichen, einfachen Worten Erlebnisse, wie sie jedem von uns widerfahren können und wie sie tatsächlich weit mehr Menschen widerfahren, als gemeinhin angenommen wird. Für ihre Bereitschaft, dieses sehr persönliche Gespräch zu führen, möchte ich Christina Grof an dieser Stelle danken.

In der Annahme, daß dieses ein Buch ist, das manchen Leser über das einfache Lesen hinaus beschäftigen wird, sei es, weil das Gelesene ein Echo im Inneren hervorruft, oder Gedanken über nahestehende Personen auslöst, schien es mir wichtig, die Möglichkeit zu bieten, weiterzugehen. Aus diesem Grunde habe ich umfangreiche Angaben zu weiterführender Literatur zusammengestellt und die Adressen von Menschen und Institutionen aufgenommen, die in dieser Arbeit Erfahrung haben und vermitteln können.

Denn obwohl manches Aha-Erlebnis durch die Lektüre von Büchern geschehen kann, ist in der Regel das Lesen nur ein erster Einstieg in einen Erfahrungsprozeß, den es zu vertiefen und weiter zu entwickeln gilt. Wenn Sie als Leser interessante, für Sie wichtige Botschaften in diesem Buch finden, vielleicht fragen Sie sich dann, wie Sie mehr erfahren können. Und genau diese Erfahrung ist es, die zu Veränderung führen kann. Denn das, was ich erfahre, hat einen ganz anderen Stellenwert als das, was ich lese und lediglich in meinem Kopf durchdenke und als richtig oder falsch erkenne.

Der Weg in die Psychoanalyse – und darüber hinaus

Die Psychoanalyse war für mich der Anlaß, Medizin zu studieren, obwohl ich mir ursprünglich eine ganz andere Berufslaufbahn ausgesucht hatte. Während meiner Kindheit und Jugendzeit in Prag hatte mein Hauptinteresse der Zeichen- und Malkunst gegolten. Meine gesamte Freizeit verbrachte ich mit Malen und Zeichnen und damit, mir sehr, sehr viele Zeichentrickfilme anzusehen. Walt Disney war mein Held. Ich war sogar bereits von einem Filmstudio in Prag engagiert worden, um an Zeichentrickfilmen mitzuarbeiten. Doch dann bekam ich die Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse von Sigmund Freud in die Hände. Diese Lektüre faszinierte mich enorm und ich beschloß sofort, die Arbeit beim Zeichentrickfilm sein zu lassen, und mich stattdessen an der medizinischen Fakultät einzuschreiben, um später Psyhoanalytiker zu werden.
Gleichzeitig wurde ich in eine Gruppe von Menschen aufgenommen, die sich für die Psychoanalyse interessierten und unter einem Mann studierten, der Präsident der Psychoanalytischen Vereinigung in Prag war. Es wurden regelmäßig Seminare durchgeführt, bei denen wir verschiedene Texte und Fallberichte lasen und in der Gruppe diskutierten. Meine eigene psychoanalytische Ausbildung begann mit meiner sechsjährigen Lehranalyse.

Je tiefer ich in die Freudsche Analyse eindrang, um so deutlicher wurde mir eine seltsame Unstimmigkeit zwischen Theorie und Praxis. Auf der einen Seite begeisterte ich mich zunehmend für die Theorie der Freudschen Analyse – wie viele Bereiche man damit durchdringen konnte und welch brillante Erklärungen sie für alle möglichen verborgenen Dinge lieferte: Traumsymbolik, die Psychopathologie des Alltags, neurotische Symptome, Kunst, Religion usw. Auf der anderen Seite empfand ich, je tiefer ich in die Praxis einstieg, eine immer größere Enttäuschung über die Ergebnisse, die man erzielt, wenn man diese Theorien in der klinischen Praxis anwendet. Denn nur eine sehr schmale Bandbreite an klinischen Indikationen war mit der Freudschen Methode abzudecken. Mit anderen Worten: Nur ein kleiner Prozentsatz der Patienten waren als Kandidaten für eine Psychoanalyse geeignet. Und diese mußten sich über einen langen Zeitraum – für mehrere Jahre – zu drei bis fünf Sitzungen in der Woche verpflichten. Die Tatsache, daß manchmal sogar nach vielen Jahren der Analyse die Patienten keine dramatische Verbesserung in ihrem Zustand zeigten, und damit die Ergebnisse dieser Behandlungsform alles andere als atemberaubend waren, verwirrte mich. Um Psychoanalytiker zu werden, hatte ich ein Medizinstudium absolvieren müssen, bei dem mir vermittelt wurde, daß, wenn man es mit einem Problem zu tun hat, das man versteht, man etwas Klares – oftmals Dramatisches – tun kann, um das Problem zu lösen. Auf die Psychoanalyse übertragen, stimmte dies nicht. Somit stellte ich die Relevanz der Psychoanalyse immer mehr in Frage.

Genau zu derselben Zeit, in der ich dieses Dilemma erlebte, trat LSD (Diäthylamid der d-Lysergsäure) in mein Leben. Ich arbeitete in der Psychiatrischen Abteilung der Medizinischen Fakultät und wir hatten gerade eine großangelegte Studie über Melleril, eines der neuen Ataraxika – einem Beruhigungsmittel – durchgeführt. Wir standen am Anfang der Ära der Psychopharmakologie und es herrschte eine fieberhafte Aufregung über die Möglichkeiten in der Anwendung von Ataraxika und Antidepressiva. Für diese Arbeit erhielten wir auch eine Musterprobe LSD von der Firma Sandoz, die auch Melleril herstellte. In der Begleitlektüre wurde LSD als eine faszinierende neue Forschungsdroge bezeichnet, die von einem leitenden Chemiker der Firma Sandoz, einem gewissen Dr. Hofmann, mehr oder minder zufällig entdeckt worden war. Zwei Hauptindikationen wurden vorgeschlagen: Zum einen könnte es zur Erforschung der Ursachen von Psychosen dienen. Die Idee war, eine Art Modell der Psychose zu erarbeiten, indem man in normalen Versuchspersonen eine "Laborpsychose" initiierte, um dann alle möglichen Werte vor, während und nach dem Versuch zu untersuchen: psychologische Tests, physiologische Untersuchungen, biochemische Tests, Blut- und Urinuntersuchungen. Auf diese Weise könnte man die physiologischen und psychologischen Abläufe miteinander korrelieren, um mehr über den Ablauf natürlicher Psychosen zu erfahren. Der zweite Vorschlag ging dahin, daß LSD als außergewöhnliches Lernhilfsmittel für Psychiater, Psychologen, Sozialarbeiter und ähnliche Gruppen benutzt werden könnte. Durch die Einnahme von LSD hätten sie die einmalige Gelegenheit, in einer sicheren Situation über einen Zeitraum von sechs bis acht Stunden die Welt eines Psychotikers zu erfahren. Nach sechs bis acht Stunden in einem umkehrbaren Zustand würden diese Menschen ein neues Verständnis für den Psychotiker und seine Welt erlangen, könnten besser zu ihm in Beziehung treten und ihn auch hoffentlich besser therapieren.

Mich faszinierte diese Möglichkeit: um nichts in der Welt hätte ich diese Gelegenheit verpassen wollen! Ich meldete mich für die Versuche und erlebte solch gewaltige Konfrontationen mit der eigenen Psyche, daß sich in mir allmählich die Vorstellung bildete, hierin könnte die Brücke zwischen Theorie und Praxis der Analyse liegen. Mit diesem neuen Werkzeug gewappnet könnte die Psychoanalyse weitaus direkter und schneller in das Unbewußte eindringen, der psychoanalytische Prozeß würde beschleunigt oder intensiviert werden. So begann ein Projekt, bei dem wir mit mehr als fünfzig Patienten wiederholt LSD-Sitzungen in einem therapeutischen Kontext abhielten. Anfangs blieben wir noch im Rahmen der Freudschen analytischen Theorie. Sehr bald aber zeigte die Art, wie sich die Sitzungen entwickelten, daß die Fehler nicht nur in der Praxis der Psychoanalyse lagen, sondern, daß auch die Theorie das Geschehen in diesen Sitzungen nicht mehr erklären konnte. Meine täglichen Beobachtungen von LSD-Sitzungen und meine eigenen psychedelischen Erfahrungen machten überaus deutlich, daß, obwohl nicht falsch, das biographische Modell Freuds schlichtweg nicht vollständig war, sondern nur die Oberfläche der Psyche berührte.

Diese spontanen Erfahrungen zwangen mich dazu, die Theorie zu erweitern und zumindest vorläufig zwei neue Dimensionen hinzuzufügen: die perinatale Ebene, die die Zeit unmittelbar vor und nach der Geburt, den Geburtsvorgang selbst, die Ebene des Todes- und Wiedergeburtsprozesses betrifft (der Tod ist ein integrierter Bestandteil des Geburtsprozesses) sowie der schier unermeßliche Bereich, den wir heute transpersonal nennen. Sicher hatte ich schon früher transpersonale Erfahrungen beobachten dürfen, aber zunächst hatte ich versucht, sie immer biographisch zu interpretieren, sie auf irgendeine Weise auf Kindheitserlebnisse zu reduzieren. Bis dahin hatte ich sie auch so sehen wollen, denn ich war noch nicht in der Lage, mit ihnen umzugehen.

Es war aber klar erkennbar, daß die Menschen im Verlauf der Sitzungen über das Biographische hinausgingen. Auf einmal erlebten sie ungeheuer starke psychosomatische Zustände: aufbauende Spannungen und Entladungen, Zittern, verschiedenste Drehbewegungen, Übelkeit, manchmal sogar Erbrechen, Veränderungen der Hautfarbe. Gelegentlich nahmen sie eine embryonale Stellung ein und zeigten Gebärden und Verhaltensweisen, die für den Geburtsvorgang charakteristisch sind. Sie berichteten auch, daß sie nach ihrem eigenen Empfinden ihre Geburt wiedererlebt hätten. Phänomenologisch mußte ich das akzeptieren. Es dauerte aber eine Zeit, bis ich bereit war, die Tatsache hinzunehmen, daß sie wirklich ihre Geburt wiedererlebt hatten. Erst als ich selbst solche Erfahrungen gemacht hatte, konnte ich diese als Realität ansehen. Bis dahin gehörten solche Erfahrungen für mich zwar phänomenologisch zum LSD-Prozeß, aber ich wollte sie nicht in Zusammenhang mit der wirklichen Geburt bringen. Meine medizinische Ausbildung, die dogmatisch jegliche Erinnerungsmöglichkeit an die Geburt ablehnt, hatte mich geprägt. Gewöhnlich wird diese Unmöglichkeit damit erklärt, daß der Kortex, die Hirnrinde des Neugeborenen, noch nicht myelinisiert ist, d.h. also noch keine Myelinscheide hat, jene Fettschicht, die ihm als Schutz dient. Heute weiß ich, daß das falsch ist, denn es gibt Organismen ohne Kortex, die aber Gedächtnis aufweisen, und in der Mikrobiologie sind bestimmte Formen primitiven zellularen Gedächtnisses auch in einzelligen Organismen bekannt.

Mittlerweile ist es für mich klar, daß diese Erfahrungen ein Wiedererleben der biologischen Geburt sein müssen. Viele Berichte aus solchen Sitzungen waren höchst authentisch und realistisch – auch bei Menschen, die kein Vorwissen über ihre eigene Geburt besaßen. Sie hatten im Verlauf der Sitzungen viele Details erkannt: etwa die Stellung des Fötus, der Ablauf des Geburtsvorganges oder die Art der ärztlichen Interventionen. Sie hatten auch Steißlagen, den Gebrauch der Zange, verschiedene Formen von Narkose und genaue Details von Wiederbelebungsversuchen erlebt.

Diese Erinnerungen beziehen scheinbar auch die Ebene des Gewebes und der Zellen mit ein. Das Wiedererleben der Geburtstraumata gleicht einer psychosomatischen Wiederherstellung aller entsprechenden physiologischen Symptome, wie erhöhter Puls, Ersticken, dramatische Veränderungen in der Hautfarbe, Muskelspannung, übermäßige Sekretionen, Energieentladungen, bestimmte Körperstellungen und auch das Erscheinen von Prellungen, Muttermale und vieles mehr. Zum Beispiel ein Mensch, der gerade den Druck der Muskeln der Gebärmutter auf den Kopf erlebt, zeigt als Anzeichen von starkem Blutandrang einen deutlichen Gürtel um die Stirn, während der restliche Kopf ganz normal bleibt.

Manche LSD-Versuchspersonen haben nicht nur das Wiedererleben der physischen Geburt zu berichten gewußt, sondern auch die Empfindungen, Emotionen und manchmal sogar auch die Gedanken der Mutter beim Geburtsvorgang. Unabhängig voneinander haben verschiedene Versuchspersonen die Einsicht geäußert, daß bei der Geburt Mutter und Kind nicht nur biologisch, sondern auch emotional gesehen eine symbiotische Einheit darstellen.

Diese Beobachtungen stehen in einem klaren Widerspruch zu den Theorien der herkömmlichen wissenschaftlichen Medizin.

Meiner Meinung nach ist der Glaube, es gebe keine Erinnerung an die Geburt, weil der Kortex noch nicht myelinisiert ist, nichts anderes als ein Leugnen dieses so furchterregenden Ereignisses. Denn auch wenn man intellektuell geschult und wissenschaftlich ausgebildet ist, bleibt diese Erfahrung erschreckend. So benutzt man den Intellekt zu einer "wissenschaftlichen" Rationalisierung, die letztlich irrelevant ist, haben wir es hier doch mit einem emotional besetzten Thema zu tun.

Der Intellekt vollbringt die wunderbarsten Kunststücke, um dem Bedürfnis, solche Themen zu unterdrücken, Folge zu leisten. Zum Beispiel sind viele Psychiater durchaus bereit, eine sogenannte Tiefenpsychologie zuzulassen, bei der man bestimmte Probleme, einschließlich die Soziopathie oder sogar Psychosen in sehr frühen Lebensphasen verfolgt, bei denen es um das Stillen, die ablehnende Mutter oder Störungen bei der Nahrungsaufnahme des Neugeborenen geht.

Sullivan unterscheidet beispielsweise zwischen der "guten" und der "schlechten" Brustwarze in der frühen Phase. Die gute Brustwarze ist die echte Brustwarze, die Milch gibt, und wo das Baby von der Mutter richtig und liebevoll behandelt wird. Die schlechte Brustwarze ist die, die zwar wie eine Brust aussieht und Milch gibt, die Mutter aber ängstlich, nervös, lieblos oder ablehnend ist. Eine falsche Brustwarze wäre auch der Daumen, der wie eine Brustwarze aussieht, sich auch wie eine Brustwarze anfühlt, aber überhaupt keine Milch gibt. Solche Theorien werden ernsthaft verbreitet und diskutiert und gleichzeitig wird behauptet, daß das, was unmittelbar vorher passierte – nämlich die Geburt – irrelevant sei, weil der Kortex noch unterentwickelt sei. Wenn das Kind bis zu fünfzig Stunden im Geburtskanal verbracht hat, ohne diesen Vorgang überhaupt zu registrieren, ist es doch unfaßbar, daß es gleich nach der Geburt Nuancen in der Erfahrung weiblicher Brüste unterscheiden kann. Wenn das Stillen so wichtig ist –und ich gehe unbedingt davon aus, daß dem so ist –, so muß doch auch die Geburt von allerhöchster Bedeutung sein!

Meiner Ansicht nach ist es entscheidend, daß das Trauma der Geburt, das jedes Baby bei der Geburt durchlebt, durch Bonding, d.h. den intensiven Kontakt zwischen Mutter und Kind unmittelbar nach der Geburt, kompensiert wird. Sehr wichtig ist auch die Arbeit von Frédéric Leboyer, wo die Situation der guten Gebärmutter wieder hergestellt wird. Das Baby sollte nach der Geburt und noch bevor die Nabelschnur durchgetrennt wird, auf dem Bauch der Mutter liegen und später sanft und ausgiebig gebadet werden. So kann man dem vorangegangenen Trauma der Geburt entgegenwirken. Das Hauptproblem liegt hier jedoch darin, daß die Gynäkologie nach wie vor vorwiegend von männlichen Ärzten dominiert wird. Meistens spiegelt daher das, was zwischen Mutter und Kind nach der Geburt geschieht, eher männliche wissenschaftliche Theorien als die natürlichen Instinkte der Mutter wider. Das Geburtstrauma und die perinatalen Erlebnisse sind heute nicht unbedingt der wichtigste Bereich meiner Arbeit, aber in den frühen Jahren waren sie es sicher, stellten sie doch einen dramatisch neuen Ansatz dar.

Die Erkenntnisse aus den eigenen und anderen LSD-Sitzungen gingen bald noch viel weiter und umfaßten häufige und sehr realistische Erinnerungen an die Existenz innerhalb der Gebärmutter und an die embryonalen Entwicklungsstadien. Negative Wiedererlebenserfahrungen dieser Art sind vielfältig: versuchte Abtreibungen, Vergiftungen, Krankheiten und emotionale Krisen der Mutter bis hin zu spezifischen Ereignissen in der Außenwelt zu einer Zeit, da der Mensch selbst in der Gebärmutter war. Glückselige, ozeanische Erlebnisse eines ungestörten embryonalen Daseins gehören zu den lohnendsten und erinnerungswürdigsten Erfahrungen in psychedelischen Sitzungen. Sie besitzen eine starke heilende und transformative Kraft.

Je weiter die historische Regression zurückreicht, desto schwieriger wird es abzuschätzen, inwiefern sie objektive Ereignisse spiegeln. Dennoch gibt es eine Reihe von Gründen, weshalb sie nicht als einfache Fantasien abgetan werden können. Gelegentlich sind sie auch derart, daß sie sich im Einzelfall durch Rücksprache mit der Mutter oder anderen Zeugen bestätigen lassen können, wobei die Genauigkeit bis ins Detail sehr überraschend ist.

Durch Erlebnisse innerhalb der Gebärmutter gewannen manche LSD-Versuchspersonen Zugang zu Detailinformationen über die embryonale Entwicklung, die Physiologie und Biochemie der Schwangerschaft, die weit über ihr intellektuelles Wissen von solchen Vorgängen hinausgingen.

Wie schon gesagt, ich begann diese Arbeit mit den Theorien Freuds ausgerüstet und auf der Suche nach einem effizienteren Werkzeug. Nachdem ich mit LSD zu arbeiten begonnen hatte, wurde rasch klar, daß nur die allerersten Sitzungen biographisches, also typisch Freudsches Material an die Oberfläche brachten. Sehr bald – vor allem, wenn wir LSD in höheren Dosen verabreichten – ist jede Versuchsperson über das Biographische hinausgegangen, in Bereiche, für die ich keinerlei konzeptionellen Rahmen mehr besaß. Die traditionelle Psychoanalyse hatte für diese Erfahrungen keine Erklärungen mehr. Nicht nur die schon beschriebenen starken psychosomatischen Zustände tauchten auf, die Menschen erlebten auch starke Konfrontationen, beschäftigten sich mit der Endlichkeit des Daseins, mit dem Tod und mit der Angst vor dem Sterben. In äußersten Fällen hatten sie auch Erlebnisse des physischen Todes. Im Zusammenhang mit diesen Geburts- und Todeserfahrungen durchlebten sie oft existentielle Krisen, bei denen sie nach dem Sinn des Lebens und nach einer sinnvollen Form des Lebens suchten. Dieses Ringen um einen Sinn im Leben führte dann oft zu einem Ausbruch aus der ganzen bisherigen Denkweise, zu einem Transzendieren gewöhnlichen Denkens hin zu starken spirituellen oder kosmischen Erfahrungen.

Bis dahin hatte ich mich mit der Palette dessen, was ich perinatale Erfahrungen nenne, also bezogen auf die Zeit unmittelbar vor und nach der Geburt und auf den Geburtsvorgang selbst vertraut gemacht, und fühlte mich einigermaßen sicher mit den Erscheinungen, die ich beobachtete und selbst erlebte.

Nun aber begegneten mir zunehmend Phänomene, die wir in unserer Kultur als mystisch und parapsychologisch bezeichnen. Oder aber solche, die wir in der traditionellen Psychiatrie als psychotisch abtun. Die Erlebnisse, die ich beobachten durfte und die mir berichtet wurden, standen alle in den Lehrbüchern der Psychiatrie, die ich studiert hatte, mit Bezeichnungen, die allesamt psychopathologische Implikationen hatten.

Meine Eltern hatten mich und meinen Bruder vollkommen atheistisch und ohne jegliche kirchliche Bindung erzogen, so daß ich keinerlei religiöser Beeinflussung unterlag. Mit diesem Hintergrund und meiner traditionellen, wissenschaftlichen Bildung erlebte ich starke Widerstände gegen diese Phänomene. Erst durch die Erkenntnisse aus der Arbeit und aus den eigenen Erfahrungen traten diese Dimensionen in mein Leben, und es war sehr schwer für mich, sie mit meiner wissenschaftlichen Weltanschauung zu vereinbaren. Ganz am Anfang verspürte ich ein großes Bedürfnis, diese Erfahrungen mit Kollegen zu besprechen, mußte aber sehr schnell einsehen, daß dies ein unerwünschtes Thema war. Über 10 Jahre lang arbeitete ich im wesentlichen allein und geriet in eine sehr starke Isolation. Hinter dem damals sogenannten "eisernen Vorhang" hatten wir wenig Zugang zu Informationen über Entwicklungen im Westen. Wir hatten keinerlei Möglichkeit, uns die harten Währungen zu beschaffen, die notwendig gewesen wären, um westliche Literatur zu kaufen. So waren wir auf die gelegentlichen Abdrucke, die wir doch zugeschickt bekamen, angewiesen.

Der Durchbruch

Diese Isolation wurde 1967 durch meine Auswanderung in die Vereinigten Staaten gebrochen. Da ich aus dem Ostblock kam und zu der Zeit noch großes Interesse für die LSD-Forschung bestand, wurde ich häufig eingeladen, Vorträge über meine Arbeit zu halten. Man wollte erfahren, was hinter dem Eisernen Vorhang auf diesem Gebiet erarbeitet wurde. Und während ich meine Beobachtungen der Phänomene aus den LSD-Sitzungen darlegte, kamen immer mehr Menschen zu mir, um mir dafür zu danken, daß ich diese Dinge offen aussprach. Sie selbst seien auf vergleichbare Phänomene in ihrer Arbeit gestoßen und zu ähnlichen Folgerungen wie ich gelangt. Es war sehr aufregend für alle Beteiligten, ihre Erfahrungen bestätigt zu bekommen. Diese Menschen waren nicht ausschließlich Kollegen, die auch mit Psychedelika arbeiteten, sondern auch Anthropologen, die etwa Manuskripte über ihre anthropologischen Forschungen in Schubläden aufbewahrten, weil sie sie ihren Kollegen nicht zu zeigen wagten, aus Angst davor, von ihnen ausgelacht zu werden. Ferner waren es Parapsychologen und später auch die Thanatologen, die angefangen hatten, das Phänomen der Todeserfahrungen zu erforschen. Zu dieser Zeit waren auch die erfahrungsorientierten Psychotherapien in ihren Anfängen und erlebten eine stürmische Entwicklung. Auch im Rahmen dieser Therapien hatten immer mehr Menschen perinatale oder transpersonale Erfahrungen gemacht.

Ich befand mich also nun in einem Kreis von Freunden und Kollegen, die Verständnis für meine Arbeit zeigten, und hatte darüber hinaus das große Glück, an einem Forschungszentrum mit acht solchen Kollegen zusammenzuarbeiten. Ein ganzes Forschungsteam! Für mich war das ein wahrer Luxus, mit anderen Menschen zusammenzuarbeiten, die sich auch alle gegenseitig in ihrer Arbeit unterstützten.

Zu dieser Zeit hatte ich noch kein klares Konzept nach dem ich arbeiten konnte. Es war aber klar, daß, wenn man als Therapeut keine hemmende Wirkung auf die Erlebnisse des Patienten unter dem Einfluß von LSD ausübte, diese Erlebnisse eine heilende Wirkung besaßen, die weitaus stärker war als alles, was ich in der biographisch-orientierten Psychotherapie beobachtet hatte.

Bald fanden wir heraus, daß es weder eine gute noch eine sichere Methode gibt, um eine LSD-Erfahrung zu unterbrechen. Wenn ein Patient eine schwierige oder schmerzliche Erfahrung unter dem Einfluß von LSD durchlebt, und man ihm Beruhigungsmittel verabreicht, wird der Prozeß dadurch nicht abgebrochen. Die hemmende Wirkung des verabreichten Medikaments unterbindet lediglich den Fortgang des Prozesses und schließt eine positive Auflösung der Krise aus. Wir wußten demnach, daß ein Patient unter der Wirkung von LSD durch seine Erlebnisse durchgehen mußte. Wir konnten lediglich dabeibleiben und ihn ermuntern. Wir beobachteten und begleiteten auf diese Weise die schmerzlichsten und seltsamsten Erlebnisse unserer Patienten, sahen aber auch die außerordentlich positiven Folgen einer voll durchlebten Erfahrung.
Für mich persönlich führte dieser Umstand zu einer echten moralisch-ethischen Krise. Ich war mir nicht sicher, ob ich es rechtfertigen konnte, mit etwas zu arbeiten, was nach meinem damaligen Verständnis im Randbereich der Psychose anzusiedeln war. Andererseits hatte ich selbst damals eine Reihe von psychedelischen Erlebnissen, bei denen ich ähnliche Zustände erlebte und bereichert wieder herauskam. Sie gaben mir die Kraft, weiterzumachen.

Über eine sehr lange Zeit saß ich einfach während der Sitzungen dabei, leistete die beste Unterstützung, zu der ich in der Lage war, und machte Aufzeichnungen. Meine Kollegen bat ich, ebenfalls von ihren Sitzungen Aufzeichnungen zu machen, in der Hoffnung, daß sich auf diese Weise irgendwann in der Zukunft ein klareres verständliches Bild dieser Phänomene entwickeln ließe. Etwa drei Jahre lang arbeitete ich diese Aufzeichnungen durch und entwickelte eine Art Kartographie dieser Erfahrungen, die Topographie des Unbewußten. Dies erleichterte mir den Umgang mit den möglichen Erfahrungen in diesem Bereich, denn sie schien die meisten wichtigen Erfahrungen, die wir beobachten konnten, zu enthalten.

Gleichzeitig wurde mir aber bewußt, daß ich es mit keiner neuen Topographie zu tun hatte. Es gab Entsprechungen in den großen Philosophien, in den spirituellen Systemen der ganzen Welt – in den verschiedenen Yoga-Lehren, im Taoismus, Sufismus, Kabbalah, in der Alchemie und den indischen Philosophien. Ich fand Verbindungen zu den Mysterien des Todes- und Wiedergeburtsprozesses, zu den Initiationsriten, zu den schamanischen Prozessen, so wie sie in anthropologischen Arbeiten dargelegt wurden. Ich betrat kein Neuland, sondern erlebte eine Wiederentdeckung von Dingen, die seit Jahrtausenden bekannt waren, die wir aber abgelehnt oder sogar lächerlich gemacht haben. Ich entdeckte sie lediglich durch ein modernes Medium neu und schlug damit eine Brücke zwischen uraltem Wissen und moderner Psychologie.

Der Einfluß des Geburtstraumas auf das weitere Leben

Die Schutzmechanismen und Widerstände, die die im Unbewußten wirkenden perinatalen Elemente eingrenzen, können sehr stark sein. Durch sie, oder durch die Überlagerung von positiven Erfahrungen gleich nach der Geburt können diese Elemente in das tiefere Unbewußte versinken, so daß sie höchstens als Traum oder in sehr abgeschwächter Form zur Geltung kommen. In der Terminologie der Freudianer heißt das Sublimierung. Der Mensch kann auch sein ganzes Leben lang von diesen Elementen in seiner Psyche keine Ahnung haben. Nur wenn er entweder eine psychedelische Substanz einnimmt, oder sich auf eine starke Form von Selbsterfahrung, beispielsweise die Atemtechnik der Holotropen Therapie einläßt, können sie an die Oberfläche gelangen. Anders verhält es sich bei manchen Menschen, die eine schwierige Kindheit erlebt haben, in der sie einem großen Maß an Unsicherheit oder Mißbrauch in jeder Form ausgesetzt waren. Diese Erfahrungen verhindern nämlich die Entwicklung eines wirksamen Schutzes des perinatalen Bereiches und können sogar die Elemente des perinatalen Traumas selektiv verstärken. Dies bedeutet, daß solche Menschen in bestimmten Phasen ihres Lebens die Emotionen und Empfindungen, die der Geburt zuzuordnen sind, immer wieder ganz konkret erleben. Ein extremes Beispiel dafür wäre jemand, der an psychogenem Asthma leidet und Erstickungsanfälle erlebt, die von den Erstickungserfahrungen im Geburtskanal direkt abzuleiten sind. Ein Mensch, der unter Klaustrophobie leidet, wird das Gefühl der Beengtheit, das für die Geburtssituation typisch ist, immer dann erleben, wenn er in eine Situation im Leben gerät, die der Geburt ähnlich ist und die Erinnerungen daran wachruft.

Hier haben wir es mit folgender Dynamik zu tun: Die Traumata nach der Geburt verstärken die perinatalen Elemente und wirken mit ihnen zusammen, um von einer tieferen Ebene im Unbewußten aus an die Oberfläche, das heißt in den Alltag hinein, zu dringen. Sie finden dann in verschiedenen Formen der Psychopathologie wie Ängste und Phobien, Depressionen oder sadomasochistischen Neigungen ihren Ausdruck. Psychosomatische Beschwerden wie Migräne und andere Kopfschmerzen, Asthma und verschiedene Formen von nervösem Zucken sind oftmals der physische Ausdruck dieses Phänomens. Ferner können die perinatalen Elemente eine Art Schablone, durch die der Mensch sich selbst und die Welt wahrnimmt, abgeben. Beispielsweise kann ein Mensch, der unter dem Einfluß der zweiten perinatalen Matrix steht, seinen Platz in der Welt in der Opferrolle erleben. Er fühlt sich gefangen, der Gnade anderer Menschen oder Kräfte ausgeliefert, die stärker sind als er selbst. Er hat ein sehr selektives Mitgefühl für das Leiden in der Welt und identifiziert sich immer mit den Unterlegenen, den Opfern. Der Mensch, der der dritten Matrix nahesteht, erlebt die Welt typischerweise als gefährlich, als einen Ort, in dem das Gesetz des Dschungels herrscht. Daraus folgt, daß er das Gefühl hat, immer stark sein und alles unter Kontrolle haben zu müssen. Er kann dieses Gefühl dadurch ausleben, daß er Bodybuilding betreibt oder eine Kampfkunst erlernt. Er wird nach Macht und Status streben, denn er ist ständig auf der Hut vor irgendeinem Angriff. Er erwartet, daß ihn die Welt auf eine feindselige Weise behandelt, so wie er diese Phase seiner Geburt erlebt hat.

Wenn wir von der perinatalen Ebene sprechen, heißt dies nicht, daß wir deshalb die Betonung weg von der Biographie und hin zur Geburt verschieben. Dieses Modell bedeutet vielmehr eine dynamische Interaktion zwischen der perinatalen und der biographischen Ebene. Mit der Geburt hat jeder Mensch ein elementares Ereignis durchlebt, das ihn mit Erinnerungen an schwierige Emotionen und schwierige psychosomatische Empfindungen ausgestattet hat. Diese können als eine Art universelle Quelle dienen, aus der sich alle möglichen Störungen entwickeln können. Ob sie sich entwickeln oder nicht, hat nicht ausschließlich mit der Geburt zu tun, sondern auch mit dem weiteren Leben des Individuums nach der Geburt. Bereits auf der perinatalen Ebene gibt es selbstverständlich große Unterschiede: Entbindungen, die nur eine halbe Stunde dauern – man kennt ja die Berichte von Geburten in Taxis auf dem Weg ins Krankenhaus oder in Fahrstühlen. Manche Geburten dauern hingegen dreißig, vierzig oder sogar fünfzig Stunden. Manchmal muß von einer Zange Gebrauch gemacht werden. Oder das Kind kommt tot auf die Welt und muß wiederbelebt werden. Und dennoch scheinen diese Unterschiede nicht allein den Ausschlag zu geben. Ein entscheidender weiterer Faktor ist die Situation unmittelbar nach der Geburt. Was passierte dann mit dem Kind? Wie waren die Umstände? Wurde genügend Raum für die wichtige, nährende Verbindung zwischen Mutter und Kind gewährt? Es ist bekannt, und man kann es auch experimentell beweisen, daß Kinder, die eine Tonbandaufnahme eines menschlichen Herzschlags zu hören bekommen, ruhiger sind, besser essen und rascher zunehmen. Der Herzschlag der Mutter wirkt nämlich äußerst beruhigend, war er doch während der Schwangerschaft ein Signal der vollkommenen Sicherheit und Geborgenheit. Wenn das Baby unmittelbar nach der Geburt auf die Brust der Mutter gelegt wird und den Herzschlag hören kann, hat diese Erfahrung wie auch der physische Kontakt eine heilende Wirkung.

Aus Versuchen mit Affen (Harlow) wissen wir, welch starke Rolle die Mutter als angstvermindernder Faktor spielt. Wenn ein Mutteraffe und ein Babyaffe im Käfig einem neuen Element, wie zum Beispiel einem mechanischen Spielzeugbären oder einer künstlichen Schlange ausgesetzt sind, zeigt das Affenbaby sofort Angst vor diesem neuen Eindruck. Es läuft spontan zur Mutter, springt ihr auf den Rücken. Wenn die Mutter keine Anzeichen von Angst ausstrahlt, wird das Affenbaby den neuen Gegenstand untersuchen. Wenn aber die Mutter selbst Angst zeigt, so ist dies ein Signal, daß die Situation wirklich gefährlich ist. Enger physischer Kontakt mit einer Mutter, bei der man sich wohl fühlt, ist eine starke angstvermindernde Situation.

Durch Bonding und den engen, symbiotischen Kontakt zwischen Mutter und Kind unmittelbar nach der Geburt setzt eine Heilung der Geburtstraumata ein. Wenn aber das Kind zuerst in einen Brutkasten gelegt und grellem Licht ausgesetzt wird, statt bei der Mutter zu sein, so ist die Wirkung eine völlig andere. Hinzu kommt die ganze Dimension des Freudschen Ansatzes mit seinen biographischen Traumen wie zum Beispiel Schlägen oder sexuellem Mißbrauch des Kindes. Solche Faktoren stellen eine selektive Verstärkung bestimmter Aspekte der biologischen Geburt dar. Alle Stadien sind in der Psyche eingeprägt, aber nur einige davon werden dem Bewußtsein zugänglich, da sie durch spätere Ereignisse, biographische Traumen, die ähnliche Elemente enthalten, verstärkt oder sogar fortgesetzt werden. Die biographischen Faktoren sind also für die Art von Psychopathologie, die sich dann manifestiert, entscheidend. Wenn man sich aber auf eine systematische Selbsterfahrung mit einer starken erfahrungsorientierten Methode, wie Bioenergetik, Rebirthing oder Holotrope Therapie einläßt, dann entdeckt man andere Ebenen, von denen man bis dahin vielleicht überhaupt keine Kenntnis gehabt hat.

Eine Situation, in der diese Elemente unmittelbar an die Oberfläche gelangen, ist wiederum die Geburtssituation selbst. Man hat eine sehr professionelle Einstellung zum Geburtsvorgang entwickelt, in der Effizienz im Vordergrund steht und mit der klaren Tendenz, die Mutter unmittelbar nach der Geburt vom Kind zu trennen, und sogar einen künstlichen Zeitplan für das Füttern des Kindes einzuführen. Eine solche Strategie hat tiefe emotionale Gründe. Auf Grund meiner Beobachtungen in erfahrungsorientierten Therapien bin ich der Ansicht, daß der Durchschnittsmensch, wenn er der Situation ausgesetzt wird, Zeuge einer Geburt und der darauffolgenden Interaktion zwischen Mutter und Kind zu sein, so tief davon berührt wird, daß er schlichtweg zusammenbrechen könnte. Einerseits sieht er Schmerz, und die alten Erinnerungen an die Schmerzen der eigenen Geburt werden wachgerufen; andererseits ist er mit dem starken emotionalen Einfluß der Sanftheit und Zärtlichkeit in der Behandlung des Kindes durch die Mutter konfrontiert, und wird von starker Nostalgie und Sehnsucht überwältigt. Die Berufsmediziner und das Pflegepersonal könnten aber kaum ihre professionelle Haltung bewahren, wenn sie diese Elemente sich entfalten ließen. Sie brauchen einen Schutz, um damit fertig zu werden. Ich habe schon viele Menschen beobachtet, bei denen, allein weil sie Zeugen von anderen Personen waren, die in erfahrungsorientierten Therapiesitzungen ihre biologische Geburt wiedererlebten, ein Nacherleben des eigenen Geburtsprozesses ausgelöst wurde. In einer Gruppe kann ein solcher wiedererlebter Geburtsprozeß regelrechte Kettenreaktionen hervorrufen. In Gesprächen mit New-Age-Gynäkologen, die sich entschieden haben, Geburtshilfe auf andere Weise zu leisten, indem sie sich auf Hausgeburten konzentrierten, um weg von der Krankenhausroutine und -atmosphäre zu kommen, habe ich erfahren, wie es ihnen dabei ergangen ist. Sie haben sich Zeit gelassen, um für den Geburtsprozeß verfügbar zu sein, daran teilzunehmen und wurden dabei emotional stark aufgewühlt. Manchmal haben sie spontan zu weinen begonnen und waren nicht in der Lage, eine "professionelle" Haltung zu wahren. Ich schließe daraus, daß eben diese professionelle Haltung nichts anderes als ein Schutzmechanismus gegen die starken Emotionen ist, welche die Atmosphäre der Geburtssituation prägen.

Ein Phänomen, das wenig diskutiert wird, aber ein echtes Problem in therapeutischer Hinsicht darstellt, ist die Tatsache, daß das Wiedererleben von Traumen – in diesem Fall des Geburtstraumas – eine Heilung in sich ist. Warum sollte dieses Wiedererleben therapeutische Wirkung haben und nicht lediglich ein neues Trauma auslösen? Meiner Meinung nach ist es kein Wiedererleben im wörtlichen Sinne, es muß nicht einmal ein Wiedererleben von etwas sein, was man wirklich erfahren hat. Es ist vielmehr das erste Erleben von etwas, was nicht zu der Zeit des Ereignisses voll verarbeitet wurde. Man könnte es als ein unverdautes Element in der Psyche bezeichnen, und nicht lediglich als die Wiederholung einer schon gemachten Erfahrung. Wenn ein Mensch einer stark emotional belastenden Situation ausgesetzt ist, zum Beispiel einem Erdbeben, bei dem er in keiner Weise verletzt wurde, so kann dennoch die emotionale Wirkung so stark, so überwältigend sein, daß er oder sie das Bewußtsein verliert. Das gleiche gilt für schlimme Unfälle, das Miterleben eines schrecklichen Ereignisses, bei dem man wörtlich bewußtlos wird. Diese Bewußtlosigkeit bedeutet, daß man die Erfahrung abgeschnitten hat. Es gibt auch weniger dramatische Situationen, in denen der gleiche Ausschaltmechanismus als Schutz funktioniert, so daß man die Situation durchstehen kann, ohne sie vollständig zu erleben. Dabei denke ich zum Beispiel an einen Besuch beim Zahnarzt in früherer Zeit, vor dem Einsatz von Narkose und Hochgeschwindigkeitsbohrer. Damals war es klar, daß man die Situation durchstehen mußte, man hatte keine große Wahl. Um also dem vollen Erleben auszuweichen, hat man einen wichtigen Teil der Erfahrung auf der emotionalen Ebene ausgeschaltet. Die ganze Erfahrung prägte sich auf der organismischen Ebene ein, wurde aber emotional nicht vollständig verarbeitet.

Die Geburt bietet eine Situation, die prinzipiell nicht in der Erfahrung selbst vollständig verarbeitet werden kann. Im Geburtskanal eingesperrt, erlebt das Kind Schmerz, Ersticken, Angst, weshalb die normale Reaktion ein motorischer Respons wäre: Schreien, Umsichschlagen, Fluchtversuche, Kampf. All diese Dinge sind durch die absolut beengende Lage nicht möglich. Dennoch werden die Nerven unentwegt weiter stimuliert. Wenn man sich vorstellt, ein Hund oder eine Katze würde – ohne die Enge des Geburtskanals – mit solchen Stimuli über eine Zeit von dreißig Stunden bombardiert, so kann man sich in etwa ausmalen, zu welchem tobenden, wilden Verhalten dies führen würde. In der Geburtssituation entstehen genauso viele motorische Impulse. Da sie aber nicht ausgelebt werden können, werden sie lediglich gespeichert. Auf diese Weise wird die Situation nicht vollständig erlebt, verarbeitet und integriert.

Dies führt zu einer interessanten Paradoxie: Wir sind selbstverständlich anatomisch geboren, aber emotional sind wir es noch nicht, denn die Emotionen und Empfindungen, die durch die Geburt wachgerufen werden – und dementsprechend unsere emotionale Gestalt – sind unvollständig Wenn dieses unverdaute Ereignis durch erfahrungsorientierte Therapietechniken dem Bewußtsein zugänglich wird, ist es das erste Mal, daß das Ereignis vollständig erlebt und verarbeitet werden kann. Außerdem haben die ungeheuer starken Energien, die durch die Geburt wachgerufen werden, erstmals die Möglichkeit, sich zu entladen.

Wir tragen immer das organismische Gedächtnis an das ursprüngliche Ereignis in uns. Und wir haben zwei Möglichkeiten, damit umzugehen: Es kann sich in unser tiefstes Unbewußtes versenkt haben, wo es abgeschirmt bleibt, und wir entsprechend dagegen geschützt sind; es können aber auch biographische Traumen Öffnungen schaffen, so daß diese Emotionen Zugang zur Oberfläche finden. Wenn dies geschieht, fühlen wir uns unwohl, wir bekommen Symptome. Hier sind wir wieder bei der Paradoxie angelangt: Einerseits erleben wir Schmerz und Not – etwas will nach draußen gelangen. Wenn es vollständig hinauskommen könnte, wäre es nicht mehr ein Teil von uns. Wenn aber das System geschlossen ist, fühlen wir uns zwar unwohl, aber gleichzeitig haben der Schmerz und die Not eine eigene Funktion, indem sie als Schablone für alle Erfahrungen im Leben dienen. Demnach könnten alle Lebenserfahrungen stärker durch die Emotionen und physischen Empfindungen der Geburt, als durch die echte gegenwärtige Situation, in der man sich befindet, geprägt sein. Zum Beispiel ist ein Mensch, der gerade einen Asthma-Anfall erleidet, zu einem weitaus größeren Teil psychophysiologisch im Geburtskanal als in der Gegenwart. Eine unvollständig verarbeitete und integrierte Geburt bedeutet demnach, daß man Symptome aufweist und sich und die Welt auf eine Weise erlebt, als wäre man noch in der ursprünglichen Geburtssituation. Dies geschieht in unterschiedlichem Maße, je nachdem wie nahe sie an der Oberfläche des Unbewußten ist, im Extremfall bis zur Explosion dieses Materials in psychotischem Verhalten, das der gegenwärtigen Situation völlig unangemessen, aber im Rahmen des unverdauten Geburtsvorganges durchaus verständlich ist.

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