Auszüge aus Herbert Marcuse's
"Aggression und Anpassung in der Industriegesellschaft"

Mit Beiträgen von Herbert Marcuse, Anatol Rapoport, Klaus Horn, Alexander Mitscherlich, Dieter Senghaas und Mihailo Marković

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Herbert Marcuse
Aggressivität in der gegenwärtigen Industriegesellschaft

Die nachfolgenden Überlegungen unternehmen den Versuch, die Spannungen und Belastungen in der sogenannten "Gesellschaft im Überfluß" darzustellen, ein Begriff, der (zu Recht oder zu Unrecht) geprägt worden ist, um die moderne amerikanische Gesellschaft zu beschreiben. Ihre typischen Merkmale sind:

1.   Eine hochentwickelte industrielle und technische Kapazität, die zum großen Teil für die Produktion und Verteilung von Luxusgütern, für Spielereien, Vergeudung, "planmäßigen Verschleiß" von Gebrauchsgütern und für militärische oder halbmilitärische Einrichtungen verausgabt wird – mit anderen Worten: für das, was Wirtschaftler und Soziologen gemeinhin als "unproduktive" Güter und Dienstleistungen bezeichnet haben.

2.   Ein steigender Lebensstandard, an dem auch die bisher unterprivilegierten Schichten teilhaben.

3.   Eine hochgradige Konzentration der wirtschaftlichen und politischen Macht, die mit weitgehenden organisatorischen Eingriffen der Regierung in das Wirtschaftsleben einhergeht.

4.   Die wissenschaftliche und pseudo-wissenschaftliche Erforschung, Kontrolle und Manipulation des Verhaltens von Individuen und Gruppen bei Arbeit und Freizeit – wobei das Verhalten von Psyche, Unbewußtem und Unterbewußtsein erfolgreich erschlossen wird und die Ergebnisse für kommerzielle und politische Zwecke ausgewertet werden.

Alle diese Tendenzen sind miteinander verknüpft: sie bilden das Syndrom, welches das normale Funktionieren der "Gesellschaft im Überfluß" anzeigt. Es würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, wollten wir diese Wechselbeziehung im einzelnen nachweisen; sie dient an dieser Stelle als soziologischer Ausgangspunkt für die folgende These: die Spannungen und Belastungen, denen der Einzelne ausgesetzt ist, beruhen nicht auf individuellen Störungen und Erkrankungen, sondern auf dem normalen Funktionieren der Gesellschaft (und des Individuums). "Normales Funktionieren": wahrscheinlich ist die Definition für den Arzt eindeutig. Der Organismus funktioniert normal, wenn er störungsfrei und in Übereinstimmung mit dem biologischen und physiologischen Aufbau des menschlichen Körpers arbeitet. Nun mögen die menschlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten zwischen den einzelnen Mitgliedern der Gattung variieren; sicherlich hat sich auch die Gattung selbst im Laufe der Geschichte weitgehend gewandelt; aber alle diese Veränderungen erfolgten doch auf einer meist gleichbleibenden biologischen und physiologischen Grundlage. Bei seiner Diagnose wird der Arzt selbstverständlich die Umgebung, Erziehung und berufliche Tätigkeit des Patienten berücksichtigen; diese Faktoren mögen den Umfang, bis zu dem ein normales Funktionieren definiert und erreicht werden kann, einengen, ja, sie mögen einen Erfolg überhaupt gefährden, aber als Kriterium und Ziel bleibt die Normalität eine klare und sinnvolle Konzeption. Als solche ist sie identisch mit "Gesundheit", und die jeweiligen Abweichungen von ihr ergeben die unterschiedlichen Grade der "Krankheit". In einer ganz anderen Lage sieht sich der Psychiater. Da wir diesen Ausdruck in seiner umfassendsten Bedeutung verstehen, gilt er gleichermaßen für Psychologen, Psychotherapeuten und Psychoanalytiker. Aber wir werden Differenzierungen vornehmen, sobald sie für das Thema relevant werden. Auf den ersten Blick erscheint die allgemeine Definition der Normalität kaum von der des Arztes abzuweichen. Das normale Funktionieren des Geistes (Psyche und Soma) ermöglicht dem Individuum, in Übereinstimmung mit seiner Rolle als Kind, Heranwachsender, Vater oder Mutter, Junggeselle oder Verheirateter, in Einklang mit Arbeit, Beruf und Status tätig zu sein. Aber wir sehen sofort, daß diese Definition Faktoren enthält, die einer völlig neuen Dimension angehören, nämlich der gesellschaftlichen. Die Gesellschaft erscheint als ein Faktor der Normalität in einem viel wesentlicheren Sinn als dem des äußeren Einflusses, so daß "normal" eher auf eine soziale und institutionelle als auf eine individuelle Grundverfassung hindeutet.

Wahrscheinlich kann man sich leicht darüber verständigen, was unter dem normalen Funktionieren von Verdauungssystem, Lungen und Herz zu verstehen ist; was aber heißt normales Funktionieren in der Liebe, beim Haß, bei Arbeit und Freizeit, bei einer Aktionärsversammlung, auf dem Golfplatz, in den Elendsvierteln, im Gefängnis oder in der Armee? Wohl gibt es in bezug auf das normale Funktionieren des Verdauungssystems oder der Lungen zwischen einem gesunden Aufsichtsrat und einem gesunden Arbeiter oder Neger kaum einen Unterschied; dasselbe gilt jedoch nicht für ihre Psyche. Ja, der eine wäre anomal, dächte, fühlte und handelte er wie der andere. Und was heißt "normale" Liebe, "normale" Familie, "normale" Arbeit?

Sicherlich könnte der Psychiater wie der Arzt vorgehen und mit seiner Therapie das Ziel verfolgen, den Patienten wieder in seine Familie, seinen Beruf, seine Umgebung einzufügen, wobei er nach Möglichkeit versucht, die Umweltfaktoren zu beeinflussen oder gar zu verändern. Er wird jedoch bald auf Grenzen stoßen, beispielsweise wenn die Spannungen und Belastungen des Patienten im wesentlichen nicht durch bestimmte ungünstige Umstände seines Berufs, seiner Nachbarschaft, seines sozialen Status verursacht werden, sondern durch die allgemeine Natur des Berufs, der Nachbarschaft und des sozialen Status – in ihrer normalen Situation. Den Patienten auf diese Normalität auszurichten, hieße diese Spannungen und Belastungen normalisieren; oder um es krasser auszudrücken: es hieße ihn in die Lage versetzen, krank zu sein und seine Krankheit als Gesundheit zu erleben, ohne daß er, der sich gesund und normal fühlt, diese Krankheit überhaupt noch bemerkt. Das wäre der Fall, wenn die von ihm zu verrichtende Arbeit ihrer Natur nach "geisttötend", langweilig und überflüssig wäre (obwohl es sich um eine gut bezahlte und "sozial" notwendige Arbeit handelte); das wäre der Fall, wenn die betreffende Person einer im Vergleich zur herrschenden Gesellschaft unterprivilegierten Minderheitengruppe angehörte, die von alters her arm war und der daher meist die niederen und "schmutzigen" körperlichen Arbeiten vorbehalten waren. Dasselbe gälte (wenn auch in anderer Form) für die andere Seite, für die Herren der Industrie und Politik: Leistungsfähigkeit und finanzieller Erfolg verlangen – und reproduzieren – hier die Eigenschaften raffinierter Rücksichtslosigkeit, moralischer Gleichgültigkeit und ständiger Aggressivität. In allen diesen Fällen liefe "normales" Funktionieren auf eine Verzerrung und Verstümmelung des menschlichen Wesens hinaus – wie bescheiden man auch die Eigenschaften eines menschlichen Wesens definieren mag. Erich Fromm schrieb ein Buch: "The Sane Society"; der Titel indiziert eine zukünftige Gesellschaft, während die bestehende Gesellschaft krank, unnormal erscheint. Was nun das Individuum angeht, das als Bürger einer kranken Gesellschaft sich normal, angemessen und gesund verhält: ist ein solches Individuum nicht krank? Und fordert nicht diese Situation eine entgegengesetzte Vorstellung von geistiger Gesundheit – eine andere Konzeption, die jene geistigen Eigenschaften festhält (und bewahrt), welche durch die in der kranken Gesellschaft herrschende Gesundheit tabuiert, gehemmt oder verzerrt werden? (Beispielsweise würde geistige Gesundheit die Fähigkeit bedeuten, als ein Außenseiter zu leben, ein unangepaßtes Leben zu führen.)

Wir wollen zunächst versuchsweise eine Definition der "kranken Gesellschaft" vorlegen, bevor wir auf die Frage eingehen, ob oder bis zu welchem Grad sie auf die "Gesellschaft im Überfluß" Anwendung findet. Eine Gesellschaft ist krank, wenn ihre fundamentalen Institutionen und Beziehungen (d.h. ihre Struktur) so geartet sind, daß sie die Nutzung der vorhandenen materiellen und intellektuellen Mittel für die optimale Entfaltung der menschlichen Existenz (Humanität) nicht gestatten. Je breiter die Kluft wird zwischen der möglichen und der tatsächlichen menschlichen Verfassung, desto größer wird das Bedürfnis nach dem, was wir "zusätzliche Repression" genannt haben, das heißt: Triebunterdrückung, die nicht der Bewahrung und Entfaltung der Kultur dient, sondern dem sanktionierten Interesse am Fortbestand der etablierten Gesellschaft. Diese zusätzliche Triebunterdrückung und Verdrängung bringt neue Spannungen und Belastungen (jenseits und über- oder eher unterhalb der sozialen Konflikte) für die Individuen mit sich. Gewöhnlich garantiert schon das normale Funktionieren des Sozialprozesses die notwendige Anpassung und Unterwerfung (Furcht vor Verlust des Arbeitsplatzes oder des sozialen Status, vor gesellschaftlicher Ächtung, usw.); ein besonderes Vorgehen, um zusätzlichen psychischen Druck auszuüben, erübrigt sich. Aber es besteht in der modernen Überflußgesellschaft eine derartige Diskrepanz zwischen den gegenwärtigen Existenzformen und den erreichbaren Möglichkeiten menschlicher Freiheit, daß die Gesellschaft, will sie zu starkes Unbehagen vermeiden, eine wirksamere Koordination der Individuen vornehmen muß. So wird die Psyche in ihrer unbewußten und in ihrer bewußten Dimension einer systematischen Kontrolle und Manipulation zugänglich gemacht und unterworfen.

An dieser Stelle erscheinen einige Bemerkungen zur Methode unserer Analyse angebracht. Wenn wir von der für den Fortbestand einer Gesellschaft "notwendigen" zusätzlichen Repression oder von dem Erfordernis wirksamer Manipulation und Triebkontrolle sprechen, meinen wir dabei nicht ohne weiteres eine erkannte Notwendigkeit und eine planmäßig durchgeführte Politik: sie mögen in dieser Form auftreten (und tun dies in zunehmendem Maße) oder auch nicht. Gemeint sind in unserem Zusammenhang Tendenzen – Kräfte, die man durch eine Analyse der bestehenden Gesellschaft nachweisen kann und die sich durchsetzen, selbst wenn die Politiker sie nicht bemerken. Sie spiegeln die Erfordernisse des bestehenden Produktions-, Verteilungs- und Verbraucherapparates wider – wirtschaftliche, technische, politische und geistige Erfordernisse, die erfüllt werden müssen, um das ständige Funktionieren des Apparats zu gewährleisten, von dem die Bevölkerung abhängig ist, wie auch das ständige Funktionieren jener sozialen Beziehungen, die aus der Organisation dieses Apparats entspringen. Diese objektiven Tendenzen manifestieren sich in der Wirtschaftsentwicklung, im technologischen Wandel, in der Außen- oder Innenpolitik einer Nation oder Gruppe von Nationen; sie erzeugen gemeinsame, überindividuelle Bedürfnisse und Ziele in den verschiedenen sozialen Klassen, Interessenverbänden und Parteien. Unter den normalen Bedingungen des sozialen Zusammenhalts formen und absorbieren diese objektiven Tendenzen die individuellen Interessen und Ziele, ohne die Gesellschaft zu sprengen. Jedoch wird das besondere Interesse nicht einfach durch das allgemeine bestimmt: es besitzt seinen eigenen Freiheitsbereich und trägt entsprechend seiner Stellung in der Gesellschaft zur Formung des allgemeinen Interesses bei. Marx glaubte, daß die objektiven Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung sich "hinter dem Rücken" der Individuen durchsetzen; in den fortgeschrittenen Gesellschaften von heute gilt das nur mit starken Einschränkungen. Planung und Verwaltung von Bedürfnissen, Befriedigungen und Trieben sind schon seit langem selbstverständliche Faktoren der Politik und der Geschäfte; sie bezeugen Hellsichtigkeit inmitten allgemeiner Blindheit.

Es war die Rede von einer systematischen Steuerung und Kontrolle der Psyche in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Steuerung und Kontrolle wofür und durch wen? Jeder Manipulation im Interesse bestimmter Unternehmen, politischer Richtungen und interessen ist das allgemeine und objektive Ziel übergeordnet, den Einzelnen mit der Lebensform auszusöhnen, die ihm von der Gesellschaft aufgezwungen wird. Da in einer derartigen Aussöhnung eine beträchtliche zusätzliche Repression mitspielt, muß eine libidinöse Vermittlung der Ware erreicht werden, die das Individuum kaufen (oder verkaufen) soll, der Dienstleistungen, die es benutzen (oder erbringen), der Kandidaten, die es wählen soll, des Vergnügens, das es genießen, der Statussymbole, die es sich zu eigen machen soll – eine zwingende Notwendigkeit, denn von der ununterbrochenen Produktion und Konsumierung dieser Waren hängt die Existenz der Gesellschaft ab. Mit anderen Worten: die sozialen und politischen Bedürfnisse müssen sich in individuelle, triebmäßige Bedürfnisse verwandeln. Und in dem Maß, in dem die Produktivität dieser Gesellschaft nicht ohne Massenproduktion und Massenkonsum auskommen kann, müssen diese Bedürfnisse standardisiert, koordiniert und generalisiert werden. Gewiß sind solche Kontrollen nicht das Ergebnis einer Verschwörung, sie werden nicht von einer bestimmten Instanz gesteuert (obwohl die Tendenz zur Zentralisierung zunimmt); die Kontrollen sind vielmehr über die gesamte Gesellschaft verteilt, sie werden (in sehr verschiedenem Grade) durch Nachbarn, "peer groups", Massenmedien, Verbände und durch die Regierung ausgeübt. Wirksam, ja ermöglicht werden sie allerdings erst durch die Wissenschaft, insbesondere durch Soziologie und Psychologie; als Industrie-Soziologie und -Psychologie oder, euphemistischer ausgedrückt, als die "Wissenschaft der menschlichen Beziehungen" sind sie zu einem unerläßlichen Werkzeug in den Händen der herrschenden Mächte geworden.

Diese kurzen Bemerkungen sollten andeuten, wie weit die Gesellschaft bereits in die Psyche vorgedrungen ist, bis zu welchem Grad psychische Gesundheit und Normalität nicht mehr Sache des Einzelnen, sondern der Gesellschaft sind. Eine derartige Harmonie zwischen Gesellschaft und Individuum wäre progressiv, würde die Gesellschaft die Voraussetzungen für die Realisierung der vorhandenen Möglichkeiten von Freiheit, Frieden und Glück schaffen, das heißt für die Befreiung des Eros, der Lebenstriebe, von der Übermacht der Destruktionstriebe. Wenn aber diese Voraussetzungen nicht bestünden, dann besäße das gesunde, normale Individuum all die Eigenschaften, die ihm gestatteten, mit den anderen, ebenfalls normalen Individuen seiner Gesellschaft auszukommen, und gerade diese Eigenschaften wären Gradmesser der Unterdrückung, der Existenz eines verstümmelten menschlichen Wesens, das mitwirkt an seiner eigenen Unterdrückung, an der Repression der Lebenstriebe, an der Entbindung von Aggressivität. Die so entstandenen Spannungen wären keinesfalls im Rahmen der Individual-Psychologie oder -Therapie oder sonst irgendeiner Psychologie lösbar – eine Lösung könnte nur auf der politischen Ebene erfolgen: gegen die Gesellschaft als System der Bedürfnisse. Natürlich könnte Therapie diese Situation bloßlegen und so die psychische Grundlage für einen solchen Kampf vorbereiten – aber in diesem Falle wäre Psychiatrie ein subversives Unternehmen ...

Die Frage ist nun, ob der soziale Druck der Triebverwaltung in der modernen amerikanischen Gesellschaft auf negative Bedingungen schließen läßt, welche die Entfaltung der Lebenstriebe hemmen und damit Aggressionsinstinkte intensivieren. Die Frage wäre zu bejahen, wenn der soziale Druck aus der Struktur dieser Gesellschaft herrührte und wenn er in ihren Mitgliedern Bedürfnisse und Befriedigungen weckte, welche die Repression instinktiv reproduzieren.

Auf den ersten Blick gleicht der soziale Druck dieser Gesellschaft dem jeder anderen, die sich unter der Einwirkung eines gewaltigen technologischen Wandels entwickelt: er gibt den Anstoß zu neuen Bedürfnissen, zu neuen Formen von Arbeit und Freizeit, greift dadurch in die gesamten sozialen Beziehungen ein und führt zu einer umfassenden Umwertung aller Werte. Die gegenwärtige technologische Entwicklung verändert die bestehenden sozialen Bedingungen und Beziehungen qualitativ wie quantitativ: da die physische menschliche Arbeit immer entbehrlicher, sogar unwirtschaftlicher wird, da auch die Arbeit der Angestellten immer "automatischer" wird und die der Verwalter und Politiker immer fragwürdiger, wird der traditionelle Inhalt und Sinn des gesellschaftlichen Daseins als Kampf ums Dasein um so inhaltsleerer und sinnloser, je mehr er zur unnötigen Notwendigkeit wird. Aber die zukünftige Alternative: die mögliche Abschaffung der entfremdeten Arbeit erscheint gleichermaßen als "Gespenst"; und in der Tat, wenn diese Alternative als Fortschritt, als Entwicklung des bestehenden Systems gedacht wird, dann allerdings präsentiert sich die Verlagerung des Lebenssinns in die freie Zeit selbst der stärksten Einbildungskraft als unerträglich: massiv organisiertes Treiben und Umhertreiben im immer engeren Raum, verwaltete Freiheit, verwaltete Kreativität.

Jedoch ist die Drohung mit dem "Gespenst der Automation" selbst Ideologie. Einerseits dient sie der Aufrechterhaltung und Reproduktion parasitärer, weil technisch unnötiger Arbeiten und Beschäftigungen (Arbeitslosigkeit als Normalzustand scheint schlimmer als stupide Arbeit); andererseits der Ausbildung von Organisatoren und Verwaltern der Freizeit, d.h. Verlängerung und Ausdehnung der Kontrolle. Die wirkliche Gefahr für das Bestehende ist nicht die Abschaffung der entfremdeten Arbeit als Arbeitslosigkeit, sondern vielmehr die Möglichkeit, ja Notwendigkeit nichtentfremdeter Arbeit als gesellschaftlicher Arbeit (totaler Neubau der Städte; Wiederherstellung menschlicher, eigener Wohnstätten und Einrichtungen; Neugestaltung der Landschaft nach Beseitigung der kommerziellen Vergewaltigung der Natur und Aufbau eines auf die Befriedigung des Kampfes ums Dasein zielenden Fürsorge- und Erziehungswesens könnten die Menschen noch ein Jahrhundert lang beschäftigen). Aber im Zuge solcher Veränderungen würden die dominierenden gesellschaftlichen Interessen auf der Strecke bleiben, mit anderen Worten, es würde zur Beschränkung des privaten Unternehmertums, zur Abschaffung der Marktwirschaft und zum Abbau der Politik ständiger militärischer Bereitschaft und Intervention kommen; an deren Stelle würde die Zusammenarbeit zwischen Ost und West, zwischen den reichen und den armen Nationen treten. Für eine derartige Entwicklung gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Mit den neuen, erschreckend wirksamen und totalen Mitteln des technologischen Fortschritts werden die Menschen mittlerweile physisch und psychologisch gegen diese Möglichkeit mobilisiert: sie müssen ihren aufreibenden und rückständigen Daseinskampf weiterführen, in dem sie ihre eigene Repression reproduzieren.

Damit stoßen wir auf den eigentlichen Widerspruch, der sich von der sozialen Struktur auf die psychische Struktur der Individuen überträgt. Hier weckt und steigert er destruktive Tendenzen, die auf eine kaum sublimierte Weise im Verhalten der Individuen auf persönlicher wie auf politischer Ebene sozial nutzbar gemacht werden – und damit im Verhalten der gesamten Nation. Destruktive Energie verwandelt sich in sozial nützliche Energie, und die aggressiven Impulse nähren den Fortschritt: wirtschaftlichen, politischen und technischen Fortschritt. Ähnlich wie im modernen wissenschaftlichen Betrieb, im kaufmännischen Unternehmen und in der Nation als Ganzem dienen konstruktive und destruktive Leistungen gleichermaßen der Produktion und der Vernichtung von Waren; dem Leben und dem Tod; Zeugen und Töten sind unlösbar miteinander verknüpft. Schränkte man beispielsweise die Nutzung der Atomenergie ein, so würde man gleichzeitig ihr friedliches wie ihr militärisches Potential verringern; die Verbesserung und Sicherung unserer Lebensbedingungen stellt sich lediglich als Nebenprodukt einer wissenschaftlichen Forschung dar, die im Dienste der Vernichtung des Lebens steht; würde man die Geburtenzahl reduzieren, so verringerte man gleichzeitig die zu erwartenden Arbeitskräfte und damit den Kreis der zu erwartenden Kunden und Abnehmer. Nun ist die – mehr oder weniger sublimierte – Verwandlung von destruktiver Energie in sozial nützliche aggressive und damit in konstruktive Energie nach Freud (auf dessen Trieblehre wir uns bei unserer Darstellung beziehen) ein normaler und unumgänglicher Prozeß. Er ist Teil jener Dynamik, durch welche Eros und Todestrieb, die beiden antagonistischen Impulse, in eine Einheit gezwungen und in diesem Mit- und Gegeneinanderwirken zu geistigen und organischen Triebkräften der Kultur werden. Aber sie mögen eine noch so enge und wirksame Verbindung eingehen, ihre jeweiligen Eigenschaften bleiben unverändert und einander widerstrebend: der Aggressionstrieb "strebt" trotz aller Sublimierung zum Tod, während Eros danach trachtet, das Leben zu erhalten, zu schützen und zu steigern. Folglich kann der Destruktionstrieb der Kultur und dem Individuum nur so lange nützlich sein, wie er im Dienste des Eros steht; wird die Aggressionsneigung stärker als ihr vom Eros bestimmter Gegenpart, kehrt sich die Tendenz um. Denn die destruktive Energie kann nach Freuds Auffassung nicht stärker werden, ohne die Energie des Eros zu schwächen: die Dynamik der Triebe ist mechanistisch, wobei ein vorhandenes Quantum an Energie zwischen den beiden Grundtrieben verteilt wird.

Wir haben hier kurz auf die Lehre Freuds zurückgegriffen, soweit sie für die Erörterung der Hauptfrage bedeutsam ist: welche Tiefenwirkung und welche Eigenart kennzeichnen den sozialen Druck in der "Gesellschaft im Überfluß"? Wir unterstellten, daß dieser Druck sich von dem fundamentalen Widerspruch zwischen den Möglichkeiten dieser Gesellschaft einerseits (die auf wesensmäßig neue Formen der Freiheit hinzielen und die etablierten Ordnungen umzustürzen drohen) und dem reaktionären Gebrauch dieser Möglichkeiten andererseits ableitet. Dieser Widerspruch bricht auf – und wird gleichzeitig in der allgegenwärtigen Agressionsneigung der Gesellschaft "gelöst" und "aufgehoben"; deren auffälligstes (und keineswegs isoliertes) Anzeichen ist die militärische Mobilisierung und ihre Auswirkung auf das psychische Verhalten der Individuen. Im Zusammenhang mit diesem fundamentalen Widerspruch wird Aggressivität aus vielen Quellen gespeist. Folgende treten am stärksten hervor:

1.   Die Enthumanisierung des Produktions- und Konsumprozesses. Technischer Fortschritt ist identisch mit der wachsenden Ausschaltung der persönlichen Entscheidungsfreiheit, individueller Neigungen und autonomer Bedürfnisse bei der Beschaffung von Gütern und Dienstleistungen. Diese Tendenz wirkt befreiend, wenn die vorhandenen Mittel und technische Errungenschaften dazu benutzt werden, die Menschen von dem System der Arbeit und Erholung zu befreien, das ausschließlich der Reproduktion der etablierten Ordnung zugute kommt, das aber – gemessen an den vorhandenen technischen und intellektuellen Möglichkeiten – parasitär, verschwenderisch und enthumanisierend ist. Dieselbe Tendenz schlägt in Repression um, wenn sie solcherart Arbeit und Erholung verewigen hilft. Die dabei entstandene Frustration äußert sich in einer alles durchdringenden Feindseligkeit.

2.   Der Zustand der Überfüllung, des Lärms und des unfreiwilligen Zusammenseins ist charakteristisch für die Massengesellschaft. Er verdrängt das Bedürfnis nach "Ruhe, Zurückgezogenheit, Unabhängigkeit, Initiative und Bewegungsfreiheit", das nichts mit "Manieriertheit oder Luxusbedürfnis" zu tun hat, sondern "eine echte biologische Notwendigkeit" ist (René Dubos). Mangel daran schädigt die Triebstruktur. Freud hat auf den "asozialen" Charakter des Eros hingewiesen – die Massengesellschaft erreicht ein "Übermaß an Vergesellschaftung", auf die das Individuum mit "den verschiedensten Versagungen, Verdrängungen, Aggressionen und Ängsten reagiert, die sich bald zu echten Neurosen entwickeln". Als die auffälligste soziale Mobilisierung aggressiver Tendenz haben wir die Militarisierung der Überflußgesellschaft erwähnt. Diese Mobilisierung bleibt bei weitem nicht auf die Einberufung von Wehrpflichtigen und den Aufbau einer Rüstungsindustrie beschränkt: ihre wahrhaft totalitären Aspekte werden sichtbar in den Massenmedien, welche der "öffentlichen Meinung" Nahrung geben. Die Verrohung der Sprache und des Bildes, die Darstellung vom Töten, Verbrennen und Vergiften der Opfer einer neokolonialen Schlächterei erfolgt in einem alltäglichen, tatsachengebundenen, manchmal sogar humoristischen Stil, der das radikal Böse mit den Untaten jugendlicher Krimineller, mit Fußballspielen, Unfällen, Börsen- und Wetterberichten gleichsetzt. Hier handelt es sich nicht mehr um die "klassische" Verherrlichung des Tötens im nationalen Interesse, sondern um seine Rückführung auf die Ebene der banalen Ereignisse und Vorkommnisse des täglichen Lebens.
Die Folge ist eine Normalisierung des Grauens, eine "psychologische Gewöhnung an den Krieg", der einem Volk verordnet wird, das sich dank dieser Gewöhnung rasch mit der "Todesquote" vertraut macht, so wie ihm bereits andere "Quoten" geläufig sind (die Zahlen der Geschäftsbilanzen, Verkehrstoten und Arbeitslosen). Die Menschen werden darauf abgerichtet, mit den "Zufällen, Grausamkeiten und steigenden Todesfällen des Vietnamkrieges zu leben, genau wie sie allmählich gelernt haben, mit den Zufällen und Todesfällen des Alltags zu leben, die durch Rauchen, Smog und den Verkehr bedingt sind". Die Fotos, die in den Tageszeitungen und Illustrierten mit Massenauflage erscheinen, zeigen – in oft herrlichen und leuchtenden Farben – Reihen von Gefangenen, die zum "Verhör" angetreten sind oder gefesselt am Boden liegen, Kinder, die durch den Staub der Panzerwagen gezerrt werden, verstümmelte Frauen – all das ist nichts Neues ("solche Dinge geschehen nun einmal in einem Krieg"), der Unterschied liegt in der Darbietung: diese Bilder erscheinen im regulären Programm, zusammen mit Werbe- und Sportsendungen, mit lokalpolitischen Ereignissen und Berichten. Und man gibt der Brutalität der Macht einen weiteren Anschein des Normalen, indem man das geliebte Automobil mit ins Spiel bringt: so verkaufen die Hersteller einen Thunderbird, Fury oder Tempest, und die Erdölindustrie packt einen "Tiger in den Tank".

Die reglementierte Sprache befleißigt sich einer unerbittlichen Diskriminierung: ein besonderes Vokabular des Hasses, des Ressentiments und der Diffamierung gilt dem Feind und denjenigen, die gegen eine aggressive Politik opponieren. Das Muster bleibt sich stets gleich. Demonstrieren Studenten gegen den Krieg, so handelt es sich um einen "Mob", der verstärkt wird durch "bärtige Advokaten der sexuellen Zügellosigkeit", durch ungewaschene Halbstarke, durch "Raufbolde und Herumtreiber", die "die Straßen unsicher machen", während die Gegendemonstrationen von "Bürgern, die sich versammeln", veranstaltet werden. In Vietnam werden, im Gegensatz zu den "strategischen Operationen" der Amerikaner, "typisch verbrecherische kommunistische Gewalttaten" begangen; die Roten besitzen die Unverfrorenheit, einen "Überfall aus dem Hinterhalt" zu verüben (augenscheinlich wird von ihnen erwartet, daß sie ihren Angriff vorher ankündigen und auf freiem Felde aufmarschieren); sie umgehen "eine Todesfalle" (vermutlich hätten sie darin bleiben sollen). Die Vietkong greifen die amerikanischen Kasernen "mitten in der Nacht" an und töten die amerikanischen "Jungs" (vermutlich greifen die Amerikaner nur am hellichten Tage an, stören den Schlaf ihrer Feinde nicht und töten auch keine vietnamesischen "Jungs"). Das Massaker Hunderttausender von Kommunisten (in Indonesien) wird "eindrucksvoll" genannt – eine vergleichbare "Todesquote" der Gegenseite hätte sich schwerlich eines solchen Adjektivs erfreut. Für die Chinesen ist die Anwesenheit amerikanischer Truppen in Ostasien eine Bedrohung ihrer "Ideologie", während vermutlich die Anwesenheit chinesischer Truppen in Mittel- oder Südamerika als eine echte und keineswegs nur ideologische Bedrohung der Vereinigten Staaten betrachtet würde.

Die strapazierte Sprache verfährt nach dem Orwellschen Rezept der Identität der Gegensätze: im Munde des Feindes heißt Frieden – Krieg, bedeutet Verteidigung – Angriff, während auf der gerechten Seite Eskalation gleichbedeutend mit Zurückhaltung ist und Flächenbombardements den Frieden herbeiführen sollen. In derart diskriminierender Absicht angewandt, stempelt die Sprache den Feind von vornherein als durch und durch böse in allen seinen Taten und Plänen.

Diese Mobilisierung von Aggressivität ist nicht allein durch das Ausmaß der kommunistischen Gefahr erklärbar: das Bild des angeblichen Feindes wird in einem Umfang verzerrt, der in keinem Verhältnis zur Wirklichkeit steht. Worum es hier geht, ist letztlich die weitere Stabilisierung und Festigung eines Systems, das durch seine eigene Irrationalität bedroht ist – durch die prekäre Grundlage, auf der sein Wohlstand ruht, durch die Enthumanisierung, die sein verschwenderischer und parasitärer Überfluß erzwingt. Der sinnlose Krieg ist seinerseits Teil dieser Irrationalität und gehört damit zum Wesen des Systems. Was zunächst als eine kleinere, beinah unbeabsichtigte Verwicklung, als ein Zufall des außenpolitischen Geschehens erschien, ist eine Feuerprobe für die Produktivität, die Schlagkraft und das Prestige des Ganzen geworden. Die Milliarden von Dollar, die in den Krieg gesteckt werden, sind politisch wie militärisch gesehen ein Anreiz (oder Heilmittel): ein wirksames Mittel, um einen Teil des ökonomischen Überflusses zu absorbieren und die Menschen bei der Stange zu halten. Eine Niederlage in Vietnam könnte sehr wohl das Signal zu anderen Befreiungskriegen in unmittelbarerer Nähe des eigenen Landes geben – vielleicht sogar das Signal zur Rebellion im Lande selbst.

Natürlich gehört die soziale Nutzbarmachung von Aggressivität zur historischen Struktur der Zivilisation, und als solche ist sie eine treibende Kraft des Fortschritts gewesen. Aber auch hier tritt das Stadium ein, wo Quantität umschlägt und sich das Gleichgewicht zwischen den beiden Primärinstinkten zugunsten der Destruktion verschiebt. Wir erwähnten das "Gespenst der Automation" – bei Licht gesehen ist es das Gespenst einer möglichen Humanisierung der Arbeit bis zu dem Punkt, an dem der menschliche Organismus nicht mehr als Arbeitsinstrument zu funktionieren braucht. Die rein quantitative Abnahme der benötigten Arbeitskraft bedroht die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Produktionsweise (ebenso wie alle anderen ausbeuterischen Produktionsweisen). Das System reagiert, indem es die Produktion von Gütern und Dienstleistungen beschleunigt, die entweder dem individuellen Verbrauch überhaupt nicht oder in Form von Luxusgütern zugute kommen – Luxusgüter angesichts fortdauernder Armut, aber Luxusgüter, die unerläßlich sind, um die Arbeitskräfte zu beschäftigen, die zur Reproduktion der bestehenden wirtschaftlichen und politischen Institutionen benötigt werden. In dem Umfang, in dem diese Arbeit überflüssig, sinnlos und unnötig erscheint, während sie doch für den Lebensunterhalt notwendig ist, wird Frustration zum Bestandteil der eigentlichen Produktivität dieser Gesellschaft und akkumuliert Aggressivität. Und in dem Maße, in dem die Aggressivität in die Struktur der Gesellschaft eindringt, paßt sich die psychische Struktur ihrer Bürger an: das Individuum wird aggressiver und gleichzeitig nachgiebiger und fügsamer, denn es unterwirft sich einer Gesellschaft, die dank ihrem Überfluß und ihrer Macht seine tiefsten Triebansprüche verwaltet und befriedigt. Und diese destruktive Mentalität findet anscheinend in den Volksvertretern ihre libidinöse Widerspiegelung. Der Vorsitzende des Wehrausschusses des amerikanischen Senats, Senator Russel aus Georgia, drückte seine Verblüffung über diese Tatsache folgendermaßen aus:

Irgend etwas bewegt die Menschen, sorgloser Geld auszugeben, wenn sie Destruktion vorbereiten, als wenn sie für einen konstruktiven Zweck arbeiten. Warum das so ist, weiß ich nicht; aber während der dreißig Jahre, die ich dem Senat angehöre, habe ich beobachtet, daß beim Kauf von Waffen, die töten, zerstören, Städte auslöschen und Transportwege vernichten sollen, irgend etwas die Leute verleitet, mit dem Dollar nicht so genau zu rechnen, wie sie es tun, wenn sie sich mit dem Bau von angemessenen Wohnungen oder der gesundheitlichen Vorsorge für Menschen befassen.

Ich habe anderswo die Frage erörtert, wie die in einer bestimmten Gesellschaft vorherrschende Aggressivität möglicherweise bestimmt und historisch verglichen werden kann; anstatt diese Frage noch einmal aufzurollen, möchte ich hier auf andere Aspekte hinweisen, nämlich auf die besondere Form, in der Aggression heute freigesetzt und befriedigt wird.

Besonders aufschlußreich und am bezeichnendsten für den Unterschied zwischen den neuen und den überlieferten Formen ist das, was wir technologische Aggression und Befriedigung nennen können. Das Phänomen ist rasch beschrieben: der Aggressionsakt wird physisch durch einen weitgehend automatischen Mechanismus ausgelöst, der weit stärker ist als der Mensch, der ihn in Bewegung setzt, in Bewegung hält und über dessen Ziel und Zweck entscheidet. Der extremste Fall ist die Rakete; das alltäglichste Beispiel das Auto. Bei der hier aktivierten und verbrauchten Kraft handelt es sich um mechanische, elektrische, nukleare Energie von "Dingen" und nicht um die triebgebundene Energie des Menschen. Hier wird gleichsam Aggression von einem Subjekt auf ein Objekt übertragen oder sie wird durch ein Objekt zumindest vermittelt, wobei das Ziel nicht durch einen Menschen, sondern vielmehr durch ein Objekt zerstört wird. Diese Veränderung in der Beziehung zwischen menschlicher und materieller Energie, zwischen der objektiven und der subjektiven Komponente der Aggression (der Mensch wird weniger auf Grund seiner physischen als auf Grund seiner psychischen Fähigkeiten zum Subjekt und Diener der Aggression) muß auch die psychische Dynamik verändern. Folgende Hypothese scheint durch die innere Logik des Prozesses nahegelegt: mit der "Delegation" von Zerstörung auf ein mehr oder weniger automatisches Ding, eine Menge oder ein System von Dingen wird die Triebbefriedigung des menschlichen Subjekts zwangsläufig unterbrochen, frustriert und "übersublimiert". Und solche Frustration drängt nach Wiederholung und Steigerung: mehr Gewalt, erhöhte Geschwindigkeit, größere Reichweite. Gleichzeitig geht damit eine Schwächung der persönlichen Verantwortung, des Gewissens, der Schuld und des Schuldbewußtseins einher: nicht ich als (moralisch und körperlich) handelnde Person habe es getan, sondern die Maschine. "Die Maschine" – das Wort deutet darauf hin, daß ein Apparat von menschlichen Wesen die Stelle des mechanischen Apparats einnehmen könnte: die Bürokratie, die Verwaltung, die Partei oder der Verband sind die Verantwortlichen; ich als Individuum bin nur Werkzeug. Und ein Werkzeug kann in ethischer Hinsicht überhaupt nicht verantwortlich oder schuldig sein. Damit wäre eine Schranke der Aggression aufgehoben, die die Kultur in einem langen und gewaltsamen Prozeß der Disziplinierung errichtet hatte. Damit wäre aber auch die erweiterte Reproduktion der Gesellschaft im Überfluß in einer verhängnisvollen psychischen Dialektik verfangen, die in die wirtschaftliche und politische Dynamik einmündet und diese vorwärtstreibt: je mächtiger und "technologischer" die Aggression sich gestaltet, um so weniger kann sie die primären Impulse befriedigen und beschwichtigen und um so stärker drängt sie nach Wiederholung, Intensivierung und Eskalation.

Sicher ist der Gebrauch von Werkzeugen der Aggressivität so alt wie die Zivilisation selbst, aber es besteht ein entscheidender Unterschied zwischen den technologischen und den primitiveren Formen der Aggression. Letztere waren nicht nur quantitativ verschieden (d.h. schwächer); sie verlangten auch eine weit größere Anstrengung, eine stärkere Beteiligung des Körpers als die automatischen oder halbautomatischen Maschinen der Aggression. Das Messer, das "plumpe Werkzeug" und sogar der Revolver sind in viel stärkerem Maße "Teil" des Individuums, welches sie benutzt, und sie bringen dieses Individuum in eine engere Beziehung zu seinem Ziel. Die menschlichen Opfer des Gewehrs sind wahrnehmbar; die des Bomberflugzeuges und der Rakete sind der Wahrnehmung des Täters entrückt.

Die technologische Aggression setzt eine psychische Dynamik frei, welche die destruktiven und antierotischen Strebungen des puritanischen Komplexes verstärkt. Die neuen Formen der Aggression zerstören, ohne daß man sich die Hände schmutzig macht, den Körper besudelt oder den Geist belastet. Der Mörder bleibt rein – in physischer wie in geistiger Hinsicht. Diese Reinheit seines tödlichen Werks wird doppelt gerechtfertigt, wenn es im nationalen Interesse gegen den nationalen Feind gerichtet ist. In dem (anonymen) Leitartikel von Les Temps Modernes vom Januar 1966 wird eine Verbindungslinie zwischen dem Vietnamkrieg und der puritanischen Tradition gezogen. Das Bild des Feindes ist identisch mit dem des Schmutzes in seiner widerwärtigsten Form; der wuchernde Dschungel ist seine natürliche Heimstätte und Köpfen oder das Herausreißen von Eingeweiden die ihm angeborene Art des Handelns. Infolgedessen ist das Verbrennen seiner Unterkünfte, das Entlauben des Dschungels und das Vergiften seiner Nahrungsmittel nicht nur eine strategische, sondern auch eine moralische Handlung: der ansteckende Schmutz wird beseitigt, der Weg für ein System politischer Hygiene und Rechtschaffenheit freigemacht. Und die Massensäuberung des guten Gewissens von den letzten rationalen Hemmungen läßt dann endgültig jede Auflehnung der Vernunft gegen das Irrenhaus verkümmern: kein Sarkasmus, kein Spott, keine Satire erreicht die Moralisten, die das Verbrechen organisieren und verteidigen. So kann einer von ihnen, ohne sich dem allgemeinen Gelächter preiszugeben, es öffentlich als "die größte Unternehmung in der Geschichte unserer Nation" preisen, wenn das reichste, mächtigste und fortschrittlichste Land der Welt die in der Tat historische Leistung vollbringt, die zerstörerische Macht seiner technischen Überlegenheit über einem der ärmsten, schwächsten und hilflosesten Länder der Welt zu entfesseln.

Der Abbau des Schuldgefühls und der Verantwortlichkeit des Einzelnen und deren Absorbierung durch den allmächtigen technischen und politischen Apparat tragen auch zur Schwächung anderer Werte bei, die den Aggressionstrieb hemmen und sublimieren können. Wenn auch die Militarisierung der Gesellschaft das auffälligste und destruktivste Anzeichen dieser Entwicklung bleibt, so sollten ihre weniger auffälligen Auswirkungen im kulturellen Bereich doch nicht vergessen werden. Eine dieser Auswirkungen betrifft den Begriff und Wert der Wahrheit. Die Massenmedien scheinen von der Verpflichtung zur Wahrheit weitgehend entbunden, und zwar auf besondere Weise. Man kann nicht einfach sagen, daß die Massenmedien lügen ("lügen" setzt eine Verpflichtung zur Wahrheit voraus); vielmehr vermischen sie Wahrheit und Halbwahrheit mit Auslassungen, Tatsachenberichte mit Kommentaren und Wertungen, Information mit Werbung und Propaganda – all dies wird redaktionell zu einem suggestiven Beitrag verarbeitet. Die redaktionell unangenehmen Wahrheiten – und wie viele der entscheidenden Wahrheiten sind nicht unangenehm – werden zwischen die Zeilen verpackt, versteckt oder harmonisch mit Unsinn, Ulk und sogenannten "human interest stories" vermischt. Und der Verbraucher neigt bereitwillig dazu, diese Ware zu kaufen – er kauft sie oft wider besseres Wissen und weil eine bessere Einsicht ihm nur schwer zugänglich ist. Nun ist die Verpflichtung zur Wahrheit schon immer eine heikle Sache gewesen, die meist mit starken Einschränkungen versehen oder unterdrückt wurde – aber gerade im Rahmen der allgemeinen und demokratischen Neubelebung der Aggressivität gewinnt die Abwertung des Wahrheitsbegriffs eine besondere Bedeutung. Denn Wahrheit ist in strengstem Sinne ein Wert, sofern sie dem Schutz und der Verbesserung des Lebens dient, als ein Leitfaden im Kampf des Menschen mit der Natur und mit sich selbst – mit seiner eigenen Schwäche und seinem eigenen Destruktionstrieb. In dieser Hinsicht gehört Wahrheit in den Bereich des sublimierten Eros, der Intelligenz, die, verantwortlich und autonom geworden, danach strebt, die Abhängigkeit des Menschen von unkontrollierten und repressiven Kräften aufzuheben. Und im Hinblick auf diese schützende und befreiende Funktion der Wahrheit wird mit ihrer Abwertung eine weitere wirksame Schranke gegen die Destruktion beseitigt.

Der Übergriff der Aggression in den Bereich der Lebenstriebe unterwirft in steigendem Maße die Natur der kommerziellen Organisation. Die Landschaft jenseits des Geschäfts und der Arbeit, jenseits der Städte und der sie verbindenden Autobahnen hört auf, ein Anderes zu sein – qualitative Differenz. Einst konnte Landschaft natürlicher Raum des Eros sein: eine sinnliche Welt der Ruhe, des Glücks, des Schönen; Flucht und Schutz vor der Macht des Kapitals, des Tauschwerts; Welt funktionslosen Wertes – Erfüllung. Als Raum der Freiheit von der gesellschaftlichen Funktion, als Raum des gewünschten Alleinseins war Natur zugänglicher Bereich des Eros: Bereich des Sinnlich-Schönen, Nutzlosen im Widerspruch zum verwalteten Allgemeinen. So ist die ästhetische Dimension als erotische eine Dimension biologischer Bedürfnisse, der Lebenstriebe. Und die Vergewaltigung und Beseitigung der Natur durch die Scheußlichkeiten der kommerziellen Expansion und der ihr hörigen Massen ist nicht nur eine Repression romantischer Träume vitaler erotischer Energien.

Wenn in der "Gesellschaft im Überfluß" die zusätzliche Repression sich so in unverdächtigen und normalen Erscheinungen durchsetzt, ist sie auch in Bereichen festzustellen, die den geläufigeren, offenen Erscheinungsformen der Aggressivität recht fern liegen. Zu erinnern ist hier noch einmal daran, in welchem Stil die Massenmedien Werbung und Information handhaben. Typisch ist die ständige Wiederholung: dieselbe Reklame, die unaufhörlich mit demselben Text oder Bild gesendet oder ausgestrahlt wird; dieselben Phrasen und Gemeinplätze, die von Informanten und Meinungsbildnern unaufhörlich verbreitet werden; dieselben Parteistandpunkte und -programme, die von den Politikern unaufhörlich verkündet werden. Im Zusammenhang seiner Analyse des "Wiederholungszwanges" entwarf Freud die Hypothese des Todestriebes: er sah in ihm das Streben nach völliger Ruhe und Aufhebung der inneren Spannungen, nach der Rückkehr in den Mutterleib und in das Nichts. Über die extreme Funktion der Wiederholung war sich Hitler im klaren: die größte Lüge, oft genug wiederholt, wird für bare Münze genommen und als Wahrheit akzeptiert. Aber auch bei weniger extremen Verstößen gegen die Wahrheit wirkt die ständige Wiederholung vor einer mehr oder weniger gefangenen Zuhörerschaft destruktiv: sie zerstört geistige Autonomie, Intelligenz und Verantwortungsbewußtsein, verleitet zu Trägheit, Fügsamkeit, Wohlbefinden in der Reduktion von Spannungen, gibt Schutz gegen traumatische Neuerungen. Die etablierte Gesellschaft als Herrin der Wiederholung wird zum großen Mutterschoß für ihre Bürger. Natürlich steht am Ende dieses Weges zur Trägheit und zur Verminderung der inneren Spannungen nicht die letzte Erfüllung: er führt nicht zum Nirwana der Triebbefriedigung. Aber er verringert die Last des Verstandes und die Mühsal und Anspannung, die autonomes Denken begleiten – so gesehen wird die Politik der Wiederholung wirksame Aggression gegen den Geist in seinen kritischen, die Gesellschaft aufstörenden Funktionen.

Wir haben einige höchst spekulative Thesen über den spezifischen Charakter der Aggression in der "Gesellschaft im Überfluß" vorgelegt. Es handelt sich (in den meisten Fällen) um sozial nützliche Destruktion, die jedoch insofern verhängnisvoll wirkt, als sie sich in ihrer Intensität und ihrem Ausmaß selbst immer weiter vorantreibt. Auch in dieser Hinsicht wird sie mangelhaft sublimiert und bleibt unbefriedigt. Wenn Freuds Theorie stimmt, daß die destruktiven Triebe danach drängen, das eigene Leben des Individuums zu vernichten, ohne den "Umweg" über andere Leben und Ziele zu scheuen, dann können wir in der Tat von einer selbstmörderischen Tendenz dieser Gesellschaft sprechen, und das weltweite Spiel mit der totalen Zerstörung mag dann in der Triebstruktur der Individuen eine feste Basis gefunden haben.

Anatol Rapoport
Das Klasseninteresse der Intellektuellen und die Machtelite

Marxisten, für die der Begriff "Klassenbewußtsein" zum Handwerkzeug gehört, werden vermutlich über den Gedanken spotten, die Intellektuellen repräsentierten eine neue, aufsteigende gesellschaftliche Klasse. Sie halten ihn wahrscheinlich für unvereinbar mit der traditionellen marxistischen Lehre, welche die Klassen im Hinblick auf ihre ökonomischen Interessen definiert, und der zufolge jede aufsteigende Klasse die Aufgabe hat, "die Gesellschaft in Übereinstimmung mit den eigenen Interessen zu organisieren" – nachdem der Sieg über die vorher herrschende Klasse errungen worden ist. Diese Aufgabe ist von den Marxisten dem Industrieproletariat zugeschrieben worden, und es steht kaum zu erwarten, daß ein Rivale anerkannt werden wird.

Es ist natürlich nicht nötig, auf den Beifall der Marxisten zu diesem Gedanken zu warten. Er kann nach seiner eigenen Fruchtbarkeit beurteilt werden. Aber vielleicht ist es lehrreich, ihn einmal vor dem Hintergrund der marxistischen Theorie, von der sich der Begriff des Klasseninteresses zugegebenermaßen herleitet, zu prüfen; besonders, weil dieser Aufsatz von einem nichtmarxistischen Radikalen verfaßt und teilweise an die Adresse der orthodoxen Marxisten, teilweise an die der antimarxistischen Liberalen unter den Intellektuellen gerichtet ist.

Die marxistische Theorie ist eine seltsame Mischung profunder Einsichten und starrer Doktrinen. Sie steht auf solider Grundlage, wenn sie sich mit Ereignissen im Umkreis der Ersten Industriellen Revolution befaßt. Das rapide Wachstum wirtschaftlichen Wohlstandes in Europa, das auf die Entdeckung der Neuen Welt folgte, und die Gründung von Kolonialstaaten haben nachweislich zu Macht und Ansehen des Bürgertums beigetragen. Im ökonomischen Interesse dieser neuen Klasse lag, wie man weiß, die Überwindung des Feudalismus. Mehr noch, durch die Stärkung seines politischen Einflusses heizte das Bürgertum einen neuen Klassenkampf an, der sich in der Zunahme der Arbeitervereine und der auf der Arbeiterbewegung basierenden politischen marxistischen Parteien manifestierte. So weit also scheint der Gültigkeitsbereich der Theorie zu gehen. Doch die nachfolgende Geschichtsperiode erscheint wie eine Widerlegung der Marxschen Theorie. Obgleich der Trend zum Monopolkapitalismus im Westen anhielt, verarmten "die Massen" nicht; im Gegenteil, der Lebensstandard der arbeitenden Bevölkerung stieg weiter. Die Mittelklassen verschwanden nicht; im Gegenteil, die Zahl der Arbeiter (blue collars) sank relativ gegenüber der Zahl der Angestellten (white collars). Das Klassenbewußtsein des Proletariats erlahmte, der Klassenkampf, wie ihn die marxistische Theorie im Auge hatte, ist heute als primäres politisches Ziel verschwunden, und in Ländern, in denen die vom Marxismus vorausgesagten sozialen Revolutionen als vollendet bezeichnet werden, ist der gesellschaftliche Kampf nicht erloschen.

Angesichts dieser Widersprüche sehe ich drei Möglichkeiten:

1.   Man kann, wie manche Marxisten-Leninisten, den Sachverhalt ignorieren und trotz allem auf der Richtigkeit der Lehre bestehen.

2.   Man kann, wie die Antimarxisten, erklären, die Theorie sei widerlegt.

3.   Man kann einige Aspekte der Theorie, die dem Sturm der Ereignisse getrotzt haben, beibehalten und andere, die sich nicht behauptet haben, verwerfen oder modifizieren.

Die erste Möglichkeit ist nicht so abwegig, wie es erscheinen mag; man muß sich nur klarmachen, was manche Leute unter "richtiger Lehre" verstehen. Für einen Marxisten-Leninisten besteht die "richtige Lehre" nicht nur in der Erklärung der Wirklichkeit, sie setzt ihn auch in den Stand, die Wirklichkeit zu verändern. In solchem Sinne bezeichnet der Marxist-Leninist seine Theorie als eine "Waffe im Klassenkampf". Das bedeutet, daß eine Arbeiterklasse, deren Mitglieder von der Wahrheit der Theorie überzeugt sind, eben durch die Theorie erst in die Lage versetzt wird, die soziale Revolution in Gang zu bringen. So ist die Theorie für den Marxisten-Leninisten ein frei sich selbst bestimmendes Etwas: sobald man es akzeptiert hat, erweist sich seine Wahrheit. Das ist die Umkehrung – in diesem Falle eine nicht unbedingt falsche – des üblichen Kriteriums für die Gültigkeit einer wissenschaftlichen Theorie, die erst nach ihrem Wahrheitserweis akzeptiert wird.
Die zweite Möglichkeit, die völlige Ablehnung der marxistischen Lehre, wirkt auf gewisse Leute anziehend, die jede Theorie verdächtigen, sofern sie sich von philosophischen Spekulationen ableitet, anziehend auch auf diejenigen, die sich von den politischen Schwingungen einer Theorie abgestoßen fühlen. In den Vereinigten Staaten begünstigt die pragmatische Tradition beide Haltungen. Die Nützlichkeit einer wissenschaftlichen Theorie liegt für den Pragmatisten in ihrer unmittelbaren Anwendungsmöglichkeit im Sinne einer Verifikation der Hypothesen. Er hat keine Geduld mit Theorien, deren hauptsächliche Intention die Entfaltung eines allgemeinen Interpretationsnetzes ist; das heißt, er wird wahrscheinlich den Wert einer Theorie nicht zu schätzen vermögen, die sich selber als Neubestimmung der Wirklichkeit begreift.
Unter diesen Umständen hat in den Vereinigten Staaten die Sozialwissenschaft ihren Schwerpunkt auf einzelne empirische Untersuchungen verlegt und sich von generalisierenden Deutungen der Struktur der Gesellschaften und von Spekulationen über den Verlauf ihrer Entwicklung abgewendet. Die heftige Ablehnung der Marxschen Lehre durch die meisten amerikanischen Sozialwissenschaftler ist zum Teil einfach ihrer Abneigung zuzuschreiben, sich mit Gedankengängen außerhalb ihrer Interessensphäre zu beschäftigen. Ganz bestimmt hat auch die Verbindung der marxistischen Theorie mit dem Kommunismus zu dieser Haltung beigetragen. Die Auffassung, die Hauptlehrsätze der kommunistischen Ideologie seien durch die Erfolge des Managerkapitalismus und der freien Marktwirtschaft widerlegt worden, ist sowohl bequem als auch intellektuell vertretbar – im Hinblick auf den Mißerfolg spezifisch marxistischer Voraussagen. Man kann daher den Marxismus in toto ablehnen und dabei sein gutes Gewissen wie auch seine intellektuelle Integrität bewahren. Dementsprechend bezeichnen viele amerikanische Sozialtheoretiker nichtideologische Politik häufig als "American way", nicht nur, um sie zu beschreiben, wobei sich viele einleuchtende Tatsachen anführen lassen, sondern auch, um sie zu rechtfertigen. Ihrer Ansicht nach sollten eher Handel und Geschäft als ideologische Auseinandersetzungen die Grundlagen der Politik bilden. Die Ideologiegegner meinen auch, konkrete, bestimmte Gewinne – und nicht die Gewinnung politischen Einflusses zur Neuordnung der Gesellschaft – sollten die einzigen Ziele politischen Handelns bleiben. Kurz gesagt, die Ideologiegegner behaupten, Politik habe nach den Regeln eines Marktes zu verfahren, wo die Wählerstimmen die Rolle des Geldes spielen; was du mit ihnen kaufst: Arbeitsplätze, Verträge, Subventionen, Gesetze, Kandidaten nach eigener Wahl, das ist, was Politik dir verschafft.

S. I. Hayakawa gibt dieser Ansicht Ausdruck im Zusammenhang seiner Analyse der Ereignisse von Watts, in der er sich auf die jüngsten politischen Entwicklungen in Kalifornien bezieht:

Macht ist in Amerika immer begrenzte und geteilte Macht, ausgeübt von Verbindungen und Koalitionen politischer Parteien, von wirtschaftlichen Interessengruppen, Kirchen, Vereinen, Zusammenschlüssen von Minoritäten usw. Die Führer der Neuen Linken weichen der Macht – und damit der Verantwortung – mit Recht aus, indem sie vermeiden, Verbindungen und Koalitionen einzugehen; sie nennen das "Sich-gemein-machen" und "Sich-verkaufen". Im Bewußtsein ihrer ideologischen Reinheit geben sie sich lieber der flammenden Rhetorik moralischer Entrüstung über das Hin und Her und das Getue der praktischen Verhandlungen hin – Verhandlungen um Arbeit, bessere Schulen, Wohnungsbau und politische Unterstützung. Von der Neuen Linken können Neger daher nichts erwarten: kein Geld, keinen Einfluß, keine Arbeit, keine besseren Schulen, keine Wohnungen, keinerlei politische Erleichterungen. Die einzige Hoffnung für die Minderheiten, einschließlich der Neger von Watts, liegt in der starken Mitte der beiden großen Parteien – bei den Leuten, deren Gedanken weder mit einer imaginären Vergangenheit noch einer visionären Zukunft, sondern mit den Realitäten der Gegenwart beschäftigt sind – bei den Leuten, die in der pragmatischen Tradition des gesunden Menschenverstandes im amerikanischen Leben fortfahren, Übereinkünfte und Vergleiche herauszuschlagen, die wir alle eingehen müssen, um miteinander in Frieden und Fortschritt leben zu können.

Dem oben beschriebenen antiideologischen Moment der amerikanischen Politik liegt die Annahme zugrunde, daß die Verständigung zwischen unterschiedlichen Interessengruppen immer möglich sei. Hayakawa erläutert diese Annahme. Ein Abschnitt seines Aufsatzes trägt den Titel: Eine Arbeitshypothese. Verständigung ist möglich. Wie das marxistische Axiom – "Der Klassenkampf muß so lange währen, bis der Kapitalismus beseitigt ist" –, ist Hayakawas These unwiderlegbar. Denn wie ihr marxistischer Gegenpol birgt sie implizit den Imperativ in sich: Was auch immer geschehen mag, handle so, als ob die Hypothese wahr sei! Und gleich dem marxistischen Lehrsatz hat auch Hayakawas These eine prophetische Tendenz. Das soll nicht heißen, die Hypothese werde notwendigerweise wahr, sofern man sie nur mit Klauen und Zähnen verteidigt. Vielmehr kann sie sich nur dann als richtig erweisen, wenn man fest an sie glaubt. Man könnte ergänzen: wenn eine genügend große Anzahl einflußreicher Leute an sie glaubt. Einem Lehrsatz mit einer prophetischen Komponente zu folgen, ist nicht mehr ein bloßer Erkenntnisakt, sondern eine politische Handlung. Das bedeutet: einsichtige Beweise für oder gegen einen solchen Satz sind nicht der einzige Grund, ihn anzunehmen oder zu verwerfen. Ein nicht minder wichtiger Grund ist, welchen Vorzug man den Konsequenzen der Wahrheit oder Falschheit des in Frage stehenden Lehrsatzes beimißt.

Die Vorliebe für die Wahrheit der Hypothese "Verständigung ist möglich" ist gewiß aus moralischen Gründen begreiflich. Will man sie jedoch verteidigen, so ist eine weitere Hypothese erforderlich, daß nämlich entweder die Koexistenz der streitenden Parteien unausweichlich oder jedenfalls dem Tod eines oder beider vorzuziehen ist. Die Ideologiegegner gehen immer von dieser Voraussetzung aus – nämlich daß die Gruppen, deren divergierende Interessen sie für den Inhalt der Politik halten, weiter miteinander leben müssen, wenn die Maschinerie der Gesellschaft in Gang gehalten werden soll. Ein ähnliches Argument wird gewöhnlich im Hinblick auf die Koexistenz von kommunistischer und nichtkommunistischer Welt angeführt: ein Krieg mit dem Ziel einer Vernichtung des Gegners wäre auch für den Sieger verhängnisvoll.

Wenn man jedoch die Koexistenz-These nicht akzeptiert, kann man auch die Möglichkeit einer Verständigung ablehnen. Es lassen sich leicht Fälle dieser Art denken. Einige wenige unter uns würden sicherlich darauf dringen, die "Verständigung so weit zu treiben", daß es zu einer "Einigung" selbst mit organisierten Verbrechersyndikaten kommt, auch wenn die Kosten dieser "Einigung" ihren Fürsprechern beträchtliche finanzielle Lasten aufbürdeten. Aber nicht durch die finanziellen Aufwendungen für die (Bekämpfung der) Verbrecherorganisationen werden diese zu einem gesellschaftlichen Übel, sondern vielmehr durch die Entwürdigung der Gesellschaft, die, von Halunken durchsetzt, in einem Netz von Korruption gefangen ist und damit ein zynisches Ansehen bekommen hat.

Ganz ähnlich glauben heute noch die meisten von uns, daß eine "bessere Verständigung" mit Hitler das Problem Nazideutschlands nicht gelöst haben würde, daß der einzig gangbare Weg für die präsumtiven Opfer die Zerstörung der deutschen Kriegsmaschine und des Parteiapparates der Nazis war. Wir können unrecht haben. Wir wissen nicht, was geschehen wäre, hätte man die Hypothese "Verständigung ist möglich" hartnäckig beibehalten – selbst nach der Besetzung Polens usw.; ob zum Beispiel die Zahl der Todesopfer, oder was sonst immer, die entsprechenden Kosten des Zweiten Weltkrieges überschritten haben würde. Auch haben wir vielleicht den Eindruck, daß die durch den "Sieg" der Alliierten aufgetauchten Probleme ernster sind als diejenigen, die Deutschland setzte. Trotzdem ist retrospektiv die Ablehnung der Möglichkeit, daß man sich mit Hitler hätte einigen können, eine vertretbare Position.

Ich erwähne diese Beispiele, um klarzumachen, daß sowohl die Annahme wie die Ablehnung der Koexistenzhypothese unter verschiedenen Umständen vertretbar ist, und daß der utilitaristische Kalkül nicht immer die richtige Maxime für unser Handeln sein kann.

Die politischen Führer Chinas lehnen die Koexistenzhypothese ausdrücklich ab, die sich heute auf den globalen Konflikt anwenden ließe, und untermauern ihren Standpunkt mit stereotypen Phrasen. Amerikanische Rechtsextremisten lehnen die Koexistenz gleichfalls ab, mit ebensolchen Phrasen. Der Politik beider Kontrahenten verweigere ich mich, denn ich halte die Koexistenz für möglich, ich möchte aber hinzufügen, daß meine Hoffnung einer moralischen Überzeugung entstammt und sich nicht aus Tatsachenanalyse oder Trendberechnung ableitet. Mit anderen Worten, meine Hoffnung gründet sich auf die Überzeugung, daß die streitenden Parteien miteinander reden müssen, nicht aber auf irgendeine Wahrscheinlichkeit, daß sie es können oder wollen.

Es scheint so, als seien die Chinesen und die amerikanischen Ultrakonservativen dabei, dem Hauptlehrsatz des orthodoxen Marxismus-Leninismus recht zu geben, daß der historische Prozeß auf Polarisation, Konfrontation und schließliche Auflösung der Gegensätze hintreibt. Dabei kann man sehr wohl von der eschatologischen Implikation dieser Theorie ausgehen; zum Beispiel so: der Klassenkampf wird nach Beendigung der "proletarischen Weltrevolution" (oder der Vernichtung des Kommunismus) wegen Mangels an Widersprüchen aufhören (oder es wird überall auf der Welt Freiheit herrschen). Läßt man aber die Eschatologie beiseite, so fällt auf, daß durch eine besondere Veränderung des Brennpunktes zwei Thesen der marxistisch-leninistischen Lehre in den vergangenen Jahrzehnten mehr oder weniger deutlich hervorgetreten sind; nämlich:

1.   Betrachtet man einmal weltpolitisch, nicht von der nationalen Ebene her, den Abgrund zwischen Besitzenden auf der einen und den Besitzlosen auf der anderen Seite, so gewinnt der zunehmende Reichtum der Reichen hier und die weitere Verarmung der Armen eine höchst brisante Bedeutung in der jüngsten Geschichte.

2.   Die Führer der besitzenden Klasse werden voraussichtlich alles in ihrer Macht Stehende tun, um – wobei sie keine Kosten zu scheuen brauchen – jede Beschneidung ihrer Macht zu verhindern.

Ich wiederhole noch einmal: auf nationaler Ebene scheinen beide Thesen schlüssig widerlegt worden zu sein. In der Industriegesellschaft haben sich die Unterschiede zwischen der arbeitenden und der besitzenden Klasse eher verwischt als verschärft. Wesentliche soziale Veränderungen hat es in den Gesellschaften des Spätkapitalismus auch ohne die Wohltat sozialer Revolutionen nach marxistisch-leninistischem Muster gegeben. In vielen Ländern ist die Arbeiterschaft ein wichtiger Partner oder doch zumindest ein Helfer bei nationalen Entscheidungen geworden.

In seinem globalen Zusammenhang betrachtet sieht das Problem freilich anders aus. Der Unterschied zwischen dem Lebensstandard der Besitzenden und der Besitzlosen wird größer, statt sich zu verringern. Und die herrschende Klasse wenigstens einer reichen Nation hat keinen Zweifel daran gelassen, daß jede gesellschaftliche Veränderung, die ihr nicht gefällt, überall in der Welt mit Gewalt unterdrückt werden wird – und zwar einzig und allein aus der strategischen Erwägung heraus, die eigene Überlegenheit um jeden Preis zu sichern.

Aus der Kenntnis dieser Tatsachen folgt nicht notwendig die Bestätigung der marxistischen Geschichtsinterpretation. Aber sie verweist auf gewisse Möglichkeiten einer Neubestimmung der lebensfähigen Begriffe der marxistischen Theorie für die Verhältnisse und Erfordernisse unserer Zeit. Lebensfähig – im Sinne einer festen Einbürgerung in unser soziologisches Denken – sind die Begriffe gesellschaftliche Klasse, Klasseninteresse und -ideologie. Wir wollen auch den marxistischen Gedanken, daß das Klasseninteresse die Ideologie formt, aufrechterhalten. Die Hypothese jedoch, das Klassenbewußtsein werde ausschließlich von den ökonomischen Bedingungen diktiert, werden wir fallenlassen, weil wir andernfalls kaum zu erklären vermöchten, warum es zum Beispiel zwischen großen Teilen der amerikanischen Arbeiter- und Businessklasse eigentlich gar keine ideologischen Differenzen gibt. (Erklärungen mit dem Ergebnis, die amerikanischen Arbeiter seien nicht genügend "klassenbewußt", drehen sich im Kreise.)

Tatsächlich gibt es in den Vereinigten Staaten tiefe ideologische Differenzen, doch sie sind nicht an wirtschaftliche Klassen gebunden. Es gibt wenigstens drei Ideologien, die auch Hayakawa nebenbei erwähnt hat: eine, die sich an einer imaginären Vergangenheit, eine zweite, die sich an einer visionären Zukunft, und eine dritte, die sich an den "Realitäten" der Gegenwart orientiert. (Ich habe "Realitäten" in Anführungszeichen gesetzt, weil die Einschätzung der Realität nicht allein von den Ideen abhängt, mit denen man die beobachteten Ereignisse verbindet, sondern auch von den zur Beobachtung ausgewählten Ereignissen selbst.)

Jede der drei Ideologien hat sich politisch manifestiert. Die an der Vergangenheit orientierte Ideologie gibt sich in der Politik der extremen Rechten kund. Das von Hayakawa vertretene ideologische Konzept – in unserer Aufzählung das dritte – ist oft als "reißender Strom" (mainstream) bezeichnet worden – eine, wie mir scheint, treffende Charakterisierung dieser Ideologie, die dazu neigt, einen zu verschlingen. Die Ideologie der "visionären Zukunft" versorgt die verschiedenen, einander überschneidenden Protestbewegungen, einschließlich der Neuen Linken, mit Energie; ich werde sie alle gemeinsam als Neue Linke bezeichnen. Es verdient Erwähnung, daß die Unterschiede zwischen den drei Perspektiven genuin ideologischer, nicht bloß programmatischer Art sind, und ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß die Anführer einer der beiden, einander "entfremdeten" Gruppen, der Rechten und der Linken, wenn man ihnen die "Verantwortung der Macht" übertrüge, ernstlich gezwungen wären, von der Durchsetzung wirklich radikaler Programme abzusehen. In der Tat begrenzen diese "politischen Realitäten" das Ausmaß, bis zu dem die genannten politischen Programme sich bereits voneinander unterscheiden. Die Neue Linke tritt nicht für die Sozialisierung der Industrie ein; die Ultrakonservativen – außer einer Gruppe von Verrückten – verlangen nicht die Ausschaltung der Gewerkschaften. Die Gruppen haben sich, genau genommen, mehr aus ideologischen (als aus programmatischen) Gründen bis zu einem Maße voneinander entfernt, wo Verständigung schwierig, wenn nicht unmöglich ist.

Unter anderem enthält eine Ideologie eine Definition der Wirklichkeit, einen Begriff von der menschlichen Existenz und eine Überzeugung davon, was Recht und Unrecht ist. Es ist weit schwieriger, sich über diese Dinge zu verständigen als darüber, was in bestimmten, konkreten Situationen zu tun ist.

Die Leute des "mainstream" schätzen die Ideologie gering ein, weil – wie sie richtig sagen – Streitgespräche über ideologische Details der Lösung von Problemen hinderlich sind. Für die Mainstream-Anhänger ist Politik im wesentlichen (vielleicht sogar ausschließlich) ein Prozeß von Problemlösungen. Probleme zu lösen ist aber nur sinnvoll, wenn ein Wertsystem existiert; nur in diesem Falle kann ein Problem als die Frage nach den Mitteln bestimmt werden, ein erstrebtes Ziel zu erreichen, oder nach der gerechten Verteilung der durch die Lösung des Problems gemeinsam erworbenen Güter. Steht jedoch das Wertsystem selbst in Frage, so ist die Lösung von Problemen nicht nur Zeitverschwendung, sondern in hohem Grade überflüssig. Wir wollen ein paar Beispiele betrachten. Vor kurzem haben die Anhänger der Rassentrennung (Segregation) nach großen Anstrengungen ihre Bereitschaft zur Einführung fast vollständiger "Gleichheit" – auf ihre Weise – bekundet, die mit einiger Gerechtigkeit als eine realistischere Forderung angesehen werden kann als diejenige, daß Rassentrennung prinzipiell abgeschafft werden sollte. Denn die hygienischen Bedingungen und sanitären Verhältnisse in den Negerschulen sind eine unmittelbar erkennbare "Realität", zu deren Besserung "man etwas Konkretes tun kann", während die Einstellung, die sich im Segregationsprogramm ausdrückt, ideologisch motiviert ist und durch gesetzgeberische oder technische Maßnahmen nicht verwandelt oder aufgehoben werden kann. Aber wir wissen auch, daß weder Schulen mit gepflegten Rasenflächen noch Chrom- und Kacheltoiletten den Aufstand gegen die Rassentrennung abgewendet hätten. Die Revolte richtete sich gegen den Grundsatz, nicht gegen seine greifbaren Resultate.

Ein anderes Beispiel. Betrachten wir einmal die "positiven Ergebnisse", die die Herrschaft der Bosse in der amerikanischen hohen Politik während ihrer Blütezeit hervorbrachte. Der politische Boß half seinen Wählern auf ganz reale Weise, durch Protektion, durch Beistand bei Verhandlungen mit einer undurchsichtigen Bürokratie usw. Daher schien es den Nutznießern dieses Systems auch realistisch, den politischen Apparat, der Arbeit und Produktion gewährleistete, vor den "utopischen Reformern" zu schützen, deren Hauptangriff sich gegen die bestehende "Machtstruktur" richtete, die aber keinen plausiblen Ersatz – d.h. keinen Ersatz, den die Wähler verstehen konnten – anboten. Heute ist immerhin einigen Leuten klar, daß die Herrschaft der Bosse den politischen Reifungsprozeß der Wähler hintertrieb, somit die Demokratie untergrub und außerdem einen Nährboden für das organisierte Verbrechertum schuf. Es soll hier nicht verhehlt werden, daß "Demokratie" und "politischer Reifungsprozeß" ideologische Begriffe sind.

Als letztes Beispiel möchte ich die Bemühungen der Berufsstrategen anführen, diplomatisch-militärische Schachzüge "vernünftig" erscheinen zu lassen. Wie man hört, befassen sie sich damit, durch die Anschaffung thermonuklearer Waffen den Krieg ad absurdum zu führen. Andererseits sind sie überzeugt, daß Macht und die Drohung der Macht in naher Zukunft die Hauptfaktoren jeder "realistischen" Außenpolitik – wenigstens was die Vereinigten Staaten angeht – sein werden. Deshalb liegt für sie das Problem in der Entwicklung von Kriegsformen, deren Kosten mit den Kriegszielen harmonieren. Unter anderem gehört zur Arbeit an diesem "Problem" die Entwicklung wirkungsvollerer konventioneller Waffen und Taktiken, die in der Zeit, als das Hauptgewicht auf die Androhung einer massiven Vergeltung gelegt wurde, vernachlässigt worden sind. Gelegentlich wird von stillen Vereinbarungen mit potentiellen Gegnern über Regelung und Begrenzung militärischer Operationen gesprochen. Wenn man die Konsequenzen des Vertrauens in eine hauptsächlich nukleare Abschreckung hervorhebt, kann man die "Vernünftigkeit" solcher Annäherung leicht vertreten. Von einem anderen Standpunkt aus gesehen scheint sie jedoch auf eine neue Rechtfertigung des Krieges hinauszulaufen, mit anderen Worten darauf, den Vereinten Nationen den Gnadenakt zu überlassen und zur Machtpolitik im Stile eines Clausewitz zurückzukehren. Sofern man sich mitverpflichtet fühlt, aus den Vereinten Nationen eine wirksame Einrichtung zu machen, sind die "realitätsorientierten" Bemühungen der Befürworter des begrenzten Krieges nicht allein unnütz, sie sind zudem gefährlich, weil sie die Atmosphäre der Machtpolitik aufrechterhalten, in der die Vereinten Nationen machtlos bleiben.

An jedem dieser Beispiele ist erkennbar, wie die "Wirklichkeit des gesunden Menschenverstandes" unter veränderter Beleuchtung ihre Geltung verliert. Eine Ideologie ist in ihrem Kern eine Interpretation, durch welche Realitäten definiert werden. Solange diese Interpretation stimmt, so lange stimmen die Realitäten, und die Fragen, die sich aus dem Geflecht der wirklichen Verhältnisse ergeben, behalten ihre Gültigkeit. Ideologische Auseinandersetzungen entstehen daher meist durch den Versuch, eine Änderung der Perspektive herbeizuführen, und durch den Widerstand gegen diesen Versuch. Ihre Absicht und ihr Zweck ist nicht, ein Problem zu lösen, sondern die eine oder andere Gruppe von Problemen in den Blickpunkt zu rücken.

Die Geschichte der Wissenschaft bietet ein vorzügliches Analogon zu dem, was in der Politik als ideologischer Kampf erscheint. Thomas Kuhn hat einen fundamentalen Unterschied zwischen "normaler" und "revolutionärer" Wissenschaft herausgearbeitet. Ein Denkschema wird nach einer von "normaler" Wissenschaft beherrschten Zeitperiode von fast allen aktiven Wissenschaftlern auf einem bestimmten Gebiet akzeptiert. Es ist Gegenstand der Forschung, die von ihm beherrscht wird. Solche Forschung liefert wesentliche Lösungen von Problemen, die mit dem Denkschema auftauchen. Zu gegebener Zeit jedoch ist es überholt, und zwar nicht deswegen, weil manche Tatsachen gewisse Theorien nicht bestätigen; Theorien lassen sich innerhalb eines gegebenen Denkschemas modifizieren und sogar verdrängen. Dagegen gleicht das Auseinanderbrechen des Denkschemas selbst – eine wissenschaftliche Revolution – einem Erdbeben. Es vernichtet die Gültigkeit einer ganzen Gruppe von Problemen. So wurde die Berechnung der ptolemäischen Epizyklen nach der Kopernikanischen Revolution ein sinnloses Problem; durch die Entdeckung des Sauerstoffs wurde die Suche nach dem Phlogiston sinnlos; die Revolution der Relativitätstheorie ließ die Untersuchung der physikalischen Eigenschaften des Äthers gegenstandslos werden.

Ähnlich haben Veränderungen in politischen Ideologien ganze Gruppen politischer Probleme aufgehoben. Durch den Untergang der Monarchie zum Beispiel verlor die Beschäftigung mit den genealogischen Verflechtungen – einst ein wichtiger Zweig der dynastischen Politik – ihre Bedeutung.

Ideologische Revolutionen sind stets von Intellektuellen angestiftet worden, denn sie sind, da sie mit der Sprache umzugehen verstehen, die gegebenen Träger und Vermittler neuer Ideen. Nach marxistischer Auffassung stehen Ideologien in einem engen Zusammenhang mit Klasseninteressen (wir würden sie Rationalisierungen von Klasseninteressen nennen), die ihrerseits auf der Funktion der betreffenden Klassen im Produktionssystem und bei der Distribution beruhen. Im Rahmen dieser Hypothese ist es schwierig, den Intellektuellen ein "Klasseninteresse" zu attestieren. Sie passen weder in die Kategorie der Ausgebeuteten noch der Ausbeuterklasse im kapitalistischen System. Ganz gewiß aber zählt in der UdSSR die Intelligentsia zu den drei offiziellen Klassen; seit jedoch der Sowjetmarxismus den Klassenkampf nicht länger als Moment der bestehenden sowjetischen Gesellschaft anerkennt, wird auch der Intelligentsia kein spezielles Klasseninteresse mehr zugeschrieben.

Die Marxisten nehmen an, der Intellektuelle in der kapitalistischen Welt diene der einen oder anderen um die Macht ringenden Klasse – je nachdem, ob er das bestehende System verteidigt oder bekämpft. (In Wirklichkeit freilich ist für die sowjetischen Marxisten die Haltung des Intellektuellen dem sowjetischen System gegenüber ein wichtigeres Kriterium, um ihn dem einen oder anderen Lager zuzurechnen.) Meiner Ansicht nach ist aber das Klassenbewußtsein nicht vom Klasseninteresse im orthodox marxistischen Sinne abhängig. Wenn der Sozialwissenschaftler gleichwohl darauf besteht, sieht er sich in der unangenehmen Lage, für alle Einzelfälle passende Erklärungen erfinden zu müssen, ähnlich wie ein orthodoxer Psychoanalytiker, der darauf beharrt, jede Einzelheit im Verhalten in den Begriffen eines festgelegten Codes zu erläutern. Die sowjetischen Marxisten weigern sich strikt, den ökonomischen Bestimmungsgrund der Ideologie fallen zu lassen, da sie diese These mit der materialistischen Geschichtsauffassung selbst in eins gesetzt haben. Ich glaube jedoch, daß der philosophische Streit zwischen Materialismus und Idealismus heute – ungeachtet seiner historischen Bedeutung – völlig unergiebig ist und nur dazu dient, die Entwicklung fruchtbarer ideologischer Theorien zu hemmen. Alle Interessen, die das Handeln bestimmen, müssen zuvor wahrgenommen werden. Alle Wahrnehmungen sind Interpretationen von Sinneseindrücken, einschließlich verbaler Mitteilungen; sie wirken im Augenblick oder werden im Gedächtnis gespeichert. Mitteilungen in Worten vermögen Wahrnehmung und Verhalten zu steuern, ohne eine feststellbare Beziehung zu einer "objektiven Realität" zu besitzen, ausgenommen diejenigen Spuren, die im Gehirn des Wahrnehmenden aufgezeichnet sind. Einfach ausgedrückt: die Menschen haben die Möglichkeit – und nutzen sie auch – sich zu entfalten und zu handeln nach ihren Vorstellungen, Hoffnungen und Ängsten. Ich habe diese Binsenwahrheit in wissenschaftliche Begriffe gefaßt, um zu zeigen, wie "idealistische" Termini (Vorstellung, Hoffnung und Angst) sich in die "materialistische" Theorie von Kommunikation und Neurophysiologie übersetzen lassen.

Wenn man einmal erkannt hat, daß es nicht mehr nötig ist, Klasseninteresse zu streng ökonomischen Gegebenheiten in Beziehung zu setzen (die in der Zeit vom Beginn bis zur Vollendung der Ersten Industriellen Revolution bestimmend gewesen sein mögen), dann kann der grundlegende – und meiner Meinung nach lebensfähige – marxistische Begriff des Klassenkampfes – freilich ohne die Verdrehungen, welche die orthodoxe Theorie fordert – auf die heutige Sozialgeschichte angewandt werden. Das Klasseninteresse stellt sich heute als das Interesse dar, eine Ideologie zu inthronisieren oder zu erhalten. Insbesondere in den Vereinigten Staaten kann die ideologische Auseinandersetzung (zwischen den Ultrakonservativen, dem Mainstream und der Neuen Linken) als Klassenkampf begriffen werden, der die herkömmlichen Klassenschranken durchbricht und den Eintritt neuer, nunmehr psychologisch zu definierender Klassen in die Geschichte vermuten läßt. Ich möchte sie anhand dessen beschreiben, was sie primär als Bedrohung empfinden.

Der Klasse der Ultrakonservativen erscheint jede gesellschaftliche Veränderung als Bedrohung. Das hervorstechendste Merkmal ihrer Ideologie ist ihre Xenophobie, die oftmals paranoide Formen annimmt. Ihre Mission besteht, wie sie glauben, in der Wiederbelebung der alten amerikanischen Tugenden und in der Beseitigung aller fremden Einflüsse.

Für die Klasse der Mainstream-Anhänger besteht die Bedrohüng in unversöhnlichen Konflikten. Aus diesem Grunde versuchen sie, ideologische Differenzen, die häufig den Charakter der Unversöhnlichkeit tragen, zu bagatellisieren. In ihrer Ideologie legen sie größtes Gewicht auf die rationale Lösung von Problemen. Sie sind Optimisten, unbeschwerte Adepten des Glaubens der viktorianischen Epoche an einen geradlinig verlaufenden Fortschritt und an die Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen. Sie vertreten die Auffassung, daß alle konkurrierenden Gruppen grundsätzlich einen Bereich gemeinsamen Interesses haben und Konflikte, die allen Betroffenen schaden könnten, zu vermeiden trachten.

Die Neue Linke stellt sich uns als eine Klasse dar, der die Konzentration von Macht, in wessen Händen auch immer, als die Hauptbedrohung erscheint. Zu ihr gehört in den Vereinigten Staaten die gegen das Establishment sich richtende Intelligenz – einschließlich eines Teils der akademischen Jugend. Sie bemüht sich um ein Bündnis mit unterprivilegierten Gruppen, die sich nie mit den Herrschenden identifiziert oder ihnen auch nur Loyalität bewiesen haben. Das Engagement der Neuen Linken gilt der Zerschlagung der verfestigten Machtstruktur, wie sie sie versteht.

Bilden die Intellektuellen eine Klasse in dem hier definierten Sinne? Wenn ja, fällt ihr Klasseninteresse mit demjenigen irgendeiner der beschriebenen Gruppen zusammen? Es ist nicht einfach, darauf eine endgültige Antwort zu geben, schon deshalb nicht, weil über den Begriff des Intellektuellen keine Einigkeit besteht. Die folgenden Ausführungen ergeben daher nur dann einen Sinn, wenn man meine Definition des Intellektuellen akzeptiert.

Ein Intellektueller ist eine Person, die mit Ideen umgeht, ihren Gehalt und vielleicht auch ihre Genese analysieren, sie kritisch bewerten und miteinander vergleichen kann. Mehr noch, diese Art von Beschäftigung übt eine starke Anziehungskraft auf den Intellektuellen aus, und oft macht er daraus seinen Beruf. Deshalb ist der Intellektuelle auf Kommunikation vielfältiger Art eingestellt. Seine Neugier reicht über die Gegenstände in seiner unmittelbaren Umgebung und über seinen eigenen geschichtlichen Ort hinaus in Vergangenheit und Zukunft. Kurz gesagt, den Intellektuellen verlangt es nach ideenbildender Erfahrung. Je nach seinem Geschmack oder Arbeitsgebiet stillt er dieses Verlangen auf typisch intellektuelle Weise, durch die Beschäftigung mit Literatur, mit den Wissenschaften, mit den Künsten usw.

Hat es nun Sinn, diese Neigungen und Bedürfnisse unter "Klasseninteresse" zusammenzufassen? Es hat Sinn – wenn dies Bedürfnis nach ideenbildender Erfahrung als kollektives Bedürfnis begriffen und wenn ein sogenannter "dialektischer Widerspruch" daraus abgeleitet werden kann. Die erste Bedingung ist erfüllt, wenn der Intellektuelle sein Bedürfnis als allgemein menschliches, nicht nur als exzentrische Vorliebe versteht. Tut er das, so ist ihm der Rückzug auf den kleinen Kreis weltfremder Gelehrter versperrt. Er bildet aus seiner Erfahrung ein sittliches Kriterium, an dem er die ihn umgebende Welt mißt. Kurz: das individuelle Bedürfnis des Intellektuellen wird ideologisches Engagement. Daraus folgt als unmittelbare Konsequenz der "dialektische Widerspruch".

Hans J. Morgenthau stellt diese Art Widerspruch im Hinblick auf eine (spezielle) Komponente im ideologischen Engagement des Intellektuellen dar. Der Intellektuelle, meint er, suche die Wahrheit, während der Politiker die Macht sucht. "Wahrheit", schreibt er, "fürchtet Macht, und Macht fürchtet Wahrheit. Macht muß, um wirkungsvoll zu sein, als etwas anderes erscheinen, als was sie wirklich ist. Täuschung – Selbstbetrug und Täuschung anderer – ist untrennbar mit Machtausübung verbunden [...]."
Umgekehrt stellt Wahrheit, indem sie die geheimen Ziele der Macht entschleiert, die bestehenden Mächte und die Mächtigen bloß; denn sie verlangt, daß die Macht sich intellektuell und moralisch legitimiere. Sie stellt die Zwecke und Prozesse der Macht in Frage und gefährdet damit das System, in dem Macht operiert.

Morgenthau beschreibt die verschiedenen Möglichkeiten der Machthaber, sich mit der Herausforderung durch die Wahrheit auseinanderzusetzen: "Sie können sie respektieren, sie mit Schweigen übergehen, sie verleumden oder verfälschen." Und weiter: "Daß die Regierung zur Verfälschung fähig ist, ist die Folge ihrer Macht, diejenigen zu belohnen, die sich verführen lassen wollen. Sie kann die Wahrheit verleumden, weil die Macht ihr Autorität verleiht, und weil sie Einfluß auf die Massenkommunikationsmittel nehmen kann. Sie hat die Möglichkeit, die Wahrheit totzuschweigen, weil sie die Macht besitzt, sie zu verfälschen – und Schweigen ist eine Art passiver Verfälschung – und schließlich, weil sie Polizei und Strafgesetze in totalitärer Weise gebrauchen kann." – Angesichts der Beziehungen, die heute zwischen der amerikanischen Regierung und den Intellektuellen bestehen, gelangt Morgenthau zu zwei Schlußfolgerungen: "Die Regierung hat den Versuch der Verleumdung, des Totschweigens und der Verfälschung gemacht, und mit Hilfe der Intellektuellen selbst ist ihr das auch weitgehend gelungen."

Meiner Meinung nach kann Morgenthau die erste These ohne große Mühe beweisen; der zweiten kann ich nicht ganz folgen, hauptsächlich deshalb, weil mein Begriff des Intellektuellen enger gefaßt ist als der seinige. Obwohl Morgenthau den "Intellektuellen" nicht ausdrücklich definiert, scheint es, als seien für ihn "intellektuell" und "akademisch" austauschbare Begriffe. Nach meiner Definition ist lediglich ein Bruchteil der Akademiker den Intellektuellen zuzurechnen. Vor allem schließt meine Definition viele hochqualifizierte Spezialisten von der Klasse der Intellektuellen aus, sofern sie bei ihrer Arbeit nur auf gestellte Aufgaben reagieren. Mit anderen Worten: der Mathematiker, auch wenn er zur Lösung seiner Probleme höchst präziser intellektueller Einsichten bedarf; der Musiker, auch wenn äußerste Sensibilität die Voraussetzung seiner Arbeit ist; der Schriftsteller, auch wenn er zur Ausübung seines Handwerks ein tiefes Verständnis für die Motive menschlichen Handelns braucht – sie alle sind damit noch keine Intellektuellen, sofern sie nicht auch darauf ausgehen, die Natur der mathematischen, musikalischen oder psychologischen Einsichten zu erforschen, sie in ihrer geschichtlichen Bedeutung zu erkennen, sie zu anderen Formen menschlicher Erfahrung in Beziehung zu setzen usw. Wenn man diese Unterscheidung zwischen Sachverstand und Engagement akzeptiert, dann verliert die Anklage des Verrats, die zuerst Julien Benda vorgebracht und die Morgenthau nun gegen die von der Johnson-Regierung korrumpierten Akademiker und wissenschaftlichen Mitarbeiter gerichtet hat, einiges von ihrer Schärfe. Denn die Rede vom Verrat setzt voraus, daß zuvor Loyalität bestanden hat. Die meisten Sachverständigen, die heute der Regierung Johnson als Wissenschaftler, Strategen oder Propagandisten dienen, fühlten sich dem, was ich als das Engagement des Intellektuellen bezeichnet habe, niemals verpflichtet. Daher haben sie auch nichts und niemanden verraten. Sie haben ganz einfach ihre Nische gefunden, eine Gelegenheit, ihren Sachverstand anzuwenden.

Es stimmt, wie Morgenthau darlegt, daß Machtausübung die Verfälschung der Wahrheit notwendig macht. Aber die Sachverständigen brauchen sich nicht mit der Wahrheit als Ganzem, sondern nur mit partiellen Wahrheiten zu befassen (außer sie hätten teil an dem von mir beschriebenen ideologischen Engagement der Intellektuellen). Sie brauchen sich nicht mit ethischen, sondern nur mit technischen Fragen zu befassen. Um Tom Lehrer zu zitieren:

"Once rockets are up, who cares they come down?"
"That‘s not my department", says Wernher von Braun.

Was für den Physiker gilt, der Raketenflugbahnen berechnet, oder für den Biologen, der neue, gegen Antibiotika resistente Krankheitserreger für die biologische Kriegführung züchtet, gilt ebenso für den Psychologen, der neue Methoden erforscht, wie man Soldaten gegen Schuldgefühle immun machen kann, für den Soziologen, der Techniken zur Manipulation der öffentlichen Meinung entwickelt, für den Anthropologen, der Gutachten zu geopolitischen Zwecken über die "Behandlung" fremder Völker abgibt, oder für den Politologen, der "Realpolitik" mit Realismus gleichsetzt.

Keiner dieser Spezialisten hat es nötig, die – wissenschaftliche – Wahrheit auf seinem Fachgebiet zu verdrehen; den Interessen der Macht zu dienen bedarf es nur der Mißachtung von Wahrheit oder Werten außerhalb des eignen Arbeitsfeldes. Der Fachmann für zivile Verteidigung braucht nicht unbedingt Gegebenheiten zu fälschen, wenn er den Schluß zieht, daß, im Anschluß an einen Atomangriff einer bestimmten Größenordnung, durch ein bestimmtes Programm so und so viele Millionen Menschenleben zu so und so viel Dollar pro Leben für so und so viele Wochen gerettet werden können. Er muß jedoch, wenn er dieses Programm befürwortet, eine Menge Fragen außer acht lassen, die nicht unmittelbar das spezifische Problem betreffen, das es zu lösen gilt. Zum Beispiel wird die Frage, was nach dem Atomangriff aus der "geretteten" Bevölkerung wird, nicht durch die Spezifizierung des Potentials an explosions- und feuersicheren Bunkern beantwortet. In einem weiteren Sinne ist diese Frage jedoch von höchster Bedeutung für das gesamte Problem. Denn der dialektische Widerspruch zwischen dem ideologischen Engagement des Intellektuellen und der Dynamik der Macht manifestiert sich mit voller, erschreckender Deutlichkeit erst dann, wenn der Intellektuelle seine Verpflichtung zur Wahrheit als unteilbar versteht, mehr noch, wenn sie sich auf andere Werte als tatsächlich nachweisbare Wahrheiten erstreckt. In diesem Zusammenhang enthüllt sich mit den Klasseninteressen der Intellektuellen zugleich auch die Bedrohung, gegen die sie zu Felde ziehen sollten.

Am unverblümtesten werden die amerikanischen Intellektuellen zweifellos von der extremen Rechten bedroht. Die Feindseligkeit der Ultrakonservativen gegenüber den Intellektuellen ist zu offensichtlich, als daß man sie hier näher beschreiben müßte. Der Charakter dieser Bedrohung ist in den Haßkampagnen gegen die "Eierköpfe" während der Wahlkämpfe, in der Belästigung durch Untersuchungsausschüsse, in der "Säuberung" von Büchereien durch "patriotische" Gruppen usw. klar genug zu Tage getreten; besonders deutlich aber wurde sie durch die Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit in Ländern, in denen die extreme Rechte die alleinige politische Macht erobert hat.
Auch vom Mainstream her drohen dem engagierten Intellektuellen Gefahren, aber sie werden gern verniedlicht. Intellektuelle, die sich dem Mainstream verschrieben haben, bestreiten entweder – wie Hayakawa – daß es in den Vereinigten Staaten eine starke Machtkonzentration gibt, oder sie behaupten (wie diejenigen, welche die heutige Außenpolitik unterstützen), daß die ungeheure wirtschaftliche und militärische Macht der Vereinigten Staaten gegenüber den anderen Staaten der Welt zum Besten der Menschheit genutzt werden kann, zum Beispiel bei der Aufgabe, die Entwicklungsländer auf den Weg eines ordentlichen Fortschritts zu führen und sie dem Totalitarismus zu entreißen.

Diejenigen Intellektuellen, die Anhänger der Neuen Linken sind, behaupten, in den Vereinigten Staaten sei die Konsolidierung der Macht eine Realität, mindestens was ihre Stellung zur restlichen Welt angehe. Den Vertretern der Neuen Linken erscheint diese "restliche Welt" als Vielzahl von Männern, Frauen und Kindern, nicht als vielfarbige geopolitische Landkarte. Diesen Menschen fehlt es zum größten Teil am Nötigsten, und ihnen ist die elementare Menschenwürde versagt. In den letzten Jahrzehnten sind sie sich ihrer Befürfnisse mehr und mehr bewußt geworden, sie haben erkannt, was deren Befriedigung entgegensteht, so zum Beispiel die von Machteliten geschaffenen, überholten gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse, Überbleibsel aus der Zeit, als die europäischen Eroberer ihre Herrschaft über die "Eingeborenen" errichteten. Da und dort haben arme Völker versucht, diese Machtherrschaft abzuschütteln. Bei verschiedenen solchen Gelegenheiten haben die Vereinigten Staaten zugunsten der alten Regimes interveniert. So haben sie einen Putsch gegen die vom Volk gewählte Regierung des Iran inszeniert, in dessen Folge der Schah als praktisch absoluter Herrscher wieder eingesetzt wurde. Sie haben gegen die vom Volk gewählte Regierung von Guatemala einen Putsch inszeniert, dessen Resultat war, daß die alte Herrenschicht wieder ans Ruder gebracht wurde und Amerika seine kommerziellen Interessen durch die wirtschaftliche Kontrolle über das Land sicherte. Die Regierung der Vereinigten Staaten hat einen bewaffneten, von ihr ausgerüsteten und geleiteten Angriff gegen Cuba initiiert; sie hat sich zum Ziel gesetzt, die Wirtschaft dieses Landes zu ersticken. Bewaffnete Streitkräfte der Vereinigten Staaten besetzten die Dominikanische Republik, als sich dort eine ihnen nicht genehme politische Veränderung ankündigte. Nach Beendigung des chinesischen Bürgerkrieges durch den Sieg der Aufständischen besetzten bewaffnete Streitkräfte der Vereinigten Staaten Teile chinesischen Territoriums, und die amerikanische Regierung erklärte die vordem herrschende Klasse zur einzigen legitimen Regierung ganz Chinas. Bald nachdem die Franzosen die neu errichtete vietnamesische Republik angegriffen hatten, unterstützten die Vereinigten Staaten Frankreich durch Finanzierung von etwa drei Vierteln der französischen Kriegskosten. Als die Franzosen besiegt waren, intervenierten die Vereinigten Staaten in dem sich anschließenden Bürgerkrieg mit stetig zunehmender Streitmacht und sind nun in einen regelrechten Krieg verwickelt, der von den meisten Völkern der Welt als der Krieg einer ungeheuer arroganten Weltmacht, die einem kleinen Land ihren Willen aufzwingen will, angesehen wird.

All diese Handlungen erscheinen, wenn man sie an den Maßstäben des Völkerrechts und der bestehenden vertraglichen Verpflichtungen betrachtet, als Aggressionen, als willkürlicher Gebrauch von Macht mit dem Ziel der Ausweitung oder Befestigung eben dieser Macht. Vor der Weltöffentlichkeit bezeichnen die Vereinigten Staaten diese Aktionen jedoch als Akte des Widerstands gegen Aggression. Die Berechtigung dieser Deutung beruht auf den folgenden drei Axiomen:

1.   Jegliche Ausbreitung des Kommunismus in jedem beliebigen Winkel der Erde bedeutet Aggression.

2.   Jede politische Veränderung, ob friedlich oder durch Gewalt, stellt, wenn sie wirklich oder wahrscheinlich von Kommunisten unterstützt wird, eine Ausweitung des Kommunismus dar.

3.   Die USA sind der alleinige Richter darüber, ob eine politische Veränderung kommunistisch inspiriert, kommunistisch unterstützt oder kommunistisch gesteuert ist.

Kurz, die Vereinigten Staaten beanspruchen das Vorrecht, jede politische Veränderung als ein Beispiel kommunistischer Aggression deklarieren zu dürfen, und überdies das Recht der Intervention mit den Mitteln, die sie für richtig und notwendig halten, um die Veränderung zu verhindern oder wieder rückgängig zu machen.

Es ist dieses unverblümte Bekenntnis der amerikanischen Führer zu ihrem unumschränkten Recht, durch den Gebrauch von Macht ihren Willen der Weltpolitik aufzuzwingen, das die Neue Linke als Symptom der Zusammenballung erbarmungsloser Macht versteht. Angesichts dieser Verhältnisse scheint die Theorie der beschränkten Gewaltanwendung, der Bereitschaft zum Kompromiß und dem daraus resultierenden Ausgleich vielfältiger Interessen bedeutungslos. Der Neuen Linken ist nicht daran gelegen, durch Pression minutiöse Veränderungen im taktischen Raum des Kalten Krieges zu erreichen. Sie will vielmehr einen Wandel der Perspektive, also der Ideologie durchsetzen; den Amerikanern soll klar werden, daß die Nutzlosigkeit, die Härte und die Grausamkeit der gegenwärtigen Politik nicht nur das Ergebnis vielfachen Irrtums, sondern Symptom einer Erkrankung der Gesellschaft ist und die Quittung für einen praktisch unbeschränkten Gebrauch der Macht mit keinem anderen Ziel als dem, sie zu behalten.

Viele, wenn nicht sogar die meisten Intellektuellen, die heute die Neue Linke unterstützen, tun dies nicht etwa deswegen, weil sie hoffen, damit ihre moralische Integrität zu bewahren (wie Hayakawa meint), sondern weil sie erkannt haben, wessen die Verwalter der Macht fähig sind. Sie sehen die Machthaber fest entschlossen, diejenigen, die das Streben nach Macht um der Macht willen ablehnen (das einzige Ziel der gegenwärtigen amerikanischen Außenpolitik, das ohne Ausflüchte, Lügen, Verdrehungen oder leeres Geschwätz vorgezeigt werden kann), zu korrumpieren, anzuschwärzen oder mundtot zu machen.

Diese Überzeugung der Neuen Linken rührt von der Erfahrung vielfältiger, tiefer Enttäuschungen her. Die Mitglieder der jetzigen amerikanischen Regierung und ihre Ratgeber haben sich jedem Versuch, einen Wandel der Perspektive herbeizuführen, unzugänglich gezeigt. Vernünftige Argumente und durchdachte, an Tatsachen erhärtete Analysen sind mit Hohn und Erbitterung beantwortet und mit demagogischen Invektiven abgewiesen worden. Ein Siebungsprozeß hat dazu geführt, daß die Regierung sich bald ausschließlich von Ratgebern umgeben sah, deren strenge Richtlinie Distanz zum Kommunismus war. Das Unglück, in einen sich unabsehbar ausweitenden Krieg immer mehr verstrickt zu werden, hatte nur die Verschärfung der Vorurteile zur Folge; denn mit jedem Fehlschlag wird das Eingeständnis des Irrtums kostspieliger; die Kosten der fortgesetzten Eskalation aber werden nicht in die logistischen Kalkulationen einbezogen. Von einem Regierungssprecher zu erfahren, bei welcher Kostenhöhe die Eskalation verboten werden sollte, ist absolut unmöglich. Amerika hat sich festgefahren.

Der Krieg in Vietnam war, so meine ich, der wichtigste Faktor für die Entwicklung der Neuen Linken. Es ist kein Zufall, daß sie als das politische Forum der Intellektuellen gilt, denn diese sind in den Vereinigten Staaten die einzige Gruppe, die sich ernsthaft mit Fragen der Ideologie beschäftigt; und die Bedeutung des sich durch diesen Krieg ankündigenden Unheils kann man ganz nur durch eine Analyse der Ideologien begreifen. Der Krieg in Vietnam enthüllt die innere Logik des Strebens nach Macht zum Zwecke ihrer Konsolidierung. Der Entschluß der Vereinigten Staaten zu dieser Politik war eine direkte Folge der Vorherrschaft der Mainstream-Ideologie. Wie die Ideologie der extremen Rechten hält auch sie an der Grundannahme fest, daß der Kampf zwischen (kommunistischer) Diktatur und (westlicher) Demokratie eine unsere Zeit bestimmende Grundgegebenheit sei. Der Unterschied zwischen der extremen Rechten und dem Mainstream ist in diesem Punkte nur ein taktischer: die erstere befürwortet die Eroberung der Erde, die letztere die Eroberung der Köpfe. Allerdings gibt es auch im Mainstream viele Gegner des Vietnamkrieges. Einige von ihnen sagen, dies sei "der falsche Krieg am falschen Ort"; andere wieder schlagen Mittel und Wege zur Lösung der Vereinigten Staaten aus dieser erfolglosen Konfrontation vor, um den Kampf gegen den Kommunismus an anderer Stelle zu führen. Dies sind jedoch taktische Differenzen auf der Basis geopolitischen Denkens. Die Intellektuellen der Neuen Linken indes greifen diese Basis selbst an und damit die Machtelite, die die Mehrheit der Amerikaner gezwungen hat, auf dieser Basis zu denken. Für die Neue Linke ist die Machtelite eine Realität, mit der sie schon auf der Ebene der Ideologie aneinandergeraten ist, genau dort, wo sie ihre Vorherrschaft geltend macht. Für die Mainstream-Liberalen dagegen ist die Machtelite keine Realität, weil sie mit ihr auf dieser Ebene noch nicht zusammengestoßen sind. (C. Wright Mills schrieb einst, der einzig sichere Weg, sich von der Realität der Machtelite zu überzeugen, bestehe darin, sie zu provozieren.)

Meiner Ansicht nach repräsentiert die Neue Linke das Klasseninteresse des Intellektuellen. Seinem Klasseninteresse ist Genüge getan, wenn die Lebensform seiner Mitwelt sich in Übereinstimmung mit seinem ideologischen Engagement befindet. Das kann aber nur in einer Gesellschaft der Fall sein, die für eine tiefgreifende Kritik aller Ideen, einschließlich der Kritik an überkommenen nationalen Zielen und Ideologien, empfänglich ist, genauer: in einem gesellschaftlichen Klima, in welchem der Wandel der Anschauungen mit dem unerhört beschleunigten technischen Veränderungsprozeß Schritt hält. Der Mainstream spricht diesen Gedanken zwar häufig aus, er hat aber bis heute noch keine solche Veränderung bewirkt, jedenfalls nicht während der 20 Jahre des Kalten Krieges, in deren Verlauf der New Deal zum Fair Deal wurde und dann (nach acht Jahren der Lethargie) zum New Frontier und dann zur Great Society. Der Mainstream denkt noch immer, es gelte, jeden Amerikaner, vielleicht sogar jedes menschliche Wesen, für die vermutlich allgemein ersehnte Mitgliedschaft in der Mittelklasse zu qualifizieren.

Der Intellektuelle kann sich mit diesem Begriff des Fortschritts nicht zufriedengeben, jedoch nicht deswegen, weil er sich über die Werte der Mittelklasse mokierte – es steht ihm nicht zu, sich zum Schiedsrichter über Stil und Geschmack aufzuwerfen –, sondern weil der Fortschrittsbegriff des Mainstream das weit bedrückendere Problem verdunkelt, daß die Vereinigten Staaten eine Rolle zu spielen auf sich genommen haben, welche unterschiedslos alle Völker, die sie jemals gespielt haben, unausweichlich ins Verderben gestürzt hat. Es geht nicht einfach darum, daß die außenpolitischen Entscheidungen den innenpolitischen vorangestellt werden müßten; es käme vielmehr darauf an, einen Weg zu finden, um beide in der rechten Weise zu verknüpfen. Ich mißgönne den Kindern in Kalifornien mitnichten bessere Schulen und Spielplätze, noch den Einwohnern von Watts bessere städtische Transportmittel. Aber es kann etwas nicht stimmen, wenn man diese Fragen zu politischen Angelegenheiten erhebt, während zur gleichen Zeit eine Politik beschönigt wird, die sich darin konkretisiert, daß Napalm und weißer Phosphor auf vietnamesische Kinder herabgeschüttet und Ernten zerstört werden, um die Bevölkerung dieses Landes zur Unterwerfung unter eine von fremder Macht eingesetzte und gestützte Regierung zu zwingen.

Im Lichte dessen, was wir den Menschen jenseits unserer Grenzen angetan haben, weiterhin antun und drohen, ihnen noch anzutun, erscheinen unsere Bemühungen um mehr Arbeitsplätze, mehr Bequemlichkeit, mehr von allem für die Menschen in unserem Lande, hartherzig, aber nicht human. Phrasen wie "Weckt das Gewissen des Volkes!" klingen abgedroschen; wenn aber die klischeescheuen Intellektuellen diese Idee aufgriffen, wäre etwas zur Lösung des Problems getan. Aus diesem Grunde stehen die Intellektuellen zum ersten Mal seit der Befreiung der Intelligenz aus den Fesseln der Kirche im Bündnis mit Denkern, die in unseren Tagen die Bedeutung der religiösen Erfahrung neu geprüft haben. Vielleicht hat ein Wissenschaftler wie Linus Pauling mit einem Theologen wie Martin Buber mehr gemein als mit einem wissenschaftlichen Kollegen wie Edward Teller.

Zusammenfassend kann man sagen, daß der Intellektuelle ein Klasseninteresse hat, wenn wir ihn nicht bloß nach seinem beruflichen Aufgabengebiet und seinem Sachverstand, sondern nach seiner Verpflichtung gegenüber intellektuellen Werten bestimmen; einer von ihnen ist besonders wichtig: nämlich das Leben, das man führt, kritisch zu überdenken. In den Vereinigten Staaten hat diese Verpflichtung zu einem Zusammenstoß zwischen Intellektuellen und Machtelite geführt. Wir können weder die unmittelbaren noch die späteren Ergebnisse dieses Zusammenstoßes abschätzen. Vor allem wissen wir nicht, ob die praktische Ausschließung (oder die Zurückhaltung) der engagierten Intellektuellen vom öffentlichen und von einem großen Teil des Berufslebens in den USA ein politisches Handicap oder, paradoxerweise, ein Vorteil ist. Als positiv zu veranschlagen ist die Herausbildung eines "Gruppenbewußtseins der Intellektuellen", das, wie es scheint, durch die Konzentrierung der amerikanischen Intellektuellen in den Universitäten befördert wurde. Diesem Umstand ist es auch zu verdanken, daß die Jugend heute die Anpassung an die gegebene Gesellschaftsstruktur und die Parolen der Machtelite verweigert. Keine Machtelite kann einen derartigen Vertrauensschwund überleben.

Wir wissen nicht, in welchem Ausmaß sich das politische Erwachen der Intellektuellen auswirken wird, noch kennen wir die daraus entstehenden Bündnisse und deren Folgen für die allgemeine Politik. Es sieht jedoch so aus, als ob sich ein Klassenkampf ganz neuer Art abzeichne.

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