Auszüge aus Frank Böckelmann & Hersch Fischler
"Bertelsmann"

Hinter der Fassade des Medienimperiums

zurück zur Seite über Marktwirtschaft

Vorwort

Bertelsmanns Fassade blendet und beschwichtigt. Wer mit Bertelsmann zu tun hat, sieht zunächst ein großes Aushängeschild mit einer Achtung gebietenden ethischen Selbstverpflichtung: Einer der größten Medienkonzerne der Welt ordnet das Geschäft dem Gemeinwohl unter. Seit seiner Gründung im Jahr 1835 legitimiert sich das Unternehmen durch den selbst erteilten höheren Auftrag. Dieser wurde zunächst rein religiös, dann sehr weltlich ausgelegt. Im 19. Jahrhundert verrichtete der protestantische Verlag Gottes Werk, indem er Erbauungsliteratur für die Gläubigen druckte. Im 20. Jahrhundert bescherte er dem Volk die Volksausgabe, den Wehrmachtssoldaten die Frontliteratur und den Lesering-Mitgliedern die Allgemeinbildung. In der Gegenwart überzieht man von Gütersloh aus die Medienlandschaft mit einem Rundum-Freizeitangebot an seichter Unterhaltung, spannt ein weltweites Netz von Fusionen und Beteiligungen und präsentiert sich nebenbei über die Bertelsmann Stiftung als Geld- und Ideengeber in allen kulturellen und sozialen Belangen.

Zu den Jubiläen wird der steile Aufstieg als Konsequenz verdienstvoller Arbeit gefeiert. Bertelsmann scheint ein schier unmögliches Kunststück zu vollbringen. Man gibt vor, nicht durch unternehmerische Strategie oder gar dubiose Geschäfte, sondern durch den Vorsatz, Gutes zu tun, in die Spitze der Weltkonzerne aufgestiegen zu sein. Doch der Schein trügt. Hinter dieser Abschirmung bevorzugt die Gütersloher Unternehmensleitung ethikferne und rabiate Methoden. Nur: Weil man sich rühmt, einen "Leistungsbeitrag für die Gesellschaft" zu erbringen, wird das kaum wahrgenommen. Bis heute vertraut die Öffentlichkeit nahezu blindlings der Selbstdarstellung des Konzerns. Gutmenschentum und die Produktion massenattraktiver Angebote sind zur Gesamtmarke Bertelsmann verschmolzen, die vage an humane Unternehmenskultur und soziale Anliegen erinnert. Von allen großen deutschen Parteien hofiert, hat sich Bertelsmann auf diese Weise der Kritik weitgehend entzogen.

Darüber hinaus dient die Bertelsmann AG selbst als Fassade – für die hauseigene Stiftung. Die Aktiengesellschaft repräsentiert die Sphäre von Profit, Macht und Einfluß, von der sich die Bertelsmann Stiftung als unabhängige und gemeinnützige Denkfabrik vorteilhaft abhebt. So läßt der Konzern vergessen, daß die Stiftung einen immensen politischen Einfluß ausübt und dabei stets den Profit des Unternehmens im Auge behält, aus dem sie hervorgegangen ist. Sie ebnet dem Medienimperium die Bahn für aktuelle Vorhaben, sorgt für die notwendigen Kontakte und vermag es, bei schwierigen Entscheidungsprozessen in den passenden Momenten nachzuhelfen. Über die Stiftung wirkt der Konzern in Deutschland und Europa auf undurchsichtige Weise an fast allen bedeutsamen sozial- und bildungspolitischen Reformen und sicherheitspolitischen Entscheidungen mit. Diese doppelte Fassade reizte uns, Bertelsmanns Geschichte und gegenwärtige Verfassung eingehend zu untersuchen.

Gegen Kritik gefeit ist man in Gütersloh allerdings nicht, oder besser gesagt: nicht mehr. Nach der Ablösung des Vorstandsvorsitzenden Thomas Middelhoff durch Gunter Thielen im Sommer 2002 wurde festgeschrieben, daß Bertelsmann auch künftig zu bleiben hat, was es immer gewesen ist: ein Familienbetrieb. Seitdem läßt die deutsche Presse den gewohnten Respekt vor der Familie Mohn vermissen. Über Liz Mohn wird gelästert, und auch an Reinhard Mohn, dem die Zügel entgleiten, wird neuerdings herumgemäkelt.

Das Phänomen Bertelsmann streift diese Kritik jedoch nur am Rande. Bei solchen Sticheleien spielt viel enttäuschte Liebe mit. Man hatte den Aufstieg Bertelsmanns zum mondänen Weltstar und Thomas Middelhoffs Schneid bewundert und rümpft nun die Nase über das provinzielle Führungspersonal und die Winkelzüge zur Sicherung des Familieneinflusses. Aber alle diejenigen, die den Konzernvorständen ankreiden, sie handelten den Prinzipien Reinhard Mohns zuwider, glauben vergeblich an den guten Kern von Bertelsmann. Und alle diejenigen, die die Zukunftsperspektive des Konzerns an der Person Liz Mohns festmachen, verkennen gleichfalls die wahren Zusammenhänge. So ist auch Thomas Schuler, der in seinem lesenswerten Buch über Die Mohns die Machtspiele der Familie aufgedeckt hat, die angekündigte kritische Unternehmensgeschichte schuldig geblieben.

Denn der Konzern ist ganz und gar das Produkt seiner eigenen fragwürdigen Geschichte. Bertelsmann aber hat es verstanden, bei aller Publizität – und dank dieser Publizität – eine unbekannte Größe zu bleiben. Nirgends wurden bisher die einfachsten und nächstliegenden Fragen gestellt. Wie gelang ausgerechnet dem christlichen Provinzverlag C. Bertelsmann der Aufstieg zum Weltkonzern? Was ist Bertelsmanns Erfolgsgeheimnis? Wie wirken Aktiengesellschaft und Stiftung zusammen? In welches Gesamtkonzept sind die sechs Geschäftsfelder des Konzerns eingebunden? Welche Rolle will und kann Bertelsmann in den nächsten Jahren auf den globalen Medienmärkten spielen? In diesem Buch versuchen wir, diese Fragen ohne Ehrfurcht vor der Macht in Gütersloh zu beantworten. Das ist durchaus eine Premiere.

Die Materialgrundlage entstand in jahrelanger Fleißarbeit. Die Arbeit teilten sich ein Rechercheur (Hersch Fischler) und ein Analytiker (Frank Böckelmann). Die Idee zum Buch reifte mit der Erfahrung, daß bei Bertelsmann vieles nicht stimmt, daß die Geschichte, der Geschäftsgang und die Verhältnisse in den Bertelsmann-Betrieben den Anspruch, Vorbild für Staat und Gesellschaft zu sein, in keiner Weise rechtfertigen. Ein erfahrener Journalist formulierte es so: "Bei Bertelsmann ist alles gelogen." Der eine von uns (Fischler) erlebte 1998, wie unduldsam der Konzern reagiert, wenn man an seiner Traditionsfassade kratzt. Der andere (Böckelmann) registrierte bei seiner Tätigkeit als Medienwissenschaftler oftmals, daß bei Bertelsmann Methoden an der Tagesordnung sind, die man anderen Medienunternehmen, etwa der Kirch-Gruppe, als Lobbyismus, Verdrängungswettbewerb, unstete Bündnispolitik oder Unersättlichkeit übel ankreidete. Bei Bertelsmann hingegen werden sie ignoriert oder wohlwollend hingenommen. Unsere Absicht war es deshalb, die Bertelsmann-Praxis nüchtern und ohne den üblichen Vertrauensvorschuß in Augenschein zu nehmen. Die vorliegenden Berichte neu und gründlich auszuwerten – das hätte bereits genügt, um die Selbstdarstellung des Konzerns gegen den Strich zu bürsten. Beim Sammeln, Zuordnen und Recherchieren jedoch stießen wir immer wieder auf Unbekanntes, Verdrängtes und Verstecktes.

Überrascht wurden wir von einer Kontinuität im Hause Bertelsmann, die sich in der hartnäckigen Wiederkehr bestimmter Strategien, Kunstgriffe und Begriffe äußert. Stets spricht man von einer "Arbeitsgemeinschaft" im Betrieb. Stets leugnet man, ein Unternehmen zu sein, das einfach nur gute Geschäfte machen will. Stets pocht man darauf, eine Unternehmenskultur zu haben. In Gütersloh versucht man mit allen Mitteln, nicht als ein Konzern wie jeder andere zu erscheinen. Selbstverleugnung in vielen Varianten ist eine bewährte Bertelsmann-Methode. In dieser ethischen Selbstüberhöhung wurzelt dann auch das gegenwärtige Hauptproblem des Konzerns: Er weiß nicht, was er auf den Weltmärkten will. Bei allem Streben nach Expansion ist bei Bertelsmann keine klare Linie, kein Konzept zu erkennen. Der Raum, in dem andere Medienkonzerne ihre tragende Geschäftsidee entwickeln, ist in Gütersloh von inhaltsleeren ethischen Prinzipien besetzt.

Wie erforscht man einen solchen Apparat der Selbstverklärung? Wir erhofften uns nicht den geringsten Erkenntnisgewinn von einer Wiederholung der sattsam bekannten Aussagen über "Leistungsbeitrag" und "Unternehmenskultur". Daher bemühten wir uns nicht um Interviews mit den Repräsentanten der Bertelsmann-Fassade, Reinhard Mohn, Liz Mohn und Gunter Thielen. (Zumal Gespräche, die Hersch Fischler im November 2002 in Gütersloh mit Thielen und den Leitern der Unternehmenskommunikation, Tim Arnold und Bernd Bauer, über die Reaktion des Unternehmens auf seine Recherchen in den Neunzigerjahren geführt hatte, ohne Aussicht auf Verständigung beendet worden waren.) Wir versuchten auch nicht, Kontakt zu anderen Angehörigen der Familie Mohn aufzunehmen.

Bis zur Fertigstellung des Buches im Juni 2004 befragten wir etwa 70 Experten zu verschiedenen Aspekten der Entwicklung und gegenwärtigen Situation des Unternehmens und der Stiftung. Unter ihnen befanden sich (ehemalige) Mitarbeiter der Gütersloher Konzern- und Stiftungszentralen sowie einzelner Firmen des Konzerns in leitender und nachgeordneter Stellung, ferner Journalisten, Reporter und Autoren aus den Bereichen der Tages- und Wochenzeitungen, der Wirtschaftsfachpresse und des Fernsehens in Deutschland und den Vereinigten Staaten sowie Arbeitnehmervertreter, Verleger und Literaturagenten. Die meisten dieser Experten machten ihre Gesprächsbereitschaft von der Zusicherung uneingeschränkter Vertraulichkeit abhängig. Offensichtlich befürchteten sie für den Fall, daß ihre Kontakte zu uns bekannt werden würden, gewisse Nachteile bei der Fortführung ihrer gegenwärtigen Tätigkeit beziehungsweise auf ihrem künftigen Lebensweg. Es ist offenbar riskant, als (ehemaliger) Konzernmitarbeiter oder Journalist im Verdacht zu stehen, unabgesprochen über Vorgänge bei Bertelsmann informiert oder diese bewertet zu haben, und das auch noch gegenüber Autoren, die nicht in die weit greifende Bertelsmann-Kommunikation eingebunden sind. Manche Gespräche wurden auf geradezu konspirative Weise angebahnt. Wir sicherten den meisten Gesprächspartnern auf deren Wunsch hin zu, weder ihre Namen zu nennen noch auf ihre Identität anzuspielen. Auf die Darstellung bestimmter Sachverhalte mußten wir daher verzichten, weil daraus möglicherweise auf den betreffenden Informanten hätte geschlossen werden können.

Die Diagnosen der Befragten gingen nur dann in die Darstellung ein, wenn sie nach Abgleich mit zuverlässigen Informationen aus anderer Quelle plausibel erschienen. Bewertungen, die unter Ranküneverdacht standen, wurden nicht berücksichtigt. Auch so genannte schmutzige Wäsche, Hinweise auf Amouren und persönliche Zerwürfnisse der Gütersloher Akteure, fand keine Verwendung.

Den größten Teil des Informationsmaterials sammelten wir in Archiven sowie bei der Auswertung der Fachliteratur und der Berichterstattung in der Tages-, Wochen- und Fachpresse. Wir recherchierten unter anderem

  • im Bertelsmann Archiv,
  • im Dortmunder Institut für Zeitungsforschung,
  • im Stadtarchiv Gütersloh,
  • im Archiv der amerikanischen Wertpapier- und Börsenaufsichtsbehörde SEC,
  • im Financial Times World Press Archive und
  • in der Faktiva Datenbank.

Bei Erkundungsreisen in den Vereinigten Staaten tauschten wir Informationen mit Experten in Behörden, Forschungsinstituten und Presseredaktionen aus, unter anderem bei der Washington Post und der New York Times.

Nach unserer Beobachtung befinden sich viele Wirtschafts- und Medienjournalisten, Medienexperten und Politiker gegenüber dem Phänomen Bertelsmann in einem Haltungskonflikt. Aber sie leben mit diesem Konflikt seit zehn oder zwanzig Jahren. Auf ihm liegt schon die Patina der Resignation. Respekt vor Bertelsmanns Größe und Interesse an weiterhin guten Direktkontakten nach Gütersloh mischen sich mit Unbehagen über die aufgesetzte Firmenethik und mit Besorgnis über einen Staat im Staate, dessen Einflußgrenzen nicht erkennbar sind. Für diese widerstreitenden Empfindungen fehlen den Bertelsmann-Kennern meist die Worte. Die häufig gebrauchte Wendung von der "unkontrollierten Macht" besagt nicht viel. Denn viele Mächte, von denen angenommen wird, sie seien demokratisch kontrolliert, haben die Mechanismen der Kontrolle längst ihrer eigenen Selbsterhaltung dienstbar gemacht. Die Forderung nach (mehr) Kontrolle ist zur Phrase geworden.

Man muß im Fall Bertelsmann vielmehr von einer gefährlichen Selbstüberschätzung sprechen – gefährlich, weil sie auf den schablonenhaften, in der betrieblichen Praxis gerade nicht erprobten Lehren Reinhard Mohns beruht. Die Gütersloher Symbiose von Marktbeherrschung und flächendeckender Politikberatung verstärkt die Tendenz zur Privatisierung der Politik. Konzeptionslose Politiker suchen Rat und Unterstützung in einer Denkwerkstatt, die mal diese, mal jene Ausdeutung der Mohn’schen "Führungsphilosophie" als Lösung für die Probleme von Politik, Verwaltung und Gesellschaft empfiehlt. In den Gremien der europäischen Wirtschafts-, Sozial-, Bildungs- und Sicherheitspolitik geht ohne die Experten von Bertelsmann nichts mehr. Hier entscheiden Elite-Netzwerke aus Parteien und Konzernen darüber, welche Probleme vordringlich und welche Lösungen akzeptabel sind. Die Repräsentanten des staatlich protegierten Bertelsmann-Konzerns sind als Akteure der Wirtschaft dabei. Zugleich beraten sie in ihrer Eigenschaft als Sachverständige mit über die Rahmenbedingungen ihrer eigenen Geschäftstätigkeit.

Um es klar zu sagen: Wir polemisieren nicht gegen die Privatisierung der Politik schlechthin. Das ist ein Thema mit vielen Etagen, Zugängen und Ausgängen. Aber keinesfalls möchten wir von Bertelsmann regiert werden. Wenn Sie dieses Buch lesen, wissen Sie, warum.

Wir danken unseren Gesprächspartnern für wertvolle, unverzichtbare Einschätzungen und Informationen, umso mehr, als sie vielfach in Zeitnot und/oder als Informanten in schwieriger Lage waren. Wir werden ihr Vertrauen nicht enttäuschen. Carmen Kölz, unserer Lektorin beim Eichborn Verlag, danken wir für die energische Gesamtleitung des Projekts, schonungslose Kritik und Zuspruch auf Durststrecken. In großer Dankesschuld stehen wir bei Barbara Werner, die das Buch redigierte. Sie machte undurchdringliche Textwälder zugänglich, rodete an einigen Stellen großflächig und forstete mit eigener Hand wieder auf. Sie ist die dritte Autorin des Buches.

Der Fall Thomas Middelhoff (Was hinter den Kulissen geschah)

"Thomas, es ist aus ..."

Gestern noch wurde Thomas Middelhoff auf der ersten Seite der International Herald Tribune als einer der erfolgreichsten Manager gefeiert, der beim Aufbau von Bertelsmann zum Weltkonzern nicht die Fehler von Vivendi oder AOL Time Warner begangen habe. "Die Zeit scheint auf Middelhoffs Seite zu sein", stand da. Doch heute schon ist die Zeit abgelaufen. Bertelsmann hat sich von seinem Vorstandschef Middelhoff getrennt.

Die Nachricht, die Ulrich Wickert am 28. Juli 2002 in den Tagesthemen verlas, versetzte Presse und Öffentlichkeit in Erstaunen. Niemand hatte damit gerechnet, daß der Topmanager, der während seines steilen Aufstiegs innerhalb des Gütersloher Konzerns diesen endgültig an die Weltspitze geführt und dabei das volle Vertrauen von Bertelsmann-Chef Reinhard Mohn genossen hatte, einen derart abrupten und tiefen Fall erleben würde. Thomas Middelhoff, von dem viele meinten, daß er sich in den Fußstapfen seines Förderers Mohn in den Führungsetagen fest etabliert habe, wurde innerhalb weniger Stunden aus der Konzernspitze entfernt. Wie kam es dazu?
"Thomas, es ist aus", soll Liz Mohn nach dem kürzlich erschienenen Buch von Thomas Schuler über Die Mohns gesagt haben, bevor sie am Freitag, dem 26. Juli 2002, gemeinsam mit Thomas Middelhoff zur Sitzung des Personalausschusses des Aufsichtsrates fuhr, die seinen Rücktritt zur Folge hatte. "Du, Thomas, es geht nicht mehr", seien laut manager magazin die entscheidenden Worte gewesen, und zwar am Telefon. Vorangegangen sei die Beratung im Familienkreis, bei der Frau Mohn, so Hans Leyendecker in der Süddeutschen Zeitung, "die kühle Regie" geführt habe. Ihren Mann, immerhin einen der mächtigsten Konzernlenker der Welt, habe sie, folgt man dem Bericht von Hans-Jürgen Jakobs, mit Leichtigkeit um den Finger gewickelt: "Liz Mohn handelte. Sie wolle den Abgang von Middelhoff, sagte sie ihrem Mann Reinhard. Die Antwort: "Wenn du das für richtig hältst, dann mach’ es."

Ganz gleich, welches dieser finalen Trennungsszenarien der Wahrheit am nächsten kommt, sie festigen Liz Mohns Ruf als "Killerin" und "Firmenmatriarchin", die, begabt mit starkem Machtinstinkt, in den letzten Jahren aus dem Schatten ihres Ehemannes und Firmenpatriarchen Reinhard Mohn hervorgetreten ist und nun die Führungsetage des Konzerns das Fürchten lehrt. Die Süddeutsche Zeitung kolportiert, vor Middelhoffs Entlassung habe es "qualvolle Momente mit internen Intrigen und Machtkämpfen" gegeben, in denen dieser – der einstige Kronprinz Reinhard Mohns und Shooting Star des Konzerns während des Internet-Hypes – "von einem Triumvirat umstellt" ins unternehmerische Aus manövriert worden war. Jenes "Triumvirat" bildeten der Aufsichtsratschef Gerd Schulte-Hillen, der neue erste Mann nach Middelhoff, Gunter Thielen, und Liz Mohn, der die Presse nachsagt, mit allen Mitteln nach oben zu wollen, ihren Einfluß als zweite Frau des alternden Bertelsmann-Vaters auszunutzen und sich mit Vorliebe als Strippenzieherin im Geflecht zwischen Bertelsmann-Familie, Bertelsmann Stiftung und Bertelsmann-Management zu betätigen. Aber ist das wirklich der Fall? Wird hier vielleicht nur das Klischee der weiblichen Macht hinter der Macht bemüht, um andere Vorgänge zu verdecken?

Die Pressemitteilung, die der Tagesthemen-Nachricht voranging und mit der am Sonntag, dem 28. Juli 2002, der Rücktritt von Thomas Middelhoff bekanntgegeben wurde, sagt darüber wie über mögliche andere Hintergründe nichts aus. Die Erklärung klingt nüchtern, lapidar, auf einen ganz normalen Vorgang bezogen:

Der Grund für die Trennung sind unterschiedliche Auffassungen zwischen dem Vorstandsvorsitzenden und dem Aufsichtsrat über die künftige Strategie der Bertelsmann AG sowie über die Zusammenarbeit zwischen Aufsichtsrat und Vorstand. Mit den Gesellschaftern und dem Aufsichtsrat wurde vereinbart, keine weiteren Erklärungen abzugeben. Das Ergebnis der operativen Geschäfte des Medienkonzerns ist im ersten Halbjahr 2002 (per 30. Juni) planmäßig.

Nach seinem Sturz gab Middelhoff noch drei Interviews, in den Tagesthemen, in der Neuen Westfälischen Zeitung und in der FAZ. Er bestätigte Differenzen über die künftige Strategie als Grund der Trennung und stellte sich ansonsten, so der Journalist Stefan Brams, "schützend vor seinen ehemaligen Arbeitgeber", indem er bekräftigte, daß es keine Intrigen gegeben habe. Danach zog er sich ins Schweigen zurück. Geschwiegen hat übrigens auch Reinhard Mohn. Er, der Middelhoffs Aufstieg nach Kräften gefördert und damit die Spekulationen um den Ziehsohn, der einstmals das "väterliche" Erbe verwalten werde, genährt hatte, verlor damals kein Wort: weder gegenüber der Presse noch gegenüber Middelhoff. Erst 2003 hat er in seinem Buch Die gesellschaftliche Verantwortung des Unternehmers Thomas Middelhoff – ohne ihn beim Namen zu nennen – des menschlichen Versagens bezichtigt. Aber da war die Geschichte in der Presse schon lange verpufft.

Die Zeitungen folgten wie Middelhoff der in der Bertelsmann-Pressemitteilung vorgegebenen Darstellung. Weltweit war auf den Titelseiten zu lesen, der Manager sei mit seinem Plan, den Konzern mit mehr als den bisherigen 25,1 Prozent der Aktien an die Börse zu bringen, bei Reinhard Mohn und seiner Ehefrau Liz auf heftige Ablehnung gestoßen. Mohn weigere sich, das in langer Familientradition geführte Unternehmen Börsenmoden und -spekulationen auszuliefern, und wolle weiter auf die gute, alte Bertelsmann-Unternehmenskultur setzen. Eine gute, aber langweilige Nachricht, die bei genauerer Hinsicht einige Widersprüche aufweist.

Warum sollte ausgerechnet diese Differenz zur Aufsehen erregenden Entlassung desjenigen Bertelsmann-Managers führen, der das Eigenkapital des Konzerns in vier Jahren verdreifacht hatte? Noch dazu in einer an einem Sonntag anberaumten Not-Aufsichtsratssitzung? Von den Vorstandsvorsitzenden aller großen Medienkonzerne war Middelhoff der erfolgreichste und weitsichtigste. Er war ein Sympathieträger, "locker im Ton, knallhart in der Sache", wie es im Tagesthemen-Bericht hieß: der Prototyp des aufstrebenden Konzernlenkers, der nicht mehr vom deutschen Medienkonzern, sondern vom "internationalen Medienhaus mit deutschen Wurzeln" sprach, die personifizierte Zukunft des Weltkonzerns mit annähernd 80.000 Mitarbeitern. Anfang Juli, knapp drei Wochen vor seinem Sturz, verlängerte der Aufsichtsrat seinen Vertrag als Vorstandsvorsitzender für fünf Jahre. Man wußte schließlich, was man an ihm hatte. 1995 erkannte Thomas Middelhoff den Aufstieg der Online-Medien als einer der Ersten und sorgte rechtzeitig dafür, daß Bertelsmann in das Internet-Unternehmen America Online (AOL) investierte. Genau zur richtigen Zeit stieg er auf dem Höhepunkt des Internet-Booms an der Börse mit riesigen Gewinnen wieder aus. Ein ähnlich gutes Geschäft machte er mit dem Telekommunikationsdienstleister mediaWays. Das relativ kleine Unternehmen verkaufte er für ein Vielfaches des Umsatzes an den spanischen Telefonriesen Telefonica. Thomas Middelhoffs Gespür für das richtige Timing muß Reinhard Mohn von den großen Möglichkeiten und Fähigkeiten seines Topmanagers überzeugt haben. Schon 1997 machte er ihn zum designierten Nachfolger von Mark Wössner, damit Middelhoff diesen im Herbst 1998 als Vorstandsvorsitzenden der Bertelsmann AG beerben konnte. Und Mohn, der scheinbar erklärte Gegner der Börsenfinanzierung von Unternehmen, betonte 1999, als die Internet-Euphorie die Anleger spendabel stimmte, plötzlich gegenüber dem manager magazin, es werde in naher Zukunft bei Bertelsmann einen "Aufmarsch" von Tochterunternehmen geben, die man an die Börse bringen wolle.

Welch ein Sinneswandel – auf den bald bei Mohns vorausschauendem Vorstandsvorsitzenden die Kehrtwende folgte. Bereits im Frühsommer 2001 räumte Middelhoff ein, das Geschäftspotential des Internets und des E-Commerce überschätzt zu haben. Was ihn allerdings nicht weiter in Schwierigkeiten brachte, denn er hatte vorgesorgt: 1998 hatte er den größten amerikanischen Buchverlagskonzern Random House erworben – und den Kauf vor allem mit Gewinnen finanziert, die er mit dem Verkauf von AOL-Aktien erzielt hatte. Außerdem hatte er im Sommer 2000 die Bertelsmann-Beteiligung an RTL an die Londoner Börse gebracht, um im folgenden Frühjahr durch Aktientausch die Anteile der beiden Milliardäre Albert Frère und Paul Desmarais und damit zugleich die Mehrheit bei RTL zu übernehmen. So war es ein Leichtes, die Investitionsschwerpunkte wieder auf die herkömmlichen Massengeschäfte des Weltkonzerns zu verlegen und neben dem Buchbereich auch den TV-Bereich über die Beteiligung an RTL weiter auszubauen.

Und Middelhoffs Pläne, weitere Bertelsmann-Aktien an der Börse zu platzieren, hätten 2002 angesichts der damaligen Börsenlage in jedem Fall noch mindestens zwei Jahre beansprucht. Außerdem bot der Manager an, bei Ablehnung dieser Börsenpläne zurückzutreten und in einer Übergangszeit von einem Jahr seinen Nachfolger einzuarbeiten. Noch am 17. Juli 2002 erläuterte Middelhoff in der Süddeutschen Zeitung die Business-Strategie für Bertelsmann. Sie sah für die nächsten Jahre keine weitere Expansion, sondern eine Konzentration auf die "old economy" und eine Anpassung an die zu erwartenden Konjunkturschwierigkeiten vor. Das entsprach dem, was Gunter Thielen nach der spektakulären Entlassung als vermeintlich neue Strategie der Nach-Middelhoff-Ära verkaufte. Das war im Sinne der Bertelsmann-Unternehmenskultur. Und trotzdem war diese angeblich nach Meinung der Mohns durch Middelhoffs Börsengeschäfte derart gefährdet, daß sie keine andere Möglichkeit mehr sahen, als ihn nur elf Tage später, am 28. Juli, sofort zu entlassen.

Warum also wird Middelhoff ausgerechnet dann wegen seiner "Börsenpläne" entlassen, als diese noch nicht aktuell sind und er einen Konsolidierungskurs wählt, der sich kaum von den Vorstellungen seines Nachfolgers unterscheidet? Warum all die Widersprüche, die Eile und die Aufregung im Sommer 2002? Warum der spektakuläre Sturz? Worum ging es wirklich?

Solche naheliegenden Fragen wurden von der Presse im Fall Middelhoff nicht gestellt, wohl aber in zwei vergleichbaren Fällen, in denen es ebenfalls um den Rücktritt respektive die Entlassung von Topmanagern an der Spitze großer Medienkonzerne ging. Im Juli 2002 stürzten Robert Pittman bei AOL Time Warner (AOL-TW) und Jean-Marie Messier bei Vivendi Universal. Doch dort, wo im Fall Bertelsmann über Firmenkultur, verlorenes Vertrauen des Firmenpatriarchen in den potentiellen Nachfolger und Ränkespiele der Unternehmersgattin spekuliert wurde, fahndete die Presse bei AOL-TW und Vivendi nach dem Versagen beider Manager nach schwerwiegenden, unschönen Gründen. Und solche Gründe fanden sich auch. Pittman wurde mit Buchhaltungsmanipulationen großen Stils in Verbindung gebracht, Messier wurden Fehlinvestitionen in Multimilliardenhöhe vorgehalten. Die plötzliche Entlassung eines Chief-Executives geschieht eben nicht ohne zwingenden Grund, denn sie schafft enorme Unruhe, Mißtrauen und Verunsicherung. Sie wird nur vorgenommen, wenn sie absolut unvermeidlich ist. Wirtschaftsjournalisten wissen das sehr genau. Warum hatten sie es im Fall Middelhoff vergessen?

Kein vergleichbares Großunternehmen kontrolliert seine Pressemitteilungen so streng wie Bertelsmann, keines wirft mit einer derartigen Vehemenz die eigenen ethisch-moralischen Prinzipien in die Waagschale, wenn es um die Rechtfertigung firmeninterner Entscheidungen geht. Und immer geschieht dies nach demselben Muster, das uns in diesem Buch noch mehrmals begegnen wird: In den Pressemitteilungen wird auf das Wohl der Firmentradition, das Bewahren der Unternehmenskultur und die persönliche Integrität des Firmenpatriarchen Reinhard Mohn verwiesen. Mithilfe der einem Mediengroßkonzern zur Verfügung stehenden Kontaktnetze werden diese Sprachregelungen dann in den Medien lanciert. Bertelsmann hat gute Beziehungen zu Nachrichtenagenturen (man ist bei praktisch allen einer der größten Kunden) sowie zu anderen Mediengroßunternehmen (mit fast allen macht man gute Geschäfte).

Hintergrundrecherchen werden von der Bertelsmann-PR, wenn möglich, blockiert oder unterlaufen – weil man über das weitverzweigte Netz die offizielle Bertelsmann-Version bereits überall lesen und hören kann, bevor die Arbeit der kritischen Journalisten sich auswirken kann. Wer trotzdem kritisch berichten möchte, erlebt mitunter wirksame Beschwerden bei Chefredakteuren, Verlegern und sogar Intendanten. Und der Konzern hat es nicht schwer, seinen Einfluß geltend zu machen.

Vor diesem Hintergrund scheint der Fall Middelhoff 2002 keine Ausnahme zu sein. Warum aber wurden überhaupt alle Register der Bertelsmann-PR gezogen, um andere als die gewünschten Erklärungen für den freiwilligen oder unfreiwilligen Rücktritt des Topmanagers gar nicht erst zuzulassen? Ging es wirklich nur um Differenzen beim Börsengang, waren es wirklich nur die vermeintlichen Intrigen einer Liz Mohn, die Thomas Middelhoff zum Rücktritt drängten? Wohl kaum. Aber worum ging es dann? Ging es vielleicht um ein unzulässiges Geschäft über 400 Millionen Dollar, das ans Tageslicht zu kommen und Middelhoffs größten geschäftlichen Erfolg, den Verkauf von Bertelsmanns AOL-Europe-Anteil für 6,75 Milliarden Dollar, zu gefährden drohte?

Der Fall AOL Time Warner: Aktionäre klagen, Börsenaufsicht und US-Justiz ermitteln

Am 18. Juli 2002 – zehn Tage vor Middelhoffs Rücktritt – erschien in der Washington Post ein Artikel von Alec Klein unter dem Titel "Unconventional Transactions Boosted Sales". Gestützt auf interne AOL-Dokumente berichtete Klein von falscher Buchhaltung und vorgetäuschten Werbeumsätzen bei America Online in den Jahren 2000 bis 2002. Der Artikel löste in den USA einen Skandal aus, obwohl das durch Fusion entstandene weltweit größte Medien- und Internet-Unternehmen AOL Time Warner alle Unregelmäßigkeiten bestritt. Zunächst wollte man überhaupt keine unstimmigen Buchungen erkennen, dann sprach man von 49 Millionen Dollar Umsatz, der eventuell zweifelhaft sei, dann gab der Präsident von AOL Time Warner, Richard D. Parsons, nach einer angeblich genauen Buchprüfung bekannt, man müsse die AOL-Werbeumsätze für den fraglichen Zeitraum rückwirkend um 190 Millionen Dollar reduzieren. Erst viel später, am 28. März 2003, war man gezwungen, im Jahresbericht öffentlich einzuräumen, daß die amerikanische Börsenaufsicht verlangt habe, für die Jahre 2001 und 2002 die Höhe der gemeldeten AOL-Umsätze aus der Online-Werbung um bis zu 400 Millionen Dollar zu reduzieren.

Was hatte das mit Bertelsmann zu tun? 1995 war der Gütersloher Konzern mit 5 Prozent bei AOL eingestiegen. Middelhoff war für Bertelsmann Mitglied des AOL Boards geworden und hatte mit AOL den Internet-Dienstleister AOL Europe als Joint Venture gegründet. Im März 2000 wurde dann eine so genannte "Restrukturierung" von AOL Europe bekanntgegeben, die sich als gigantisches Optionsgeschäft entpuppte. Von diesem profitierte man vor allem in Gütersloh. Im Januar und im Juli 2002 kaufte AOL Time Warner, wie vertraglich ausgehandelt, die Bertelsmann-Anteile an AOL Europe von 49,5 Prozent für den mittlerweile völlig überhöhten Preis von 6,75 Milliarden Dollar zurück. Im Laufe der bereits im Jahr 2001 geführten Verhandlungen zur Abwicklung der Verkaufsoption erklärte sich Bertelsmann gegenüber AOL Time Warner auf deren Verlangen bereit, für Zahlung in Cash einen Nachlaß von 400 Millionen Dollar auf den Kaufpreis zu gewähren. Dann kamen beide überein, daß AOL Time Warner den Kaufpreis von 6,75 Milliarden Dollar doch voll bezahlen und Bertelsmann den vereinbarten Preisnachlaß über Online-Werbeaufträge für 400 Millionen Dollar an Time Warner zurückführen sollte. De facto handelte es sich bei dem 400-Millionen-Dollar-Deal um einen Preisnachlaß, AOL und Bertelsmann verwandelten ihn in Online-Werbeumsätze. Die Aktionäre erfuhren davon erst im Jahr 2003. In der Bertelsmann-Führung muß man aber schon damals von dem fragwürdigen Deal gewußt haben, denn ein 400-Millionen-Dollar-Geschäft muß vom Vorstand entschieden und vom Aufsichtsrat genehmigt werden.

Brisant war der Artikel in der Washington Post zudem, weil die Fusion zwischen AOL und Time Warner anderthalb Jahre zuvor zwar vielversprechend begonnen, dann aber nahezu alle Erwartungen enttäuscht hatte. Im Januar 2000 machte AOL als größtes amerikanisches Internet-Unternehmen mit einem Börsenwert von 165 Milliarden Dollar dem weltgrößten Medienkonzern Time Warner mit einem Börsenwert von 100 Milliarden Dollar ein Übernahmeangebot. Den Aktionären versprach man den dynamischsten Medienkonzern des 21. Jahrhunderts. Daraufhin stimmten sie im Juni 2000 der Fusion zu. Im Januar 2001 wurde die Fusion von den amerikanischen Behörden genehmigt und damit offiziell vollzogen. Für eine Time-Warner-Aktie gab es anderthalb AOL-Aktien. Die AOL-Aktionäre erhielten mit 55 Prozent die Mehrheit an der neuen Gesellschaft. Deren Chairman wurde AOL-Präsident Steve Case. Doch gegen alle Erwartungen entwickelte sich AOL zum Problemfall und Kostgänger von Time Warner. Bei America Online verlangsamte sich das Wachstum der Abonnentenzahlen; die profitablen Online-Werbeumsätze, die das Multimilliardendollargeschäft der Zukunft zu werden versprachen, das Time Warner keinesfalls verpassen wollte, brachen regelrecht ein. Der Auftragsbestand in der Online-Werbung lag im Jahr 2000 noch bei 2,6 Milliarden. Im Jahr 2002 reduzierte er sich auf 0,5 Milliarden Dollar. Parallel dazu fiel die AOL-TW-Aktie von 44 Dollar am Tag des Zusammenschlusses auf 13 Dollar Mitte Juli 2002.

Da war es natürlich kein Wunder, daß die Enthüllung, AOL habe seit Mitte 2000 durch fragwürdige Geschäfte und Buchungen die Werbeumsätze nach oben manipuliert, wie ein Blitz einschlug. Laut Washington Post hielten AOL-Spitzenmanager, insbesondere Robert Pittman und Steve Case, im Herbst 2000 Informationen über Einbrüche bei den Werbeeinnahmen zurück, um den schwebenden Zusammenschluß von AOL und Time Warner nicht zu gefährden – das Management von Time Warner hätte die Fusion damals noch abblasen können. Darüber hinaus praktizierten sie bis ins Jahr 2002 hinein unzulässige Methoden, um die Aktionäre über den wahren Umsatzrückgang im Unklaren zu lassen. Die Washington Post lieferte Beispiele: Wenn AOL Werbung für andere Anbieter verkaufte, seien nicht nur die Provisionen, sondern der gesamte Umsatz verbucht worden. Und als die Dot.com-Firmen, früher die besten AOL-Werbekunden, ihre langfristigen Verträge mit AOL nicht mehr einhalten konnten, sei AOL Gegengeschäfte eingegangen: Man habe sich mit Optionsscheinen auf Aktien bezahlen lassen und deren erwarteten Wert als Umsätze verbucht.

Bereits am Tag nach der Veröffentlichung des Artikels von Alec Klein erhoben zwei Rechtsanwaltsbüros Sammelklagen gegen AOL, Robert Pittman und andere. Begründung: Sie hätten die Aktionäre über die tatsächliche Lage des Unternehmens mit nach oben manipulierten Werbeumsätzen getäuscht und nach dem Merger im ersten Halbjahr 2001 mit ihrem Insiderwissen um die wahre Situation selber AOL-TW-Aktien verkauft. Die Anwälte klagten auf Schadenersatz für die inzwischen eingetretenen Vermögensverluste ihrer Klienten – ein in den USA durchaus übliches und bei den Unternehmen gefürchtetes Verfahren, das sie in vielen Fällen zur Zahlung von Hunderten von Millionen Dollar an die geprellten Anleger verpflichtet. Die Nachricht war Thema Nummer 1 an der Wall Street. Die AOL-TW-Aktie fiel in wenigen Tagen vorübergehend auf unter 9 Dollar. Robert Pittman war noch am Tag der Veröffentlichung in der Washington Post zurückgetreten.

Rechtsanwaltsbüros aus verschiedenen Teilen der USA reichten bis zum 26. Juli 2002 reihenweise weitere Sammelklagen ein.

Doch damit nicht genug: Wegen des Verdachts auf Insidergeschäfte und Anlegertäuschung kündigte die amerikanische Wertpapier- und Börsenaufsichtsbehörde (SEC) eine Untersuchung der AOL-Buchhaltung an. Das Justizministerium begann mit Ermittlungen, wobei die zweifelhaften Geschäfts- und Buchhaltungspraktiken sehr genau unter die Lupe genommen wurden. Bei der Firma Homestore, die im zweiten Teil von Alec Kleins Artikel in der Washington Post am 19. Juli als Partner von AOL bei überhöhten Umsatzbuchungen genannt worden war, fand man Beweise für die Manipulationen. Homestore-Manager gestanden, sie hätten mit AOL Round-Trip-Geschäfte abgeschlossen: Homestore kaufte zu stark überhöhten Preisen Dienstleistungen und Produkte bei anderen Firmen, die wiederum für einen Großteil des Homestore-Geldes Werbung bei AOL in Auftrag gaben. Mit diesen Einnahmen buchte AOL dann Werbung auf den Homestore-Internetseiten. So täuschte Homestore mit eigenem Geld und der Hilfe von AOL Umsätze vor, die den eigenen Börsenkurs positiv beeinflußten. Ein Deal, der wiederum auf Gegenleistung beruhte: AOL war Aktionär bei Homestore, denn man hatte sich einen Online-Werbevertrag über 200 Millionen Dollar vorwiegend mit Homestore-Aktien bezahlen lassen. Weil hierbei eigene Gelder über Scheintransaktionen als Umsätze ausgewiesen und wieder ins Unternehmen zurückgeführt wurden, werden solche Deals Round-Trip-Geschäfte genannt. Die Geschäfte sind legal, solange der Umfang geringfügig und der Round-Trip-Charakter offensichtlich ist. Deren Verschweigen oder Verschleiern jedoch ist gesetzeswidrig.

Als diese Geschäfte bei AOL ruchbar wurden, war es absehbar, daß die Behörden und Rechtsanwälte auf Bertelsmann stoßen würden. Schließlich hatte es im fraglichen Zeitraum das Optionsgeschäft über die Anteile an AOL Europe gegeben, und schließlich waren während der Abwicklung dieses Geschäfts Geldeingänge von Bertelsmann bei AOL nicht korrekt als Werbeumsätze verbucht worden – allein in den Jahren 2001 und 2002 400 Millionen Dollar. Es war abzusehen, daß die Börsen- und Justizbehörden in den USA über kurz oder lang beginnen würden, sich mit Bertelsmanns Vorstandsvorsitzendem Thomas Middelhoff zu beschäftigen. Dieser hatte gemeinsam mit Steve Case den Optionsvertrag über AOL Europe ausgehandelt, ihn als "Restrukturierung" verkauft und dann während des Verkaufs des Bertelsmann-Anteils die Zusicherung der Werbeaufträge verantwortet. Das wirft ein völlig neues Licht auf die überraschende Entlassung des Bertelsmann-Managers – die man knapp zehn Tage nach dem Erscheinen des Artikels in der Washington Post verkündete.

In Gütersloh mußte man täglich damit rechnen, daß die irreguläre Buchung der 400-Millionen-Dollar-Werbeumsätze bei AOL herauskam. Hatte man da nicht zu befürchten, selbst ins Fadenkreuz der Ermittler zu geraten und sich im Zusammenhang mit den Klagen amerikanischer Rechtsanwälte gegen AOL wegen Bilanzfälschung und Anlegerbetrug erklären zu müssen? Die Unruhe und die Wut unter den AOL-Aktionären war in jenen Tagen enorm. Bestand da nicht sogar die Gefahr, daß diese AOL-TW dazu drängen würden, den Kauf der von Bertelsmann gehaltenen knapp 50 Prozent an AOL Europe auf weitere Fragwürdigkeiten hin zu überprüfen? Es war nicht einmal auszuschließen, daß AOL-TW versuchen würde, über eine Klage den Kauf der Bertelsmann-Anteile an AOL Europe rückgängig zu machen und den Kaufpreis von 6,75 Milliarden Dollar aus Gütersloh zurückzufordern. Und Klagen, ob nun von AOL-TW oder von den Aktionären, hätten sich zu einer existenziellen Bedrohung für den Konzern auswirken können.

Vor solchen Perspektiven konnte man in der Konzernzentrale im Juli 2002 nicht einfach die Augen verschließen. Und das größte Risiko hieß Thomas Middelhoff. Als langjähriges Mitglied im Verwaltungsrat von AOL hatte dieser bis zu seinem Rücktritt im Januar 2000 die erst über die Washington Post publik gewordenen Round-Trip-Geschäfte, die bereits seit 1998 praktiziert wurden, mitverantwortet. Und er war zusammen mit Steve Case der Initiator des AOL-Europe-Deals gewesen. Die Spur der 400-Millionen-Dollar-Werbeumsätze ließ sich somit bis zu ihm zurückverfolgen. America Online hatte wegen fragwürdiger Buchhaltungspraktiken Ende der Neunzigerjahre einen sehr schlechten Ruf. Es war wegen irreführender Buchhaltung bezüglich Investitionen und Gewinnen mehrfach von Aktionären und der Börsenbehörde mit Erfolg verklagt worden. Auch Middelhoff beziehungsweise seine Versicherung hatte in den Jahren 1997/1998 bei einer Aktionärsklage gegen Arnerica Online wegen irreführender Buchhaltungspraktiken als damaliger Direktor des AOL Boards im Rahmen eines Vergleichs – ohne Schuldeingeständnis – Schadenersatzzahlungen geleistet.

In dieser Situation erschien es wohl zweckmäßig, sich so schnell wie möglich von Middelhoff zu trennen. Man setzte die erprobte PR-Maschinerie in Gang, verbreitete die Mär von der Trennung von Middelhoff wegen strategischer Differenzen, nahm die weitere Rufschädigung Liz Mohns als Drahtzieherin in Kauf und verschanzte sich hinter Allgemeinplätzen. Der Topmanager mit dem Instinkt für große Börsen- und Optionstransaktionen war zur existenziellen Bedrohung geworden. Jetzt konnte er gehen. Würden dennoch Anschuldigungen laut werden, konnte man sich bei Bertelsmann auf einen ebenso taktisch klugen wie moralisch einwandfreien Standpunkt stellen und behaupten: Wir haben uns von ihm getrennt, wir haben nichts damit zu tun, seine Zusammenarbeit mit dem Aufsichtsrat war unzureichend, wir haben nichts davon gewußt. Eine Strategie übrigens, die bei Bertelsmann in kritischen Situationen schon mehrfach verfolgt worden war, wie die folgenden Kapitel zeigen werden.

Gab es auch bei Bertelsmann Insidergeschäfte?

Wenn ein Unternehmen von gravierenden Ereignissen überrascht wird, passiert es oft, daß Insider reagieren, bevor diese Ereignisse publik werden. Gab es bei Bertelsmann solche Insidergeschäfte? Die Frage liegt nahe, zumal bei allen anderen Beteiligten an den Umsatzmanipulationen bereits Verfahren deswegen anhängig sind. Gegen Robert Pittman und Steve Case wird ermittelt. Mit beiden ehemaligen AOL-Managern pflegte Bertelsmann über AOL Europe enge Geschäftsbeziehungen. Mit Steve Case verband Thomas Middelhoff nach dessen Aussage sogar eine Freundschaft.

Der Gütersloher Konzern ist eine Aktiengesellschaft, deren Aktien an keiner Börse notiert sind. Dafür werden an den Börsen in Düsseldorf und Frankfurt Bertelsmann-Genußscheine gehandelt: aktiennahe Wertpapiere ohne Stimmrecht, die vor allem den Bertelsmann-Mitarbeitern in den oberen Etagen eine jährliche Ausschüttung von ungefähr 15 Prozent bescheren. Der Kurs dieser Optionsscheine entwickelte sich mit beeindruckender Konstanz auch gegen den Negativtrend des DAX und des Nemax nach oben – bis Mitte Juli 2002. Dann brach der Kurs ein, und zwar wenige Tage nach Alec Kleins Enthüllungen in der Washington Post, als AOL Time Warner am 24. Juli 2002 bekanntgab, daß die amerikanische Börsenaufsicht und die US-Justiz in Sachen AOL ermittelten – also vier Tage vor Middelhoffs offizieller Entlassung.

Die Kurseinbrüche waren so auffällig, daß das Handelsblatt berichtete, die Aufsichtsbehörde BaFin untersuche die Kursbewegung wegen Verdachts auf Insiderhandel. Vorzeitiges Wissen um Middelhoffs Entlassung allein konnte den plötzlichen Kursverfall kaum erklären. Dennoch wurde die Überprüfung ohne Ergebnis eingestellt. Mittlerweile weiß man jedoch dank eines Berichts der New York Times, daß manche Bertelsmann-Manager schon 2002 über den 400-Millionen-Dollar-Werbedeal und seine Hintergründe informiert waren. Soll man trotzdem an Zufall glauben?

With a little help from Bertelsmann ...

Um das Spiel mit den Scheinumsätzen in der Online-Werbung richtig einschätzen zu können, müssen wir noch einmal zurückblicken: Bertelsmann hatte sich 1995 mit 5 Prozent an AOL beteiligt. Middelhoff hatte als Vorstandsmitglied die Investition in das damals noch kleine Unternehmen durchgesetzt und erhielt einen Sitz als Direktor im Verwaltungsrat von AOL. Im gleichen Jahr gründeten AOL und Bertelsmann das Unternehmen AOL Europe, das den Internet-Zugangsservice in Europa anbieten sollte. Ende 1999, als AOL Europe über ungefähr 2,8 Millionen Mitglieder verfügte, beschloß Bertelsmann, seinen Anteil von 49,5 Prozent entweder an die Börse zu bringen oder an eine andere Firma zu verkaufen. Anfang 2000 – AOL hatte soeben verkündet, eine Fusion mit dem Bertelsmann-Konkurrenten Time Warner eingehen zu wollen – verließ Middelhoff den AOL-Verwaltungsrat. Im März 2000 wurde er mit Steve Case über den Verkauf des Bertelsmann-Anteils an AOL Europe handelseinig. Bertelsmann und AOL unterzeichneten eine Optionsvereinbarung. Danach hatte Bertelsmann das Recht, seinen Anteil an AOL für 6,75 Milliarden Dollar in zwei Raten bis Ende Januar und Anfang Juli 2002 zu verkaufen. Kam es bis dahin nicht zum Verkauf, hatte AOL das Recht, den Bertelsmann-Anteil ebenfalls in zwei Raten von Ende Januar 2002 bis Juli 2003 für 8,25 Milliarden Dollar zu erwerben. Auf Wunsch von AOL konnte die Bezahlung in Cash, Aktien oder einer Mischung von beiden erfolgen. Für Bertelsmann war das Geschäft ein Riesenerfolg. Man hatte, wie Thomas Middelhoff im Oktober 2000 an der Stanford Business School referierte, 310 Millionen Dollar investiert und würde nun mindestens 6,75 Milliarden zurückgewinnen.

Im März 2001 – die im Januar 2000 beschlossene Fusion zwischen AOL und Time Warner war seit zwei Monaten offiziell vollzogen – begannen die per Optionsvertrag vereinbarten Verkaufsverhandlungen zwischen Bertelsmann und AOL über den Anteil des Ersteren an AOL Europe. Der Gütersloher Konzern drängte darauf, den gesamten Kaufpreis in Cash zu erhalten. Verhandlungspartner waren die Manager von AOL, zu denen Middelhoff aus seiner Zeit als Direktor bei AOL gute Beziehungen pflegte, unter anderem der ehemalige AOL-Finanzvorstand Michael J. Kelly, der nun in derselben Position bei AOL-TW tätig war, dort aber über weitaus höhere Finanzmittel und einen größeren Kreditrahmen verfügte. Laut eigenen späteren Einräumungen gegenüber der SEC argumentierte AOL, für eine Zahlung in Cash statt in AOL-TW-Aktien sollte Bertelsmann einen Preisnachlaß von 400 bis 800 Millionen Dollar gewähren. Dann kam man überein, daß Bertelsmann der Kaufpreis von 6,75 Milliarden Dollar in voller Höhe ausbezahlt werde. Dafür sollte der Konzern im Gegenzug in den Jahren 2001 und 2002 Online-Werbung bei AOL im Wert von 400 Millionen Dollar schalten.

Bertelsmann bekam wie gewünscht Cash. AOL war in der Lage, das tatsächliche Ausmaß der sinkenden Umsatzzahlen in der Online-Werbung zu verschleiern. Die 400 Millionen wurden in Werbeumsätze verwandelt, die AOL dringend brauchte. Diese – falsch deklarierten – Umsätze machten 2001 erst 5 Prozent der gesamten AOL-Online-Werbeumsätze aus. Im Jahr 2002, als das Geschäft noch gravierender einbrach, waren es bereits mehr als 20 Prozent. Die Aktionäre von AOL Time Warner erfuhren nichts von der Verwandlung, weder 2001 noch 2002. Erst die SEC bewegte AOL-TW im März 2003 dazu, darüber zu berichten. Der Scheincharakter dieser Geschäfte blieb aber Mitarbeitern in den US-Niederlassungen der Bertelsmann AG offenbar nicht verborgen. Wie die New York Times berichtete, äußerten einige Angestellte Verwunderung und Kritik, weil sie von der Konzernzentrale angewiesen worden waren, Online-Werbung zu überhöhten Preisen zu buchen, damit die mit AOL vereinbarten Umsätze überhaupt erreicht wurden. Auch andere bekamen etwas mit: Homestore-Manager hatten laut New York Times über AOL-Führungskräfte von einem Pool mit Bertelsmann-Werbegeldern erfahren, aus denen sie Online-Werbeumsätze bei Homestore erzeugen konnten, an denen AOL dann wieder mitverdiente.

Der Verkauf von AOL Europe war demnach aufs Engste mit Round-Trip-Geschäften in der Online-Werbung verknüpft, mit denen die Umsatzzahlen von AOL aufgeblasen wurden und bei denen es in den Jahren 2001 und 2002 – soweit sie von Bertelsmann kamen – um 400 Millionen Dollar ging. Solche Deals sind, wie gesagt, per Gesetz nicht verboten, sofern sie geringfügig sind und die Anleger nicht getäuscht werden. Die verschleierten Round-Trip-Deals werden hingegen mittlerweile als so gravierend angesehen, daß die amerikanische Börsenaufsicht und die Justizbehörden nicht mehr nur gegen AOL-Manager ermitteln, sondern auch gegen die Geschäftspartner, die ihnen wissentlich dabei halfen. Ob Middelhoff derzeit dazu gehört, ist ungewiß, weil die Behörden keine Auskunft geben über den Stand der Ermittlungen.

Das Online-Werbeparadies Europa – eine Fata Morgana für Aktionäre

Doch ganz gleich, wie die Ermittlungen in juristischer Hinsicht enden, getäuscht wurden die Anleger von AOL und Time Warner durch den AOL-Europe-Deal auf jeden Fall. Oder besser gesagt: Thomas Middelhoff und Steve Case weckten bei den Anlegern Erwartungen von blühenden Absatzmärkten in einem Online-Werbeparadies Europa, die es nicht gab.

Die Optionsverträge, die es Middelhoff ermöglichten, den Bertelsmann-Anteil an AOL Europe für 6,75 Milliarden Dollar an den AOL-Nachfolger AOL-TW abzutreten, wurden am 16. März 2000 noch zwischen dem alten AOL-Unternehmen und Bertelsmann geschlossen und am 17. März mit einer gemeinsamen Presseerklärung besiegelt. Am selben Tag hielten die Vorstandsvorsitzenden beider Unternehmen, Steve Case und Thomas Middelhoff, eine Telefonpressekonferenz ab, an der auch AOL-Präsident Robert Pittman teilnahm. Die folgenreichen Verträge spielten dabei nur eine Nebenrolle. Hervorgehoben wurden vielmehr die Vorteile der globalen strategischen Allianz. Middelhoff kündigte an, durch die Vereinbarungen werde Bertelsmann zum weltweit führenden Anbieter von Internet-Inhalten und E-Commerce-Produkten avancieren. Steve Case gab das Versprechen, AOL Europe zusammen mit Bertelsmann zum führenden pan-europäischen Internet-Provider auf dem expandierenden europäischen Markt zu machen. Die Pressemitteilung sagte unmißverständlich: AOL und Bertelsmann werden Cross-Promotion füreinander betreiben. Bertelsmann werde AOL die erforderliche Breitband-Distribution – also Kabel- und DSL-Leitungen – zur Verfügung stellen. Alle Erlöse aus dem Verkauf, also mindestens 6,75 Milliarden Dollar, werde Bertelsmann in den Ausbau des bestehenden E-Commerce-Geschäftes und weitere internetrelevante Start-up-Investitionen fließen lassen. Nach diesen Zusicherungen konnten die AOL- und die Time-Warner-Aktionäre nicht mehr zweifeln: In Europa und insbesondere bei AOL Europe lag die Zukunft des Internet-Geschäftes, das in Amerika erste Ermüdungserscheinungen zeigte. Bereits 2004, so prophezeite man, werde es außerhalb der USA doppelt so viele Online-Nutzer geben wie in den USA, in Europa werde sich deren Zahl vervierfachen, der Markt für Online-Werbung werde um jährlich 80 Prozent wachsen. Schon damals ging Bertelsmann mit gutem Beispiel voran. Die Allianz war, wie Middelhoff hervorhob, mit Online-Werbung verbunden: Bertelsmann werde Werbung im Wert von 250 Millionen Dollar schalten. Als es dann später um die Abwicklung der Allianz ging, war Middelhoff sogar bereit, 400 Millionen Dollar in die Online-Werbung fließen zu lassen.

Eine schöne neue Internet-Welt mit unbegrenzten Werbemöglichkeiten wurde da heraufbeschworen, mit AOL und Bertelsmann als unschlagbarer Marketing-Allianz. Rosige Aussichten, nur: völlig unbegründete. AOL Europe war von Anfang an nicht der erfolgreiche, führende Internet-Provider in Europa, als der er am 17. März vorgestellt wurde. Die Mitgliederwerbung erwies sich als kostspielig und enttäuschend, weil das Geschäftsmodell von America Online in Europa nicht funktionierte und Bertelsmann keine den europäischen Bedingungen angepaßte, erfolgreichere Variante entwickeln konnte. Anders als in den USA gab es auf dem europäischen Kontinent noch keine im Telefongrundpreis enthaltenen Ortsgespräche, mit denen sich die Kunden ins AOL-Netzwerk einwählen konnten. Die europäischen AOL-Kunden mußten zusätzlich zur AOL-Gebühr noch Telefongebühren im Minutentakt zahlen. Für die Online-Werbung war das fatal. Zu allem Übel setzten die Telekomgesellschaften nicht auf AOL, sondern investierten in eigene Provider, die günstigere Preise und schnellere Verbindungen boten: T-Online in Deutschland, Wanadoo in Frankreich, British Telecom in England und Terra Network in Spanien. Diese hatten Ende 1999 in den einzelnen Ländern AOL Europe nach Mitgliederzahlen überholt, die Telekom-Tochter T-Online sogar in ganz Europa. Zugleich waren neue Internet-Provider entstanden, die AOL Europe immer mehr Kunden abwarben, da sie ohne Abonnementvertrag und feste Grundgebühren Internet zum Minutenpreis inklusive Telefonkosten anboten.

So kam das Unternehmen auch 2000, fünf Jahre nach dem Start in Europa, nicht in die Gewinnzone, sondern machte hohe Verluste. Die Online-Werbung, die AOL in den USA seit 1998 rasant steigende Gewinne brachte, entwickelte sich bei AOL Europe völlig enttäuschend. Middelhoff war sich darüber im Klaren, was er im September 2000 vor den Studenten der Stanford Business School auch leichtfertig zugab. Schon 1999 entschied er, daß Bertelsmann wegen der übermächtigen Konkurrenz der Telekomgesellschaften AOL Europe wieder abstoßen müsse.

Bertelsmanns Ankündigung, im Bereich des E-Content und des E-Commerce Marktführer zu werden, erwies sich schon bald als nicht realisierbar. Die meisten Projekte wie evenbetter.com (Internetpreisvergleich) oder andsold.com (Internetauktionen) wurden rasch wieder eingestellt oder veräußert. Der Internet-Buchhandel BOL blieb weit hinter Amazon zurück und wurde ab Mitte 2001 zurückgefahren. Auch Napster, Middelhoffs größtes Online-Abenteuer, entpuppte sich als Luftblase, in die Bertelsmann 120 Millionen Dollar investierte. Als Anfang 2001 deutlich wurde, daß das Internet für Zeitschriftenverlage kein Eldorado war, drosselte Bertelsmanns Zeitschriftenverlag Gruner+Jahr konsequent seine Investitionen in Online-Projekte. Und was wurde aus der angekündigten Cross-Promotion zwischen AOL und Bertelsmann, die AOL Mitglieder zuführen sollte? Das Gegenteil trat ein. Bertelsmann hatte sich schon 1997 an einem anderen Internet-Portal, Lycos Europe, beteiligt, das AOL die Abonnenten abjagte. Mit-Aktionär von Lycos Europe war Christoph Mohn, Sohn von Reinhard Mohn. Nicht ohne Stolz berichtete er, in den Jahren 2000 und 2001 mit großem Erfolg Kunden beim Konkurrenten akquiriert zu haben. In den Bertelsmann-Buchclubs und teilweise sogar in den Bertelsmann-Medien wurde Lycos Europe stärker beachtet als AOL Europe.

Nichts war es also mit dem Online-Werbeparadies Europa. Beim Gütersloher Partner trat rechtzeitig Ernüchterung ein. Die Investitionspolitik wandte sich schon 2001 wieder anderen Zielen zu. Aus dieser Zeit stammt jene viel zitierte Aussage von Middelhoff gegenüber der Neuen Westfälischen Zeitung, wonach er die Möglichkeiten des E-Commerce überschätzt habe und man sich nun wieder verstärkt den ertragreicheren Sparten des Konzerns im Buch- und Fernsehbereich widmen müsse. Die vollmundigen Ankündigungen, mit denen Thomas Middelhoff und Steve Case den Anlegern das Optionsgeschäft um AOL Europe schmackhaft gemacht hatten, offenbarten sich als Luftnummern. Auch die zugesagte Breitbanddistribution, die man AOL Europe mithilfe der Bertelsmann Broadband Group in Aussicht gestellt hatte, kam nicht zum Durchbruch. Ende 2001, als just die ersten großen Zahlungen aus dem Verkauf des Bertelsmann-Anteils bevorstanden, war die gepriesene globale Allianz schon ohne Leben. Die von beiden Gesellschaften gemeinsam bekanntgegebenen Vereinbarungen wurden von Bertelsmann de facto nicht mehr eingehalten.

AOL Europe schockt die AOL-Time-Warner-Aktionäre

Die Hoffnung auf das schnelle Geld im Internet war inzwischen auch bei dem neuen Multikonzern AOL-TW der Ernüchterung gewichen. Das Anzeigengeschäft lief 2001 in allen Sparten schwächer als erwartet. Die Entwicklung der Online-Werbung und des E-Commerce bei AOL enttäuschte besonders. AOL-TW mußte Mitte des Jahres die Umsatzprognosen reduzieren. Dies erschütterte das Vertrauen der Anleger und ließ den Aktienkurs rapide sinken. Am 8. Oktober 2001 berichtete das maßgebliche Börsen-Magazin Barron’s über Leerverkäufe von AOL-TW-Aktien, die der bekannte Hedgefondsmanager Doug Kaas tätigte. Dieser erwarte, daß Bertelsmann seine Anteile an AOL Europe entsprechend der Option zum mittlerweile drastisch überhöhten Preis von 6,75 Milliarden Dollar an AOL-TW abgeben werde. Und das werde, so Kaas, den Kurs der AOL-TW-Aktien noch weiter schwächen. Am Tag der Publikation gab die Aktie um 5 Prozent nach. Analysten unkten, AOL-TW zahle mit den 6,75 Milliarden Dollar mindestens das Dreifache des tatsächlichen Werts. Der Erwerb des überteuerten Anteils werde bei Cash-Zahlung die Verschuldung von AOL-TW in die Höhe treiben oder bei Bezahlung in Aktien die Gewinne pro Aktie spürbar senken. Am 11. Oktober erschien in der Wirtschafts-Woche eine Notiz, nach der Bertelsmann-Chef Middelhoff "später Ärger mit einem seiner besten Deals" drohe. Man müsse sich auf harte Nachverhandlungen mit dem amerikanischen Partner gefaßt machen. Aber nichts von alledem trat ein. AOL-TW stellte am 14. November in einer Pflichtmitteilung an die amerikanische Börse klar: Man sehe sich in der Lage, die erste Tranche an Bertelsmann gemäß Optionsvertrag in Cash zu bezahlen.

Man ging sogar noch weiter. Am 7. Januar 2002 gestand AOL-TW in einer Presseerklärung zwar ein, daß der Konzern im Jahr nach der Fusion die gewünschten Umsätze und Gewinne nicht erreicht habe und in den ersten zwei Quartalen des Jahres 2002 im amerikanischen Markt kein Wachstum zu erwarten sei. Dennoch wolle man, so hieß es, den Bertelsmann-Anteil an AOL Europe in zwei Raten (5,3 Milliarden am 31. Januar und 1,45 Milliarden am 1. Juli 2002) in voller Höhe und in Cash bezahlen. Begründung: Bertelsmann habe AOL Europe finanziert, seit der Optionsvereinbarung vom März 2000 habe AOL Europe signifikantes Wachstum gezeigt, die Zahl der Mitglieder sei stetig gewachsen. Der damalige AOL-TW-Chef Gerald Levin erklärte im Namen von AOL-TW, die Dynamik in den internationalen Märkten verspreche, einer der wichtigsten Faktoren für nachhaltiges Wachstum zu werden. AOL Europe könne mit seiner Infrastruktur und der Cross-Promotion der zentrale Wachstumsmotor für den gesamten Konzern AOL Time Warner sein.

Natürlich berichtete die Pressemitteilung AOL Time Warners nicht von den 400 Millionen Dollar Preisnachlaß für die Cashzahlung und deren Verwandlung in Online-Werbeumsätze, und auch nicht davon, daß Bertelsmann mit Zustimmung von AOL Time Warner seinen AOL-Europe-Anteil durch Zwischenverkauf an einen Finanzinvestor vor den Ausübungsterminen für seine Verkaufsoption vorab zu Geld gemacht hatte. Die Aktionäre erlebten in Bezug auf AOL Europe böse Überraschungen. Analysten errechneten, daß AOL Europe trotz der schönen Verheißungen der Pressemitteilung vom 7. Januar 2002 im Jahr 2001 bei 800 Millionen Dollar Umsatz 600 Millionen Dollar Verlust gemacht habe. Drei Monate später, im März 2002, erfuhren sie aus einer Pflichtmitteilung an die SEC, daß AOL Time Warner zusätzlich zum Kaufpreis von 6,75 Milliarden Dollar auch noch über 800 Million Dollar Verbindlichkeiten habe übernehmen müssen, weil Bertelsmann doch nicht, wie es die Presseerklärung behauptet hatte, die Entwicklung von AOL Europe bis Ende 2001 allein finanziert habe. Beide Überraschungen schockierten AOL-Time-Warner-Aktionäre und Analysten und wirkten entscheidend daran mit, den Kurs der AOL-Time-Warner-Aktie in der ersten Hälfte des Jahres 2002 abstürzen zu lassen.

Die Übernahme von Bertelsmanns AOL-Europe-Anteil für 6,75 Millarden Dollar im Januar 2002 war für AOL Time Warner ein desaströses Geschäft. Der im März 2000 abgeschlossene Optionsvertrag allein kann nicht erklären, warum im Januar und Juli 2002 dann 6,75 Milliarden Dollar für diesen Anteil in Cash gezahlt wurden. Optionsgeschäfte sind zu den vereinbarten Preisen und Terminen zu erfüllen, auch wenn die Preise sich seit Abschluß der Option drastisch verändert haben. Beim Verkauf von Bertelsmanns Anteil über 49,5 Prozent ging es aber nicht um den Verkauf börsennotierter Aktien, sondern um Unternehmenshandel. Warum machte AOL Time Warner nicht geltend, daß die mit der Restrukturierung und der Verkaufsoption verbundene globale Allianz von Bertelsmann und AOL im E-Commerce-Geschäft bereits vor Ausübung der Option faktisch beendet war, mit sehr negativen Folgen, die in den hohen Verlusten AOL Europes und den von AOL Time Warner zusätzlich zu übernehmenden Verbindlichkeiten zum Ausdruck kamen? Warum verhandelte AOL Time Warner nicht über einen dieser Realität angemessenen Nachlaß auf den Kaufpreis, der wesentlich höher hätte ausfallen müssen als der Nachlaß von 400 Millionen Dollar, der nicht einmal ausgewiesen, sondern, wie später SEC und Aktionärsanwälte vorbrachten, zur Vortäuschung von Online-Werbeumsätzen verwandt wurde? Warum beeilte sich AOL Time Warner unter seinem Präsidenten Steve Case und unter Finanzchef Michael J. Kelly, sich auf eine Cashzahlung an Bertelsmann festzulegen, bevor es laut Optionsvertrag überhaupt erforderlich war?

Die Antwort auf diese Fragen muß bei dem 400-Millionen-Online-Werbegeschäft gesucht werden. Doch Vorgänge bei europäischen Niederlassungen von US-Firmen sind der amerikanischen Wirtschaftspresse immer noch recht fremd. Auch nachdem das 400-Millionen-Dollar-Geschäft und sein Zusammenhang mit dem Optionsgeschäft über AOL Europe im März 2003 dank der SEC bekannt geworden war, beschäftigte sich bisher kein amerikanischer Journalist mit dem als kompliziert empfundenen AOL-Europe-Optionsdeal selbst.

Es sei offensichtlich, sagte Carol J. Loomis in Fortune, daß diese Werbebuchungen ebenso wie die anderen von der Washington Post recherchierten fragwürdigen Deals dazu dienten, die Anleger über die Umsatzeinbrüche hinwegzutäuschen und die geschönten Analysen des zukünftigen Wachstums auf dem Online-Werbemarkt (die AOL für TW erst zum attraktiven Partner gemacht hatten) möglichst lange zu stützen. David Kirkpatrick fragte in der New York Times, welche Rolle Steve Case und Thomas Middelhoff bei der Vereinbarung über die Werbebuchung gespielt hatten. Obwohl beide über Vertrauenspersonen mitteilen ließen, nach dem Merger an keinen weiteren Verhandlungen beteiligt gewesen zu sein, hatte Kirkpatrick von AOL- und Bertelsmann-Mitarbeitern das Gegenteil gehört: Case und Middelhoff hätten die Werbedeals zwischen AOL-TW und Bertelsmann auch weiterhin entscheidend beeinflußt. Kirkpatrick berief sich auf die Äußerung eines nicht genannten Bertelsmann-Mitarbeiters, wonach Middelhoff zumindest bei den Verhandlungen über einen der beiden Deals von 125 Millionen und 275 Millionen Dollar zeitweilig anwesend gewesen sei. Für Thomas Middelhoff dürfte es sehr schwierig sein zu behaupten, er habe von dem Round-Trip-Charakter der Online-Werbedeals nichts gewußt. Gleiches gilt für den Aufsichtsrat von Bertelsmann. Denn schon sehr viel kleinere Vereinbarungen als ein Preisnachlaß von 400 Millionen Dollar oder Werbeaufträge von 125 und 275 Millionen Dollar müssen ihm zur Prüfung vorgelegt werden.

Man muß also bei Bertelsmann von den Vorgängen gewußt haben. Aber nach wie vor beantworten AOL-TW, Bertelsmann und die beteiligten Manager keine Fragen zu den dubiosen Werbedeals. Man versichert lediglich, mit den Behörden kooperieren zu wollen. Dabei legt man in Gütersloh Wert auf die Feststellung, selbst nicht Gegenstand der Ermittlungen zu sein. Und die Börsenaufsicht ist schweigsam bezüglich des Fortgangs ihrer Untersuchungen. Die Öffentlichkeit erfuhr von den Ermittlungen ja auch erst durch die Pflichtpublikationen von Time Warner für die Aktionäre. Solche Veröffentlichungen gibt es bei Bertelsmann nicht.

Bereits der Wortlaut der praktisch vergessenen Rahmenvereinbarungen zum Optionsvertrag über AOL Europe und eine Analyse der Geschäftsbeziehungen zwischen Bertelsmann und AOL vor dem Merger geben Aufschluß. Schon eine Suche über den Namen Middelhoff in den Pflichtmitteilungen, die in den Archiven der Börsenaufsicht liegen und über Internet abgerufen werden können, ist äußerst aufschlußreich. Unsere Funde zeigen, daß Thomas Middelhoff schon 2000 Online-Werbedeals arrangierte, um AOL für Time Warner und die Anleger attraktiver als gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Er nutzte aufsehenerregende Online-Werbeverträge geschickt für große Internet-Deals, die sich einseitig zum Vorteil von Bertelsmann und zum Nachteil vieler Börseninvestoren auswirkten. Zu denjenigen, die das Nachsehen hatten, gehörten neben den Aktionären von AOL das Management und die Aktionäre von Time Warner sowie die Aktionäre von Terra Lycos.

Seit Jahresanfang 2000 deutete an der Technologiebörse Nasdaq vieles darauf hin, daß der Internet-Boom ein baldiges grausames Ende finden werde. Am selben Wochenende, an dem AOL und Bertelsmann den Optionsvertrag für AOL Europe bestätigten, erschien im US-Anlegermagazin Barron’s eine Titelstory, die auf die zunehmenden Schwierigkeiten aufmerksam machte und Ergebnisse einer Studie über die finanzielle Lage von 207 Internet-Unternehmen zitierte: Mindestens 51 dieser Unternehmen würden ihre Finanzmittel innerhalb der nächsten zwölf Monate verbraucht haben. Unter den sechs aktuell gefährdeten Unternehmen befanden sich drei wichtige AOL-Werbepartner: CDnow, Drkoop.com und Medscape. Diese hatten sich zu mehrjährigen Werbebuchungen in Multimillionenhöhe gegenüber AOL verpflichtet. Diese Buchungen waren nun infrage gestellt. Vor diesem Hintergrund war es beruhigend und überaus medienwirksam, daß Bertelsmann bei AOL als potenter Partner mit Aufträgen für Online-Werbung und E-Commerce in die Bresche sprang.

Thomas Middelhoff kann man nicht vorwerfen, seine Geschäftspartner arglistig getäuscht zu haben. Steve Case und Michael J. Kelly waren bestens über die schwierige Lage von AOL Europe und die sich anbahnenden Probleme mit den Online-Werbeumsätzen bei AOL informiert. Aber Middelhoff hat sich den Aktionären von AOL und Time Warner gegenüber – zurückhaltend formuliert – nicht korrekt verhalten. Er wirkte massiv dabei mit, falsche Erwartungen hinsichtlich der Zukunftschancen von AOL und AOL Europe zu wecken, die AOL als Fusionskandidaten für Time Warner attraktiv erscheinen ließen.

Warten auf Bertelsmann – Der Deal mit Terra Lycos

Wer hier System vermutet, hat Recht: Das Geschäft mit angeblich großen Werbeaufträgen war eine gemeinsam von AOL und Bertelsmann, von Steve Case und Thomas Middelhoff, betriebene Strategie. Sie heizten das Internet- und Fusionsfieber auch dann noch an, als die Realität der New Economy längst ganz anders aussah – um anstehende Fusionen nicht in letzter Minute scheitern zu lassen und sich mit möglichst hohem Gewinn aus den Internet-Geschäften zurückzuziehen, bevor die Euphorie erlosch. Round-Trip-Geschäfte waren in den Jahren 1999 und 2000 bei AOL hinter den Kulissen eine gängige Geschäftsmethode. Wie geschickt Thomas Middelhoff dabei vorging, enthüllt ein Dokument der Börsenaufsicht, das wir in der SEC-Datenbank entdeckten. Die Spur führt nach Miami und zu einem Round-Trip, der den 400-Millionen-Dollar-Deal weit in den Schatten stellte. Sie führt zu einer schillernden Figur des Topmanagements: zu Juan Villalonga, damals Vorstandsvorsitzender der spanischen Telefonica, und deren Internet-Ableger Terra Networks.

Am 16. Mai 2000 war Thomas Middelhoff in New York und nahm an einer großen Pressekonferenz teil. Hier verkündete man die Übernahme des US-Internet-Portals Lycos durch Terra Networks für 12,5 Milliarden Dollar, gezahlt in Terra-Networks-Aktien. Die Pressekonfererenz hielten ab: Juan Villalonga, Präsident von Telefonica, Robert Davis, Chef von Lycos, und Thomas Middelhoff von Bertelsmann. Den Journalisten wurde erklärt, man werde eine große Internet-Allianz eingehen. Das neue Unternehmen Terra Lycos werde als erster wirklich globaler Internet-Konzern der Welt in 37 Ländern tätig sein und täglich 50 Millionen User und 175 Millionen Zugriffe haben. Eine dominierende Stellung werde es sehr schnell in der Spanisch und Portugiesisch sprechenden Welt einnehmen, insbesondere in Südamerika. Man präsentierte folgende Vereinbarung: Bertelsmann werde bei Terra Lycos innerhalb von fünf Jahren Online-Werbung und E-Commerce-Platzierungen für 1 Milliarde Dollar kaufen; Terra Lycos werde dafür privilegierten Zugang zu Bertelsmanns media content (Bücher, Zeitschriften, Filme, Musik) erhalten. Das alles wurde in der begleitenden Presseerklärung schriftlich niedergelegt.

Die Fusionsankündigung und die Presseerklärung zeigten Wirkung: Journalisten interpretierten die gegenseitigen Verpflichtungen der beiden Konzerne als sicheren Beleg dafür, daß der Umsatz in der Online-Werbung Zukunft habe und substanziell gesund sei. Was bei Terra Lycos funktioniere, so suggerierte man, könne bei AOL und Time Warner nicht falsch sein. Die Allianz von Terra und Lycos werde sich positiv auf die Akzeptanz des unmittelbar bevorstehenden Zusammenschlusses von AOL und Time Warner auswirken. Wieder ging man nach dem bewährten Muster vor: Es wurden gigantische Online-Werbeumsätze angekündigt, und Bertelsmann selbst half sie zu erreichen.

Die Börse nahm die Nachricht sehr positiv auf. Das war seit sechs Wochen die erste gute Nachricht an der Wall Street. Kaum ein Journalist vergaß, Bertelsmanns eindrucksvolle Verpflichtung über 1 Milliarde Auftragsvolumen zu erwähnen, die der Vorstandsvorsitzende Thomas Middelhoff durch seine persönliche Teilnahme an der Pressekonferenz bekräftigt hatte. Auch viele Analysten meinten nun, die Fusionen zwischen Terra und Lycos und zwischen AOL und Time Warner seien richtungsweisend für die Zukunft. Die Übernahme von Lycos durch Terra und Bertelsmanns Großauftrag wurden als Signale gedeutet, daß amerikanische Internet-Unternehmen trotz des Kurseinbruchs nach wie vor attraktive Anlagemöglichkeiten darstellten. Der Nasdaq stieg um mehr als 3 Prozent, die Lycos-Aktien stiegen zwei Tage in Folge und gewannen allein am 16. Mai 17,5 Prozent. Am 19. Mai 2000 erhielten die Aktionäre von AOL und Time Warner ihre Einladungen zu den Hauptversammlungen am 23. Juni. Dort sollten sie dem Vorschlag zur Fusion beider Unternehmen zustimmen. Hätte der Zeitpunkt günstiger gewählt sein können?

Kritische Stimmen waren selten. Eine davon gehörte John Dvorak. Dieser spekulierte am 22. Mai 2000 in Forbes nicht über Branchentrends, sondern spottete über die neuartige unternehmerische Fusions-Mathematik von Villalonga, Davis und Middelhoff. Wie kann eine Firma, die 1999 78,9 Millionen Dollar Umsatz machte (Terra Networks) eine andere Firma mit einem Jahresumsatz von 135,5 Millionen Dollar (Lycos) für 12,5 Milliarden Dollar übernehmen? Nur der große Online-Werbevertrag von Bertelsmann könnte zum inflationierten Kaufpreis von Terra Lycos führen, rechtfertigt ihn aber nicht. Dvorak kam der Wahrheit hinter dem Terra-Lycos-Deal sehr nahe, als er einen alten amerikanischen Witz aufpolierte: "Frage: Wie verdient man eine Milliarde Dollar? Antwort: Man gibt 12,5 Milliarden Dollar aus – und wartet auf Bertelsmann."

John Dvorak behielt mit seiner Skepsis Recht. Nach drei Jahren war der Spuk vorbei: 2003, noch vor Ablauf der verkündeten Fünf-Jahres-Allianz, berichteten die Medien, Telefonica beabsichtige, Terra Lycos wieder in den Mutterkonzern zu integrieren. Die Terra-Lycos-Aktionäre sollten nur noch etwa 15 Prozent dessen erhalten, was die Aktie zur Zeit der Fusionsankündigung gekostet hatte. Die Rückintegration ist nicht gelungen. Im April 2004 konnte man lesen, Terra wolle das Lycos-Portal, das es 2000 für 12,5 Milliarden Dollar übernommen hatte, für 200 Millionen Dollar verkaufen – und finde selbst mit diesem Dumping-Preis keinen Kunden. Terra Lycos konnte nämlich – wie AOL Europe – die geweckten Erwartungen nicht einmal ansatzweise erfüllen. Die Werbeeinnahmen brachen ein, und die Gesellschaft machte kontinuierlich hohe Verluste. Hinzu kam, daß im Februar 2002, also noch zu Middelhoffs Zeiten, Bertelsmann ankündigte, die Vereinbarung mit Terra Lycos über 1 Milliarde Dollar Online-Werbung überprüfen zu wollen. Am 25. Juli, wenige Tage vor Middelhoffs Entlassung, meldete die Financial Times, Bertelsmann habe beschlossen, keine weitere Online-Werbung bei Terra Lycos zu schalten. In Gütersloh wurde sofort dementiert. Aber zum 1. November 2002 wurde der Werbevertrag dann tatsächlich gekündigt: In den ersten beiden Jahren habe man 325 Millionen Dollar an Lycos bezahlt; für die restlichen 675 Millionen werde man keine Werbung mehr schalten.

Wie war diese für Terra Lycos folgenreiche Beschränkung auf ein Drittel des Auftragsvolumens möglich? Middelhoff hatte vorgesorgt. Die Vereinbarung sah nämlich ein wenig anders aus, als man es der Presse am 16. Mai 2000 erläutert hatte. Der Bertelsmann-Manager hatte noch Stunden vor der Pressekonferenz eine Klausel in den Vertrag aufnehmen lassen. Danach hatte Bertelsmann die Möglichkeit, nach zwei Jahren und der Zahlung von 325 Millionen die Online-Werbung einzustellen. Aber davon war auf der Pressekonferenz natürlich keine Rede. Das kam erst später, am 27. Juni 2000, heraus, als Terra Lycos in der Registrierungserklärung für die amerikanische Börsenaufsicht SEC die Geschäftsgrundlagen offenlegen mußte. Erst fünf Tage zuvor war die Fusion von AOL und Time Warner durch die Aktionäre auf den Hauptversammlungen abgesegnet worden. Der Boston Globe berichtete darüber und zitierte Middelhoff. Dieser betonte, er stehe trotz dieser Zusatzklausel zur fünfjährigen Allianz mit Terra Lycos. Es sei sehr, sehr unwahrscheinlich, daß Bertelsmann nicht die volle Milliarde bei Terra Lycos ausgeben werde. Weit gefehlt, wie die Aktionäre später erfuhren. Middelhoff, Villalonga und Davis hatten auf ihrer Pressekonferenz und mit der Presseerklärung vom 16. Mai die Öffentlichkeit irregeführt.

Miami Vice: Villalonga, Quattrone, Middelhoff und Co.

Anhand der SEC-Datenbank läßt sich nachzeichnen, wie der Deal um Terra Lycos zustande kam. Treibende Kraft war der damalige Vorstandsvorsitzende der Telefonica, Juan Villalonga. Villalonga war langjähriger Schulfreund des damaligen spanischen Ministerpräsidenten Aznar. Er hatte nach Stationen als Partner bei McKinsey und als Vorstandsvorsitzender der spanischen Niederlassung der Credit Suisse First Boston (CSFB) 1996 die Führung der staatseigenen Telefongesellschaft Telefonica übernommen. 1997 begann er mit deren Privatisierung. Er kaufte ein Mediennetzwerk von Tageszeitungen, Rundfunk- und Fernsehsendern und baute die Position des Unternehmens in Südamerika aus. Nach der Trennung von seiner Ehefrau Concha Tallada, einer engen Freundin von Aznars Ehefrau, verlegte er seinen Wohnsitz nach Miami, um mit seiner neuen Frau leben zu können. Von dort führte er die Geschäfte zunehmend per Videokonferenz. Im Jahr 2000 kam es zum Skandal wegen Telefonica-Optionen, die er sich und dem Management ohne Zustimmung des Aufsichtsrats im Wert von Hunderten Millionen Euro genehmigte. Villalonga überstand den Skandal und plante noch im selben Jahr, die Telefonica zu einem Global Player über die spanisch sprechenden Märkte hinaus zu machen. Er versuchte, den von ihm erfolgreich an die spanische Börse gebrachten Internet-Provider Terra mit einem großen US-Portal zu vereinen und so einen Internet-Riesen zu schaffen, der AOL weltweit Konkurrenz machen konnte. Es war Thomas Middelhoff, der ihm dabei zum Erfolg verhalf.

In dem Prospekt für die Fusion, der in den Archiven der amerikanischen Börsenaufsicht lagert, ist nachzulesen, wie die Verhandlungen abliefen. Im Februar 2000 war Terra an Lycos herangetreten, stieß aber nach mehreren Treffen, an denen Villalonga und Lycos-Chef Robert Davis beteiligt waren, auf Desinteresse. Lycos benötigte Online-Werbeumsätze, und die konnte Telefonica in die Fusion nicht einbringen. Das änderte sich, als am 14. April Thomas Middelhoff mit Robert Davis telefonierte und die Wiederaufnahme der Verhandlungen anregte. Bei einem erneuten Treffen zwischen Villalonga, Davis und Middelhoff am 28. April in Miami wurden die Online-Werbeaufträge von Bertelsmann ins Spiel gebracht. Das führte zum Durchbruch. Terra allein, beschränkt auf den rückständigen spanischen Markt, wäre ebenso wie Lycos zu umsatzschwach gewesen. Erst die Einnahmen, die Bertelsmann in Aussicht stellte, schufen die Grundlage für ein "tragfähiges" Business-Modell für Terra Lycos.

Eine Übernahme, wie sie Terra mit Lycos beabsichtigte, war nicht durchführbar ohne die Beratungs- und Kurspflegeaktivitäten der Investmentbanken. Lycos ließ sich durch die Technology-Group Credit Suisse First Boston (CSFB) und deren Chef Frank Quattrone beraten. Auch hier war die Bertelsmann-Beteiligung entscheidend. Die Aussicht, daß der deutsche Konzern innerhalb der nächsten fünf Jahre bei der neuen Gesellschaft für 1 Milliarde Online-Werbung und E-Commerce kaufen werde, genügte bereits. Quattrone und die CSFB prognostizierten, das neue Unternehmen werde wahrscheinlich schon bald Gewinne machen, und riet Terra am 16. Mai, den Aktionären das Übernahmeangebot zu empfehlen. Auf den 420 (!) Seiten des Börsenprospektes fand sich nicht nur genügend Platz, um die Berechnungen und das Empfehlungsschreiben der Credit Suisse First Boston vom 16. Mai 2000 abzudrucken. Ausführlich dokumentiert wurde auch, wie sehr die Investmentbank den Angaben des Managements von Lycos und seiner Vertragspartner ohne eigene Prüfung vertraute. Ganz selbstverständlich ging man davon aus, daß Bertelsmann die Aufträge in Höhe von insgesamt 1 Milliarde Dollar erteilen werde.

Laut Registrierungsakten waren mehr als zwei Drittel der eindrucksvollen Bertelsmann-Milliarde – 675 Millionen Dollar – in Wirklichkeit eine Verpflichtung von Telefonica, die Umsätze von Terra Lycos selbst zu bezahlen. Es handelte sich also letztlich wieder um einen Round-Trip-Deal. Villalonga ließ sogar die 325 Millionen, die Bertelsmann nach eigener Aussage in den ersten beiden Jahren in Werbeaufträge bei Terra Lycos investierte, insgeheim von Telefonica finanzieren. Und zwar wieder nach einer bereits erprobten Strategie.

Drei Wochen nach der Pressemitteilung zur Lycos-Übernahme durch Terra in New York, am 5. Juni 2000, gaben Telefonica und Bertelsmann ein Statement folgenden Inhalts ab: Telefonica und Bertelsmann hätten ein Optionsgeschäft nach dem Vorbild von AOL Europe abgeschlossen, demzufolge Bertelsmann ab Januar 2001 die Firma mediaWays an Telefonica verkaufen könne – was dann auch bald geschah. In der "sagenhaften" Kaufsumme von 1,6 Milliarden Dollar war, wie der Spiegel berichtete, so viel Luft, daß die 325 Werbe-Millionen problemlos hineinpaßten. Ein Dealmaker zeigte sich dem anderen erkenntlich. Middelhoff verschaffte Villalonga sein "globales Internet-Powerhouse". Villalonga ebnete Middelhoff den Weg, mediaWays zum genannten Preis zu verkaufen und auf diesem Umweg den 325-Millionen-Einsatz zurückzuerhalten.

Daß in dem Verkauf von mediaWays ein Round-Trip enthalten war, plauderte übrigens ein Jahr danach kein Geringerer als der für gewöhnlich auf äußerste Solidität bedachte Bertelsmann-Finanzvorstand Siegfried Luther aus. Als er auf der Bilanzpressekonferenz am 27. September 2001 auf die riesigen Verluste zu sprechen kam, die durch die Online-Werbung angefallen waren, empfahl er den Journalisten, die Bertelsmann-Vorstände nicht für schlechte Kaufleute zu halten. Man sei die Werbe-Verpflichtungen erst eingegangen, nachdem man AOL Europe und eben auch mediaWays durch Optionsverträge verkauft hatte. Reportern der Financial Times kam der mediaWays-Deal schon im Frühjahr 2001 spanisch vor. Am 11. April berichtete die Zeitung unter Berufung auf Telefonica-Insider beiläufig, Villalonga habe für das kleine Dienstleistungsunternehmen deshalb viel zu viel bezahlt, weil er mit Middelhoff zusammen ein ganz großes Geschäft machen wollte.

Perfektes Teamwork unter Spitzenmanagern. Thomas Middelhoffs Beitrag bestand darin, Villalonga bei Terra Lycos große Umsätze in der Online-Werbung zu ermöglichen. Er gab diese für Bertelsmann "in Auftrag". Telefonica mußte die Werbung zwar selbst finanzieren, durfte sie dafür aber auch bei Terra Lycos als Umsatzsteigerungen verbuchen. Der Dritte im Bunde, Lycos-Präsident Robert Davis, blickte hinter die Fassade und begann drei Tage nach der beschlossenen Fusion im Oktober 2000, seine 3,5 Millionen Terra-Lycos-Aktien zu stark fallenden Kursen zu verkaufen. Er erlöste immerhin noch 72 Millionen Dollar und verließ die neue Gesellschaft weitere drei Monate später als Multimillionär ohne Groll.

Groll hegen heute jedoch die spanischen Terra-Aktionäre, denen von Telefonica bei der geplanten Auflösung von Terra Lycos und der Rücknahme ihrer Aktien gerade mal die Hälfte des Kurspreises angeboten wurde, zu dem sie diese 1999 erworben hatten. Sie drohen Telefonica in Spanien mit einer Aktionärsklage. Groll hegen schließlich auch die Aktionäre von AOL und Time Warner, die sich durch manipulierte Online-Werbegeschäfte größten Stils weismachen ließen, der Terra-Lycos-Merger zeige, wie notwendig und erfolgversprechend auch die Fusion von AOL und Time Warner sei. Von ihnen sind bereits einige Dutzend Klagen bei AOL eingegangen. Letztlich sind alle der Strategie der unkorrekten Buchungen und verschleierten Round-Trips erlegen, durch die sich Fusionen und Aktienkurse nach Belieben schönreden ließen. Middelhoff war der Regisseur; seine Partner bei AOL Europe, AOL-TW, Telefonica und Terra Lycos waren die Nebendarsteller.

Und Bertelsmann? Der Konzern ging stets als Gewinner aus den Geschäften hervor. Er zog sich beizeiten ebenso diskret wie vertraglich abgesichert wieder zurück und wahrte so den Ruf des untadeligen, aber äußerst profitablen Weltkonzerns – bis Alec Kleins Artikel vom 18. Juli 2002 in der Washington Post und der Artikel der Financial Times vom 25. Juli 2002 die Konzernleitung aufschreckte. Die Bertelsmann-Führung erkannte offenbar schnell die heraufziehende Gefahr und handelte entschlossen. Den Mann, der für Bertelsmann – ungehindert von Unternehmens-Vater Reinhard Mohn – den Profit aus jenen Geschäften einfuhr, solange man über jedweden Verdacht eigener Verstrickung erhaben war, hat die Gütersloher Konzernspitze am 28. Juli 2002 fallengelassen. Da waren gerade mal zehn Tage nach den ersten Enthüllungen vergangen. Thomas Middelhoff mußte also keinesfalls gehen, weil Liz Mohn irgendeine Intrige gegen ihn spann. Er mußte auch nicht gehen, weil es laut Pressemitteilung Differenzen über einen längst nicht mehr aktuellen Börsengang gab. Wer aufmerksam den Hintergrund der Werbedeals und Optionsgeschäfte zu Zeiten des Fusionsfiebers und des Internet-Hypes beleuchtet, kann darin den Grund für Thomas Middelhoffs Abgang erkennen.

Was in Sachen Bertelsmann und Thomas Middelhoff noch folgen kann

Juan Villalonga hat es nicht geschafft, Terra Lycos auch nur einen Tag als Executive Chairman von Miami aus zu steuern. Im Juni 2000 wurden in Spanien Insidervorwürfe wegen der Optionsregelung gegen ihn vorgebracht. Im Juli 2000 trat er als Präsident von Telefonica zurück. Die Ermittlungen gegen ihn wegen des Verdachts auf Insidergeschäfte wurden zwar eingestellt. Aber als er im Frühjahr 2003 mit einem Privatjet nach Madrid flog, war der Anlaß kein Geschäftsessen, sondern eine Aussage vor dem Untersuchungsrichter, der gegen ihn wegen Korruption in einer weiteren Angelegenheit ermittelt.

Frank Quattrone und die Credit Suisse First Boston erhielten 2000 aus dem Terra-Lycos-Merger für ihre Beratung nicht nur hohe Honorare, sondern auch höchstes professionelles Lob. Die Zeitschrift Corporate Finance krönte die Übernahme mit ihrer begehrten Auszeichnung Deal of the Year. Allerdings hatte das Platzen der Internet-Blase auch für Quattrone unerfreuliche Folgen. Während des Internet-Booms war er mit 100 Millionen Dollar jährlich einer der höchstbezahlten Banker gewesen. Aber schon Ende 2000 betrieben Anwälte Sammelklagen gegen ihn. Ermittlungen des FBI und der Börsenaufsicht schlossen sich an. Ein FBI-Agent fand E-Mails von Anfang Dezember 2000, in denen Quattrone seine Mitarbeiter anwies, noch vor dem Weihnachtsfest Arbeitsunterlagen und Dokumente zu entsorgen. Daraus leiteten Staatsanwälte den Vorwurf ab, Quattrone habe seine Mitarbeiter zur Beseitigung von Beweismitteln aufgefordert. Im Februar 2003 ließ Quattrone sich beurlauben, um sich auf seine Verteidigung in mehreren Verfahren konzentrieren zu können. Allerdings mit mäßigem Erfolg. Im Mai nahm sein Fall eine dramatische Wendung. Unter großer Beachtung der Medien kam er in Untersuchungshaft. Nur gegen Kaution und Abgabe seines Passes wurde er wieder entlassen. Ein erster Prozeß gegen ihn endete 2003 ohne Urteil, weil die Jury sich zu keinem gemeinsamen Beschluß durchringen konnte. In einem zweiten Prozeß wurde er im April 2004 dann für schuldig erklärt. Quattrone geht nun in die Revision.

Steve Case zog im Laufe des Jahres 2002 wegen seiner Beteiligung an den Round-Trip-Deals bei AOL und AOL Europe immer mehr Kritik von Großaktionären auf sich. Im Januar 2003 trat er als Chairman von AOL-TW und Executive zurück. Dem Aufsichtsrat gehört er allerdings weiterhin an. Auch im Mai 2004 wurde er mit knapper Mehrheit wiedergewählt. Da hatte AOL Time Warner "AOL" bereits aus dem Firmennamen gestrichen.

Robert Pittman, der als Präsident von AOL das Geschäft mit der Online-Werbung und den Round-Trips anbahnte und noch am Tag des Erscheinens des Washington-Post-Artikels AOL-TW verließ, hat als vielhundertfacher Millionär seine eigene Investmentfirma gegründet. Gegen ihn wurden Dutzende von Sammelklagen eingereicht; die Ermittlungen der amerikanischen Börsenaufsicht und der US-Justiz laufen noch. Im Mai 2004 ließ ein New Yorker Gericht eine Aktionärsklage gegen Pittman zu. Die Richterin Shirley Wohl-Kram machte in ihrer Entscheidung deutlich, sie sehe hinreichende Belege dafür, daß unter anderem Robert Pittman und Michael J. Kelly die Anleger betrogen hätten. Die Anwälte haben nach dieser Entscheidung nun die Möglichkeit, Einsicht in die Akten bei AOL-TW zu nehmen.

Und Thomas Middelhoff? Nach seinem spektakulären Abgang am 28. Juli 2002 war es für längere Zeit still geworden um den einstigen Vorzeigemanager in der Bertelsmann-Spitze. Jetzt aber ist "der Medienexperte mit exquisiten internationalen Kontakten", wie ihn das manager magazin charaktierisiert, wieder ganz oben angekommen: als Aufsichtsratsvorsitzender der Karstadt-Quelle AG.

Thomas Middelhoffs Abgang bei Bertelsmann war nicht unehrenhaft wie der Abgang von Juan Villalonga bei Telefonica und von Frank Quattrone bei der Credit Suisse First Boston. Aber er war auch nicht zufällig und rein sachlich begründet, auch wenn das Bertelsmann-Management eben dies glauben machen möchte. Die Legende über die Differenzen mit der Familie Mohn als Rücktrittsgrund und sein Verschwinden aus der Öffentlichkeit waren eine effiziente Strategie, die – bisher – verhindern half, daß Middelhoff und die Bertelsmann AG wegen ihrer Beteiligung an den großen Deals um AOL Europe, Terra Lycos und die Fusion von AOL und Time Warner zum Gegenstand investigativer Berichterstattung wurden. Diese Beteiligung war natürlich nicht selbstlos. Sie verschaffte Bertelsmann Milliardengewinne, an denen Middelhoff märchenhaft mitverdiente.

Das Verschwinden des Bertelsmann-Vorstandsvorsitzenden in der Versenkung nach seinem spektakulären Rücktritt ergibt also einen Sinn. Management und Wirtschaftsprüfer von AOL-TW bestreiten allerdings, daß bei den bislang nachgewiesenen falsch gebuchten Online-Umsätzen Betrugsabsichten überhaupt eine Rolle gespielt haben und daß es sich bei den von der Börsenaufsicht monierten Umsätzen mit Bertelsmann in Höhe von 400 Millionen Dollar tatsächlich um solche getürkten Umsätze handelte. So wäscht immer noch eine Hand die andere. Die alten Seilschaften funktionieren nach wie vor: Im Time-Warner-Aufsichtsrat sitzen Steve Case und dessen Vertraute Novack, Barksdale und Gilburne. Sie alle haben großes Interesse daran, eine Aufdeckung der Umsatzmanipulationen und Täuschungsmanöver oder auch nur das Eingeständnis eines Fehlverhaltens zu verhindern.

Falschbuchungen, die AOL-TW bislang einräumen mußte, betrafen Umsätze in den USA aus Online-Werbegeschäften, die erst bekannt und zum Gegenstand der Ermittlungen wurden, nachdem die Washington Post Presse und Behörden alarmiert hatte. Die Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit der Online-Werbung bei AOL Europe interessieren amerikanische Journalisten nur am Rande. Die Hintergründe dieses Optionsgeschäfts sind überdies schwer aufzuhellen, da AOL Europe in den USA als Auslandsgesellschaft von AOL gilt. Terra Lycos ist nach der Fusion im Oktober 2000 und der gescheiterten Rückintegration eine spanische Aktiengesellschaft mit Hauptsitz in Madrid. Ihre Aktien werden an der US-Börse Nasdaq nur noch in kleinem Umfang als Auslandszertifikate gehandelt und finden bei US-Anlegern kein Interesse. So blieben die Vorgänge um Terra Lycos und Middelhoffs Rolle bisher bei amerikanischen Medien nahezu unbeachtet.

Die Vorstellung vom "sauberen", moralisch einwandfreien Weltkonzern aus der protestantischen Gütersloher Provinz sollte einem wirklichkeitsnahen Bild weichen. Denn wer will allen Ernstes behaupten, daß Reinhard Mohn, der Firmenpatriarch, die graue Eminenz im Hintergrund, der – wenn schon aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr selbst, so doch über seine Ehefrau Liz und die Bertelsmann Stiftung – die Geschicke des Konzerns überwacht, von Geschäften in solcher Größenordnung nichts gewußt hätte? Daß Thomas Middelhoff wenige Tage nach der Veröffentlichung des Artikels in der Washington Post sein Amt aufgeben mußte, läßt erahnen, wie sensibel man in Gütersloh auf jede Gefährdung der glänzenden Konzernfassade reagiert. Diese Fassade wird immer dann mit Begriffen wie Firmenkultur oder Firmentradition aufpoliert, wenn es darum geht, skrupellose Geschäftsmethoden zu vertuschen. Aber nur sie ermöglichte jene beispiellose Erfolgsgeschichte, die den ostwestfälischen Familienbetrieb seit 1835 vom christlichen Provinzverlag zum Weltkonzern geführt hat.

Reinhard Mohn, der ehrwürdige Firmenpatriarch, war zu jeder Zeit über Middelhoffs Tricks und Transaktionen informiert. Die ihm nachgesagte Furcht vor der Börse und das Mißtrauen gegenüber dem Börsengeschäft ist ein Teil seiner Legende und damit der Bertelsmann-Legende. Mohn arbeitet an ihr, seitdem er das Unternehmen von seinem Vater übernommen hat. Vor allem diese Legende unterscheidet Bertelsmann von den anderen Medienkonzernen gleichen und ähnlichen Zuschnitts. Man macht nicht nur Profite, sondern "tut Gutes" – in den Anfängen für die ausgewählte protestantische Leserschaft, dann für "das Volk", für die Wehrmachtssoldaten, nach 1945 per Lesering für die lesehungrigen Nachkriegsdeutschen, dann für das auf Zerstreuung abonnierte Massenpublikum in der ganzen Welt und schließlich als Global Player, der sich für Fusionen und Expansionen stark zu machen hat. Man handelt also nicht aus selbstverständlichen und naheliegenden ökonomischen Gründen, nein: Man handelt auf der Grundlage eines "gesellschaftlichen Auftrags". Reinhard Mohn beschwört ihn bei jeder passenden Gelegenheit und hat ihm die Bertelsmann Stiftung gewidmet. Wer – als Weltkonzern – einen derart strengen ethischen Maßstab an sich selbst legt, ist natürlich noch verwundbarer, wenn solche Verstrickungen wie die des Vorstandsvorsitzenden Thomas Middelhoff ans Licht der Öffentlichkeit geraten. Die Bertelsmann AG hat nicht nur – und das wäre schwerwiegend genug – rechtliche Konsequenzen, Klagen und finanzielle Einbußen zu erwarten, wenn es zu Ermittlungen kommt. Sie befindet sich auch in einem völlig unnötigen, selbst verschuldeten Dilemma. Man hat nämlich ein Gesicht zu verlieren, eine seit der Gründung 1835 tradierte Identität: mehr zu sein als alle Konkurrenzunternehmen, ein Konzern mit ethischem Selbstverständnis und sozialem Gewissen, dessen Oberhaupt sich mit diesem Postulat den Beinamen "Roter Mohn" verdient hat. Umso interessanter und erhellender wird es sein, in den folgenden Kapiteln hinter diese Fassade zu blicken und das andere Gesicht der Bertelsmann AG kennenzulernen. Im Rückblick sind dessen Züge, verschwommen allerdings, schon in den Anfängen erkennbar. Sie treten deutlich hervor in der Zeit der guten Geschäfte des "Widerstandsverlags" mit den Nationalsozialisten, beim forschen Aufbau der Buchclubs in den Fünfziger- und Sechzigerjahren, bei der Neustrukturierung des Konzerns und der Gründung der Bertelsmann Stiftung. Auch die Konturen des Falls Middelhoff passen in dieses Gesicht. Sie geben ihm ein globales Gepräge.

...

Unternehmenstyp: neofeudal

Ist es möglich, die Arbeitswirklichkeit in den Stammbetrieben der Bertelsmann AG vor dem Hintergrund des oben Gesagten so darzustellen, daß die Beschäftigten ihre eigenen Erfahrungen wiedererkennen würden? Ein solcher Versuch wäre wohl zum Scheitern verurteilt. Die Schwierigkeiten beginnen mit der Frage, was in diesem Zusammenhang überhaupt Wirklichkeit genannt werden kann. Ist es die Annäherung der alltäglichen Praxis an das Konzept des Konzerngründers vom partnerschaftlichen Unternehmen? Ist es das von den Beschäftigten oder einem begleitenden Beobachter unmittelbar Wahrgenommene? Resultiert die Betriebswirklichkeit erst aus einer akribischen Bestandsaufnahme der Produktions- und Beteiligungsprozesse in den letzten Jahrzehnten? Müßte eine solche Bestandsaufnahme nicht auch die Erwartungen und Hoffnungen der Beschäftigten einbeziehen?

Diese Überlegungen sind durchaus kein akademisches Verwirrspiel. Sie berühren den Zwiespalt, in dem sich die Mitarbeiter eines Konzernchefs befinden, der ein bestimmtes Unternehmensmodell propagiert und dessen Vorbildcharakter mit dem Erfolg des Unternehmens begründet, in dem – so setzt Mohn stillschweigend voraus – das Modell natürlich weitgehend verwirklicht wurde. Aber sehen die Mitarbeiter das auch so? Woran sollen sie sich denn halten? Die Angehörigen der Bertelsmann-Gemeinschaft sehen sich privilegiert oder setzen darauf, daß sie per Saldo privilegiert sein werden, spätestens zum Zeitpunkt ihrer Pensionierung oder dann, wenn die Zusagen der Unternehmensleitung annäherungsweise eingelöst werden.

Da wir, die Autoren dieses Buches, keine Mitarbeiter oder anderweitig Begünstigte von Bertelsmann oder der gleichnamigen Stiftung sind, können wir schlicht feststellen, daß die Konzernführung ihren eigenen Prämissen nicht gerecht wird. Wir ziehen das Fazit, daß in Gütersloh – von den anderen Standorten der Bertelsmann-Tochtergesellschaften ganz zu schweigen – Anspruch und Faktizität weit auseinanderklaffen. Und dies nicht nur infolge bestimmter hemmender Umstände wie beispielsweise der Konjunkturschwäche, unter der andere Konzerne ebenfalls zu leiden haben, sondern grundsätzlich. Es liegt völlig im Ermessen des Ehepaars Mohn und des sonstigen Konzernvorstands, ob die Voten und Empfehlungen der Beschäftigten auch nur ansatzweise in die Tat umgesetzt werden. Und es ist völlig offen, ob Reinhard Mohns Humanismus in schlechten Zeiten noch mehr sein wird als eine Sammlung von Worthülsen.

Die Mitarbeiter der Gütersloher Stammbetriebe stehen in einem Spagat zwischen Erfahrung und Vertrauen. Sie vertrauen darauf, daß es ihnen besser geht als früher und besser als ihren Kollegen in anderen Unternehmen, die nicht übertariflich entlohnt und nicht am Gewinn beteiligt werden. "Wir haben in der Vergangenheit partizipiert, jetzt müssen wir auch mal verzichten", sagte Jochen Werner 1994 auf einer Betriebsversammlung. Heute wird den Unzufriedenen zu verstehen gegeben, daß sie zur Sicherung ihrer Arbeitsplätze ohne Lohnausgleich länger arbeiten müssen. Den ökonomischen Zwängen unterliegen die Bertelsmann-Firmen ebenso wie die anderen Unternehmen, obwohl man doch immer wieder unter Zuhilfenahme aller ethisch-moralischen Argumente der "Menschlichkeit" betont, ganz anders als diese zu sein. Aber ist nicht eben dies das ganze Geheimnis der Bertelsmann AG: daß man sich nicht von den anderen Großunternehmen unterscheidet?

Noch immer rechnen die Beschäftigten bei MOHN Media und anderen Stammbetrieben des Konzerns zu ihrem Einkommen die Renditen hinzu, die sie als stille Teilhaber des Unternehmens erwarten können, obwohl die wirtschaftliche Lage sie längst eines Besseren belehrt haben müßte. Und noch immer betrachten sie die gefeierte Unternehmenskultur als ein Entwicklungsprojekt, das gerade erst begonnen hat. Sie stellen Vergleiche mit der Lage der Beschäftigten in anderen Unternehmen an. Sie sind Miteigentümer eines Potentials. Die Entwicklung von der gegenwärtigen, unzulänglichen Unternehmenskultur zur verwirklichten Unternehmenskultur begreifen sie als Fortschritt und als freiwilliges Geschenk der Führung an die Belegschaft. Dabei müßte der Arbeitsalltag ihnen längst gezeigt haben, daß genau das Gegenteil der Fall ist.
Reinhard Mohn hat sein Unternehmen mehrfach reorganisiert, um die Initiative zu behalten und an der Spitze zu bleiben. Es ist ihm gelungen, diese Maßnahmen als Entscheidung für Menschlichkeit und Gerechtigkeit zu verkaufen, ja sogar als Abwendung von der Strategie purer Gewinnmaximierung. Mohn ist ein Pionier der "Partnerschaft" im Unternehmen, aber – das muß man fairerweise sagen – durchaus nicht der einzige und bei weitem nicht der konsequenteste unter jenen deutschen Unternehmern, die sich aus amerikanischen Konzepten der Mitarbeiterführung und dem "Harzburger Modell" des Akademieleiters Reinhard Höhn das Passende herausgeschnitten haben. Er hat aus diesen Konzepten jedoch viel mehr Aufhebens gemacht als seine Kollegen. Jahrzehntelang hat er sich als Prophet der modernen, menschlichen Unternehmensführung stilisiert, als einsamer Vorkämpfer, dessen Arbeit gerechterweise seit Jahrzehnten Früchte trage.

Alle diese Konzepte zielen auf die Steigerung der Produktivität durch "motivierte Mitarbeiter", die strategisch mitdenken und Verantwortung übernehmen. Der Hauptantrieb zur Förderung einer Kommunikations- und Kooperationskultur im Großbetrieb ist der wachsende Konkurrenzdruck oder, wie im Fall Reinhard Mohns, der Drang zur Marktführerschaft. Die Führungskräfte und anderen Mitarbeiter der Bertelsmann AG haben also keinen Grund, sich beschenkt zu fühlen, weil sie in einem "Unternehmen mit starker Identität" arbeiten dürfen. Sie hätten auch dann keinen Grund dazu, wenn in den Bertelsmann-Firmen eines Tages die Hierarchien tatsächlich so flach, die Kommunikation tatsächlich so offen und die Teamarbeit tatsächlich so unabhängig sein sollten, wie es das Eigenlob des Patriarchen erwarten läßt – was aber höchst unwahrscheinlich ist. Solange die Beteiligungsprozesse keine Eigendynamik entfalten, die auch die langfristigen Unternehmensziele einbezieht, sind die Beschäftigten nicht weniger von Gunst und Glück der Kapitaleigner abhängig als die Beschäftigten in traditionellen Betrieben. Was sie eigenständig entwickeln, bleibt Stückwerk, zumal in konjunkturell turbulenten Zeiten, und kann durch einen Anruf oder durch eine E-Mail aus der Führungsetage jederzeit storniert werden. Über Dauer und Ausmaß der garantierten Gewinnbeteiligung entscheiden höhere und fremde Gewalten: die Eigentümer, die Rentabilität der Einzelfirmen und die Position des Konzerns auf dem Weltmarkt.

Die so genannte Unternehmensverfassung ist eine reine Absichtserklärung, eine Inszenierung, gegründet auf good will und Markterfolg. Die Partnerschaftspakete und Sozialmodelle werden in erster Linie zur Verbesserung der Ertragslage und der Kapitalausstattung verabredet und können sich für die beteiligten Arbeitnehmer unversehens als Schönwetterprojekte erweisen. Unter Umständen müssen sich die Beteiligten dem Gebot des Gemeininteresses beugen – was nichts anderes bedeutet, als sich den konjunkturellen Gegebenheiten, einem Generationenwechsel in der Mohn-Dynastie oder einer Änderung der Konzernstrategie anzupassen. Für die Beschäftigten sind durch die Mohn’sche Unternehmenskultur die Verhältnisse nicht schlechter, aber auch nicht – wie versprochen – besser geworden; sie werden in der Öffentlichkeit nach der Sprachregelung des Bertelsmann-Patriarchen nur besser verkauft: als fortschrittlich, sozial und partnerschaftlich. Es besteht also kein Anlaß zu Elogen.

Denn das Mitspracherecht und die sozialen Vorzüge der Unternehmenskultur haben Grenzen in der Bertelsmann AG. Reinhard Mohn persönlich hat in Erfolg durch Partnerschaft erklärt, daß die unternehmerischen Vorrechte durch die Mitwirkung seiner Angestellten nicht angetastet werden dürfen. Hinter der unermüdlich zelebrierten Rhetorik der "Partnerschaft", "Mitsprache" und "Delegation von Verantwortung" verbirgt sich das Dilemma eines Unternehmerpaars, das alle Quellen der Kreativität und des Arbeitseifers bei seinen Mitarbeitern zum Sprudeln bringen will, aber auf Dauer niemandem über den Weg traut. Die Entwicklung wird zeigen, ob dies eine Charakterfrage oder eine Erblast der Mohn-Dynastie ist, und es bleibt abzuwarten, wie die Nachfolger damit zurechtkommen werden.

Die Mitarbeiter in Gütersloh jedenfalls wissen, an wen sie sich im Ernstfall zu wenden haben – Dezentralisierung hin, Alleinverantwortung her. Knirscht es im Gebälk des weitläufigen und vielstufigen Unternehmens, ignorieren die Unzufriedenen die tausend Regelungen der innerbetrieblichen Kooperation und machen Eingaben direkt bei Reinhard oder Liz Mohn oder bitten um Audienz. Wenn eine Verlagerung von Firmen oder Firmenbereichen in andere Regionen ansteht, helfen (vielleicht) Reinhard oder Liz Mohn. Sollten in der Vergangenheit Betriebsvereinbarungen hieb- und stichfest gemacht werden, gab Reinhard Mohn eine zusätzliche Garantieerklärung ab. Wenn untergeordnete Manager ausfällig wurden oder harte Entscheidungen trafen, blieb die Hoffnung, daß der Chef davon nichts gewußt habe. "Warum hat denn noch niemand vom Betriebsrat mit dem Vorstand gesprochen? Mit Herrn Mohn oder Herrn Fischer? So was würden die doch nie entscheiden. Wir sind doch alle Bertelsmänner!" Das war, vom Stadtblatt Bielefeld am 9. September 1982 dokumentiert, der Stoßseufzer vieler Frauen in der Buchbinderei, die im September 1982 bei Mohndruck in einer vorübergehend schlechten Auftragslage auf die Hälfte ihrer Arbeitszeit und ihres Lohns verzichten sollten. Reinhard Mohn allerdings konnte oder wollte in dieser Angelegenheit ebenso wie der damalige Vorstandsvorsitzende und Wössner-Vorgänger Manfred Fischer nicht helfen.

Dessen ungeachtet imponiert Bertelsmann als erstes voll entwickeltes Exemplar einer neuen Gattung von Wirtschaftsriesen. Von außen betrachtet gleicht das Unternehmen einem Monolithen. Es schottet sich zwar nicht ab, operiert aber wie eine in sich geschlossene und weitgehend autarke Einrichtung, die alles selbst und besser als andere machen will. Die Beschäftigten bezeichnen sich als "Bertelsmänner" und nicht als Angehörige bestimmter sozialer Gruppen, weder als "Lohnabhängige" noch als "Arbeitnehmer". Dem Bekenntnis zum Haus Bertelsmann entspricht das Einverständnis mit den Firmenzielen. (Nach deren präziser Benennung sucht man in den Ausführungen Reinhard Mohns, den Geschäftsberichten und Werkszeitschriften aber vergeblich.) Bei den Mitarbeiterbefragungen in den technischen Betrieben von Bertelsmann erklären jeweils große Mehrheiten von Beschäftigten, sie würden gern wieder zu Bertelsmann zurückkehren, falls sie einmal aus dem Betrieb ausscheiden sollten. Ebenfalls große Mehrheiten bestätigen, daß die Arbeit ihnen Spaß mache, und sind überzeugt, daß diese zum Erfolg des Konzerns beigetragen habe. Das hier zutagetretende Maß an "Produzentenstolz" ist außergewöhnlich. Und zumindest in den Stammbetrieben des Konzerns schätzen sich die meisten Betriebsräte als Partner der Geschäftsleitung ein.

Mit der lange umstrittenen Arbeitszeitregelung, die tief in das Freizeit- und Familienleben eingreift, hat sich die große Mehrheit der am Stammsitz des Konzerns Beschäftigten offensichtlich abgefunden. Obwohl den Betroffenen klar ist, daß sie ihre "Zeitsouveränität" weitgehend an die Produktionsplanung abgetreten haben, bejahen sie überwiegend die Notwendigkeit der Regelung, und zwar vielfach mit der Begründung, das Unternehmen müsse "konkurrenzfähig" bleiben.

Doch das Stimmungsbild ist, wie bereits dargestellt, nicht widerspruchsfrei. Während die Institution Bertelsmann, ihre Betriebsorganisation und die Teamarbeit als Prinzip hoch im Kurs stehen, erhält der Faktor der "äußeren Bedingungen des Arbeitsplatzes" die schlechteste Bewertung. Offenbar erwartet man sich Vorteile von der Zugehörigkeit zu einem Unternehmen, das in hohem Ansehen steht, und nimmt dafür den Ärger am unmittelbaren Arbeitsplatz weitgehend in Kauf. Dabei spielt es auch eine Rolle, daß die Mitarbeiter bereits viel Geld in das System der Gewinnbeteiligung investiert haben. Das will man ebenso wenig gefährden wie sonstige Prämien und geldwerte Leistungen. Man setzt auf das Wachstum der eigenen Unternehmensanteile – ein Beweggrund, den Entscheidungen des Vorstands generell zuzustimmen.

Der Unternehmenstyp Bertelsmann weist zwei Hauptmerkmale auf, die in einer gewissen Spannung, aber nicht im Widerspruch zueinander stehen: die relative Autonomie der Unternehmensteile und die nach wie vor unangetastete Schlüsselstellung der obersten Weisungsinstanz, des Eignerpaars Reinhard und Liz Mohn. In der Wirtschaftspresse wird neuerdings häufig zwischen einer shareholder-orientierten und einer stakeholder-orientierten Unternehmensverfassung unterschieden. Nach den Äußerungen Reinhard Mohns könnte man vermuten, daß er sich in der Rolle des unparteiischen stakeholder sieht, der sein Unternehmen als eine Art öffentlicher Institution betrachtet und die Interessen der Aktionäre, des Vorstands und der Mitarbeiter des Konzerns mit den Ansprüchen von Öffentlichkeit und Staat zum Ausgleich bringt und nur dann mit eigenen Direktiven interveniert, wenn die "Zukunftsfähigkeit im partnerschaftlichen Unternehmen" auf dem Spiel steht. Die Vorstellung jedoch, daß im Haus Bertelsmann unterschiedliche Gruppeninteressen gegeneinander stünden, deren – womöglich konzernübergreifender – Zwist auf verschiedenen Organisationsebenen ausgetragen würde, ist Reinhard Mohn ein Greuel. Er sorgt vielmehr dafür, daß die Initiativen der Anteilseigner und der einzelnen Unternehmensbereiche von vornherein im Sinne fraglos vorgegebener "Unternehmensziele" und Führungsstrategien erörtert werden.

Auch bleibt für ihn der Gewinn "unverzichtbar als Maßstab der Richtigkeit des Handelns sowie zur Bedienung des vorhandenen und zur Generierung neuen Kapitals."

Eine wahrhaft klärende Feststellung des Präsidiums- und Kuratoriums-Vorsitzenden der Bertelsmann Stiftung, Heribert Meffert. Die Entscheidung darüber, welche Art von Gewinn gemacht werden soll und wozu die Gewinne verwendet werden sollen, behalten sich Reinhard und Liz Mohn persönlich vor.

Japanische Verhältnisse für den Bertelsmann-Patriarchen

Da macht es nachdenklich, daß Reinhard Mohn erklärtermaßen nicht nur mit amerikanischen, sondern auch mit japanischen Modellen der Mitarbeiterbeteiligung sympathisiert. Über Jahrzehnte hinweg pries er diese immer wieder als vorbildlich. Als er für die "Mitsprache am Arbeitsplatz in allen Bereichen und auf allen Ebenen" plädierte, verwies er auf die Ergebnisse der japanischen quality circles. In japanischen Betrieben, so Reinhard Mohn, nähmen die Mitarbeiter "durch Information und Mitsprache Einfluß auf die Gestaltung ihrer Arbeit". Auf diese Weise aktiviere man brachliegenden Sachverstand und steigere die Motivation der Mitarbeiter.

Uns scheint, daß zwischen der überkommenen japanischen Unternehmenskultur und den Leitgedanken Reinhard Mohns noch weitere Gemeinsamkeiten bestehen. Augenfällig ist, daß sich japanische Großunternehmen nach außen hin weitgehend abschotten. Unterschiedslos richten Manager und Belegschaft ihr Dasein auf die Firmengemeinschaft aus, wobei zwischen Arbeitern und Angestellten ebenso wenig unterschieden wird wie in Gütersloh. Die Arbeitnehmer organisieren sich nicht in überregionalen Organisationen, sondern in separaten Betriebsgewerkschaften. In Führungspositionen gelangen fast ausnahmslos solche Mitarbeiter, die ihren Berufsweg im betreffenden Unternehmen begonnen haben.

Nach dem Leitbild des "Hauses", das seine Angehörigen zeitlebens verpflichtet, fordert die Firma in Japan von ihren Mitarbeitern unbezahlte und unbezahlbare Loyalität. Westlichen Beobachtern ist das fraglose Treueverhältnis zwischen japanischen Angestellten und ihren Vorgesetzten nur als eine Art Gratisleistung faßbar. Daher erkennen sie in der anspruchsvollen Haltung der Eigentümer und Vorstandsmitglieder in japanischen Großunternehmen eine "harmonistische Grundauffassung" vom Wirtschaftsleben. Reinhard Mohn hat es gewiß angenehm berührt, daß ein häufig verwendeter Begriff in der Selbstbeschreibung japanischer Unternehmen recht präzise mit "Arbeitsgemeinschaft" übersetzt werden kann. Hier sitzt der Unternehmer also einer Belegschaft vor, deren Mitglieder in vertrauensvollem Zusammenwirken ein dem operativen Geschäft übergeordnetes Ziel verfolgen (über welches sie keine Rechenschaft verlangen). Dabei genießt das Prinzip geregelter und ausbalancierter Kooperation höchste Wertschätzung. Die Teamarbeit selbst gehorcht einer nach europäischen Maßstäben erstaunlich strengen Leistungsmoral. Hohe Arbeitsplatzsicherheit und verschiedene Gewinnanteils- und Prämiensysteme flankieren den Zusammenhalt der Gruppenmitglieder. Sie kommen jedoch nur den regulären Vollzeitangestellten zugute.
Viel Arbeitszeit veranschlagt man in japanischen Großunternehmen für die Beteiligung an Entscheidungsprozessen. Gewöhnlich kursieren verabschiedungsreife Vorlagen im Haus, bis sämtliche zuständigen und betroffenen Mitarbeiter Gelegenheit zu Korrekturvorschlägen hatten und schließlich per Namensstempel ihre Zustimmung erteilt haben. Unabhängig vom jeweiligen Vorgang ist die angestrebte Übereinstimmung ein Wert an sich. Zugleich sehen sich alle Mitarbeiter ständig dazu aufgefordert, mit eigenen Vorschlägen den Arbeitsablauf zu verbessern. All diese Beteiligungsarten sind Ausdruck und Bestätigung der Identifikation mit dem Unternehmen, nicht etwa besondere Maßnahmen, um die Identifikation erst zu ermöglichen oder zu verstärken.

Daß einem Leser der Mohn’schen Schriften hier vieles vertraut erscheint, bedarf keiner Erläuterung. Die wichtigste Gemeinsamkeit der japanischen und Gütersloher Konzepte besteht jedoch in dem, was hier wie dort stillschweigend vorausgesetzt wird. In japanischen Großunternehmen wie bei Bertelsmann sind "Mitsprache" und "Beteiligung" auf die Ausgestaltung der vorgegebenen Geschäftspolitik beschränkt. Diese Politik zu machen, obliegt den Haupteigentümern und Vorständen des Unternehmens. Hier wie dort öffnet erst die respektierte Autorität der Konzernchefs den Raum für die "Mitsprache". Was Bertelsmann betrifft, so hat der Konzern auch in seiner Version als Aktiengesellschaft nie aufgehört, ein Familienunternehmen zu sein, dessen Leiter, Reinhard und, seit einigen Jahren, Liz Mohn, die Kompetenz besitzen, bei Entscheidungen von großer Tragweite persönlich einzugreifen. Diese Kompetenz ist die Basis aller Regelungen im Konzern; wenn sie noch zusätzlich festgeschrieben wird, sollte man die entsprechenden, meist vagen Formulierungen nicht auf die Goldwaage legen. Potentiell rivalisierende Anwartschaften sind ja weit und breit nicht zu erkennen. Reinhard und Liz Mohn haben bisher ihre Verfügungsgewalt nur unter stillschweigendem Vorbehalt an kompetente Köpfe abgetreten. Und sie sehen sich, zu ihrem Bedauern, immer wieder "gezwungen", diese Verfügungsgewalt zurückzuholen.

Auf diese stillschweigende Klausel geht Reinhard Mohn in seinen langatmigen Darlegungen nicht ein. Selbstherrliche Gesten vertragen sich schlecht mit der Aura der Bescheidenheit, die den Patriarchen umgibt. Aber mögliche Ansprüche anderer, Hand ans Steuer des Konzernschiffs zu legen, weist Reinhard Mohn stets unmißverständlich zurück. Er tut das – im Gegensatz zu seiner Gattin – auf indirekte Weise. Niemand soll sich ausgeschlossen fühlen. Als oberstes Unternehmensziel bestimmt er, wie schon dargestellt, ebenso nebulös wie unanfechtbar den "Leistungsbeitrag für die Gesellschaft". Aus diesem selbst erteilten Auftrag gewinnt er jede benötigte Legitimation. Gemessen am Wohl der ganzen Gesellschaft erscheinen die Interessen irgendwelcher Mitarbeitergruppen, Vorstandsmitglieder, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände oder auch Familienmitglieder einseitig, partiell, borniert, willkürlich, egozentrisch und eitel. Wer das oberste Ziel im Auge hat, verbittet sich jedwede Einmischung. Und zieht, wenn es sein muß, klare Grenzen: "Ich glaube nicht, daß eine solche Form der Mitbestimmung (von Arbeitnehmervertretern) der Gesellschaft dient."

Und wie weisen sich Reinhard und Liz Mohn ihre eigene, ausschlaggebende Rolle im Gefüge des Hauses Bertelsmann zu? Mit keinem Wort. Das haben sie auch nicht nötig. Sie sind einfach nur diejenigen, die entscheiden, was der richtige Leistungsbeitrag des Unternehmens für die ganze Gesellschaft ist.

Reinhard Mohn zufolge gebietet es das oberste Unternehmensziel, die Übernahme einer Führungsverantwortung in der Wirtschaft mit der Ausübung eines Amts ("Mandats") gleichzusetzen – gewissermaßen in höherem gesellschaftlichem Auftrag. Daher müsse jeder Funktionsträger bei Bertelsmann, der "den Anforderungen seiner Position nicht mehr entsprechen kann", zurücktreten beziehungsweise abgelöst werden. Doch wer stellt fest, daß ein hochrangiger Manager gescheitert ist? Wer teilt mit, daß es "nicht mehr geht"? Und wer nominiert den Nachfolger?

Eingebettet in ein Geflecht von Mitspracheregelungen und Mitarbeiterbeteiligungen reservieren Reinhard Mohn und Liz Mohn für sich einen autokratischen Führungsstil. Man kann darin eine strukturelle Unstimmigkeit oder auch das schwarze Loch in der "Unternehmensverfassung" der Bertelsmann AG erkennen. Jedenfalls zeigt sich hier die Schwachstelle des auf Flexibilität getrimmten Unternehmens. Bleibt sie bestehen, wird sie eine entschlossene und vorausschauende Führung des Weltunternehmens Bertelsmann erheblich erschweren. Denn die als Familienexekutive heute im Vordergrund stehende Liz Mohn ist auf Berater mit Weitblick angewiesen. Aber wird sie solchen Beratern langfristig vertrauen können? Wird nicht gerade das Bewußtsein ihrer Abhängigkeit das Mißtrauen gegen den möglichen Ehrgeiz der Ausgewählten wecken? Kontinuität der Führung ist unter diesen Bedingungen nicht zu erwarten.

...

Wie Reformen gemacht werden – Die Bertelsmann Stiftung und ihr politischer Einfluß

Im Zentrum der Macht

Unter den Linden Nr. 1 ist eine der besten Adressen in Berlin. Auf diesem Grundstück des Prachtboulevards, umgeben vom barocken Prinzessinnenpalais, dem imposanten Zeughaus und der ehrwürdigen Humboldt-Universität, errichtete Bertelsmann in standesgemäßer Nachbarschaft eine Hauptstadtrepräsentanz. Mit enormem finanziellen Aufwand und architekturgeschichtlicher Akribie ließ man den klassizistischen Bau der ehemaligen Stadtkommandatur neu erstehen. Kaum zu glauben, daß das Gebäude im Zweiten Weltkrieg von Bomben zerstört, in den Nachkriegsjahren abgerissen und erst im neuen Jahrtausend bis auf den Millimeter getreu rekonstruiert wurde. Hightech und höchste Funktionalität in erlesenem Gewand. Das Haus Unter den Linden Nr. 1 dient den Managern der Bertelsmann AG als Besprechungs- und Arbeitsplatz bei Hauptstadtbesuchen. Hier finden sich die Wirtschaftsgrößen zusammen, um über künftige gemeinsame Projekte zu beraten. Und unter demselben Dach widmet sich die Bertelsmann Stiftung ihrem gesellschaftlichen Auftrag.

Berlin empfängt Bertelsmann mit offenen Armen. Bertelsmann empfängt Berlin – mit einer rauschenden Partynacht.

Zur feierlichen Eröffnung der Repräsentanz am 6. November 2003 waren 600 Prominente aus Politik, Wirtschaft, Medien und Kultur geladen. Die Creme de la Creme scharte sich um Liz Mohn und die beiden Hausherren: Gunter Thielen von der Bertelsmann AG und Heribert Meffert von der Bertelsmann Stiftung. Bundeskanzler Schröder war anwesend. Mit ihm kamen Minister, Politiker, Wirtschaftsgrößen, Schriftsteller, Schauspieler, Stars und Sternchen und die wichtigsten Medien- und Meinungsmacher. Angela Merkel vertrat die Opposition von CDU/CSU. Guido Westerwelle feierte für die FDP. Für die Grünen kam deren Parteivorsitzender Reinhard Bütikofer. Berlins Oberbürgermeister Klaus Wowereit stürzte sich ebenso ins Getümmel wie Bundestagspräsident Wolfgang Thierse. Weiterhin amüsierten sich: der SPD-Politiker Egon Bahr, Daniel R. Coats und Shimon Stein aus den amerikanischen und israelischen Botschaften, die Verleger Friede Springer und Georg von Holtzbrinck, Telekom-Chef Kai-Uwe Ricke, Erich Sixt, Rudolf Miete, Rolf E. Breuer von der Deutschen Bank, Bernd Kundrun von Gruner+Jahr, die Fernsehmoderatorenriege mit Sabine Christiansen, Sandra Maischberger und Anne Will sowie den beiden Stars aus Bertelsmanns RTL Group, Günther Jauch und Oliver Geissen, der Unternehmensberater Roland Berger, die Tennis-Legende Boris Becker, die Schriftsteller Rolf Hochhuth und Walter Kempowski (der gelegentlich Beiträge für Bertelsmann-Festschriften verfaßt), die Schauspieler Iris Berben, Manfred Krug, Ben und Meret Becker und so weiter und so weiter.

Ganz Berlin war auf den Beinen. Mit "einer Nacht der langen Reden und großen Worte" wollte man die Repräsentanz nämlich nicht eröffnen. Darauf legte man bei Bertelsmann Wert. Es sollte ein zwangsloser Abend sein. Und die meisten Gäste verließen "erst in den frühen Morgenstunden" das festlich erstrahlte Gebäude. Für die Mächtigsten der Mächtigen war in jener Nacht ein besonderer Platz reserviert. Im Wintergarten der "prachtvoll illuminierten Sky Chapel" führten Kanzler Gerhard Schröder, Liz Mohn, Gunter Thielen und Heribert Meffert Gespräche – "hoch oben über den Köpfen der Gäste". Dort, wo Politik gemacht wird.

Die Resonanz war überwältigend. Der Kanzler sprach aus, was man als Signal dieses Abends erwartet hatte. Er fand höchstes Lob für den Medienkonzern und die Stiftung. Von dem neuen noblen Kommunikationszentrum erhoffte er sich "eine Bereicherung des politischen und kulturellen Dialogs in Berlin und in Deutschland". Das hätten die anwesenden Bertelsmann-Vertreter nicht besser ausdrücken können. Thielen betonte in seiner Ansprache das soziale und kulturelle Engagement der Bertelsmann AG. Dem werde man vom neuen Gebäude aus noch intensiver nachkommen als bisher. Endlich seien Raum und Möglichkeiten zur produktiven Auseinandersetzung vorhanden. Hier könne man informieren, kommunizieren und vor allem diskutieren: über aktuelle Themen, brennende Zukunftsfragen und gesellschaftliche Perspektiven. Meffert versprach im Namen der Stiftung dasselbe und hob deren Verdienste hervor. Die Bertelsmann Stiftung habe sich als "Identifikationspunkt der Reformarbeit" in Deutschland bewährt. Sie rege als Think Tank der Republik die Entscheider zum Nachdenken und Umdenken an. Dann zitierte er Reinhard Mohn: "Wir helfen der Politik, dem Staat und der Gesellschaft, Lösungen für die Zukunft zu finden."

Bertelsmann hat Berlin eines der eindruckvollsten Baudenkmäler der Stadt wiedergeschenkt und sich zugleich ein Denkmal gesetzt. Unweit des Reichstags, des Kanzleramtes und der diplomatischen Vertretungen macht das Unternehmen deutlich: Als Familienbetrieb ist man zum Medienimperium mit weltweiten Netzwerken gewachsen – und seinem sozialem Gewissen treu geblieben. Man hat bei den Einflußreichen mehr als nur einen Fuß in der Tür. Der Gütersloher Konzern ist im Zentrum der Macht angekommen und beabsichtigt, diese Macht zu nutzen.

Der Rockefeller von Gütersloh

Alle waren anwesend an diesem denkwürdigen Abend, nur einer nicht: der spiritus rector des Ganzen. Reinhard Mohn ließ sich durch seine Ehefrau Liz vertreten. Dabei wäre der Abend einschließlich der Reden, die gehalten wurden, nach seinem Geschmack gewesen. Am 6. November 2003 wurde zelebriert, was der Bertelsmann-Patriarch als seinen gesellschaftlichen Auftrag in die Formel vom "Leistungsbeitrag für die Gesellschaft" gegossen hat. Mohn, der es mit Bertelsmann zeitweise auf den ersten Platz in der Rangliste der Medienriesen brachte, betrachtet die Stiftung heute als sein Lebenswerk. Was Kritiker wiederum veranlaßt, sie als "Mohn-Sekte" zu bezeichnen. Die Stiftung ist die Institutionalisierung seiner – selbst erteilten – Aufgabe, von der Mohn seit über dreißig Jahren in Reden, Büchern und bei jeder anderen passenden Gelegenheit nicht müde wird zu betonen, daß sie eben nicht rein unternehmerisch, sondern in erster Linie gesellschaftlich – sozial, kulturell, politisch – ausgerichtet sei.

Als sich Reinhard Mohn 1991 mit siebzig Jahren vom Vorsitz im Aufsichtsrat der Bertelsmann AG zurückzog, verlegte er den Schwerpunkt seiner Aktivitäten auf die Bertelsmann Stiftung. Er übernahm den Vorsitz des Präsidiums, übertrug ihr 1993 mit 68,8 Prozent einen Großteil der Bertelsmann-Aktien und machte sie zu Deutschlands reichster Stiftung. (Daran hat sich nichts geändert, als der Aktienanteil 2001 auf 57,6 Prozent reduziert wurde.) Bis 2002 wendete sie mehr als 250 Millionen Euro auf, allein im Jahr 2002 waren es rund 70 Millionen. 2001 legte Mohn mit achtzig Jahren auch hier den Vorsitz nieder, blieb aber Mitglied des Präsidiums. Noch heute, mit 83 Jahren, geht er täglich in sein Büro im Gütersloher Stiftungsgebäude – einen Steinwurf von der Konzernleitung auf der anderen Straßenseite entfernt.

An der Spitze der Stiftung steht eindeutig das Ehepaar Mohn. Im Präsidium sitzen Reinhard und Liz Mohn, ihnen zur Seite zwei Gelehrte von Rang: der deutsche Marketingpapst Heribert Meffert und Werner Weidenfeld, ein Politikwissenschaftler mit exzellenten Kontakten. Dazu kommt der kaufmännische Geschäftsführer Johannes Meier, der seine Karriere bei McKinsey begann. Früher war auch die Führungsspitze der Bertelsmann AG im Präsidium vertreten. Inzwischen sind der Vorstandsvorsitzende (heute: Gunter Thielen) und der Aufsichtsratsvorsitzende (heute: Dieter H. Vogel) ins Kuratorium der Stiftung abgewandert. Komplettiert wird das Gremium durch handverlesene Freunde der Familie Mohn und des Hauses Bertelsmann. Im Übrigen legen die Statuten fest, daß in Bertelsmanns Think Tank sowieso keine wichtige Entscheidung gegen die Familie getroffen werden darf.

Zweifellos: Die Stiftung tut Gutes. Sie hat zahllose Projekte angeschoben, Reformen vorbereitet und Denkanstöße gegeben. Nach den Vorstellungen Reinhard Mohns arbeitet die Stiftung mit weltweitem Horizont und beeindruckendem Budget. Mehr als 250 hochqualifizierte Akademiker sollen Ideen aufspüren und weiterentwickeln. In Modellversuchen testen sie unter Praxisbedingungen, was die öffentliche Hand landes-, bundes- und europaweit auf den Weg bringen soll. Große Teile der deutschen Gesundheits-, Hochschul- und Arbeitsmarktreformen werden von ihnen konzipiert. Die Stiftung versteht sich als Deutschlands führende Reformwerkstatt mit dem Ziel, die Republik aus ihren Sackgassen herauszuführen. Sie wartet nicht, bis von anderen Stellen förderungswürdige Konzepte und Projekte an sie herangetragen werden, sondern tritt selbst an die entsprechenden Wissenschaftler, Ökonomen und Politiker heran. Die Stiftung bringt alle an gut gedeckten Tischen zusammen. Sie ist operativ, nicht philanthropisch tätig.

Das Image ist makellos. Es liefert ein leuchtendes Beispiel für den Glauben an den Fortschritt, die Notwendigkeit parteiübergreifender Zusammenarbeit und die Wohltätigkeit des Unternehmens, das hinter der Stiftung steht. Ein Konzern, der so viel Geld in einen Think Tank für die Zukunft der Gesellschaft investiert, kann nicht eigennützigen Motiven folgen. So lautet die Botschaft. Die Stiftung bildet eine glänzende, regelrecht blendende Fassade für die Geschäfte der Bertelsmann AG.

Als Reinhard Mohn die Stiftung 1977 gründete, schickte sich das Unternehmen gerade an, einer der weltgrößten Medienkonzerne zu werden. Bei so viel Medienmacht in einer einzigen, privaten Hand war mit Widerspruch zu rechnen. Ganz ähnlich wie bei Axel Springer zehn Jahre zuvor. Der Medienunternehmer war als Kapitalist und Konservativer zur Zielscheibe massiver Proteste geworden. Diese hatten die Expansion seines Konzerns gebremst. Der permanenten Blockaden müde, wollte Springer 1970 verkaufen. Mohn versuchte, sich zunächst mit 33 Prozent, dann mit einer Mehrheit an Springers Konzern zu beteiligen. Redakteure des Stern protestierten laut. In dieser Situation bedachte der Spiegel Bertelsmann – zum zweiten Mal nach 1957 – mit einer kritischen Titelstory. Das Gütersloher Unternehmen wurde als Moloch dargestellt. Günter Gaus schrieb eine Spiegel-Kolumne, die Bertelsmann noch demokratiegefährdender erscheinen ließ als den Springer-Verlag:

Wenn es also wahr ist, daß die sozialdemokratische Regierungspartei Frieden mit Bertelsmann hält, weil sie ihn mit Springer nicht machen konnte, so wird in diesen Tagen eine Fehlentscheidung vorbereitet, deren Folgen weit über die bisherigen kommunikationspolitischen Versäumnisse hinausreichen. Für Bonn muß das sichtbar werdende Konzept der Gütersloher genügen, endlich die Formeln für die Bändigung der totalen Informationsindustrie von morgen zu entwickeln. Die mammuthaften Verbindungen der verschiedenen Industrien mit dem Ziel des Medien-Verbunds werden, soweit sie nicht schon verabredet sind, in naher Zukunft vorbereitet ... Gut gemeinte Beteiligungen der Belegschaft und Mitsprache-Rechte, wie sie bei Bertelsmann praktiziert oder für möglich gehalten werden, sind nichtssagende Kleinigkeiten, gemessen an der Totalität, mit der ein künftiger Informations-Konzern von Bertelsmann-Größe auf die Gesellschaft Einfluß nehmen wird.

Das muß ein harter Schlag für den "Roten Mohn" gewesen sein. Der Bertelsmann-Chef zog plötzlich Kritik aus jenen Kreisen auf sich, die ihn bisher geschont hatten. Die Beteiligung an Springer platzte. Doch Bertelsmann wuchs weiter rasant und mußte davon ausgehen, daß die Proteste schnell wieder aufflackern würden.

Was lag da näher, als dem drohenden Reputationsverlust auf anderem, ökonomisch unbedenklichem Gebiet vorzubeugen? Bei Bertelsmann besann man sich auf die Standardmaxime vom "Leistungsbeitrag". Das hatte schon in den Fünfzigerjahren funktioniert, als der Lesering wegen seiner aggressiven Werbemethoden in Verruf geraten war. Damals hatte man Reinhard Mohn vorgeworfen, ausschließlich an Verkaufszahlen und nicht an literarischer Qualität interessiert zu sein. Daraufhin hatten Mohn und sein Bruder Sigbert 1954 bekanntgegeben, fortan zehn Autoren jeweils ein Jahr lang mit monatlich 400 DM unterstützen zu wollen. 21 Jahre später wiederholte man die Strategie der gezielten Wohltätigkeit in großem Stil. Bei ihrer Gründung 1977 hatte die Bertelsmann Stiftung nämlich mehr zu leisten, als lediglich beruhigend zu wirken. Die Sensibilität der Öffentlichkeit für die Machenschaften der Großkonzerne hatte sich deutlich erhöht. Reinhard Mohn wollte, wie andere Stifter auch, Erbschaftssteuern vermeiden, den familiären Einfluß im Konzern sichern und den drohenden Angriffen von Politik und Presse zuvorkommen. Also stellte er sich mit der Stiftung ostentativ auf die Seite des Guten – in den Dienst an der Gesellschaft.

Bei allen wichtigen geschäftlichen Problemen, so Reinhard Mohn über sich selbst, untersuche er zunächst, ob nicht bereits irgendwo brauchbare Lösungen entwickelt worden seien, insbesondere in den USA. So hat er es wohl auch in Sachen Stiftung gehalten. 1975 erschien Ferdinand Lundbergs Buch Die Mächtigen und die Supermächtigen. Lundberg analysiert, wie es der Familie Rockefeller gelang, trotz zunächst schärfster Anfeindungen von allen Seiten Reichtum und Einfluß zu bewahren und gleichzeitig hohes Ansehen zu erlangen. Man darf annehmen, daß Mohn dieses in seinem Verlag publizierte Buch sehr gründlich gelesen hat. Die Parallelen sind frappierend.
Ende des 19. Jahrhunderts hatte John D. Rockefeller mit seiner Standard Oil Company in den USA das Monopol für Mineralöl und dessen Raffinierung errungen. Schnell war er zum reichsten – und verrufensten – Geschäftsmann Amerikas geworden. Journalisten deckten auf, daß er vor brutalen Wettbewerbsmethoden und Korruption nicht zurückschreckte. Parlamentsausschüsse und Gerichte beschäftigten sich mit ihm. US-Präsident Theodore Roosevelt bezeichnete ihn als Kriminellen. Ein Bundesgericht ordnete die Zerschlagung der Standard Oil Company an.

Rockefeller fühlte sich zu Unrecht gebrandmarkt. Die Konkurrenz handelte schließlich genauso, nur weniger erfolgreich. Und seine Angestellten behandelte er doch fürsorglich, zahlte vergleichsweise hohe Löhne, gewährte eine Kranken- und Alterssicherung. Der Multimilliardär leistete sich die besten Anwälte und konnte die Zerschlagung des Imperiums weitgehend abwenden. Die Anfeindungen jedoch blieben bestehen. So suchte er nach Wegen, den lädierten Ruf zu reparieren. Seit seiner Jugend hatte er regelmäßig an die Kirchengemeinde gespendet. Er begann, den Wirkungskreis seiner Wohltätigkeit zu erweitern. Frederick T. Gates, ein Geistlicher mit Managementfähigkeiten, wurde sein Fachmann für Spendenwesen. Er organisierte Stiftungen, die sich für Bildungsprojekte, Universitätsgründungen, medizinische Forschungen, später auch für die Geistes- und Sozialwissenschaften einsetzten. Sie wurden mit Aktien der Rockefeller-Gesellschaften ausgestattet. Statt Beteiligungen zu verkaufen, um Erbschaftssteuern zu bezahlen, brachte Rockefeller die Beteiligungen erbschaftssteuerfrei in Stiftungen ein und behielt die Kontrolle. Ein Journalist namens Ivy Lee – er gilt heute als der Vater der modernen Public Relations – machte die Wohltätigkeit des Ölmagnaten bekannt und verlieh ihm dadurch den erhofften human touch. John D. Rockefellers Bild wandelte sich von dem des größten Gauners zu dem des größten Philanthropen.

Rockefellers Imperium war fortan kaum mehr angreifbar. Wer seine Unternehmen kritisierte, traf zugleich die Stiftungen. Und die vollbrachten mit den Dividenden dieser Unternehmen so viel sichtbar Gutes. Mehr und mehr gelang es den Wohltätern aus dem Hause Rockefeller, Meinungs- und Entscheidungsträger für sich einzunehmen. Denn Freunde, so führt Lundberg aus, kann man nicht kaufen. Aber Akademiker, die in Wissenschaft und Politik Karriere machen, kann man als Freunde und Ratgeber an sich binden, indem man ihre Projekte fördert. Mögliche Kritik wird so schon im Ansatz unterbunden. Wer von den Stiftungen unterstützt wurde und bei deren Kongressen auftrat, fühlte sich verpflichtet. Laut Lundberg knüpften die Rockefellers durch ihre Wohltätigkeit ein Netz gegenseitiger Abhängigkeiten, das ihren Einfluß bis in die amerikanische Außen- und Wirtschaftspolitik hinein ausdehnte. Nelson, der Enkel des einst als kriminell verrufenen Erzkapitalisten John D. Rockefeller, war unter Lyndon B. Johnson sogar Vizepräsident der USA. Und David Rockefeller, den "Vorsitzenden" der Familie und langjährigen Chef der Chase Manhattan Bank, hofieren Tausende von wichtigen Entscheidungsträgern innerhalb und außerhalb der Vereinigten Staaten.

Reinhard Mohn hat sich daran ein Beispiel genommen. Er hat die Mehrheit seiner Anteile an der Bertelsmann AG auf die Stiftung übertragen und seine Nachkommen vor der anfechtbaren Konstellation bewahrt, als reichste europäische Familie einen der weltweit größten Medienkonzerne zu besitzen. Da er der Stiftung nur das Eigentum, nicht aber die Stimmrechte der Aktien übertrug, kann die Familie über die von ihr dominierte Bertelsmann Verwaltungsgesellschaft (BVG) den Konzern kontrollieren. Stiftung und Konzern sind also aufs Engste miteinander verwoben. Nicht nur räumlich in Berlin und Gütersloh, sondern auch personell und organisatorisch. Wichtige Repräsentanten des Konzerns spielten und spielen in der Stiftung eine Rolle. Zum Beispiel Mark Wössner. Er war Chef der Stiftung sowie Vorsitzender des Aufsichtsrats und der Verwaltungsgesellschaft. Auch Gunter Thielen mußte nicht nur die Bertelsmann-Kaderschmiede Mohndruck absolvieren, sondern sich auch als Stiftungschef bewähren, bevor er Thomas Middelhoff an der Konzernspitze ablöste. Heute sitzt Thielen ebenso im Stiftungskuratorium wie der Chef des Aufsichtsrates Dieter H. Vogel.

Der Zusammenhang ist offenkundig. Die Stiftung hat nicht nur Gutes für die Gesellschaft, sondern auch für den Konzern im Sinn. Ihre Aktivitäten ermöglichen gute Beziehungen zu den wichtigsten europäischen Politikern, Beamten, Beratern, Wissenschaftlern und Publizisten. Da man sich durch die Stiftung empfohlen hat, darf man für die Belange der Aktiengesellschaft gleichfalls ein offenes Ohr, guten Rat und diskretes Entgegenkommen erwarten. Das alles ist sattsam bekannt und in solch "rauschenden Partynächten" wie bei der Eröffnung der Hauptstadtrepräsentanz auf dem Parkett der Prominenz zu beobachten. Die Stiftung legt einen Schutzschild der Gemeinnützigkeit um den Konzern und entzieht ihn damit der öffentlichen Kritik. Wer die Bertelsmann AG meint, trifft die Bertelsmann Stiftung. Und die scheint über jeden Zweifel erhaben. Der Rockefeller aus Gütersloh hat seine Lektion gelernt und es in seinen Netzwerken nicht minder weit gebracht als sein Vorbild in den USA. Die Stiftung macht den Konzern unantastbar.

Wer nach außen Gutes tut, kann hinter den Kulissen nicht schlecht sein. Und hinter den Kulissen regieren bei Bertelsmann die Mohns, deren Patriarch keinem Politiker die nötigen Führungsqualitäten zuspricht, sich selbst aber umso mehr. Auch in dieser Hinsicht gleicht die Stiftung dem Konzern. Beide sind nach den scheindemokratischen Prinzipien von Mohns Unternehmenskultur konzipiert. Mitbestimmung und Gleichberechtigung walten innerhalb der "Arbeitsgemeinschaft" Bertelsmann. Gleiches strebt die Stiftung für die Gesellschaft an. Aber beide sind durch den ebenso straffen wie willkürlichen Führungsstil des Patriarchen geprägt. Alle seine obersten Mitarbeiter hat Mohn abrupt gefeuert – Manfred Köhnlechner, Manfred Fischer, Mark Wössner, Thomas Middelhoff. Über keinen hat er noch ein gutes Wort verlauten lassen. Trotzdem preist Reinhard Mohn die Kreativität, den Leistungswillen und die Energie von Managern und Mitarbeitern, die diese – und das ist entscheidend – nur im Rahmen des von ihm gelenkten Regelsystems namens "Unternehmenskultur" entfalten konnten. Auf allen Ebenen habe man bei Bertelsmann die Menschlichkeit im Umgang miteinander zum obersten Prinzip erkoren. Nun soll diese über die Stiftung Einzug in die Gesellschaft halten. Die Bertelsmann Stiftung ist die notwendige Konsequenz aus Mohns missionarischem Anspruch. Er will seine Grundsätze nicht nur in seinem Konzern verwirklicht sehen, sondern auch in der Gesellschaft. Nur so könne diese ihre Rückständigkeit überwinden und zukunftsfähig sein, sprich: so erfolgreich wie Bertelsmann.

Dahinter steht die Selbsteinschätzung, es besser zu wissen als alle anderen. In Mohns Interviews kommt sie unverblümt zum Ausdruck.

Heute bekommt man eine Fülle von Meinungen vorgesetzt, die gar nicht mehr weiter untersucht werden. Schlimm, was wir uns da alles anhören müssen. Tatsächlich aber können Sie die meisten politischen Abläufe und Entscheidungen durchschaubar und bewertbar machen. Die Bertelsmann Stiftung hat untersucht, wie ein Finanzamt oder eine Schule optimal organisiert werden muß. Die Lösungen sind da. Man könnte auch die Politiker selbst schulen und ihre Arbeitsweise rationalisieren. Aber leider versucht das niemand, und es gibt keinen Wettbewerbsdruck. Keine Partei wirbt damit, daß sie sagt: Was wir sagen, stimmt nachprüfbar.

Wer es so viel besser weiß, hat ein Recht auf mehr Macht. Für Reinhard Mohn ist sein gesellschaftlicher Auftrag eine führungstechnische Herausforderung. Das Vorbild fand er wieder in den USA. Von Franklin D. Roosevelt lernte er, wie man wirtschaftliche Interessen mit Nachdruck durchsetzt und trotzdem als Freund der Allgemeinheit geachtet wird – solange man die eigenen Interessen als universalistische, dem Fortschritt und der Wohlfahrt aller verpflichtete Sendung zu verkaufen vermag. Wieder gibt uns ein Buch Auskunft. Es schrieb ein Freund und Vertrauter des Konzernchefs: der konservative Historiker Dirk Bavendamm.

Nach Bavendamm war Roosevelt das Ass unter den Machtpolitikern und verstand es wie kein anderer, die imperialistischen Ziele der Vereinigten Staaten brillant zu bemänteln, indem er sie als humanistische Ziele ausgab. Für Roosevelt lag das Geheimnis von Frieden, Freiheit und Wohlstand in der Etablierung einer Weltordnung, in der alle Mächte wie gute Nachbarn zusammenleben – unter der Hegemonie der Vereinigten Staaten. Die Grundsätze seiner Innen- und Außenpolitik formulierte Roosevelt für sein Land. Gelten sollten sie allerdings auch für Lateinamerika, China und letztlich für die ganze Welt. Um die Richtigkeit seines Denkens zu erweisen, zog er Fachleute heran. Er fand sie in den modernen Sozialwissenschaften, die während seiner Regierungszeit und durch die Kooperation mit dem Weißen Haus einen ungeahnten Aufschwung erfuhren. Roosevelt war der erste US-Präsident, der sich einen Think Tank für die Konzeption und Durchsetzung seiner Reformen hielt. Mit seiner New Deal genannten Reformpolitik gab er dem amerikanischen Kapitalismus soziale Züge. Seine Experten verliehen den Reformen den Hauch von wissenschaftlich fundierter Unfehlbarkeit. Roosevelt verhalf den USA zu einer positiven, globalen Imagehegemonie. Seine wissenschaftlichen Berater entwickelten sich nach Bavendamm zu Gehilfen eines auf weltweite Vorherrschaft bedachten Expansionspolitikers – ohne daß es die Öffentlichkeit durchschaute.

Roosevelts Führungstechnik machte sich Politik, Wirtschaft und Wissenschaft dienstbar. Sein Sendungs- und Allwissenheitsanspruch zeugte von großem Selbstbewußtsein, sogar für einen US-Präsidenten. Bei einem Gütersloher Unternehmer, der ein Medienimperium kontrolliert und mit seinem Konzern überall in der Welt präsent ist, zeugt er von Vermessenheit. Die Medien spielen bei der Durchsetzung von Mohns Systemreformen, die seine Stiftung den Regierenden anempfiehlt, eine entscheidende Rolle. Und die wichtigsten Medien, die seine Ideen in die Öffentlichkeit transportieren, gehören in Deutschland und Europa zumindest teilweise zur Bertelsmann AG. Hatte Günter Gaus nicht bereits 1970 in seiner hellsichtigen Spiegel-Kolumne alles vorweggenommen, was heute gang und gäbe ist?

Effizienz regiert die Welt – Bertelsmanns Reform Think Tank

Die Denkfabrik des Bertelsmann-Imperiums arbeitet in den Bereichen Arbeits- und Sozialpolitik, Bildungs- und Hochschulpolitik, Gesundheitspolitik und Internationale Verständigung. Das oberste Ziel der Stiftung heißt: Förderung der Zukunftsfähigkeit. Der Wirtschaftswissenschaftler Heribert Meffert wurde 2002 ins Präsidium berufen, um die entsprechenden Reformen noch effektiver zu verkaufen.

Die meisten Projekte haben sich zu Netzwerken entwickelt, betrieben in Kooperation mit Regierungen, Verbänden, Firmen oder Initiativen. Deshalb ist es fast unmöglich, den gesamten Umfang der weitverzweigten Aktivitäten zu überblicken. Auch das Internet mit seinen Suchmaschinen erlaubt keine Übersicht. Man stößt auf immer neue Homepages von Projektgruppen und Kooperationspartnern, die angetreten sind, dem Land neue Impulse zu geben. Man könnte es jedoch auch anders formulieren: Der Bertelsmann’schen Expansionslust sind nicht nur in unternehmerischer Hinsicht kaum Grenzen gesetzt. Der Wille zur Einflußnahme, dem die Stiftung zu verdanken ist, manifestiert sich überall.

Bislang stand die Bildungsreform im Vordergrund, da Reinhard Mohn in ihr den Schlüssel zur Gesellschaftsreform sieht. Lange Zeit wurden mehr als 50 Prozent aller Ausgaben in diesen Bereich investiert. Ein großer Nutznießer der Bertelsmann-Gelder ist das 1994 auf Initiative von Mohn gegründete Centrum für Hochschulentwicklung CHE. Es wird zu 75 Prozent von der Stiftung finanziert und residiert in einem Bürokomplex etwa einen Kilometer von der Stiftungszentrale entfernt. Die Öffentlichkeitsarbeit übernimmt die Pressestelle der Stiftung, während die zwanzig Mitarbeiter unter der Leitung des Betriebswissenschaftlers Detlef Müller-Böling Hochschul- und Forschungsrankings erstellen sowie in Kursen für Hochschulmanagement mehr Produktivität und Effizienz in Forschung und Lehre propagieren.
Schon allein die im Internet abrufbare Liste der Projekte und Publikationen ist beeindruckend. Auf internationalen Symposien über Hochschulmarketing, Qualitätssicherung und Personalmanagement bringt das CHE europäische Universitäten zusammen. Man stellt vergleichende Studien über Hochschulabschlüsse an, um deren Vereinheitlichung in der EU voranzutreiben. Man versucht, per Modellrechnung Studiengebühren an deutschen Hochschulen einzuführen, plädiert auf allen Gebieten einschließlich der Professorenbesoldung für mehr Wettbewerb, und vor allem: Man initiiert Veranstaltungen, auf denen Hochschulen und Fachhochschulen Verwaltungserfahrungen und vertrauliche Daten austauschen. Dem CHE ist es gelungen, Widerstände abzubauen und Partner für ein effizienteres Wissenschaftsmanagement zu finden. Sogar auf politischer Ebene. Im Oktober 2003 begannen, so vermeldete die Pressestelle der Bertelsmann Stiftung, die sozialdemokratischen Hochschulpolitiker umzudenken. Wenig später, im Januar 2004, begrüßte CHE-Chef Müller-Böling die neuesten Pläne der Bundesregierung.

Kanzler Schröder wollte nun Studiengebühren zulassen, den Wettbewerb unter den Hochschulen intensivieren und Eliteuniversitäten errichten. Die SPD verkündete ein Offensivprogramm zur Überwindung der wirtschaftlichen Wachstumsschwäche und Arbeitslosigkeit. In seinem Zentrum stand die Hochschulpolitik. Das Konzept dahinter trug die Handschrift des CHE und der Bertelsmann Stiftung.

Der Titel einer der wichtigsten Publikationen des CHE-Leiters lautet Die entfesselte Hochschule. Das Buch ist im Verlag der Bertelsmann Stiftung erschienen. Mit dem provozierenden Titel bringt Detlef Müller-Böling die Vorstellungen Reinhard Mohns auf den Punkt. Dieser möchte die Universitäten in erfolgsorientierte Organisationen verwandeln. Massiver Druck geht dabei von den Hochschul-Rankings aus, in denen das CHE Jahr für Jahr die Leistungsfähigkeit der Universitäten mißt. Diese werden mittlerweile bundesweit als verbindliche Maßstäbe anerkannt. Fällt eine Universität im Ranking zurück, verliert sie an Anziehungskraft für den wissenschaftlichen Nachwuchs. Das hat Folgen für die Politik. Die Verantwortlichen in den Ländern, die gern vom guten Image ihrer Universitäten profitieren, sehen sich gezwungen, auf mehr Effizienz im Sinne Bertelsmanns zu setzen.

Denn Effizienz und Wettbewerb regieren die Welt. So ist es in der Bertelsmann AG, so soll es in der Gesellschaft sein. Reinhard Mohn ist mit seinem Stiftungskosmos betriebswirtschaftlicher Zahlen und Rankings angetreten, diesen Grundsatz zu verwirklichen. Wie effizient diese Denkweise ist, zeigt sich in dem der Stiftung gegenüberliegenden Flügel des Gütersloher Hauptgebäudes. Die Veröffentlichung der Rankings ist Sache des Konzerns. Sie werden in den Bertelsmann-Medien, im Stern, präsentiert und fördern dessen Image und Auflage.

Was auf Bundesebene funktioniert, geht auch auf Landesebene. In Nordrhein-Westfalen gestaltet die Stiftung die Schulreformen. Man führt – wiederum – internationale Leistungsvergleiche durch. Ein Netzwerk von 400 innovativen Schulen bearbeitet drängende Themen praxisnah und organisiert – natürlich – Expertenrunden. Auf Fachtagungen macht man die Lehrer mit wirtschaftlicheren Verwaltungsmethoden vertraut. Zugleich gesteht die nordrhein-westfälische Landesregierung den Schulen mehr Selbstverwaltung zu. Hier werden Reinhard Mohns bildungspolitische Ideen zur Landespolitik und sorgen – ganz nebenbei – unter den früher als überwiegend links eingeschätzten Lehrern für mehr Aufgeschlossenheit gegenüber unternehmerischem Denken. Es ist nicht möglich, den gesellschaftspolitischen Lobbyisten und Unternehmer Reinhard Mohn, den Wohltäter, die Bertelsmann AG und die Bertelsmann Stiftung in der Praxis auseinanderzuhalten. Angesprochen auf die gute Zusammenarbeit mit dem Land Nordrhein-Westfalen ist vom Pressesprecher der Stiftung, Andreas Henke, gelegentlich zu hören, daß Mohn über beste Kontakte zur Landesregierung verfügt.
Für die Förderung des Bibliothekswesens werden ähnlich hohe Summen aufgebracht wie für die Hochschulpolitik. Ein Vorzeigeobjekt hat man in Gütersloh errichtet. 1984 wurde die Stadtbibliothek eröffnet. Die Bertelsmann Stiftung bezahlte den Bau und die Einrichtung, die Stadt trägt die laufenden Kosten. Die Architekten durften experimentierfreudig sein und haben ein eindrucksvolles Gebäude geschaffen. Das Management der Bibliothek muß gleichfalls Experimentierfreude beweisen. Es soll neue Methoden erproben, kosteneffizient und dennoch attraktiv für die Besucher sein. Tatsächlich: Die Benutzerzahlen sind höher als bei vergleichbaren Stadtbibliotheken. Bei den Kosten allerdings gibt es mittlerweile Streit zwischen Stadt und Stiftung. Das Klassenziel wird man offenbar nicht erreichen.

Mehr Wettbewerb beim Bibliotheksbesuch: Die Stiftung entwickelte den Bibliotheksindex BIX, der die Akzeptanz der Bibliotheken durch die Bevölkerung mißt. Der BIX liefert gewichtige Argumente, wenn Kommunalpolitiker in Deutschland darüber streiten, ob die Mittel für Bibliotheken erhöht oder gekürzt werden sollen. Wer gefördert wird, entscheidet sich zunehmend über den BIX. Und wie die Bibliotheken arbeiten sollen, dafür liefern die Gütersloher ebenfalls wichtige Anregungen. Es ist nicht zu übersehen. Die Stiftung ist der Ableger eines Unternehmens, dessen Marketing- und Organisationsmethoden in die Verwaltung hineingetragen werden. In Nordrhein-Westfalen gibt es "strategische Partnerschaften" zwischen Schulen und Bibliotheken. Die Bibliotheken stellen den Schulen Medienboxen mit Büchern zu bestimmten Themenkomplexen zur Verfügung. Bibliothekare gehen in die Schulen und präsentieren eine Medienauswahl. Schüler werden in Bibliotheken geschickt, um mit den dortigen Medien zu arbeiten. Für alle Cross-Promotion-Aktivitäten stehen von der Stiftung sorgfältig ausgearbeitete Skripte und Vorlagen zur Verfügung. Das Ganze erinnert an die Marketing-Allianzen, die etwa zwischen der RTL Group und BMG geschlossen wurden.

Was gut ist für Bertelsmann, ist gut für die gesamte Republik. Und die Methoden sind immer die gleichen. Leistungsvergleiche, Modellversuche, Fortbildung, der Aufbau von Netzwerken und die enge Zusammenarbeit mit den staatlichen Instanzen. Alles dreht sich um Leistungskennziffern, Kostenrechnungen und Optimierungsmodelle. Die Gesellschaft der Bundesrepublik soll ebenso effizient funktionieren wie der Konzern aus Ostwestfalen. Damit man wettbewerbsfähig bleibt auf der internationalen Bühne. Wenn Reinhard Mohn eine gesellschaftspolitische Vision hat, ist sie hier zu erkennen.

In Worte gefaßt hat Mohn seine Vision 1992 bei einem Vortrag an der Fachhochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer. Für die herrschenden Mißstände macht er Politik und Verwaltung verantwortlich, denen eines fehle: wirtschaftliches Denken. Allen Politikern spricht der Konzernlenker die Fähigkeit ab, die notwendigen Konsequenzen aus dem Wandel der modernen Gesellschaft zu ziehen. Er wirft ihnen vor, lieber die Verschuldung voranzutreiben als unbequeme Reformen durchzuführen. Sparsamkeit sei keine Tugend der Politik, stellt der Bertelsmann-Chef bedauernd fest. Der Staat müsse sein sozialpolitisches Monopol aufgeben, da Monopole Konkurrenz unterbinden und letztlich nur Stagnation erzeugen. Mehr Wettbewerb solle dem öffentlichen Dienst neue Impulse verschaffen. Rationalisierungsmaßnahmen sollten Kosten senken. Überprüfbar sei der umfassende Reformprozeß durch meßbare Effizienz – so wie in der Wirtschaft, so wie bei Bertelsmann. Für Transparenz sorgen in einer Demokratie die Medien. Diesen fällt in Mohns Konzept die Aufgabe zu, die Meßergebnisse in Leistungsvergleichen zu publizieren. Presseberichte darüber, wie gut (oder vor allem: wie schlecht) die Politiker arbeiten, schaffen, so Mohn, öffentlichen Druck. So entstehe eine öffentliche Kontrollinstanz. Das fördere die Effizienz, erhöhe den Wettbewerb und stärke die Bereitschaft zu Reformen. Trotz aller Bemühungen, das Gegenteil zu beweisen: Mohn ist ein Stifter, aber immer auch ein Unternehmer – und ein Medienmogul.

Die Stiftung und die Agenda 2010

Der Einfluß, den Bertelsmann über die Stiftung ausübt, reicht weit. Das belegen schon diese wenigen Beispiele. Wie weit er reicht, zeigt eine Begebenheit gut einen Monat nach der Bundestagswahl im September 1998. Die Wähler hatten nach 16 Jahren Kohl-Politik die Wende herbeigeführt. Hinter den Kulissen des Polit-Theaters hatten die Meinungsmacher in Gütersloh kräftig dazu beigetragen.

Die soeben neu gewählte rot-grüne Bundesregierung schickte ihre wichtigsten Vertreter in die Provinz, um dem Medienimperium die Referenz zu erweisen. Am 30. Oktober 1998 reisten an: der neue Bundeskanzler Gerhard Schröder und der neue Außenminister Joschka Fischer. Der äußere Anlaß war die Einführung Thomas Middelhoffs in das Amt des Vorstandsvorsitzenden der Bertelsmann AG. Dieses Mal inszenierte die Aktiengesellschaft ein illustres Rahmenprogramm mit Fußball-Kaisern und Schlagerstars für den zwanglosen Austausch zwischen Wirtschaft und Politik. Die Republik wäre ärmer, sagte Gerhard Schröder damals, "ohne die gemeinsinnorientierte Politikberatung der Bertelsmann Stiftung". Und Kanzlerworte, an Bertelsmann gerichtet, scheinen stets Dankesworte zu sein. Während des Wahlkampfs hatte man die neue Allianz erprobt. In den kommenden Jahren mauserte sie sich zum effektiven Teamwork von Bertelsmann Stiftung und rot-grüner Regierungskoalition. Der Stiftung gelang es, der Agenda 2010 des Reformkanzlers ihren Stempel aufzudrücken.

Bezeichnenderweise ist es nahezu unbekannt, daß die Stiftung die Hochschul-, Gesundheits-, Wirtschafts-, und Arbeitsmarktpolitik seit dem Antritt der Regierung Schröder entscheidend bestimmt hat. An die breite Öffentlichkeit tritt die Stiftung nämlich meist nur mit publikumswirksamen Aktionen wie Preisverleihungen, Foren oder Empfängen. Prominente Namen verbürgen sich bei solchen Gelegenheiten für die Stiftungsarbeit. Wenn im Think Tank von Bertelsmann harte sozialpolitische Maßnahmen auf der Tagesordnung stehen, geschieht dies im Hintergrund: in Initiativen und Instituten, die man in Kooperation mit anderen Organisationen betreibt. So bleibt Bertelsmann nach außen hin der Wohltäter. Daß in Gütersloh erdacht wurde, was Gerhard Schröder und seine Mannschaft derzeit in den demographischen Keller sinken läßt, nimmt in der Presse kaum jemand zur Kenntnis.

Das Grundkonzept der Agenda 2010 hat eine neoliberale Tendenz und stammt aus den angelsächsischen Ländern. Es zielt darauf ab, die Wachstumsschwäche der Wirtschaft durch mehr Innovation und Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt und in den sozialen Systemen zu überwinden. Eigeninitiative soll gefördert werden. Seit Anfang der Neunzigerjahre drängt die Stiftung zu entsprechenden Reformen und empfiehlt drastische Notbehelfe wie die Abschaffung der Arbeitslosenversicherung (die Arbeitnehmer sollen selbst vorsorgen) und eine Halbierung der Sozialabgaben. Alle markanten Reformen der Schröder’schen Agenda orientierten sich bisher an Vorarbeiten in den Bertelsmann Instituten. Von September 1999 bis April 2003 förderte die Stiftung das Projekt "Reform der Arbeitslosen- und Sozialhilfe". Hier entstanden die Grundlagen für Hartz IV, das groß angekündigte Vorhaben der Bundesregierung, Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum so genannten Arbeitslosengeld II zusammenzulegen. Im Sommer 2000 ließ man bei Arbeits- und Sozialämtern statistisch überprüfen, wie viele Fälle unkoordiniert doppelt von beiden Stellen bearbeitet wurden. Die Entdeckung von Mißständen war Wasser auf die Mohn’schen Mühlen. Ineffizienz! Schon am 1. Dezember 2000 wurde die optimale Zusammenarbeit beider Institutionen gesetzlich vorgeschrieben. Ein halbes Jahr später, im Sommer 2001, unterbreitete die Stiftung Vorschläge zur Umsetzung der neuen staatlichen Vorgaben.
Auch die Umstrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit zur "Bundesagentur" begleitete Bertelsmann von Anfang an. Schon vor 1995 startete das Projekt "Leistungsorientierte Führung in der Bundesanstalt für Arbeit". Die Einführung der Job-Center und Personal Service Agenturen (PSA) geht auf das Konto von Stiftungsmitarbeitern und Unternehmensberatern bei McKinsey. Das Konzept entwickelten beide Institutionen in Zusammenarbeit mit der Bundesanstalt. Publiziert wurden die Ideen in einer in Gütersloh erschienenen Publikation. Die Regierung von SPD und Grünen erhielt dann viele Vorschußlorbeeren – bis sich nach den ersten Pleiten herausstellte, daß die Agenturen bei weitem nicht so viele Arbeitslose unterbringen konnten wie von der Stiftung und McKinsey in Aussicht gestellt.

Die Bertelsmann Stiftung begleitet den Prozeß der Erneuerung durch die Agenda 2010 weiterhin aufmerksam. Mit den bewährten Methoden. Ein Beschäftigungsranking vergleicht die Fortschritte der 21 wichtigsten Industrienationen im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. Die Wettbewerbsfähigkeit der Ämter dokumentiert man wie in der Bildungs- und Hochschulpolitik aufs Genaueste. Statt BIX heißt es hier KiK: "Kernkennzahlen in Kommunen". Erstellt werden Indizes für Wirtschaftlichkeit, Kundenzufriedenheit und Mitarbeiterzufriedenheit in allen kommunalen Verwaltungen. Vergleiche zwischen Finanzämtern sollen deren Leistung messen. Ein Projekt namens "Unternehmerfreundliche Kommune" ermittelt in den 25 größten deutschen Städten die servicefreundlichste Verwaltung. Man erhebt Daten zur Arbeitslosigkeit und Sozialhilfe und publiziert sie als Ranking in der Zeitschrift impulse (die wie der Stern zu Gruner+Jahr und damit zur Bertelsmann AG gehört).

In der Gesundheitspolitik quält man sich seit gut zehn Jahren mit den rasant anwachsenden Kosten im öffentlichen Gesundheitswesen und bei den allgemeinen Krankenkassen. Auch hier leistet die Bertelsmann Stiftung ihren ganz besonderen Beitrag. Man unterhält zwei Projekte zur Schlaganfall- und Uveitis-Forschung, den Schwerpunkt jedoch bilden wiederum die Leistungsvergleiche. An der Universität Münster finanzieren die Gütersloher ein Zentrum für Krankenhausmanagement, das die Verwaltungen modernisieren soll. Der Newsletter Gesundheitsmonitor publiziert regelmäßig die Ergebnisse von Meinungsumfragen zum Status quo der ambulanten Versorgung in der Bundesrepublik. Ein "Internationales Netzwerk Gesundheitspolitik" veröffentlicht Übersichten über die Reformaktivitäten in 16 Ländern.

Auch die Verleihung des Carl-Bertelsmann-Preises taugt dazu, bestimmte Reformideen hoffähig zu machen. So zum Beispiel im Jahr 2000. Der Preis ging an die Schweiz und an die Niederlande. Das eidgenössische Innenministerium hatte ein neues Krankenversicherungsgesetz eingeführt, das Wettbewerb und Solidarprinzip in Einklang bringen sollte. Die niederländische Vereinigung der Hausärzte wurde für die hohe Qualität der hausärztlichen Versorgung ausgezeichnet. Ein deutliches Lob für mehr Wettbewerb in der Schweiz; eine klare Stellungnahme für kostensenkende Begrenzungen der freien Arztwahl. Bertelsmann bezog Position durch eine Preisverleihung. Die entsprechenden Gesetzesvorlagen der Bundesregierung ließen nicht lange auf sich warten.

Ähnlich verfuhr man in der Arbeitsmarktpolitik. 1995 erhielt Portugal den Preis für innovative Methoden und Instrumente einer erfolgreichen Beschäftigungspolitik. Die Begründung: Portugals Premierminister Cavaco Silva habe mit politischem Mut und sozialem Augenmaß das Land aus einer kritischen Wirtschaftslage herausgeführt und nachhaltige Erfolge bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit erzielt. Mit anderen Worten: Silva favorisierte eine auf Leistung und Wettbewerb ausgerichtete Politik, die an das Wirtschaftswunder und die soziale Marktwirtschaft von Ludwig Erhard erinnerte. Das honorierte man bei Bertelsmann.

Die Stiftung nimmt Einfluß. Über ihren Think Tank regieren die Verantwortlichen in Gütersloh mit. Dabei versteht man es virtuos, den Eindruck von Transparenz zu erzeugen, indem man die Ergebnisse der Arbeit in Zahlenkolonnen verpackt. Das Projekt zum Leistungsvergleich zwischen Finanzämtern betreibt Bertelsmann in Kooperation mit vier Bundesländern und der Kienbaum-Unternehmensberatung. Auf der entsprechenden Website sind die Ergebnisse des Vergleichs bis auf die Kommastellen genau in Statistiken abrufbar. Hier erfährt man zum Beispiel über die Wirtschaftlichkeit der Finanzämter Folgendes: Ein Einkommensteuerbescheid kostet bei den Finanzämtern in Bayern im Durchschnitt zwischen 20,75 und 27,30 Euro, in Rheinland-Pfalz jedoch viel mehr, nämlich zwischen 34,88 und 39,59 Euro. Im Freistaat Sachsen arbeiten die Finanzämter dagegen fast schon so kostengünstig wie in Bayern. Dort wendet man zwischen 19,85 und 27,55 Euro pro Bescheid auf. Die Medien greifen die Ergebnisse solcher Rankings dankbar auf und verallgemeinern gerne. "Viel Lob für Sachsens Finanzbeamte" titelte etwa die Chemnitzer Freie Presse am 28. Februar 2002. Hier wurden sogar Benotungen zitiert: Die Bertelsmann Stiftung habe für "das höfliche Verhalten der Beamten" die Note 1,3 vergeben. Die Vordenker aus Gütersloh avancieren in allen nur möglichen Bereichen zum Effizienz-Gradmesser der Nation. Die Presse und die Parteien, ob sie nun momentan regieren oder künftig regieren wollen, folgen ihnen.

Werner Weidenfelds Kontakthof

Solche Zahlenwerke, errichtet nach den Kriterien abstrakter Zeitökonomie, zahlen sich für Bertelsmann aus. Die Stiftungsaktivitäten haben der Familie Mohn und der Bertelsmann AG ein gutes Image und eine Menge wichtiger Freunde verschafft. Es ist verblüffend zu beobachten, wie erfolgreich Reinhard und Liz Mohn mit der Stiftung im politischen Raum agieren. Während andere Medienunternehmer wie Springer oder Kirch mit ihren Beziehungen zu Politikern ins Zwielicht gerieten, scheint Reinhard Mohn fast über jeden Verdacht erhaben. Als bekannt wurde, daß Helmut Kohl und Leo Kirch eine Männerfreundschaft verband, witterten die Journalisten gleich Vetternwirtschaft, wenn nicht gar Korruption. Bei Bertelsmann hingegen kommen Konzern und Stiftung reibungslos mit sogenannten konservativen und progressiven Politikern zurecht, ohne daß man wegen unredlicher Beziehungen an den Presse-Pranger gestellt würde. Wenn dann tatsächlich einmal darüber berichtet wird, daß der Vorstandsvorsitzende der Aktiengesellschaft und das Kuratoriumsmitglied der Stiftung, Gunter Thielen, dem Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit einen "arbeitslosen" Bertelsmann-Manager namens Bernd Schiphorst als Berater empfohlen haben soll, wird das kaum registriert und schon gar nicht weiter recherchiert. Obwohl dabei ungemein großzügige Beraterverträge abgeschlossen werden.

Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen hat die Stiftung eine Fassade der Vorbildlichkeit aufgebaut, die einzureißen einem Sakrileg gleichkäme. Deutschlands führende Reformwerkstatt des unlauteren Wettbewerbs zu bezichtigen, hieße, alle Politiker – denn alle gehen in Gütersloh ein und aus – der Unglaubwürdigkeit zu verdächtigen. Darf man die Politikverdrossenheit der Wähler auf die Spitze treiben?

Zum anderen offeriert die Stiftung zahllose unverfängliche Anlässe für zwanglose Begegnungen. Wer in Politik, Verwaltung und Medien etwas erreichen will, nutzt sie ganz selbstverständlich. Nicht immer trifft man sich so glanzvoll wie am 6. November 2003 in der Berliner Repräsentanz. Immer aber ist die Besetzung hochkarätig, wenn Bertelsmann zum konstruktiven Austausch bittet. Die Nähe von wirtschaftlicher, politischer und publizistischer Macht ist auf allen Ebenen spürbar. In Berlin finden die Kontakte zwischen Aktiengesellschaft und Stiftung im selben Gebäude statt. In Gütersloh tagen die Politiker in den Stiftungsräumen, nur 50 Meter von der Hauptverwaltung der AG entfernt. Sie können dem Vorstandsvorsitzenden ins Büro blicken oder sogar mir ihm als Kuratoriumsmitglied der Stiftung ganz unverfänglich am Konferenztisch sitzen. Um Transparenz zu gewährleisten, sind freundlich gesinnte, aufstrebende Medienvertreter geladen. Man trifft sich, spricht miteinander, man kennt sich und weiß, wen man in welcher Situation kontaktieren muß. Die Bertelsmann Stiftung webt beständig an einem Netz von Wohltätigkeiten und Abhängigkeiten. Sie betreibt einen Kontakthof für Beziehungen jeglicher Art, die weit über den gemeinnützigen Rahmen hinausreichen.

Zwischen Stiftung und Politikern, hohen Verwaltungsbeamten, Universitätslehrern, Verbandsfunktionären und Wirtschaftsfachleuten eröffnen sich vielfältige Möglichkeiten. Es ist attraktiv, als Berater, Schirmherr oder Kooperationspartner in die Projekte einbezogen zu werden. Und das Medienimperium ist mittlerweile so weit verzweigt, daß kein Politiker eine Absage an die Gütersloher Adresse riskieren kann. Wer von Bertelsmann hofiert wird, erhält den Ritterschlag. Für eine wohlwollende Berichterstattung ist gesorgt.

Wer etwas ist oder werden kann, geht zur Bertelsmann Stiftung. Im Februar 2004 waren Wolfgang Clement und Peer Steinbrück zu Gast. Einige Wochen zuvor nahm die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Cornelia Schmalz-Jacobsen, an einem Experten-Hearing teil. Gerhard Schröder, Joschka Fischer und Wolfgang Schäuble trafen im Bertelsmann-Forum in der Gütersloher Hauptverwaltung zusammen. 2003 besuchten Angela Merkel, Wolfgang Schäuble und Kanzler Schröder gleich mehrmals Veranstaltungen der Stiftung. Gern gesehene Gesprächspartner waren auch Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, die nordrhein-westfälische Umweltministerin Bärbel Höhn, Guido Westerwelle, Edmund Stoiber, Spaniens früherer Ministerpräsident José Aznar, der ehemalige Chef der Bundesanstalt für Arbeit, Florian Gerster, Bundesinnenminister Otto Schily und Ex-Bundespräsident Roman Herzog. Die Besuche von Fachministern und Staatssekretären sind noch zahlreicher, aber kaum zu recherchieren, weil sie in der Presse nicht in gleicher Weise herausgestellt werden. Solche Zusammentreffen auf mittlerer und unterer Entscheidungsebene sind tägliche Routine.

Der "Dirigent" des komplexen Kontaktanbahnungsunternehmens heißt Werner Weidenfeld, in der Bertelsmann Stiftung offiziell zuständig für Internationale Zusammenarbeit. Weidenfeld ist seit 1992 Mitglied im Stiftungspräsidium und ein Meister darin, "die Großen und Mächtigen der Welt" zu beraten. Früh ließ er "den elitären Elfenbeinturm der reinen Forschung" hinter sich. Praktische Erfahrungen in der Politikberatung sammelte Weidenfeld in den Achtzigern als Koordinator der Bundesregierung für Deutsch-Amerikanische Beziehungen. Seit 1995 stellt er sie als Gründungsdirektor des Centrums für angewandte Politikforschung (CAP) in München unter Beweis. Hier entwickelt er in enger Zusammenarbeit mit Bertelsmann "politikfähige" Konzepte. Unerläßlich sei für Weidenfeld der "ständige Dialog mit den Entscheidungsträgern". Bei Weidenfeld und Bertelsmann wird früher oder später jeder zu Arbeitstreffen, Wochenendseminaren, Expertengesprächen, Symposien, Konferenzen oder Sommerakademien geladen, der von Nutzen sein kann.

Zum CAP gehört seit 1999 die Bertelsmann Forschungsgruppe Politik. Deren Mitglieder sind Wissenschaftler der Münchner Universität, die von Bertelsmann über Drittmittel bezahlt werden. Wie hoch die Aufwendungen der Stiftung für das CAP sind, ist vom Geschäftsführer Jürgen Turek nicht zu erfahren. Da die Mehrheit der über dreißig wissenschaftlichen CAP-Mitarbeiter zugleich Mitglieder der Bertelsmann Forschungsgruppe sind, dürfte die Finanzierung von Weidenfelds Münchner Institut mehrheitlich von Gütersloh aus erfolgen.

Weidenfelds Gegenleistungen sind beträchtlich. Zu allen Zukunftsproblemen hat die Stiftung über das CAP nicht nur Lösungsvorschläge, sondern auch interessante Einladungen parat. Beim Internationalen Bertelsmann Forum, alle zwei Jahre vom CAP organisiert, treffen sich Staats- und Regierungschefs und Minister mit handverlesenen Persönlichkeiten der Gesellschaft zur vertraulichen Debatte über gleichfalls handverlesene Themen. Das Ambiente gleicht dem der Gipfeltreffen wichtiger Staatsoberhäupter. Hier bewährt sich die Stiftung als Medium unbefangener Kontaktanbahnung auf höchster Ebene. Sie ist eine internationale Begegnungsstätte, die längst nicht mehr für sich werben muß, da sie ihrerseits das Renommee der Tagungsteilnehmer vergrößert. Für europäische Spitzenpolitiker muß es geradezu kränkend sein, von Bertelsmann nicht eingeladen zu werden.

Die Foren finden an politisch bedeutungsvollen Orten wie dem Hotel Petersberg bei Bonn oder dem Weltsaal des Auswärtigen Amts in Berlin statt. Die High Society der Weltpolitik lauscht den Vorträgen der CAP- und Stiftungsmitarbeiter und erfährt so, was man bei Bertelsmann denkt in Fragen der europäischen Verfassung, der europäischen Integration, der Außenpolitik, der transatlantischen Beziehungen oder des Nahostkonflikts. Im Januar 2001 zum Beispiel empfing die Gütersloher Stiftung im Weltsaal neben Gerhard Schröder und Joschka Fischer die Spitzen der EU-Kommission, Romano Prodi und Javier Solana, außerdem drei osteuropäische Staatspräsidenten, zwei Ministerpräsidenten und sechs europäische Außenminister sowie Henry A. Kissinger. Im Januar 2004 traf man sich im gleichen Rahmen wieder, dieses Mal mit rund sechzig Vertretern aus 29 Staaten und dem Präsidenten der Europäischen Zentralbank. Unter den Teilnehmern waren der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, der montenegrinische Präsident Milo Djukanovic, der rumänische Ministerpräsident Adrian Nastase, die lettische Präsidentin Vaira Vike-Freiberga und der kroatische Ministerpräsident Ivo Sanader. Die bevorstehende EU-Osterweiterung warf ihren Schatten voraus – bis auf die Gästeliste der Bertelsmann Stiftung.

Eingebürgert hat es sich auch, daß die turnusmäßig wechselnden Repräsentanten der Europäischen Union vor ihrem Amtsantritt in einem Schnellkurs der Stiftung für ihre Führungsarbeit gedrillt werden. Ganz offensichtlich hofiert Bertelsmann zurzeit insbesondere ranghohe Europa-Politiker. Mit dem politischen Zusammenwachsen der EU kommen ihnen immer mehr Kompetenzen zu. Gleichwohl stehen sie noch nicht so sehr im Mittelpunkt wie die Exponenten der deutschen Innen- und Außenpolitik. Bei ihnen kann man in Hintergrundgesprächen wesentlich mehr erreichen und wird dabei kaum in Parteienkonflikte verstrickt. Das ist wichtig für einen Medienkonzern, der eine Stiftung unterhält. Viele Kontrollfunktionen im Medienbereich werden mittlerweile von der EU wahrgenommen. Auch die Überwachung der Fusionen.

Alles, was in der Sicherheitspolitik Rang und Namen hatte, versammelte sich nach dem 11. September 2001 als Task Force "Zukunft der Sicherheit" unter Weidenfelds Regie in den Tagungsräumen. Zum Expertengremium gehörten Generalbundesanwalt Kay Nehm, der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, Klaus Naumann, der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsschutzes, Eckart Werthebach, diverse Staatssekretäre des Inneren sowie der Verteidigung und einige Hochschulprofessoren. Ende Januar 2004 legte man den Abschlußbericht vor. Bemängelt wurde die mangelnde Effizienz der zuständigen Behörden.
Im Rahmen des Europäisch-Israelischen Netzwerks veranstaltet das CAP zwei Workshops in Brüssel und Israel mit Vertretern der EU und der NATO. Hinzugebeten werden israelische Journalisten sowie Multiplikatoren aus Wirtschaft und Politik. Den Deutsch-Jüdischen Gesprächen fühlt man sich schon lange verpflichtet. Seit 1992 lädt die Bertelsmann Stiftung Persönlichkeiten des jüdischen Lebens zum informellen Austausch mit Entscheidungsträgern aus Politik, Wirtschaft und Medien. Mitbegründer dieser und anderer themenverwandter Gesprächsrunden – etwa der Kronberger Gespräche zur Zukunft des Nahen Ostens, des Club of Three und des amerikanisch-russisch-europäischen Trialogs – ist der Verleger Lord George Weidenfeld. Im Jahr 2003 wurde er in München mit der CAP-Fellowship geehrt. Direktor Werner Weidenfeld bezeichnete seinen Namensvetter in der Preisrede als "genialen Netzwerker, der Staatsmänner so zusammenbringt, als gehörten sie alle zu ein und derselben Familie".

Die gemeinsam mit der Nixdorf Stiftung ausgerichtete Sommerakademie Europa bindet das Fußvolk auf Ministerial- und Beraterebene ebenso wie den Nachwuchs an die Bertelsmann Stiftung. Diskutiert wird in der Abgeschiedenheit des oberbayerischen Klosters Seeon. Wer nach Seeon eingeladen wird und sich kontaktfreudig zeigt, dürfte ein beträchtliches Stück auf der Karriereleiter nach oben geklettert sein. Zu verdanken hat man diesen Sprung der Bertelsmann Stiftung, die Einlaß auf ihren Kontakthof gewährt. In der offiziellen Verlautbarung der Akademie klingt das so:

Die Veranstaltung dient ... dem Aufbau eines engmaschigen Netzwerks aus Arbeitskontakten und persönlichen Beziehungen.

Als Mentoren haben Führungspersönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Medien die Möglichkeit, "herausragende Nachwuchskräfte für die Teilnahme an der Sommerakademie zu nominieren". Die Mentorenliste ist hochkarätig besetzt. Hier nur einige Beispiele: Stefan Baron von der Wirtschaftswoche, Fritz Pleitgen von der ARD, Wolfgang Clement, Hans Eichel, Joschka Fischer, Wolfgang Gerhardt von der FDP, Katrin Göring-Eckardt von den Grünen, Mattias Kleinert von der Daimler-Chrysler AG, Roland Koch, Friedrich Merz, Heinrich von Pierer von Siemens, Bernd Pischetsrieder von der Volkswagen AG, der französische Premierminister Jean-Pierre Raffarin, BDI-Chef Michael Rogowski sowie die EU-Kommissare Michaele Schreyer und Günter Verheugen. Aufgeführt ist auch Elmar Brok, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Europäischen Parlaments und offizielle Leiter des Brüsseler Bertelsmann-Büros. Die Website der Sommerakademie verschweigt die Doppelfunktion, Thomas Schuler nennt sie in Die Mohns beim Namen.

In einer nicht weniger schönen, aber exklusiveren Umgebung trifft sich die junge Elite, die einmal die transatlantischen Bündnisse zwischen Europa und den USA gestalten soll. Werner Weidenfeld nimmt sich drei ganze Tage Zeit, um am Comer See im Grand Hotel Tremezzo mit den Young Leaders zu diskutieren. Man will schließlich auch in Zukunft die besten Kontakte zu den Entscheidern haben. Auf der Transatlantischen Konferenz beriet man vom 11. bis zum 13. Juni 2003 zwischen Bootsfahrten auf dem Comer See und festlichen Diners auf der Isola Bella über Möglichkeiten, das durch den Irak-Krieg gebeutelte Verhältnis zwischen der Neuen und der Alten Welt zu festigen. Zu den Vortragenden gehörten: Jan Ross von der Zeit, Victorino Matus vom Washingtoner Weekly Standard, Benoît Chervalier vom Pariser Finanzministerium, Cathrine Andersen vom norwegischen Außenministerium, Dayna Cade aus dem State Department in Washington sowie Cem Özdemir, der nach seinem Rücktritt als Grünen-Politiker als Stipendiat beim German Marshall Fund in Washington untergekommen ist. Den Vorsitz führten: Werner Weidenfeld und Josef Janning von der Bertelsmann Stiftung.
Bertelsmann hat ein Herz für kontaktfreudige und gewiefte junge Politiker. Özdemir wurde in der stiftungseigenen Zeitschrift forum mit großem Foto und strahlendem Lächeln präsentiert. Wo könnte er besser für die gemeinsamen Ziele eintreten als im Grand Hotel Tremezzo und bei der Bertelsmann Stiftung?

Wir brauchen uns gegenseitig, wenn wir Umweltkatastrophen abwenden, Hunger und Armut bekämpfen sowie die Menschenrechte schützen wollen. Und es gibt ja durchaus auch Bereiche in der transatlantischen Kooperation, die – weitgehend ohne öffentliche Aufmerksamkeit – recht reibungslos funktionieren.

Reibungsverluste, wie sie nach dem Kontakt mit PR-Beratern vorgekommen sein sollen, sind bei Bertelsmann nicht zu erwarten.

Der innenpolitisch bedeutsamste Event ist der sogenannte Kanzlerdialog. Alljährlich trifft sich Gerhard Schröder mit seinen Ministern, den Ministerpräsidenten der Länder sowie den Vorsitzenden der Parteien und Bundestagsfraktionen zu einer Klausurtagung – deren Ort, Zeit und Ablauf CAP und Bertelsmann Stiftung vorschlagen. Im Oktober 2003 redete man unter Bertelsmanns Moderation und Weidenfelds Gesprächsleitung über die "Kursbestimmung deutscher Europapolitik". Die Themen hatten dessen Mitarbeiter erarbeitet. Im offiziellen Bericht auf der Internetseite des CAP heißt es dazu:

Die Bertelsmann Forschungsgruppe Politik am CAP brachte ihre strategischen Reformüberlegungen über ein Positionspapier in das Spitzengespräch ein, das sie gemeinsam mir der Bertelsmann Stiftung als Gesprächsgrundlage vorbereitet hatte.

Ein Punkt des Papiers wird einen der Anwesenden sicher besonders gefreut haben. Die Forschungsgruppe befürwortete die Einsetzung eines europäischen Außenministers, da die "Personalisierung" der Politik eine bessere Transparenz der Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten ermögliche. Werden Joschka Fischer nicht Ambitionen auf das Amt des von Bertelsmann vorgeschlagenen EU-Außenministers nachgesagt?

Seit zehn Jahren gibt es das CAP, seit fünf Jahren die ihm angegliederte Bertelsmann Forschungsgruppe Politik. Die Stiftung kann inzwischen mit Recht von sich behaupten, daß sie die europäische Politik entscheidend vorantreibe. So viel gesellschaftliches Bewußtsein verpflichtet die Nutznießer des Bertelsmann’schen Engagements. Wer auf Werner Weidenfelds Kontakthof eingeladen wird, muß irgendwann einmal zurückgeben. Wenn nicht an das Gemeinwohl, dann wenigstens an die Stiftung oder aber an den Bertelsmann-Konzern.

Die Früchte fallen meistens ganz von selbst vom Baum des Vertrauens. Die hofierten Politiker wissen nicht nur, was sich gehört, sondern verspüren das Bedürfnis, den rastlosen Propagandisten der Sozialpflichtigkeit des Kapitals ihren Dank abzustatten. Daß Gerhard Schröder sich besonders dankbar zeigt, ist kein Geheimnis. Auch zum 25. Jubiläum der Bertelsmann Stiftung im März 2002 signalisierte er seinem ganz persönlichen Reformmotor im Hintergrund: Er wisse "die gewachsene Zusammenarbeit zwischen der Stiftung und dem Bundeskanzleramt" sehr wohl zu schätzen. Mit sicherem Gespür bestätigte er, was eine Unternehmensstiftung am liebsten hört:
Ihr kommt es nicht auf die eigene Profilierung an, sondern sie stellt die inhaltliche Arbeit in den Vordergrund.

Auch den Stifter Reinhard Mohn beschenkte er reichlich.

Unter seiner Leitung entwickelte sich die Bertelsmann AG zu einem Unternehmen, das den einzelnen Mitarbeiter am Haben und Sagen teilhaben läßt.

Public Relations von höchster Stelle im Staat. Zumindest für Bertelsmann war die Agenda 2010 ein Erfolg.

...

Der Kanzler(innen)berater

Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung nennt die Bertelsmann Stiftung "die heimlichen Kanzlerberater". Und das, wie wir in diesem Kapitel gesehen haben, mit einigem Recht. Die Stiftung ist ein Musterbeispiel für den in gemeinnützige Projekte gekleideten Lobbyismus des Medienkonzerns. Niemand versteht es besser, auf der Klaviatur des kulturellen Austauschs und der internationalen Beziehungen zu spielen, als Bertelsmann. Auf vielen Wegen, über die Stiftung und deren Kooperationspartner, vor allem aber über Weidenfelds lukrative CAP-Kontakte, gibt man in Gütersloh den Entscheidungsträgern die Richtung vor. Man berät die Politiker, den Kanzler. Macht man ihn nicht auch?

Auf Gerhard Schröders inniges Verhältnis zu Bertelsmann haben wir hingewiesen. Sein Wahlsieg und die Agenda 2010 sind auf dem Terrain der Bertelsmann Medien und der Bertelsmann Stiftung gewachsen. Seine Elogen jedenfalls sprechen Bände. Wie aber steht es mit der potentiellen Nachfolgerin? Der Name Angela Merkel fällt ebenfalls oft in Bertelsmann-Zusammenhängen. Ist der nächste Wahlkampf hinter den Kulissen unter Umständen eine Frauensache? Wird nach der Bundestagswahl 2006 eine Frau wie weiland Gerhard Schröder und Joschka Fischer nach Gütersloh pilgern, um in zwangloser Atmosphäre anläßlich eines Festakts oder eines Arbeitsgesprächs Liz Mohn Dank abzustatten? Die Indizien dafür sind vorhanden.

Reinhard Mohn trug lange Jahre den Spitznamen "Roter Mohn", blieb aber von der traditionellen Linken politisch immer meilenweit entfernt. Klassenkampf und Gewerkschaftsarbeit begegnete er mit Argwohn. Für Mohn war der Unternehmer alleiniger Herr im Haus, und so stellte er sich auch die Machtverhältnisse in der Gesellschaft vor. In die Nähe zur SPD kam er erst in den Achtzigerjahren, als Bertelsmann in das private Rundfunk- und Fernsehgeschäft drängte und politische Starthilfe benötigte. Die Konkurrenz von Leo Kirch verfügte bei der CDU über beste Beziehungen und Unterstützung bei der Zuteilung von Sendelizenzen. Bertelsmann versuchte es über die Sozialdemokratie und benutzte als Aushängeschilder die linksliberalen Magazine der Konzerntochter Gruner+Jahr. Eine Zweckgemeinschaft also, keine Liebesheirat.
Als Bertelsmann mit der RTL Group in den Neunzigern überragende Fernseherfolge feierte, änderten sich die Abhängigkeiten. Nicht mehr Bertelsmann allein suchte die Nähe der Politik, die Politiker suchten ihrerseits die Nähe des Konzerns. Dieser schuf mit den Kontaktforen der Stiftung eine politische Plattform, auf der man sich zeigen konnte. Wer in der Bertelsmann Stiftung gehört wurde, konnte sicher sein, über die Bertelsmann-Medien gesehen zu werden. So wurde Bertelsmann auch in dieser Hinsicht zu einem wichtigen Wahlkampffaktor.

Gerhard Schröder, Joschka Fischer und das rot-grüne Kabinett haben eng mit der Stiftung kooperiert, als es um die Agenda 2010 ging. Bertelsmann hat sie als Köpfe der Agenda ins Licht der Öffentlichkeit gerückt und ist klugerweise vornehm im Hintergrund geblieben. Jetzt bekommt die rot-grüne Regierung die Quittung für die harschen Reformen. Ein weiterer Wahlsieg scheint mehr als unwahrscheinlich. Und bei Bertelsmann beginnt man umzudenken.

Tim Arnold verläßt 2004 den Konzern. Nach Stationen als Assistent von Wössner und Middelhoff und Kommunikationschef der Stiftung war er seit 2002 als Sprecher von Random House tätig. Für Reinhard Mohn hielt er den Kontakt zur Unabhängigen Historischen Kommission. Er genoß das volle Vertrauen des Bertelsmann-Chefs. Nun geht er in die Politik, um den CDU-Spitzenkandidaten Jürgen Rüttgers im nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf 2005 als Wahlkampfmanager zu unterstützen. Die Wahlentscheidungen im bevölkerungsreichsten Bundesland gelten für gewöhnlich als richtungsweisend. Sollte die CDU die Wahlen gewinnen, besitzen die Mohns und Bertelsmann die besten Voraussetzungen für künftige Kooperationen mit der neuen Landesregierung. Sie haben vorbereitende Maßnahmen getroffen und einen vertrauten Manager ins Feld geschickt.

Und auf dem Gesellschaftsparcours der Bertelsmann Stiftung wird Angela Merkel zunehmend aktiver. Im Februar 2003 präsentierte die CDU-Chefin in Gütersloh Reinhard Mohns neuestes Buch. Sie pries es als Werk eines souveränen Verfechters der Neuen Sozialen Marktordnung. Vor dem Unternehmen verbeugte sie sich mit einer freundlichen Übernahme der Mohn’schen Selbstidealisierung:

Bei Bertelsmann ist es gelungen, das gesellschaftliche System auf ein Unternehmenssystem herunterzubrechen und das dann so zu führen, wie die Gemeinschaft geführt werden muß.

Auch ließ sie es sich nicht nehmen, das Buch in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung zu rezensieren.

In welchem anderen westeuropäischen Land wäre es möglich, daß sich das Oberhaupt einer großen Volkspartei das Selbstverständnis eines Medienkonzerns in dieser Weise ohne Wenn und Aber zu Eigen macht?

Den Mohns scheint es zu gefallen, wie Angela Merkel sich engagiert. In der Stiftungszeitschrift darf sie neuerdings ganze Seiten füllen. Auch Liz Mohn persönlich macht sich stark. Am 29. April 2004 erschien in der zweiten Ausgabe der Monatszeitschrift Cicero ihre schwärmerische Eloge auf die CDU-Vorsitzende, überschrieben mit: "Da ist viel Wärme". Unbedenklich überschreitet die Frau, auf deren "Kommando Bertelsmann hört" (Cicero-Vorspann), die letzte öffentliche Schamgrenze, die der Lobbyismus auf Gegenseitigkeit in der Bundesrepublik bisher noch hatte. Reinhard Mohns Sympathiebekundungen an die Sozialdemokratie in den Siebziger- und Achtzigerjahren nehmen sich, verglichen damit, diskret und distanziert aus. Sensibilität, Einfühlungsvermögen, Klarheit, Offenheit, Kritikfähigkeit, Geduld, Eindringlichkeit, Fürsorglichkeit, Führungsstärke, Ehrlichkeit, Urteilsfähigkeit, Gerechtigkeitsgefühl, einen mitfühlenden, mutigen, anpackenden, offensiv-nachdenklichen und überhaupt gut organisierten Charakter ... All das und noch viel mehr sagt die eine Frau der anderen nach. Die Bertelsmann-Chefin schreibt der CDU-Chefin alle jene Stärken zu, die sie bei sich selbst vermutet:

Es heißt, daß sie ein kalter Mensch sei. Wer ihr aber gegenübersteht, erkennt: Das sind keine kalten Augen ... Es heißt, ihr Wille zur Macht sei ausgeprägt, daß es aber an Substanz fehle. Wer sie aus persönlichen Gesprächen kennt, der weiß, wie falsch diese Kritik ist. Ihre Herkunft hat sie stark geprägt, ihre Weltordnung steht auf festem Fundament ... Wer Angela Merkel aus dem persönlichen Gespräch kennt, der weiß, wie viel Sympathie sie ausstrahlen kann; der weiß, daß sie genaue Vorstellungen davon besitzt, wie unsere Gesellschaft, die Welt und das Leben zu gestalten sind.

Wer in der Öffentlichkeit so hemmungslos seine "persönliche Sympathie" für eine Frau mit guten Aussichten auf die Kanzlerschaft zur Schau stellt, erwartet eine Gegenleistung. Liz Mohn schreckt nicht davor zurück, der Politikerin eine Kumpanei im gegenseitigen Hochloben anzutragen:
Angela Merkel verfügt über jene hohe emotionale Intelligenz, die Frauen eher eigen ist als Männern.

Auch in anderer Hinsicht ist der Artikel entlarvend. Die Vorsitzende der Bertelsmann Verwaltungsgesellschaft plaudert aus, wie es auf höchster Kontaktebene zwischen Volkspartei und Medienkonzern so zugeht: Bei der ersten Begegnung im Bonner Konrad-Adenauer-Haus habe Merkel "unmißverständlich" den unfreundlichen Ton "einiger Medien aus dem Hause Bertelsmann" ihr gegenüber beklagt. Ob das denn sein müsse? Liz Mohn erklärte daraufhin, was die Bertelsmann-Oberen in solchen Situationen immer erklären:

Bei Bertelsmann herrscht Pluralität. Es gibt keine Interventionen für eine bestimmte Partei oder einen bestimmten Artikel.

Von persönlichen Huldigungen in Cicero – Manier an potentielle Wahlsieger – wohl abgesehen.

Im Oktober 2003 nahm Angela Merkel in Bonn den Zukunftspreis der CDU-Sozialausschüsse entgegen. Die Laudatio hielt Liz Mohn. Preisverleihungen, an denen Bertelsmann beteiligt ist, kündigen in den meisten Fällen Tendenzwenden an. War auch dieser Festakt ein in die Zukunft weisendes Omen? Trotz aller eindeutigen Prognosen weiß heute noch niemand, wie die Bundestagswahl 2006 ausgehen wird. Nur eines ist sicher. Bertelsmann wird Kanzler(innen)berater bleiben. Kein "heimlicher", wie man immer sagt, sondern ein vertraulicher, fordernder – und öffentlicher.

...

Unüberbietbarer Geltungsanspruch

Der Gütersloher Konzern trägt schwer an einer Bürde, die er nicht abschütteln kann, weil sie zugleich seine Geschäftsgrundlage ist: eine plakative ethische Selbstverpflichtung. Mit seiner Wertebasis begründet Bertelsmann einen uneingeschränkten Geltungsanspruch in Wirtschaft und Gesellschaft, den man 1998 in den Bertelsmann Essentials in das verbale Gewand eines "Auftrags" gekleidet hat. Man wolle "einen Leistungsbeitrag für die Gesellschaft" erbringen, darüber hinaus "ein attraktives Haus für Künstler, Autoren und alle kreativen Talente sein" und sich "weltweit für den Schutz geistigen Eigentums" einsetzen. Und weiter: "Wir sind davon überzeugt, daß unser publizistisches und unternehmerisches Handeln zu Ergebnissen führt, die für die Allgemeinheit nützlich sind. Wir bekennen uns zu der besonderen Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft, die aus dem Wesen des Mediengeschäftes und dem wirtschaftlichen Erfolg erwächst." Das läßt sich, ohne jeden Zynismus, so verstehen, daß Bertelsmann aus seinem Geschäftserfolg das Recht auf eine gesamtgesellschaftliche Einflußnahme ableitet.

Der in den Essentials mehrfach gebrauchte Begriff des Ziels meint hier kein strategisches Fernziel, sondern eine das tägliche Arbeiten und Wirtschaften leitende Norm, eine fortwährende Ausrichtung des eigenen Handelns. Die Bertelsmann AG beansprucht bis heute, mit der Geltung der genannten Grundwerte gleichgesetzt zu werden, und wird dies auch weiterhin tun. Natürlich reizt dieser Anspruch zum Realitätstest, den wir in Kapitel 5 vorgenommen haben. Darüber hinaus jedoch drängt sich geradezu die Frage auf, ob Bertelsmann seinen eigenen Werten und Visionen nicht offen zuwiderhandelt.

Unabhängig davon, wie es um die Realität des Unternehmensalltags, gemessen an den Prämissen der Unternehmenskultur, bestellt war und ist, hat Bertelsmann mit seinem ethischen Anspruch bisher eine höchst erfolgreiche Sozial-, Bildungs- und Wirtschaftspolitik betrieben – bis hart an die Grenze der Unanfechtbarkeit. Auch wenn das Image des "faszinierenden, internationalen Medienhauses" (Thielen) seit dem Beginn des neuen Jahrhunderts einige Kratzer erhalten hat, erstrahlen die Kernwerte des Konzerns sowie des "Nachkriegsgründers und Stifters" Reinhard Mohn infolge ständiger öffentlicher Aufbereitung immer noch im Glanz der guten Absicht: Partnerschaft, Dezentralisation, Kundenorientierung, Pluralismus und, vor allem, die soziale Verantwortung. Der harte Kern der Selbstverklärung, die Behauptung der Identität von Bertelsmann und Gemeinwohl, schimmert selbst noch in Verlegenheitsfloskeln für skeptische Journalisten durch. So hat die zentrale Kommunikationsabteilung im Februar 2002 anläßlich der Ausschreibung für eine "Reinhard Mohn Fellowship" in einer Presseerklärung die Tugenden der Bertelsmann AG wie folgt auf den Punkt gebracht:
Das Unternehmen folgt dem Ziel, Menschen weltweit und täglich aufs Neue mit seinen Produkten und Services zu inspirieren.

Wenn schon nicht die Verbesserung der Welt, dann wenigstens Inspiration für jedermann.

Aus ethischen Grundsätzen lassen sich keine Kriterien für die operative und finanzwirtschaftliche Planung ableiten. Sollte jemals ein Bereichsleiter oder Vorstandsmitglied von Bertelsmann in Entscheidungsnot hilfesuchend zu den Essentials gegriffen haben, wird er dort nicht die geringste Anregung gefunden haben, sondern nur schöne Worte dafür, was man jederzeit zu wollen hat. Nicht anders ergeht es den Lesern von Reinhard Mohns 2003 erschienenem Buch Die gesellschaftliche Verantwortung des Unternehmers. Blättert man es durch, um zu erfahren, was Mohn von der jüngsten Entwicklung seines Konzerns hält, wird man abgespeist mit einer weiteren zeremoniellen Preisung der "erfolgreichen" Unternehmenskultur, einer Strafpredigt über die "übertriebene Eitelkeit" ungenannter Spitzenmanager und ihre "unverantwortlichen Großinvestitionen" sowie inhaltsleeren Ausführungen über die Vorbildlichkeit der eigenen sozialethischen Leistungsorientierung für die öffentliche Verwaltung. Frappierend: Da spricht ein Medienunternehmer auf gut 250 Seiten über Unternehmensführung, und die Medienmärkte bleiben dabei so fern und konturenlos wie die Meere auf dem Mars.

Doch gerade in ihrer hochgradigen Unverbindlichkeit ist die Bertelsmann-Konstitution von hohem praktischen Nutzen. Wie wir im sechsten Kapitel gesehen haben, erlaubt sie es dem Konzern, sich in Gestalt der Bertelsmann Stiftung sozusagen von sich selbst zu distanzieren und als neutrale Plattform für alles Grundlegende neu zu erstehen. In der Dualität von Stiftung und Aktiengesellschaft entlasten sich beide Bertelsmann-Versionen gegenseitig. Die Stiftung wirbt für soziale Verantwortung, für eine gerechte und effiziente Wirtschaftsordnung, für Beachtung der Umweltbelange und für Transparenz in den Beziehungen zwischen Stakeholdern und Shareholdern. Wer ist angesichts dieses Engagements noch so indiskret, danach zu fragen, wie es in diesen Angelegenheiten bei dem Konzern gleichen Namens steht?

Die Kulturbringer

Wir haben die Entwicklung der Konzernstruktur verfolgt und die wohl wichtigste Besonderheit des Hauses Bertelsmann beleuchtet, die sich in der Trennung zwischen Stiftung und Aktiengesellschaft manifestiert: Die Arbeitsteilung zwischen Gemeinwohlarbeit und Geschäft bringt bei allem sozialen Engagement stets auch einen nicht unbeträchtlichen Vorteil für Letzteres mit sich. Dazu äußert sich das Ethik-Komitee von Gütersloh grundsätzlich nicht. Steht hinter dieser Zurückhaltung nichts als die Absicht, jede Eigenwerbung zu vermeiden? Es ist zu vermuten, daß Reinhard und Liz Mohn und andere Repräsentanten des Konzerns ihre Doppelrolle nutzen, um den Mantel des Schweigens über einen ethikfreien Bereich zu legen, der von der Ethik der Stiftung kräftig profitiert. Bertelsmann hat sich als Tugendbold prächtig ausstaffiert und damit die Erwartung geweckt, das Unternehmen werde auch in seinen Märkten gesamtverantwortlich und vorbildlich vorgehen. Da ist eine (unsichtbare) Sichtblende im Stiftungs-Format sicherlich willkommen.

Doch lassen wir dieses Dilemma einmal dahingestellt. Ebenso wichtig ist die Frage, ob das Unternehmen bei seinen vielfältigen Operationen ein Konzept von sich selbst vermittelt. Nahezu alle großen Medienunternehmen verbreiten eine prägnante Vorstellung von ihren Kompetenzschwerpunkten und Entwicklungszielen, oder besser: Sie haben diese verbreitet, bevor sie in Großfusionen mit anderen Großunternehmen ihre Konturen weitgehend verloren. Man denke an Disney mit seiner Formel von der "sauberen Unterhaltung", an Viacom mit seinem Konzept des maßgeschneiderten Musik- und Filmangebots für Kinder, Jugendliche und andere Altersgruppen und – auf nationaler Ebene – an Axel Springer mit seinen publizistischen Grundsätzen. Die formelhafte Verkürzung eines unternehmerischen Konzepts mag trivial und schönfärberisch erscheinen. Sie identifiziert jedoch den Konzernnamen öffentlich mit einer bestimmten Geschäftsidee, die als Kundenerwartung auf die strategische Planung des Konzerns zurückwirkt. Sie beeinflußt die PR-Kampagnen des Konzerns und gibt bei der Wahl zwischen mehreren Expansionsmöglichkeiten meist den Ausschlag. Bertelsmann allerdings scheint ein solches handlungsleitendes, sichtbares Selbstbild zu fehlen. In der deutschen Bevölkerung wird der Medienriese immer noch mit der Anwerbung von Mitgliedern für den Lesering in den Fünfziger- und Sechzigerjahren gleichgesetzt. Mit Gruner+Jahr oder RTL hingegen bringen, von Fachleuten abgesehen, nur sehr wenige den Namen Bertelsmann in Verbindung.

Verschweigt Bertelsmann sein langfristiges Entwicklungskonzept der Öffentlichkeit? Oder verfügt der Konzern womöglich über gar keines? Das Musikgeschäft von Bertelsmann haben wir anhand der Napster-Groteske schon näher betrachtet. Dort ist kein Konzept erkennbar. Blicken wir also in die anderen Geschäftsbereiche – Buchclub, Buchverlage, Fernsehen, Druck, Dienstleistungen und Zeitschriften. Vielleicht fügen sich ja dort die Aktivitäten und Strategien des Multi-Medien-Verbunds Bertelsmann zu einem gemeinsamen Entwicklungsplan und einer Geschäftsidee zusammen.

Im Clubgeschäft hat sich Bertelsmann europaweit und auch weltweit mit keinem bedeutsamen Wettbewerber auseinanderzusetzen. In Deutschland heißt der ehemalige Lesering mitsamt Schallplattenring heute "Der Club Bertelsmann" oder kurz "Der Club". Seine letzte ernsthafte Konkurrenz, der Deutsche Bücherbund, wurde 1989 von Holtzbrinck an Leo Kirch verkauft und von diesem zwei Jahre später an Bertelsmann weitergereicht. 1981 betreuten Bertelsmanns Club-Töchter weltweit 12 Millionen Mitglieder (5 Millionen in Deutschland). Heute sind es weltweit etwa 32 Millionen Mitglieder in 20 Ländern (und nur noch knapp 4 Millionen in Deutschland). Der Club war Bertelsmanns "Königsidee", sein Exklusivmarkt, und somit prototypisch für das, was Bertelsmann auf den anderen Medienmärkten erreichen wollte.

Obwohl die deutschen Mitglieder beim Kauf von Büchern, CDs und Videokassetten aus dem Clubprogramm einen Preisvorteil von durchschnittlich 30 Prozent hatten, ging ihre Zahl zwischen 1992 und 2000 deutlich zurück. Dann kam der Mitgliederschwund zwar nahezu zum Stillstand, aber die Rendite schrumpfte weiter. Auch weltweit verwandelte sich das Clubgeschäft in den Neunzigern zum Problembereich des Konzerns. Mit technischen und organisatorischen Neuerungen versuchte man Angebot, Auswahl und Kauf attraktiver zu gestalten. Vieles wurde so hastig eingeführt, daß es Chaos und höhere Gesamtkosten verursachte. Man experimentierte mit einem europaweit einheitlichen Softwaresystem und schaffte es gleich wieder ab, als man bemerkte, daß es sich nicht auszahlte. Ferner errichtete man ein System von Datenbanken, auf welches sowohl die Clubs mit ihren internetfähigen Kassen als auch die hauseigene Online-Buchhandlung BOL zugreifen konnte. Dann aber verabschiedete man sich von der Buchhandlung und anderen Online-Diensten und mit ihnen von der "Verzahnung des On- und Offline-Angebots".

Die Kundenbindung ist das A und O des Direktkundengeschäfts und war einst die Hauptkompetenz von Bertelsmann. Klaus Eierhoff, der unter Middelhoff die DirectGroup leitete, mißfiel es, daß die Clubmitglieder weniger als ein Viertel ihres Medienbudgets bei Bertelsmann anlegten. Um dieses Budget enger an den Club zu binden, erweiterte er das Angebot um neue Produktarten und setzte auf eine digitale "Renaissance der Clubidee". Im Internet hatten sich bei den Bücherlesern Special-Interest-Clubs gebildet: Chats von Esoterik-Freunden, Liebhabern historischer Romane, Computer-Experten, Eisenbahn-Amateuren und Military-Sammlern, der "Mystery &Thriller Club", die "Black Community" und viele andere. Diese Fan-Gruppen wollte Eierhoff eingemeinden – nach Napster ein weiterer Versuch bei Bertelsmann, Internet-Anwender in Exklusivkunden zu verwandeln. Doch auch das Community-Geschäft führte den Club nicht zur alten Ertragsstärke zurück. Das Geschäftsjahr 2002 endete mit hohen Verlusten für die DirectGroup. Eierhoffs Nachfolger Ewald Walgenbach besann sich dann auf eine Maßnahme aus der Gründerzeit des Leserings. Im Frühjahr 2003 wurde sämtlichen 28 Millionen Buchclub-Mitgliedern zu Sonderkonditionen ein "International Book of the Month" angeboten. Es handelte sich um den Thriller No Second Chance des amerikanischen Bestsellerautors Harlan Coben. Man sprach davon, die 75 Jahre alte Tradition des amerikanischen "Book of the Month"-Clubs fortführen zu wollen, und vergaß, daran zu erinnern, daß hier eher die Tradition des Massenabsatzes von "Hauptvorschlagsbänden" durch säumige Besteller im Lesering wieder aufgenommen wurde.
Bei Bertelsmann wurde in die Geschäftsberichte hineingeschrieben, daß man in der DirectGroup den Turnaround schaffen und die Kurve zu guten Jahresergebnissen kriegen will. Die Verlustzone hat man verlassen, an der Schmerzgrenze bleibt man weiterhin. Ungeachtet aller Marketingoffensiven und Erfolgsmeldungen im Jahr 2004 sinken in Deutschland und Europa der Umfang der Bestellungen und der durchschnittliche Umsatz pro Clubmitglied. Der Direktverkauf einzelner Medien an die Abonnenten wird auf Dauer ein sorgenvolles Geschäft bleiben und die Unternehmensleitung vor eine Gewissensfrage stellen: Wie hält man es mit dem Stammgeschäft der Stammgeschäfte? Unterliegt seine Fortführung ebenfalls dem strengen Rendite-Kriterium? Oder erzwingt die Unternehmenskultur, namentlich Reinhard Mohn, hier eine Ausnahme?

Vorerst sucht man Rettung in den osteuropäischen und ostasiatischen Märkten. Dort, wo die rabiaten Akquisitionsmethoden der Lesering-Jahre niemand kennt oder niemanden interessieren, will man noch einmal wie damals aufs Ganze gehen und als vermeintlich uneigennütziger Förderer der Volksbildung und Völkerverständigung die eigenen Umsatzzahlen aufbessern. Außerdem hofft man, sich über die Gründung von Bildungsinstitutionen und Druckereien für spätere Engagements bei Print- und Telemedien einen unanfechtbaren Platzvorteil gegenüber anderen westlichen Investoren zu sichern. Da die Bertelsmann AG auf diese Weise an ihre Vorgeschichte anknüpft, vergleichen wir im Folgenden die Umstände der ersten Auslandsgründung des Buchclubs (Spanien) mit denen der bisher letzten (China).

1962 machte Reinhard Mohn seinen ersten Schritt ins Ausland und rief, anfangs in Kooperation mit einem spanischen Partnerverlag, in Barcelona den Circulo de Lectores ins Leben. Warum die Wahl auf Spanien fiel und wie es gelang, trotz der ablehnenden Haltung der dortigen Bürokratie in der Spätphase des Franco-Regimes rasch Fuß zu fassen, wäre eine eigene Untersuchung wert. Reinhard Mohn selbst legte in Barcelona mit Hand an. Auf einem heute als historisches Dokument archivierten Foto posiert er auf einer jener Lambrettas, mit denen die Boten des Circulo Bücher und Kataloge zu den Mitgliedern fuhren. Die Einführung des Buchclubs zog rasch die Gründung von Druckereien und Musik-Labels sowie den Einstieg in das spanische Verlagswesen nach sich. Im Rückblick würdigte man in Spanien und Gütersloh die Pionierleistung des einfühlsamen Club-Managements, das der Lesekultur voranhalf und als inspirierter Entwicklungshelfer zur "Modernisierung des Landes" beitrug. Einer Bertelsmann-Chronik ist zu entnehmen, daß der Circulo de Lectores heute in den Augen der Spanier zu den drei wichtigsten Kulturinstitutionen der katalanischen Hauptstadt gehöre, neben dem Opernhaus und dem FC Barcelona.

Wie geht man vor, um rein geschäftliche Interessen hinter dem Bild eines trivialen Absichten entrückten Kulturbringers geradezu verschwinden zu lassen? Man druckt Werke der Weltliteratur nach und verpflichtet Nobelpreisträger zu "unvergeßlichen Auftritten" in den centros culturales des spanischen Buchclubs. Man bringt "relevante Persönlichkeiten" aus Politik und Wirtschaft in ihre Lieblingssituation, nämlich auf die Bühne eines öffentlichen, dem Parteiengezänk enthobenen Forums, wo sie in Gesellschaft bedeutender Wissenschaftler ihren Nimbus pflegen können. Zugleich stellt man sein Unternehmensmodell zur Schau und präsentiert sich als Wegbereiter eines sozialen, demokratischen Kapitalismus, harmonierend mit dem selbst erteilten Bildungsauftrag zur Förderung des gesellschaftlichen Niveaus. Irgendwann wird dann eine Modellbibliothek gegründet, "nach dem Vorbild der Stadtbibliothek Gütersloh", die binnen kurzem zum "Wallfahrtsort für Bibliothekare, Bildungsbeauftragte und Experten aus ganz Spanien" wird. Dann gründet man eine Fundación Bertelsmann, die Leseförderung an Schulen betreibt und in öffentlichen Bibliotheken für "fortschrittliche Führungsmethoden" wirbt. Und irgendwann sind König Juan Carlos und Königin Sofia Ehrenmitglieder des Clubs. Auf diese Weise wurde in Spanien der Kauf von Bertelsmann-Produkten zu einem Akt nationaler Pflichterfüllung.

Im Herbst 1998 erhielt Reinhard Mohn den Prinz-von-Asturien-Preis für Kommunikation und Humanwissenschaften aus der Hand des Thronfolgers. In seiner Laudatio machte dieser dem Preisträger das Geschenk der Selbstbild-Bestätigung. Reinhard Mohn beharre darauf, führte Prinz Felipe aus, daß kein Unternehmen sich "ausschließlich vom Streben nach Gewinnmaximierung antreiben" lassen dürfe. Reinhard Mohn verstehe seine Arbeit als "eine dem Dienst an der Gemeinschaft verpflichtete Aufgabe". Wenig später wurde Mohn von Juan Carlos zur Audienz in der königlichen Residenz empfangen. Wie zufällig gründete die Bertelsmann Stiftung 2002 das Deutsch-Spanische "Europa"-Forum. Es tagte erstmals im November 2002 in Madrid, parallel zum Staatsbesuch des deutschen Bundespräsidenten, in Anwesenheit desselben sowie des Außenministers Fischer, der Kulturstaatsministerin Weiss und der Präsidentin des Goethe-Instituts Limbach.

Ist ein direktes Zusammenspiel der gemeinnützigen Bertelsmann Stiftung und der Bertelsmann AG nachzuweisen? Blicken wir nach Asien. Auf dem großen chinesischen Markt faßte Bertelsmann zunächst nur in Shanghai Fuß. Nach langwierigen Verhandlungen und regierungsamtlich protegiert, schlossen sich im Februar 1995 ein chinesisches Staatsunternehmen und Bertelsmann zur Shanghai Bertelsmann Culture Industry Company zusammen. Diese betreibt seit 1997 den ersten Buchclub in Shanghai mit derzeit rund 1,5 Millionen Mitgliedern. Der Lizenzbereich ist auf das Stadtgebiet begrenzt. Da auch viele außerhalb wohnende Kunden die für China ungewöhnliche Gelegenheit nutzten, Bücher, CDs, DVDs und Computerspiele direkt aus dem Katalog zu bestellen, bewegte man sich in einer rechtlichen Grauzone. Im Oktober 1998 nahm in Peking die Bertelsmann China Holding GmbH ihre Arbeit auf. Unter ihrem Dach schmiedeten Bertelsmanns Musiksparte, Gruner+Jahr, arvato und die DirectGroup hochfliegende Expansionspläne. Über bescheidene Beteiligungen an Zeitschriftenverlagen in Shanghai kam man aber zunächst nicht hinaus, da Chinas Gesetze Mehrheitsbeteiligungen von Ausländern an Medienunternehmen verhindern. Im Januar 2002 verhandelte Thomas Middelhoff mit den zuständigen Staats- und Parteigremien über die Gründung eines großen Druckhauses und Mediendienstleisters (als Joint Venture mit zwei einschlägigen Unternehmen in Shanghai) und erwirkte das Einverständnis der Machthaber für Beteiligungen bei Fernsehen und Hörfunk.

In Schwung kam Bertelsmanns China-Geschäft aber erst, als man sich auf den selbsterteilten gesamtgesellschaftlichen Auftrag besann. Seit 2002 arbeitete die Bertelsmann Stiftung an dem Projekt "Internationales Kulturforum 2004" mit der Losung: "Vielfalt der Kulturen: Voneinander lernen, miteinander wirken". Als Initiatoren verständigten sich Liz Mohn und der chinesische Kulturminister Sun Jiazheng darauf, Entscheidungsträger aus Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Kultur zu einem chinesisch-europäischen Kulturdialog am 21. und 22. Mai 2004 in Peking einzuladen.

Diese Einladung hat eine kulturpolitische Vorgeschichte und einen in die Zukunft weisenden ökonomischen Effekt. Im Herbst 2002 legte das Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) eine von der Bertelsmann Stiftung unterstützte Studie über den Stand der deutsch-chinesischen Kulturbeziehungen vor, in der die Autorin Gundula Zeeck zu dem Schluß gelangt, daß der Kulturaustausch zwischen den beiden Ländern nicht mit der dynamischen Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen Schritt halte. Es sei dringend nötig, vorhandene Synergien – auch der in China tätigen deutschen Unternehmen – für eine Erweiterung des deutschen Kulturangebots in diesem Riesenreich zu nutzen und insbesondere in dessen Provinzhauptstädten über das Kulturland Deutschland zu informieren. An einem vom Auswärtigen Amt in Berlin veranstalteten Werkstattgespräch über die Studie nahmen Vertreter der Bertelsmann Stiftung teil. Laut Kurt-Jürgen Maaß, dem Generalsekretär der ifa, regten die Gesprächsteilnehmer an, "die deutsche Wirtschaft in China mehr in die Kulturarbeit einzubinden und ihre Infrastruktur in der sogenannten ›Provinz‹ stärker zu nutzen". Namentlich erwähnte Maaß das Projekt der Bertelsmann Stiftung und deren deutsch-chinesischen Gesangswettbewerb "Die Neuen Stimmen". Dies seien "wertvolle Beiträge" zu einer nachhaltigen deutschen Kulturaußenpolitik, urteilte er. Auch das vom Auswärtigen Amt geplante "Deutschlandjahr" in China (2007/2008) werde durch das Engagement von "Nicht-Regierungs-Organisationen" wie der Stiftung bereichert. Es helfe beim Aufbau einer "tragfähigen Infrastruktur für neue Austauschmöglichkeiten".

Im Mai 2003 vollzieht China endlich seinen lange angekündigten Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO). Kurz darauf verfügt – ebenfalls lange angekündigt – das Staatliche Amt für Presse und Verlagswesen, daß nunmehr auch ausländische Unternehmen am landesweiten Groß- und Einzelhandel mir Büchern beteiligt werden dürfen. Vom 1. bis zum 4. Dezember 2003 weilt Bundeskanzler Gerhard Schröder zu Gesprächen in China. Am 3. Dezember gibt die Bertelsmann DirectGroup bekannt, daß sie einen Kapitalanteil von 40 Prozent an der Buchhandelskette 21st Century Book Chain Company, Ltd., einem Unternehmen mit landesweiter Lizenz, übernehmen werde. Unter dem Namen Bertelsmann 21st Century und unter dem Logo des Medienkonzerns konzentrieren sich die Partner zunächst auf Läden in Peking, Shanghai und angrenzende Regionen und eröffnen anschließend Club-Center in vielen anderen chinesischen Millionen- und Provinzhauptstädten. Angeboten werden jeweils umfangreiche Sortimente von Büchern, Ton- und Videoprodukten, Glückwunschkarten und Geschenken sowie verschiedenartige Dienstleistungen.

Beim Internationalem Kulturforum am 21. und 22. Mai 2004 in Peking sprechen chinesische Repr äsentanten von Staat und Wissenschaft, Heribert Meffert, Liz Mohn, Heinrich von Pierer, die Kulturstaatsministerin Christina Weiss, Direct-Group-Geschäftsführer Ewald Walgenbach, der Stiftungs-Experte Werner Weidenfeld, RTL-Geschäftsführer Gerhard Zeiler, die österreichische Außenministerin Benita Ferrero-Waldner und viele andere Vertreter des europäischen Geisteslebens. Liz Mohn erklärt in Peking, sie träume davon, "der chinesischen Landbevölkerung zu helfen". Denn sie weiß: "Wenn die Menschen nicht lesen und schreiben können, kommen sie im Leben nicht weiter." Der Kulturdialog ist offizieller Bestandteil des Kulturaustauschprogramms 2003–2005 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik China. Die ersten Ehrenmitgliedschaften hoher chinesischer Staats- und Parteiführer bei Bertelsmann 21st Century werden nicht lange auf sich warten lassen. Ein völkerverbindendes Engagement der RTL Group beim Staatssender China Central Television (CCTV) ist seit Mai 2004 beschlossene Sache.

...

zurück zur Seite über Marktwirtschaft