Auszüge aus Peter Bofinger's
"Wir sind besser als wir glauben"

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Einleitung

"Wohlstand für alle": Das Erfolgsrezept für die deutsche Wirtschaftspolitik

"Wohlstand für alle" war das Leitmotiv von Ludwig Erhard, dem Vater unserer Sozialen Markwirtschaft. Was war das Erfolgsrezept seiner Wirtschaftspolitik? Erhard strebte eine Wirtschaftsordnung an, "die immer weitere und breitere Schichten unseres Volkes zu Wohlstand zu führen vermag." Mit dem Wirtschaftswunder der fünfziger Jahre ist ihm dies in überzeugender Weise gelungen. Die deutsche Wirtschaft konnte sich so wie ein Phönix aus der Asche des Zweiten Weltkriegs erheben. Ihre Währung, die D-Mark, konnte ebenso schnell aus der Rolle des "Besatzungskindes" herauswachsen und wurde bald zum "Weltstar" – stabil im Innern und stark nach außen.

Von der Wachstumsdynamik und dem Optimismus der fünfziger Jahre ist in Deutschland heute nichts mehr zu verspüren. Seit nun mehr vier Jahren geht die Binnennachfrage zurück, netto sind die Realeinkommen heute nicht höher als im Jahr 1988. Die Arbeitslosigkeit wird bald die Fünf-Millionen-Marke überschreiten, die Neuverschuldung wird in diesem Jahr zum dritten Mal über der 3%-Grenze des Stabilitäts- und Wachstumspaktes liegen und die Staatsverschuldung bewegt sich mit 65% ebenfalls über dem Limit von 60%, das im Vertrag von Maastricht festgelegt worden war.

Wie soll der Patient wieder auf die Beine gebracht werden? Die meisten Ökonomen, Politiker und Journalisten glauben, schon längst die richtige Diagnose gefunden zu haben. Der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog hat dies in seiner berühmten "Adlon-Rede" bereits im Jahr 1997 wie folgt auf den Punkt gebracht:
Wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem.

Worin besteht nun diese Erkenntnis? Natürlich kennen wir alle die Antwort, denn wir hören und lesen sie seit Jahren in allen Medien: Der Sozialstaat ist zu fett geworden. Und so gibt es für den Juristen Roman Herzog keinen Zweifel:

Von jeder Mark, die heute in Deutschland erwirtschaftet wird, geht fast die Hälfte in die öffentlichen Kassen. Das ist zu viel.

Diese Diagnose wird nicht nur von den vielen Hobby-Ökonomen geteilt, die jeden Abend die Talkshows bestreiten, sondern auch von der Mehrzahl der Volkswirte, die in Deutschland Politikberatung betreiben. Nach diesem Credo geht es bei uns nicht voran, weil der übergewichtige Sozialstaat nur mit überhöhten Steuern und Sozialabgaben am Leben gehalten werden kann. All das zerstöre die Leistungsanreize. Arbeit lohne sich nicht mehr. Mit auf der Anklagebank sitzen die Gewerkschaften. Sie werden verantwortlich gemacht für überhöhte Löhne, zu kurze Arbeitszeiten und einen beschäftigungsfeindlichen Kündigungsschutz. Und schließlich gibt es auch noch die schrecklichen Regulierungen und die deutsche Bürokratie, die jede unternehmerische Initiative im Kern ersticken. Wie oft haben wir in den letzten Jahren schon die Geschichte von Bill Gates hören müssen, der mit seinem anfänglichen Garagen-Unternehmen schon an der deutschen Gewerbeaufsicht gescheitert wäre?

Bei der scheinbar so klaren Diagnose gibt es heute kaum noch einen Zweifel darüber, wie der Patient zu kurieren ist. "Reformen" und "Sparen" lauten die Zauberworte, die nun schon seit Jahren die Debatte bestimmen. Dabei haben wir uns schon so daran gewöhnt, eine "Reform" als etwas grundsätzlich Gutes anzusehen, daß es bereits ausreicht, wenn sich Politiker zu möglichst umfassenden und möglichst tiefgreifenden "Reformen" bekennen. Um welche Veränderungen es dabei ganz konkret gehen soll, ist in der Regel nicht so wichtig, Hauptsache es wird reformiert.

Ganz im Sinne der Diagnose des zu fetten Sozialstaates denken die meisten Politiker und Journalisten bei "Reformen" an Maßnahmen, mit denen die soziale Absicherung der Menschen in Deutschland reduziert werden sollen. Und da "Sozialabbau" nicht besonders gut klingt, spricht man heute gerne davon, daß die "Eigenverantwortung" gestärkt werden muß. Das sieht auch der neue Bundespräsident Horst Köhler so:

Wir werden nicht darum kommen, die Eigenverantwortung und auch die Risikobereitschaft der Deutschen zu stärken.

Was heißt das konkret? Meint Herr Köhler damit, daß ein kranker Mensch, der heute Zuzahlungen für Arztbesuche, Krankenhausaufenthalte und Medikamente leisten muß, nicht mehr durch die Krankenkasse bevormundet wird, weil er nun sein eigenes Geld für seine Krankheit ausgeben muß? Was würde unser neuer Bundespräsident einem Fünfzigjährigen raten, der arbeitslos wurde und nach einem Jahr keinen Arbeitsplatz gefunden hat? Würde er ihm sagen, daß er seine "Risikobereitschaft" stärken muß und deshalb ruhig seine – über den Freibetrag von 10.000 Euro hinausgehenden – Altersersparnisse für den laufenden Lebensunterhalt aufbrauchen soll?

Eng verbunden mit dem Abbau des Sozialstaats hat sich eine allgemeine Wachstumsfeindlichkeit und mit ihr ein Kult des Sparens und Sich-Beschränkens entwickelt, der von Bernd Ulrich als "Wende zum Weniger" gepriesen wurde:

Die Wende zum Weniger ist gewiß ein Zwang, jedoch ein besonderer: der Zwang zur Freiheit.

Als Musterschüler in dieser Disziplin hat sich Edmund Stoiber profiliert, der sich nach seiner gewonnen Landtagswahl im Herbst 2003 dazu berufen fühlte, die Staatsausgaben in Bayern im Jahr 2004 um 10% zu reduzieren und bis zum Jahr 2008 sogar eine Einschränkung der öffentlichen Leistungen um ein Fünftel anzustreben. Auch die Grünen haben sich bei dieser "Ästhetik des Sparens" besonders hervorgetan. Katrin Göring-Eckart, die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, hat die "Blut, Schweiß und Tränen"-Ideologie wie folgt auf den Punkt gebracht:

Dabei sollten wir uns nichts vormachen. Der Weg, den wir vor uns haben, ist ein schwieriger. Wir haben weniger zu verteilen, denn je.

Wie tief die daraus resultierende Zukunftsangst geht, wurde in einem Interview mit Franz Müntefering (DIE ZEIT vom 10. Juli 2003) deutlich, in dem er es für die Jahre 2010, 2020 und selbst 2030 keinesfalls für selbstverständlich hielt, daß dann der Wohlstand noch so hoch sei wie heute. Immerhin räumte er ein, daß es "möglich" sei. Von der Idee, daß es in den nächsten Jahrzehnten auch ein kräftiges Wachstum geben könnte, ist weit und breit nichts mehr zu sehen.

Aber neben dem allgemeinen Prinzip des "Geiz ist geil" gibt es natürlich auch recht konkrete Vorstellungen, wie der "kranke Mann" wieder auf die Beine gebracht werden könnte. Sie bilden ein echtes Kontrastprogramm zu Ludwig Erhard. Statt "Wohlstand für alle" lautet das Leitmotiv jetzt: "Armut für viele". Besonders klar formuliert findet man diese neue Linie in Hans-Werner Sinns Bestseller Ist Deutschland noch zu retten? Die Kernpunkte seines als "Rettung für Deutschland" konzipierten Programms lauten wie folgt:

  • Die Löhne müssen um 10% – 15% gesenkt werden, "wobei bei den Geringqualifizierten sicherlich eine Lohnsenkung um ein Drittel benötigt würde." (S. 94)
  • "Arbeitslosen- und Sozialhilfe werden auf einem Niveau vereint, das im Durchschnitt um etwa ein Drittel unter dem heutigen Sozialhilfeniveau liegt." (S. 202)
  • "Der gesetzliche Kündigungsschutz muß fallen, und zwar genauso für Großbetriebe wie für Kleinbetriebe." (S. 141)
  • "Weg mit den starren Flächentarifen, mehr Tarifautonomie für die Betriebe." (S. 457)
  • "Länger arbeiten, mindestens 42 Stunden." (S. 455)
  • Die Steuern müssen "dramatisch" gesenkt werden. (S. 299)

Was für ein genialer "Rettungsversuch"! Weniger Geld, länger arbeiten, und das alles bei einer drastisch verminderten sozialen Absicherung? Die "dramatische" Steuersenkung klingt noch ganz gut, aber viele Familien mit geringen Einkommen zahlen schon heute ohnehin kaum Steuern, und bei einem Drittel weniger Lohn wäre dort erst recht nicht mehr viel zu holen.

Und da wir täglich von den Medien mit diesem Reform-Mantra berieselt werden, haben wir uns im Grunde mit diesem Schicksal schon abgefunden: Die guten Zeiten sind vorbei, ohne schmerzhafte Reformen werden wir nicht über die Runden kommen.

Aber gibt es wirklich keinen anderen Ausweg? Was zumindest zu denken geben sollte, ist die Tatsache, daß die Bundesrepublik Deutschland in den letzten Jahrzehnten weder von Oskar Lafontaine noch von Erich Honecker regiert wurde. Vielmehr war es im Westen bereits im Jahr 1982 zur politischen "Wende" gekommen. Ihr Manifest war das "Lambsdorff-Papier", das "eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit" gefordert hatte und der Bundesrepublik Deutschland bis zum Jahr 1998 eine konservativ-liberale Regierung beschert hatte. Helmut Kohl wurde abgewählt, weil seine Wirtschaftspolitik versagte. Aber es war wohl kaum eine unternehmerfeindliche Politik, was er zusammen mit seinen FDP-Partner in jenen 16 Jahren betrieben hatte. So wurde die Vermögensteuer ebenso abgeschafft wie die Gewerbekapitalsteuer, das Renteneintrittsalter wurde angehoben und die Anrechnungszeiten für die Rentenansprüche verkürzt. Die Zumutbarkeitsbestimmungen für Arbeitslose wurden deutlich verschärft. Auch die Deregulierung kam nicht zu kurz: Die Telekommunikation, die Bahn und die Briefpost verwandelten sich in Wirtschaftsunternehmen und wurden zumindest teilweise privatisiert. Bei der Stromversorgung wurde erstmals Wettbewerb zugelassen und die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten verloren ihre Monopolstellung.

Eine mangelnde Reformbereitschaft kann man auch der Wirtschaftspolitik der rot-grünen Regierung nicht vorwerfen. Am Anfang stand eine große Steuerreform, die als "größtes Steuersenkungsprogramm der deutschen Nachkriegszeit" propagiert wurde. Davon profitierten vor allem die großen Unternehmen, die dadurch zeitweise völlig von der Körperschaftsteuer freigestellt wurden. Mit der im Jahr 2001 beschlossenen "Riester-Rente", die vom zuständigen Ministerium ganz unbescheiden als "eine der größten Sozialreformen Deutschlands" bezeichnet wurde, sollte dafür gesorgt werden, daß die Alterssicherung in Deutschland "bezahlbar" bleibt und "Zukunft hat". Schließlich gab es im Jahr 2002 einen gewissen Peter Hartz, der ein Konzept vorlegte, von dem er eine Reduzierung der Arbeitslosigkeit um 2 Millionen in nur drei Jahren erwartete. Gerhard Schröder war damals überzeugt, "daß mit Mut und Fantasie erreicht werden kann, was viele für undenkbar halten und deshalb nicht riskieren. Es ist möglich, die mehr als eine Million offenen Stellen zu besetzen und durch kluge Politik die Schwarzarbeit in legale Beschäftigungsverhältnisse umzuwandeln."

Natürlich sind die Maßnahmen des Hartz-Pakets noch nicht vollständig umgesetzt und bei der Steuerreform fehlt noch der Ausbau der letzten Stufe, der erst nächstes Jahr in Kraft treten wird. Aber alles was noch aussteht, ist genau bekannt, und trotzdem gibt es heute keinen Konjunkturforscher, der für das Jahr 2005 ein kräftiges Wachstum der Binnennachfrage und eine nennenswerte Zunahme der Beschäftigung in Deutschland erwarten würde. Damit werden wir abermals das Schlußlicht in Europa sein.

Das anhaltende Ausbleiben der Reformerfolge läßt zwei Alternativen zu. Für die meisten Ökonomen und Politiker heißt die Lösung "Noch mehr Reformen". So behauptet das Institut der Deutschen Wirtschaft, daß bisher erst ein Fünftel des "mindestens erforderlichen Reformpakets" umgesetzt sei.

Aber könnte es nicht auch sein, daß wir die ganze Zeit in eine falsche Richtung gelaufen sind und mit "mehr Reformen" immer tiefer in die Krise geraten? Gibt es also vielleicht doch ein Erkenntnisproblem? Ist es denkbar, daß Helmut Kohl aus den gleichen Gründen gescheitert ist, die Gerhard Schröder heute das Leben so schwer machen? Liegt es vielleicht gar nicht am Patienten, daß er nicht mehr richtig gesund wird, sondern an seinen Ärzten? Wenn man bei einem kranken Menschen feststellt, daß eine Therapie nicht anschlägt und sich seine Situation sogar noch verschlechtert, kann das daran liegen, daß die Dosis nicht stark genug war. Aber der ausbleibende Heilungserfolg kann auch darauf beruhen, daß die ganze Diagnose nicht stimmt. In diesem Fall führt die stärkere Dosierung nur dazu, daß man den Patienten zu Tode therapiert.

Deshalb setzt sich dieses Buch in Teil I intensiv mit der gängigen Diagnose des "kranken Mannes in Europa" auseinander. Es lohnt sich wirklich, hier noch einmal genauer hinzusehen. Vieles von dem, was in Sabine Christiansens sonntäglichen Reform-Messen als Fakten präsentiert wird, hat oft nur wenig mit der Realität zu tun.

  • So ist die Steuerbelastung in Deutschland niedriger als in den meisten anderen Ländern. Nur in Japan und in den Vereinigten Staaten erzielt der Staat noch geringere Steuereinnahmen in Relation zum Bruttoinlandsprodukt als bei uns.
  • Der Anteil des Staates an unserer Wirtschaft ist heute nicht höher als vor drei Jahrzehnten und er ist auch im europäischen Vergleich nicht als übertrieben übergewichtig anzusehen.
  • Falsch ist auch die gängige Vorstellung, daß wir als Volkswirtschaft über unsere Verhältnisse leben und uns deshalb in jeder Hinsicht einschränken müssen.
  • Verfehlt sind Diagnosen, wonach Deutschland ein Problem mit seiner internationalen Wettbewerbsfähigkeit hat und deshalb drastische Lohnsenkungen benötigt.
    Das heißt nun nicht, daß wir keine Problem in Deutschland haben und daß deshalb alles so bleiben kann und soll wie es ist. Wenn man die wirklichen Ursachen einer Erkrankung erkennen will, muß man – wie ein guter Arzt – erst einmal die Vorgeschichte etwas genauer studieren. Das geschieht in Teil II, der sich mit den wirtschaftspolitischen Hypotheken auseinandersetzt, unter denen die deutsche Wirtschaft bis heute noch leidet.
  • Nach wie vor stellt die Deutsche Einheit eine große wirtschaftliche Belastung dar, die man vor allem bei Vergleichen mit anderen Ländern nicht aus den Augen verlieren darf. Es spricht für die enorme Leistungsfähigkeit der westdeutschen Länder, daß sie Jahr für Jahr Transfers in den Osten leisten können, die höher sind als das Bruttoinlandsprodukt von Tschechien oder Ungarn.
  • Besonders problematisch war es, die deutsche Einheit in hohem Maße über die Sozialen Sicherungssysteme zu finanzieren. Wenn heute allenthalben darüber geklagt wird, daß diese Systeme nicht mehr finanzierbar seien, dann liegt das nicht an einem Mangel an Eigenverantwortung der Versicherten. Die Ursache ist vielmehr darin zu sehen, daß Helmut Kohl die Sozialkassen schamlos für die Finanzierung der deutschen Einheit mißbrauchte.
  • Durch eine von der Bundesbank betriebene Politik der starken D-Mark kam es in den neunziger Jahren zu einer massiven Aufwertung der D-Mark gegenüber den Währungen jener EU-Länder, die sich ohnedies als Standorte mit niedrigen Lohnkosten auszeichneten. Für die ostdeutsche Wirtschaft war dies besonders nachteilig.
    Aber es sind nicht nur die Fehler der neunziger Jahre, die uns heute das Leben schwer machen. Deutschland leidet seit einigen Jahren unter einem Kult des Sparens, der mittlerweile alle Bereiche des Wirtschaftslebens erfaßt hat. In Teil III wird gezeigt, wie gefährlich es ist, wenn man sich in der Wirtschafts- und Finanzpolitik von der Vorstellung leiten läßt, daß Sparen stets eine Tugend sei. Dazu muß man wissen, daß es in der Volkswirtschaft immer wieder zu Konstellationen kommen kann, in denen sich das, was der Einzelne für richtig hält, sich für das Gesamtsystem nachteilig auswirkt, wenn sich alle Beteiligten in dieser Weise verhalten. Konkret: Wenn sich die privaten Haushalte, die Unternehmen, Bund, Länder und Gemeinden am Prinzip des "Geiz ist geil" orientieren, muß man sich nicht wundern, daß die Binnennachfrage seit Jahren nicht mehr von der Stelle kommt. Dieses "Sparparadoxon" ist dann auch eine Erklärung dafür, wieso der so auf das Sparen versessene Hans Eichel ständig die von ihm selbst gesetzten Konsolidierungsziele verfehlt.

Ein unzureichendes Denken in gesamtwirtschaftlichen Zusammenhängen ist auch für die geringen Erfolge der Reformpolitik der letzten Jahre verantwortlich zu machen. Im Grunde ging es dabei vor allem darum, die Unternehmen durch geringere Steuern und niedrigere Lohnkosten zu entlasten. Im festen Glauben an das Dogma der Angebotspolitiker, wonach sich das Angebot seine Nachfrage ganz von selbst schaffe, wurde nach und nach alles reformiert: das Steuersystem, die Gesetzliche Rentenversicherung, der Arbeitsmarkt und zuletzt die Gesundheitspolitik. Doch nie stellten sich die Politiker dabei die Frage, wie sich diese Reformen auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage auswirken. Dies gilt auch für die Lohnpolitik der letzten Jahre, die sich im internationalen Vergleich durch eine sehr zurückhaltende Linie auszeichnete, ohne daß dies den Arbeitnehmern von den Arbeitgebern gedankt wurde. Im Gegenteil: Immer mehr Unternehmen versuchen auf betrieblicher Ebene die Lohnkosten noch weiter zu drücken, insbesondere durch eine unbezahlte längere Arbeitszeit. Die Situation, in die sich die deutsche Wirtschaft auf diese Weise hineinmanövriert hat, läßt sich an einem kleinen Beispiel gut verdeutlichen:

Stellen Sie sich vor, Ihr Kind wird in der Schule schlechter. Sie sind der Meinung, das liege an seiner körperlichen Verfassung. Also gibt es zum Frühstück Müsli und der Junge wird im Sportverein angemeldet, wo er nun drei Nachmittage in der Woche verbringt. Aber leider zeigen die schulischen Leistungen keine Besserung, im Gegenteil. Doch Sie beharren auf Ihrer Diagnose: Wenn das zusätzliche Sportangebot zu keinem Erfolg geführt hat, dann war es eben noch nicht ausreichend. Also werden jetzt noch Stunden im Fitness-Studio dazugebucht und der Vater übt zusammen mit dem Sohn für einen Marathon-Lauf. Während sich der Sohn so allmählich zum Kraftprotz entwickelt, gehen seine Noten immer mehr in den Keller.

Bei diesem einfachen Beispiel erkennt man leicht, worin der Fehler besteht. Erfolg in der Schule basiert auf zwei Säulen: Körperlicher Leistungsfähigkeit und Fitness auf der einen, und geistige Leistungsfähigkeit auf der anderen Seite, wobei letzteres nun einmal ausreichend Zeit zum Lernen voraussetzt. Was hat das mit den Problemen eines großen Landes wie Deutschlands zu tun? Hier gilt analog: Wirtschaftlicher Erfolg basiert ebenfalls auf zwei Säulen: der internationalen Wettbewerbsfähigkeit auf der einen Seite, und einer dynamischen Entwicklung des Binnenmarktes auf der anderen Seite. Durch die einseitige Förderung der Angebotsbedingungen ist Deutschland zum Kraftprotz in puncto Wettbewerbsfähigkeit geworden, doch die Binnendynamik ist völlig unterentwickelt.

Doch gibt es überhaupt noch eine alternative Therapie für Deutschland? Ich habe die Grundphilosophie hierfür bei Ludwig Erhard gefunden. Schon sein Leitmotiv "Wohlstand für alle" hebt sich wohltuend von den heutigen Negativszenarien ab, die man wohl am ehesten unter das Motto "Rückschritt für viele" stellen könnte. Lesen wir also nach, wie sich Ludwig Erhard eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik vorstellt:

Nein es bleibt dabei Der Erfolg unserer Wirtschaftspolitik bestand immer darin, daß wir vor Spannungen niemals zurückgewichen sind, sondern die Lösung immer im dynamischen Durchbruch nach vorne, d.h. in der Expansion gesucht und gefunden haben. An dieser Grundauffassung wird auch für die Zukunft nicht gerüttelt Man möge sich einmal klarmachen, wieviel an Kraft, Energie und gutem Willen zerstört werden müßte, wenn sich die Wirtschaftspolitik von der Absicht leiten lassen wollte, das Volk wieder zu einer bereits überwundenen Bescheidenheit zurückzuführen.

Schade, daß Frau Göring-Eckart und Herr Sinn das nicht gelesen haben. Was war für Erhard das Rezept für Wirtschaftswachstum? Unter der Überschrift "Der Wille zum Verbrauch" schrieb er:

Der Zustand einer in Permanenz optimal ausgelasteten Wirtschaft, die zugleich auch die Wachstumskräfte lebendig halten und im Fortschritt bleiben will, setzt allerdings eine dynamische und im Grunde konsumfreudige Bevölkerung voraus; Erst dieser von mir oft angeschnittene Wille zum Verbrauch gestattet es, daß sich die Produktion ohne Störungen fortentwickeln kann und daß das Streben nach Rationalisierung und Leistungsverbesserung lebendig bleibt.

Was Erhard vorschwebte, ist also alles andere als Einschränkung, als eine "Wende zum Weniger". Als professioneller Ökonom wußte er, daß Unternehmen nur dann investieren und Arbeitnehmer einstellen, wenn es genügend Nachfrage für ihre Produkte gibt.

Und wenn Kardinal Lehmann in seiner "Ludwig Erhard Lecture" davon spricht, daß die sozialpolitische Unterstützung bei einem steigenden allgemeinen Wohlstand zurückgenommen werden muß, hätte er vorher vielleicht einmal einen Blick in die Schriften von Erhard werfen sollen, wo zu dieser Frage etwas ganz anderes zu lesen ist:

Bis auf weiteres bin ich daher der Meinung, daß es bei uns nach wie vor gilt, Millionen von Menschen, die noch immer mit den Sorgen des Alltags belastet sind; endgültig von diesen Kümmernissen zu befreien.

"Freiheit" ist für Erhard also ziemlich genau das Gegenteil dessen, was den Initiatoren der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft vorschwebt. Nicht die Freiheit, immer mehr Lebensrisiken aus eigener Kraft abdecken zu müssen, sondern die Freiheit vor der täglichen Angst des sozialen Abstiegs und damit vor allem der Angst um die Zukunft der eigenen Kinder.

Nun ist Ludwig Erhard schon lange tot und man kann sich natürlich fragen, ob seine Vorstellungen heute wirklich noch aktuell sind. Es ist das zentrale Anliegen dieses Buches, die Aktualität dieses Denkens zu verdeutlichen. Es beruht im Grunde auf drei Eckpfeilern:

  • Eine Marktwirtschaft lebt vom Wachstum, das von der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage getrieben werden muß. So wichtig es ist, für gute Angebotsbedingungen zu sorgen, die Unternehmen orientieren sich bei ihren Investitions- und Einstellungsentscheidungen in erster Linie an ihrem Absatz. Seit Jahren ist dieser Aspekt von der Wirtschaftspolitik sträflich vernachlässigt worden. So muß man sich heute nicht wundern, daß Deutschland unter einer zu schwachen Binnennachfrage leidet.
  • Der Staat trägt zudem eine wichtige Verantwortung für die Zukunft seiner Bürger. Er muß durch hohe Investitionen in die Bildung und die Infrastruktur unseres Landes dafür sorgen, daß wir auch in den nächsten Jahrzehnten international wettbewerbsfähig bleiben.
  • Ein marktwirtschaftliches System bedarf des Ausgleichs durch eine staatliche Sozialpolitik. Dies gilt in besonderem Maße unter den Bedingungen einer zunehmenden Globalisierung. Um die damit verbundenen Störungen des Marktprozesses möglichst gering zu halten, ist es von entscheidender Bedeutung, daß die sozialpolitischen Maßnahmen einem in sich stimmigen Gesamtkonzept folgen. Hierfür wird häufig der Begriff der "Ordnungspolitik" verwendet. Bei den heutigen Reformen an den sozialen Sicherungssystemen ist ein solches ordnungspolitisches Denken weitgehend abhanden gekommen. Niemand weiß derzeit, worauf die Vielzahl der Einzelreformen am Ende hinauslaufen soll. Ja, es stört offensichtlich überhaupt nicht, daß die Ansätze eines solchen Gesamtkonzeptes nicht einmal in Umrissen erkennbar sind.

Wenn sich die Wirtschaftspolitik an diesen Eckpfeilern orientiert, muß es ihr auch vor den großen Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte, der Globalisierung und der Überalterung, nicht bange sein. Wie gut wir als Rentner in zwanzig, dreißig oder vierzig Jahren leben werden, hängt vor allem davon ab, wie hoch dann der allgemeine Wohlstand sein wird. Gelingt es uns, im Jahr 2030 ein um 50% höheres Volkseinkommen zu erzeugen als heute, was nicht unrealistisch ist, lebt man mit einem Rentenniveau von 40% deutlich besser als bei einer bis dahin stagnierenden Wirtschaft und einem Rentenniveau von 46%.

Die Globalisierung wird von den meisten Ökonomen in erster Linie als Chance für eine Volkswirtschaft betrachtet. In der Tat hat die deutsche Wirtschaft in den letzten Jahren erheblich vom Außenhandel profitiert. Ohne die massiven Impulse vom Export wären bei uns die Lichter schon ausgegangen. Dabei gilt es aber hinzuzufügen, daß die Vorteile der Globalisierung ungleich verteilt sind. Wer gut ausgebildet ist, fährt auf der Gewinnerstraße. Wer aufgrund seiner persönlichen Voraussetzungen nur einfachere Tätigkeiten ausüben kann, hat von der Globalisierung wenig Gutes zu erwarten. Wenn sich Deutschland nicht in eine Zwei-Klassengesellschaft mit allen damit verbundenen Spannungen entwickeln soll, brauchen wir mehr Investitionen in Bildung, aber eben auch mehr Umverteilung von den Starken an die Schwachen. Wer heute stattdessen für immer größere Steuerentlastungen plädiert, muß sich der Tatsache bewußt sein, daß er damit für Deutschland eine Zukunft programmiert, die mit unseren bisherigen Wertvorstellungen nichts mehr gemeinsam haben wird.

Warum wir besser sind, als wir glauben

Eine gute Therapie setzt voraus, daß der Arzt die richtige Diagnose stellt. Wenn man die deutsche Wirtschaft wieder in Schwung bringen möchte, lohnt es sich also, die vorhandenen Daten sorgfältig auszuwerten und sich nicht vorschnell den gängigen Vorurteilen anzuschließen. Besonders wichtig ist dabei der Blick über den nationalen Tellerrand. Der Vergleich mit dynamischeren Volkswirtschaften bietet die Möglichkeit, die eigene Situation besser einzuschätzen, und er schützt auch davor, im Reformrausch jene Dinge ändern zu wollen, die sich bei uns durchaus bewährt haben.

In diesem Diagnoseteil sollen vor allem jene Befunde überprüft werden, die heute als die zentralen Problembereiche unserer Wirtschaft gelten. Konkret:

  • Trifft es zu, daß wir insgesamt über unsere Verhältnisse leben, so daß Sparen, wo immer es nur möglich ist, als Therapie der Wahl anzusehen ist?
  • Stimmt es, daß unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit so schlecht ist, daß wir unsere Löhne direkt oder in Form unbezahlter Mehrarbeit senken müssen?
  • Ist unser Staat tatsächlich so übergewichtig, daß mehr Wachstum nur möglich sein wird, wenn wir ihm eine drastische Abmagerungskur verpassen?
  • Ist der deutsche Michel wirklich so faul und unflexibel, daß man ihm durch eine drastische Reduktion der Sozialhilfe und das Abschaffen des Kündigungsschutzes Beine machen muß?

Die deutsche Jammerdepression, oder: Ist das Glas halb leer oder halb voll?

Man kann ein Glas als halb leer ansehen oder als halb voll. Genauso ist es mit der derzeitigen wirtschaftlichen Verfassung unseres Landes. Es fällt wirklich nicht schwer, unsere ökonomischen Probleme aufzulisten: In den letzten drei Jahren kam die deutsche Wirtschaft kaum noch von der Stelle. In diesem Winter werden rund fünf Millionen Menschen als arbeitslos gemeldet sein. In unseren Innenstädten verabschieden sich immer mehr Einzelhandelsgeschäfte und hinterlassen leere Schaufenster. Und als wäre das noch nicht genug, drohen in den nächsten Jahrzehnten zusätzliche Belastungen durch die Demographie. Deutschland wird ein Land mit vielen alten und wenig jungen Menschen. Aus der Perspektive des halbleeren Glases ist es dann nicht mehr weit bis zu Untergangsszenarien, die der ehemalige Bundespräsident Rau in seiner letzten Berliner Rede wie folgt beschrieben hat:

Seit Jahren schon wird uns ein Bild immer wieder vor Augen gestellt: Wir stehen vor einem riesigen Berg von Aufgaben und Problemen. Wenn wir nicht alles anders machen als bisher, so drohen uns, heißt es, Niedergang, Zusammenbruch, Abstieg oder andere Katastrophen.

Der prominenteste Prophet dieser Apokalypse ist Hans-Werner Sinn, für den Deutschland nur noch durch eine "Kulturrevolution" zu retten ist:

Jedes Land braucht eine Kulturrevolution, wenn der Filz über 50 Jahre akkumuliert wurde. Jetzt ist Deutschland so weit.

Wenn es nach meinem Kollegen Sinn geht, darf in unserem Lande nichts mehr so bleiben, wie es ist:

Wir müssen unsere Institutionen an Haupt und Gliedern erneuern, unbequeme Fragen stellen und radikal umdenken.

Die Welt des halbleeren Glases ist eine Welt, die den Menschen Angst macht. Auch das hat Johannes Rau sehr gut beschrieben:

Wo Vertrauen fehlt, regiert Unsicherheit, ja Angst. Angst vor der Zukunft ist der sicherste Weg, sie nicht zu gewinnen. Angst lähmt die Handlungsfähigkeit und trübt den Blick für das, was in Staat und Gesellschaft tatsächlich grundlegend verändert werden muß; was neuen Bedingungen angepaßt werden soll und was auf jeden Fall bleiben muß.

Diese Zukunftsangst ist überall mit Händen zu greifen. In Deutschland hat sich nach der Jahrtausendwende eine kollektive Depression breitgemacht, die man – medizinisch korrekt – durchaus auch als "Jammerdepression" bezeichnen kann.

Eine wichtige Rolle spielen dabei die Medien. Schlechte Nachrichten versprechen in der Regel die höhere Auflage oder die bessere Einschaltquote. Zu der allgemeinen Verunsicherung tragen aber auch Vertreter von Unternehmensverbänden bei, die selbst vor ausländischem Publikum nicht zurückschrecken, das eigene Land zu kritisieren. Jürgen Weber, der Vorsitzende des Aufsichtsrats der Lufthansa, sagte kürzlich dazu: "Die Miesmacherei ist manchen so in Fleisch und Blut übergegangen, die merken das gar nicht mehr."

Auch wenn es eine Binsenweisheit ist: "Ökonomie besteht zu 50% aus Psychologie". Und so ist es bei der heute vorherrschenden schlechten Stimmung kein Wunder, daß überall das Vertrauen in die Zukunft fehlt, das das wichtigste Schmiermittel für eine Marktwirtschaft darstellt. Wo dieses Grundvertrauen fehlt, muß man sich nicht wundern, wenn

  • von Unternehmen kaum noch investiert wird,
  • von den Banken keine Kredite mehr vergeben werden und
  • bei den Verbrauchern das Prinzip des "Geiz ist geil" dominiert.

Doch wie können wir uns aus dieser kollektiven Depression wieder befreien? Es ist hierbei wahrscheinlich nicht viel anders als im Fall der Depression, die einen Menschen befallen hat. Man muß sich erst einmal wieder der eigenen Fähigkeiten und Stärken bewußt machen. Man muß also von der Perspektive des halb leeren in die des halb vollen Glases übergehen. Aber gibt es denn heute überhaupt noch etwas Gutes über Deutschland zu berichten?

Fangen wir mit einem ganz simplen Befund an. Wer kennt nicht die stereotype Feststellung, daß wir über unsere Verhältnisse leben. Das wirkt für jeden einzelnen enorm demotivierend. Wenn man über seine Verhältnisse lebt, muß man sich einschränken. Man muß weniger ausgeben, wenn man sich nicht finanziell in den Ruin treiben will. Und so ist es nicht überraschend, daß wir in den letzten Jahren eigentlich nur noch über das Verzichten nachdenken.

Wie sehr wir kollektiv in der Sichtweise der halb leeren Flasche befangen sind, zeigt sich daran, daß der Befund des "Über-die-Verhältnisse-Lebens" zwar suggestiv, aber trotzdem einfach falsch ist. Schauen wir uns das einmal etwas näher an: Woran kann man ablesen, ob die Familie Müller über ihren Verhältnissen lebt? Ganz einfach, man findet heraus, wie hoch die monatlichen Einnahmen der Müllers sind, und wieviel sie jeden Monat ausgeben. Sind die Ausgaben höher als die Einnahmen, dann müssen sich die Müllers dafür verschulden oder ihre Ersparnisse aufbrauchen. Sie leben also über ihren Verhältnissen. Wenn die Einnahmen höher sind als die Ausgaben, steigt das Geldvermögen der Müllers (oder ihre Schulden nehmen ab). Sie leben dann also unter ihren Verhältnissen.

Wie ist das nun bei einer Volkswirtschaft insgesamt? Im Grunde kann man die Frage ganz ähnlich angehen. Man muß dazu alle Einnahmen aufsummieren, die die Bürger, die Unternehmen und die öffentlichen Haushalte eines Landes während eines Monats oder eines Jahres erhalten haben, und davon die Summe all ihrer Ausgaben abziehen. Bei dieser Berechnung muß man allerdings daran denken, daß es sehr viele Ausgaben gibt, die im Inland getätigt wurden und deshalb dort auch als Einnahmen verzeichnet werden. Beim Aufsummieren über die ganze Volkswirtschaft fallen also alle Transaktionen weg, die zwischen den Inländern stattfinden. Was bleibt, sind die Einnahmen, die die Inländer aus dem Ausland erhalten haben, und die Ausgaben, die sie für Güter und Dienstleistungen aus dem Ausland getätigt haben. Diese Transaktionen werden in der so genannten Leistungsbilanz eines Landes verzeichnet.

  • Länder, die einen Überschuß in der Leistungsbilanz aufweisen, nehmen mehr Geld aus dem Ausland ein, als sie dort ausgeben. Solche Länder leben damit unter ihren Verhältnissen.
  • Länder, die ein Defizit in der Leistungsbilanz aufweisen, geben im Ausland mehr Geld aus, als sie von dort an Einnahmen erzielen. Sie leben also über ihren Verhältnissen.

Eine ganze Volkswirtschaft kann also immer nur gegenüber dem Rest der Welt über oder unter ihren Verhältnissen leben. Das prominenteste Beispiel für ein Land, das über seinen Verhältnissen lebt, sind die Vereinigten Staaten, die derzeit rund 500 Mrd. Dollar mehr im Ausland ausgeben, als sie von dort an Einnahmen bekommen (Schaubild 1.1). Und wie steht es mit Deutschland? Wir waren in der Nachkriegszeit traditionell ein Land mit einem Überschuß in der Leistungsbilanz, wir haben also überwiegend unter unseren Verhältnissen gelebt und damit per Saldo Forderungen gegenüber dem Ausland gebildet. Durch die deutsche Vereinigung hat sich das für viele Jahre geändert: Deutschland wies ein Defizit in der Leistungsbilanz auf. Doch seit 2001 ist alles wieder wie früher, wir erwirtschaften wieder einen hohen Überschuß in unseren Transaktionen mit dem Ausland. Damit gilt also für Deutschland seit 2001 wieder:

Wir leben nicht über, sondern unter unseren Verhältnissen.

Warum ist diese Fehldiagnose so gefährlich? Wenn man glaubt, über seine Verhältnisse zu leben, wird man versuchen, sich einzuschränken. Und so überrascht es nicht, daß Sparen in allen Bereichen heute als wichtigste Lösung für alle unsere Probleme angesehen wird. Das Leitmotiv lautet: "Geiz ist geil". Der Staat spart, um die Abgabenbelastung senken zu können. Die Unternehmen sparen, um ihre Kostensituation zu verbessern, und die Haushalte sparen, weil sie sich um ihre Alterssicherung sorgen machen. Sie erhalten dafür vom Staat sogar sehr üppige Subventionen, wenn sie in der Form der Riester-Rente oder der betrieblichen Altervorsorge sparen (siehe dazu ausführlicher Kapitel 15). Und bei einem so kollektiven Spareifer überrascht es nicht, daß es seit Jahren im Inland an der Nachfrage hapert.

Im internationalen Vergleich nehmen wir bei dem "Über-die-Verhältnisse-Leben" sogar eine Spitzenposition ein. Unser Überschuß in der Leistungsbilanz ist – bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt – mit 4,4% deutlich höher als im Durchschnitt der Eurozone (0,9%). Wie ist dieser überraschende Befund zu erklären? Ganz einfach: Während es in Deutschland seit Jahren an der Binnendynamik fehlt, wird im Ausland das Geld mit vollen Händen ausgegeben. Aufgrund ihrer Qualität und ihres Preises sind dabei Produkte mit dem Label "Made in Germany" besonders stark gefragt.

Damit sind wir bei einem zweiten, wichtigen Punkt, wo die Sichtweise des halb leeren Glases zu einer völlig verzerrten Wahrnehmung der Realität geführt hat. Hören wir nicht ständig, daß immer mehr Unternehmen ins Ausland abwandern, weil der Standort Deutschland nicht mehr wettbewerbsfähig sei? Auch hier hat sich Hans-Werner Sinn als Prophet des Niedergangs besonders profiliert. Doch wie paßt diese Diagnose mit einem Exportboom und einem Rekordüberschuß in der deutschen Handelsbilanz zusammen? Wir werden uns damit im nächsten Kapitel auseinandersetzen.

Deutschland muß sich vor der Globalisierung nicht fürchten

Deutschland ist wieder Exportweltmeister geworden

In den letzten fünf Jahren haben unsere Exporte preisbereinigt um 48% zugenommen. Mit dieser dynamischen Ausfuhrentwicklung konnte Deutschland im Jahr 2003 erstmals wieder den Titel des "Exportweltmeisters" von den Vereinigten Staaten zurückerobern. Wie das Schaubild 2.1 verdeutlicht, liegt unser Anteil an den Weltexporten jetzt höher als der aller anderen Exportnationen.

Was das bedeutet, wird einem erst richtig bewußt, wenn man weiß, daß die amerikanische Wirtschaft rund fünfmal so groß ist wie die deutsche. Wie sehr Deutschland von der Globalisierung profitieren konnte, zeigt sich daran, daß wir durch den Außenhandel seit dem Jahr 2000 einen ungewöhnlich hohen Wachstumsimpuls von 1,2 Prozentpunkten pro Jahr erhalten haben. Ohne das Ausland wäre unser Bruttoinlandsprodukt in den Jahren 2000 bis 2004 also nicht um jährlich 1,1% gewachsen, sondern um 0,1% geschrumpft.

Für die Untergangspropheten paßt diese Erfolgsstory überhaupt nicht ins Bild. In Hans-Werner Sinns Buch Ist Deutschland noch zu retten? findet man ein längeres Kapitel mit der Überschrift "Wie wir unsere Wettbewerbsfähigkeit verloren haben". In der ersten Auflage des Buchs wird dieser Befund anhand einer einzigen Grafik auf S. 71 belegt, bei der man einen sinkenden Exportanteil von Deutschland und einen deutlich höheren und steigenden Exportanteil der Vereinigten Staaten abgebildet sieht. Sinn (2003, S. 69) schrieb dazu:

Sehr deutlich wird der Verlust der Wettbewerbsfähigkeit auch beim Rückgang des deutschen Exportanteils auf den Weltmärkten.

Das kommt einem ziemlich merkwürdig vor, wenn man die Daten kennt, mit denen das Schaubild 2.1 erstellt wurde. Was ist passiert? Der Star-Ökonom hat Importe und Exporte verwechselt. Was er als Beweis für annehmende deutsche Exportanteile abbildete, waren in Wirklichkeit abnehmende Anteile an den Weltimporten.

Die Mär von der Basarökonomie

In den Folgeauflagen ist dieser Fehler aus dem Buch verschwunden. Jetzt will Hans-Werner Sinn vom Indikator "Exportanteil an den Weltmärkten" nichts mehr wissen. Stattdessen argumentiert er mit dem Konstrukt der "Basar-Ökonomie".

Wir verkaufen überall in der Welt unsere preisgünstigen und hochwertigen Waren. Die Exporte florieren. Doch leider produzieren wir einen immer kleineren Wertanteil dieser Waren in Deutschland. Das ist die bittere Realität.

Das kommt am Stammtisch gut an, aber es gibt wiederum ein völlig falsches Bild von der deutschen Wettbewerbsfähigkeit. Da ist zunächst einmal das Phänomen, daß unsere Importe in den letzten Jahren erheblich weniger zugenommen haben als die Exporte, so daß Deutschland im Jahr 2004 mit 160 Mrd. Euro einen Rekordüberschuß in der Außenhandelsbilanz aufweisen wird. Wenn man unsere Exporterfolge mit den Importen aus Osteuropa relativieren will, stellt sich zudem das Problem, daß die Importe aus dieser Region dafür viel zu gering sind: Von 1999 bis 2003 erhöhten sich die Ausfuhren Deutschlands um 151 Mrd. Euro. Doch der Anstieg der Einfuhren aus Osteuropa belief sich auf lediglich 29 Mrd. Euro. Rechnet man zusätzlich die Zunahme der Einfuhren aus Ostasien und China dazu, erhält man einen Wert von 45 Mrd. Euro. Selbst wenn man unterstellen würde, daß alle aus diesen Regionen seit 1999 zusätzlich importierten Güter unmittelbar weiterexportiert worden sind, könnte man damit nur 30% des deutschen Exportanstiegs erklären. Gegen das Argument der Basarökonomie spricht auch, daß sich die Exporte und Importe Deutschlands in die osteuropäischen Länder bisher stets im Gleichschritt erhöht haben. Wenn die deutsche Wirtschaft ihren Exportüberschuß im Wesentlichen durch Importe aus dieser Region erzielte, müßte zumindest im Verhältnis zu Osteuropa ein Defizit in der Handelsbilanz bestehen.

Auch das Statistische Bundesamt hat sich mit dem Argument der Basarökonomie befaßt. Die Berechnungen der Statistiker zeigen, daß heute in der Tat ein geringerer Anteil der deutschen Exportgüter als früher aus inländischer Wertschöpfung stammt. Im Jahr 1995 belief sich der Inlandsanteil der Exporte noch auf 70,3%, im Jahr 2002 waren es 61,2%. Doch darin spiegelt sich vor allem die zunehmende Globalisierung der Produktionsprozesse. Der Inlandsanteil von drei Fünfteln zeigt jedoch, wie falsch das von Sinn geprägte Bild eines "Basars" ist, das den Eindruck erwecken soll, bei unseren Exporten handele es sich überwiegend um im Ausland produzierte Güter, die gerade noch mit dem Etikett "Made in Germany" versehen werden. Außerdem stellt das Bundesamt fest, daß der Anteil der Wertschöpfung, die für Exportgüter erbracht wurde, an der gesamten Wirtschaftsleistung von 16,2% im Jahr 1995 auf 20,8% im Jahr 2002 gestiegen ist. Und es kommt zu dem Gesamtbefund:

Auch wenn man davon ausgeht, daß sich der gestiegene Importanteil der Exporte im Zeitraum 1995 bis 2002 dämpfend auf das Bruttoinlandsprodukt ausgewirkt hat, wurde dies überkompensiert von der positiven Wirkung der stark gestiegenen Exportnachfrage nach inländischen Produkten.

Falsch ist deshalb auch der Eindruck, daß die Exporterfolge unserer Industrie zwangsläufig mit Arbeitsplatzverlusten in Deutschland einhergehen. Die Bundesbank hat in ihrem Monatsbericht vom Mai 2004 darauf hingewiesen, daß es gerade in Branchen mit stark steigenden Importen aus Osteuropa zu einer zunehmenden Inlandsbeschäftigung gekommen ist. So erhöhte sich bei der Automobilbranche der Anteil der aus dieser Region bezogenen Produkte an unserer Inlandsversorgung von 3% im Jahr 1997 auf 8% im Jahr 2002. Gleichzeitig ist die inländische Beschäftigung der Automobilindustrie um 2,6% pro Jahr gestiegen.

Damit ist also auch der zweite Versuch von Hans-Werner Sinn gescheitert, eine kerngesunde deutsche Wettbewerbsfähigkeit schwarz zu malen. Es bleibt abzuwarten, was dem "Großhändler auf dem Markt für Ideen", nun einfallen wird.

Deutschland ist für ausländische Investoren attraktiv

Wenn man den Berichten in den Medien Glauben schenken will, ist Deutschland als Investitionsstandort hoffnungslos unattraktiv geworden. Auch hier führt ein Blick in die Statistik zu überraschenden Ergebnissen. Sehen wir uns zunächst einmal an, welche Länder von den internationalen Investoren besonders als Standorte bevorzugt werden. Nach der Statistik der OECD lag Deutschland im Durchschnitt der Jahre 2002/2003 bei den Zuflüssen von Investitionsmitteln auf dem fünften Platz.

Bemerkenswert ist dabei auch, daß die Niedriglohnländer Tschechien, Polen und Ungarn in der unteren Hälfte der Tabelle zu finden sind.

Ein noch günstigeres Bild zeigt sich, wenn man für Deutschland den Saldo der Direktinvestitionen, d.h. also die Differenz zwischen Zuflüssen und Abflüssen, betrachtet. Wer hätte das gedacht: In den Jahren 2002 und 2003 wurde von Ausländern mehr in Deutschland investiert als von unseren Unternehmen im Ausland investiert wurde. Und noch überraschender: Wir liegen damit nach Irland auf dem zweiten Platz aller OECD-Länder.

Dieses hohe Interesse ausländischer Anleger am Standort Deutschland zeigt besonders deutlich, wie groß der Abstand zwischen dem in den Medien gezeichneten Bild und den tatsächlichen Angebots- und Wettbewerbsbedingungen unserer Wirtschaft geworden ist. Zu erwähnen ist dabei übrigens auch, daß von den deutschen Direktinvestitionen im Ausland in den Jahren 1998 bis 2001 nur 3,5% auf die Reformländer Polen, Tschechien und Ungarn entfiel; der Großteil ging in die USA sowie nach Großbritannien, Frankreich und die Niederlande. Auch das widerspricht der These von der Basarökonomie.

Wir sind einer der wettbewerbsfähigsten Standorte Europas

Daß Deutschland ein guter Standort für Unternehmen ist, kann man schließlich auch an den Rankings erkennen, die von verschiedenen Institutionen zur Wettbewerbsfähigkeit von Volkswirtschaften aufgelistet werden. Besonders prominent ist dabei der "World Competitiveness Report", der einmal jährlich vom World Economic Forum erstellt wird.

Deutschland wird in diesem Ranking somit als einer der attraktivsten Standorte der Europäischen Union angesehen. Informativ ist in diesem Zusammenhang auch das in diesem Bericht erstellte Ranking für die Patentanmeldungen bezogen auf die Bevölkerungszahl. Hier nimmt Deutschland international zwar keinen Spitzenplatz ein, im EU-Vergleich liegt es aber nach Schweden und Finnland auf dem dritten Platz (Tabelle 2.2).

Das deckt sich auch mit der Einschätzung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). In ihrem jüngsten Bericht zur Wirtschaftslage in Deutschland kommt sie zu dem Befund, daß Deutschland zu den OECD-Ländern mit einer hohen Innovationsaktivität zählt. So sei Deutschland einer der attraktivsten Standorte für ausländische Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten.

Im Ganzen gesehen muß sich Deutschland also nicht vor der Globalisierung fürchten. Es gibt auch keine Anzeichen dafür, daß die deutsche Wirtschaft nennenswerte Probleme mit ihrer preislichen Wettbewerbsfähigkeit hätte. Selbst die Deutsche Bundesbank stellte in ihrem Monatsbericht vom Juni 2004 fest:
Die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft war im Jahr 2003 und auch im Quartal 2004 – trotz des starken Euro – im Großen und Ganzen als neutral, oder etwas besser einzustufen. (S. 43)

Von ihrem Preis und ihrer Qualität sind deutsche Produkte also international sehr attraktiv. Überall dort, wo die Binnennachfrage dynamisch ist, finden sie unschwer ihre Abnehmer. Das einzige, allerdings gravierende Problem ist der Heimatmarkt Deutschland, wo es den Konsumenten an Geld wie auch an Zukunftsvertrauen fehlt.

Unser Staat braucht keine Abmagerungskur

Viele Ökonomen und Hobby-Volkswirte sind fest davon überzeugt, daß Deutschland nur gesunden kann, wenn sich unser Staat einer massiven Abmagerungskur unterzieht. Besonders hervorgetan hat sich in dieser Beziehung der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber, der sich als Kanzlerkandidat dafür ausgesprochen hat, die Staatsquote (d.h. die Relation der Staatsausgaben zum Bruttoinlandsprodukt) von derzeit knapp 49% auf unter 40% zu reduzieren. Da er weiterhin bayerischer Ministerpräsident geblieben ist, hat er sich nun das Ziel gesetzt, diese Abmagerungskur in seinem Freistaat umzusetzen.

Stimmt die Gleichung: "Magerer Staat = dynamische Wirtschaft"?

Wie das Schaubild 3.1 verdeutlicht, weist Deutschland mit einem Anteil der Staatsausgaben von 48,0% am Bruttoinlandsprodukt weder eine besonders hohe noch eine besonders niedrige Staatsquote auf. Sie entspricht ziemlich genau dem Durchschnitt der 15 "alten" Mitgliedsländer der Europäischen Union. Besonders viele Ressourcen beansprucht der Staat in Schweden, wo die Staatsquote 58,9% beträgt, sowie in Dänemark (55,8%) und Frankreich (54,4%). Werte von über 50% findet man auch in Österreich und Finnland. Wenn sich eine hohe Staatsquote als wachstumshemmend auswirken würde, müßte die wirtschaftliche Dynamik in diesen Ländern noch schlechter sein als in Deutschland. Doch weit gefehlt: In Schweden war das Wirtschaftswachstum in den letzten fünf Jahren um 1,6 Prozentpunkte pro Jahr höher als bei uns; in Frankreich betrug der Vorsprung 1,0 Prozentpunkte.

Wie sieht es mit den Ländern aus, deren Staat besonders schlank ist. Man findet dabei in der Tat einige sehr dynamische Ökonomien wie die Vereinigten Staaten, Irland und Großbritannien. Zu der Gruppe mit einer Staatsquote von weniger als 40% gehören aber auch Japan und die Schweiz. Doch diese beiden Länder waren in den letzten fünf Jahren ähnlich undynamisch wie Deutschland. Die Schweiz brachte es – wie wir – nur auf eine durchschnittliche Wachstumsrate von 1,2%; Japan kam gerade einmal auf 1,4%. Die häufig propagierte Gleichung: "Schlanker Staat = dynamischer Staat" ist somit einfach falsch.

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Der fehlernährte Staat: Niedrige Steuern, hohe Sozialabgaben

Eng verbunden mit dem Jammern über den zu fetten Staat ist das Klagen über die viel zu hohe Steuer- und Abgabenbelastung. Wer würde dem nicht zustimmen? Ein Arbeitnehmer, der über ein durchschnittliches Einkommen von 2.000 Euro verfügt, muß von einem zusätzlichen verdienten Euro – in der Form von Steuern und Sozialabgaben – 54 Cent an den Staat abgeben. Wer ein Bruttoeinkommen von 3.000 Euro bezieht, dem bleiben von einer Gehaltserhöhung um 100 Euro nur noch 39 Euro. Kein Wunder, daß sich viele Menschen als Melkkuh des Staates empfinden, und Politiker immer ein offenes Ohr finden, wenn sie für Steuersenkungen plädieren.

Doch solche populistischen Versprechungen sind mit großer Vorsicht zu genießen. Sehen wir uns dazu einmal die Steuer- und Sozialabgabenbelastung der deutschen Wirtschaft im internationalen Vergleich an.

Wenn man zunächst einmal die Abgabenquote (d.h. die Relation von Steuern und Sozialabgaben zum Bruttoinlandsprodukt) betrachtet, findet man Deutschland mit einer Quote von 43,6% unter dem Durchschnitt der alten EU-Länder, der 44,2% beträgt. Ganz ähnlich wie bei den Staatsquoten sind die skandinavischen Länder auch bei der Abgabenbelastung führend, gefolgt von Frankreich und Österreich. Wenn also von fast allen Politikern heute unisono verkündet wird, der Sozialstaat sei nicht mehr finanzierbar, muß man nur einmal einen Blick auf unsere französischen Nachbarn werfen, deren Wirtschaft sich – wie schon erwähnt – sehr dynamisch entwickelt, obwohl die Abgabenquote um 4,7 Prozentpunkte höher ist als bei uns. Analog zur Staatsquote kann man für die Schweiz und Japan feststellen, daß sehr niedrige Abgabenquoten (27,3% in Japan und 28,9% in der Schweiz) keinesfalls ein Patentrezept für Wachstum darstellen.

Doch das dürfte unseren Arbeitnehmer mit einem Brutto-Einkommen von 3.000 Euro nicht so richtig trösten. Er ist überzeugt, daß die Abgabenbelastung, die auf seinem Lohn liegt, viel zu hoch ist. Und er hat damit völlig Recht. Wie lassen sich diese scheinbar widersprüchlichen Befunde vereinbaren? Dazu muß man zunächst einmal die Abgabenquote nach der Steuer- und der Sozialabgabenquote separat betrachten. Auch hier ist der internationale Vergleich sehr instruktiv. Wie das Schaubild 3,5 verdeutlicht, liegen wir mit unserer Sozialabgabenquote von 18,5% – gemeinsam mit Frankreich – an der Spitze der alten EU-Länder und weit über dem EU-15-Durchschnittswert von 14,4%.

Ganz anders ist es mit der Steuerquote. Hier befindet sich Deutschland mit 22,3% bei den alten EU-Ländern ganz am Ende, nur noch in Japan und den Vereinigten Staaten werden vom Staat noch geringere Steuereinnahmen relativ zum Bruttoinlandsprodukt erzielt. Im Durchschnitt der EU-15-Länder liegt die Steuerquote bei 26,5%. Der Vergleich zeigt also überdeutlich: Unser Staat ist in hohem Maße fehlernährt.

Das ist die Erklärung für den scheinbaren Widerspruch zwischen einer sehr hohen Abgabenbelastung des "Durchschnittsverdieners" und einer im internationalen Vergleich leicht unterdurchschnittlichen Abgabenquote unserer Volkswirtschaft. Der deutsche Staat finanziert sich in ungewöhnlich starkem Maße durch Abgaben auf den Faktor Arbeit, was eine wesentliche Ursache für die allseits beklagten hohen Lohnnebenkosten darstellt. Bei dieser Diagnose ist es dann keinesfalls zwingend, die Lohnnebenkosten durch Leistungseinschränkungen bei den Sozialen Sicherungssystemen zu reduzieren. Es wäre durchaus auch möglich, daß sich der Staat mehr über Steuern und dafür weniger über Sozialabgaben finanziert.

Natürlich wird sich der "Durchschnittsbürger" auch über unsere im internationalen Vergleich so geringe Steuerquote wundern. Wenn er oder sie das Gefühl hat, wirklich genug Steuern zu bezahlen, ist das nicht falsch, denn die Steuereinnahmen werden seit Jahren mehr und mehr über die Lohnsteuer und die indirekten Steuern (z.B. Mehrwertsteuer, Mineralölsteuer) bestritten. Ihr Anteil am Steueraufkommen hat sich von 69% im Jahr 1970 auf 85% im Jahr 2003 erhöht. Der Beitrag der Unternehmen und der Selbstständigen zur Finanzierung öffentlicher Leistungen hat sich dementsprechend von 31% auf 15% merklich vermindert.

Im Vergleich mit anderen Ländern sieht man dabei außerdem, daß auch die Besteuerung der Vermögen in Deutschland ungewöhnlich niedrig ist. Während im Jahr 2001 in den OECD-Ländern rund 5,4 der Steuereinnahmen aus dieser Quelle stammen, in den USA sogar 10,6%, sind es in Deutschland nur 2,3%.

Insgesamt betrachtet spricht somit nichts daf ür, unserem Staat eine drastische Abmagerungskur zu verpassen. Das Beispiel zahlreicher EU-Länder zeigt, daß man mit einer Staatsquote von 48,6% und einer Abgabenquote von 40,8% durchaus ordentliche Wachstumsraten erzielen kann. In dieser Hinsicht sind unsere wirtschaftlichen Strukturen also besser als das Bild, das davon in den Medien vermittelt wird. Erstaunlicherweise wird demgegenüber der Befund einer völlig unausgewogenen Finanzierung unserer Sozialen Marktwirtschaft kaum thematisiert. Es wäre also völlig falsch, die Steuern noch weiter zu senken. Bei über vier Millionen Arbeitslosen ist vielmehr vordringlich, die Sozialabgaben, d.h. die Besteuerung des Faktors Arbeit, deutlich zu reduzieren.

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