Auszüge aus Philippe Labarde & Bernard Maris
"Börse oder Leben"

Die große Manipulation

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Prolog – Nieder mit der Demokratie

Hans-Hermann Hoppe, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität von Nevada in Las Vegas, sollte eigentlich mehr Leuten bekannt sein. In seinem Aufsatz "Down With Democracy" – Nieder mit der Demokratie –, der von der renommierten Zeitschrift Enterprise and Education veröffentlicht wurde, stellt er den Grundsatz "Ein Bürger, eine Stimme" in Frage, der bei Wahlen gilt. Stellen Sie sich vor, die ganze Welt sollte wählen gehen, meint er. Welche Regierung würde dann an die Macht kommen? Wahrscheinlich eine chinesisch-indische Koalition. Und was würden die neuen Volksvertreter zuerst feststellen? Daß der Westen viel zu reich und der Osten viel zu arm ist, und es angebracht wäre, einen Teil der Reichtümer von der einen zur anderen Erdhälfte zu verschieben.

Das allgemeine Wahlrecht nach dem Prinzip "Jedem Bürger eine Stimme" und die Möglichkeit, sich in die Regierung wählen zu lassen, so Professor Hoppe, implizieren, daß "jeder Bürger samt seinem persönlichen Eigentum der Allgemeinheit zur Verfügung steht und von ihr ausgebeutet werden kann." In einer Demokratie muß man darauf gefaßt sein, daß "die Mehrheit (die ›Besitzlosen‹)" permanent versucht, sich auf Kosten der "Minderheit (der ›Besitzenden‹) die Taschen zu füllen". Die Reichen, sagt der hochverehrte Professor, "sind meist intelligent und fleißig, während die Armen von Grund auf dumm oder faul oder beides zugleich sind ... Indem man die Drückeberger, Faulenzer, Alkoholiker, Drogensüchtigen, Aidskranken und die geistig und körperlich Behinderten durch das Versicherungssystem und die gesetzliche Krankenkasse unterstützt, bringt man nur noch mehr Krankheit, Faulheit, Neurosen, Nachlässigkeit, Alkoholismus, Drogenabhängigkeit, Aids sowie körperliche und seelische Unzulänglichkeit hervor."

Sie unterbrechen Ihre Lektüre, zähmen Ihre Wut oder zucken nur mit den Achseln: diesen neoviktorianischen Diskurs kennt man ja. Es ist immer dieselbe alte Leier, die man zu hören bekommt, wenn Michel Bon von den bequemen Arbeitslosen spricht, Alain Madelin über die perversen Auswirkungen des tariflich festgelegten Mindestlohns redet oder Denis Kessler die Unwirtschaftlichkeit der Sozialversicherung beklagt. Schon Malthus hatte das erkannt und gesagt: "Die Gesetze zum Schutz der Armen schaffen erst die Armen, die sie unterstützen wollen", ebenso Pareto, der meint, daß demjenigen, der zehn besitzt, ganz gleich, wie er sie erworben hat, zehn Punkte verliehen werden, und dem, der keinen einzigen besitzt, auch nur null Punkte zukommen. Vae Victis, Wehe den Besiegten. So sei es.

Aber es kommt noch ärger. Hoppe zufolge sind die Armen, obwohl sie die Mehrheit ausmachen, zu gelähmt, um sich von ihrem Los zu befreien.

Wenn man der Demokratie freien Lauf läßt und jeder Bürger eine Stimme bekommt, was wird dann geschehen? Wird es eine massive Umverteilung von reich nach arm geben? Nein. Genau das Gegenteil wird passieren. Die Reichen sind intelligenter und fleißiger und werden die Armen übers Ohr hauen. Die Reichen werden sich von den Armen aushalten lassen. Durch ein kostenloses Studium, in dessen Genuß die Eliten kommen, durch den sozialen Wohnungsbau, der von Bevölkerungsschichten in Anspruch genommen wird, die wohlhabender als der Durchschnitt sind, durch den garantierten Mindestlohn, der den wirklich Armen das Arbeiten verbietet, damit jene, die einen Job haben, mehr verdienen und gleichzeitig keiner Konkurrenz ausgesetzt sind. Und zu guter Letzt auch noch durch die Umlagefinanzierung bei der Rente, deren Nutznießer der gehobene Mittelstand und die Beamten sind, die länger leben und später zu arbeiten beginnen, auf Kosten der Arbeiter, die früher ins Berufsleben eintreten und früher sterben.

Professor Hoppe bedient sich jener superben Rhetorik, die "perverse Auswirkungen" konstatiert und, seitdem Schmierblätter den Mächtigen zu Hilfe eilen, von reaktionären Kräften immer gerne verwendet wird. Sie glauben also, Sie würden helfen? Sie möchten gerne etwas Gutes tun? Sie wollen den Schwachen wieder Macht verleihen? Sie wünschen sich eine Umverteilung? Damit erreichen Sie nur das Gegenteil. Die gleiche These wurde vor kurzem meisterhaft in einem erbärmlichen und niederträchtigen (und das ist noch milde gesagt) Artikel des Economist vertreten. Dort hat man zu zeigen versucht, daß entgegen den Hoffnungen der Demonstranten eigentlich nicht die multinationalen Konzerne, sondern die Hungernden in Afrika dem Scheitern des Wirtschaftsgipfels in Seattle zum Opfer gefallen sind. Daß aber eben diese Multis die Welt verändert und aus Afrika einen Slum gemacht haben, wird vom Economist nicht in Betracht gezogen. Hier wird ein weiterer reaktionärer und sehr wirkungsvoller rhetorischer Kniff angewandt, nämlich jener, das Kind nicht beim Namen zu nennen.

Aber kehren wir zu den Thesen des Professors zurück. Sie möchten gerne, daß die Macht geteilt wird?, säuselt er. Die erste und grundlegende Regel lautet, daß der Löwe festsetzt, wie geteilt wird. Er nimmt sich zuerst. Die politische Umverteilung wird von den Dienern des Löwen ausgeführt, also im Namen der Mächtigen, auf Kosten der Schwachen und stets zu Gunsten der Starken. Trauen Sie deshalb diesem Löwen nicht. Trauen Sie nur sich selbst, dem Markt und dem Gesellschaftsvertrag. Werden Sie Anteilseigner. Ersetzen Sie das Prinzip "Jedem Bürger eine Stimme" durch "Jedem Dollar eine Stimme". Und dann müssen Sie nur noch warten.

Man könnte die Regierungsform, die Professor Hoppe vorschlägt, auch "Republik der Aktionäre" nennen, denn sie funktioniert nach dem Prinzip, daß einem Dollar eine Stimme entspricht. Es gibt Arme und es gibt Reiche. Seit zwanzig Jahren gibt es sehr, sehr, sehr Reiche und sehr, sehr, sehr Arme. Wer wird reich? Wer gewinnt? Intelligente und agile Leute, die vor allen anderen verstanden haben, was dieser wunderbare neue Markt Internet verspricht und sich nach ihren Fähigkeiten bezahlen lassen. Ihnen fehlt diese Gabe? Jammern Sie nicht. Sie möchten reich werden? Werden Sie Unternehmer. Aktienoptionen und Aktien, kurz: die Börse wird den Rest erledigen. Urteilen Sie aus der Eigentümerperspektive. Vergessen Sie die Demokratie. Denken Sie an den Markt, an diesen gewaltigen Markt, der sich vor Ihren Augen ausbreitet.

Gehen Sie nach Kalifornien, stürzen Sie sich auf die neuen Goldminen. Arbeitnehmer, werdet Aktionäre.

Ist die Argumentation von Professor Hoppe nicht unvergleichlich?

Das Ziel dieses bescheidenen Buches ist, genau diese "Argumentation" alles in allem als Sophismus aufzudecken, als das Öl im Getriebe totalitärer Regime. Aber lassen wir den Professor als Mitglied einer renommierten Universität (Las Vegas) in einem angesehenen Hochschulsystem (dem der USA) erst noch seinen unerschöpflichen Diskurs über "den Liberalismus des gesunden Menschenverstandes" zu Ende führen, der heutzutage von nahezu der gesamten Elite übernommen wird: "Nicht die Demokratie, sondern der Privatbesitz, die Produktion und der freie Handel sind die wahren Quellen der menschlichen Zivilisation und des Wohlstands." Zivilisation – und nur das!

Der Markt und der Gesellschaftsvertrag sind die einzigen und ultimativen Lebensregeln des Menschen – des wirtschaftlichen Lebens, des moralischen Lebens und des ethischen Lebens. Steht Professor Hoppe allein da? Die Mehrheit der Nobelpreisträger und angesehenen Wirtschaftsexperten (Milton Friedman, James Buchanan, George Stigler, Gary Becker) sprechen die gleiche Sprache und nehmen dabei selten weniger extreme Positionen ein. Sämtliche Unternehmer haben diese Denkweise übernommen. Bei den Politikern läßt sich die Zahl derjenigen, die nicht wagen, dieser Argumentation zu folgen, links wie rechts an den Fingern einer Hand abzählen. Den Handel mit Schadstoffemissionsrechten sehen sie, ebenso wie viele Ökologen, beispielsweise als den besten Weg zur Rettung der Natur an. Denn heute ist es ganz normal, wenn man den Folterknecht, also den Markt bittet, sich um die Wunden seiner Opfer zu kümmern.

Die "uneingeschränkte Herrschaft der Besitzenden", die sich zu Beginn dieses Jahrhunderts abzeichnet, die neue Republik der Aktionäre, bedeutet aber eigentlich das Ende der Zivilisation. Lieber Leser, wie Sie dem Titel dieses Buches ja bereits entnehmen konnten, Sie müssen sich entscheiden: Börse oder Leben.

Aber, werden Sie einwenden, manche spekulieren ein bißchen und leben trotzdem. Das stimmt natürlich.

Ricardo, einer der größten Ökonomen aller Zeiten, hat im Alter von zwanzig Jahren ein Vermögen gemacht und den Rest seines Lebens herumgegammelt, in der Politik mitgemischt, Bücher geschrieben und (maßvoll) Portwein genossen. Keynes hat kleine Börsengeschäfte getätigt, verloren, gewonnen, mit 35 den großen Coup gelandet, sich dann für Politik interessiert, Bücher geschrieben, Gemälde, Münzen, Freunde und Liebschaften gesammelt und schließlich für die schönste Frau seiner Zeit, die er gerade geheiratet hatte, ein Theater eröffnet. Als er starb, hat er nur eine Sache bereut: nicht genug Champagner getrunken zu haben. Aber Ricardo und Keynes sind nicht Bill Gates. Sie sind sein genaues Gegenteil. Sie haben mit den meisten Unternehmensvorständen und deren Dienern, die Lobeshymnen auf die Börse anstimmen, rein gar nichts zu tun. Ob die Milliardäre nun an der Börse oder im Kasino russisches Roulette oder Mikado spielen, hat noch nie die Ringeltauben am Nestbau, die Straußen am Verstecken und die Leser von Success Stories am Träumen gehindert. Aber daß Unternehmenschefs, think tanks (die OECD, die Planungskommission, der Rat der Wirtschaftsweisen) und Wirtschaftswissenschaftler jedermann raten, ihr Hemd aus Lohn gegen ein Feigenblatt aus Aktien oder einen Tanga aus Aktienoptionen zu tauschen, kann man nicht als neue Lebensform, sondern nur als eine neue Methode des Diebstahls bezeichnen. Eigentlich handelt es sich sogar um Erpressung, denn stehlen läßt einen noch immer an Wald, Heidelbeeren und Robin Hood denken.

Professor Hoppe schlägt eine neue Demokratie vor, nach dem Grundsatz: jedem Dollar eine Stimme. Wie die Neue Wirtschaft, die doch sehr an die alte und die massive Ausbeutung der Arbeitskraft erinnert, ist auch die neue Demokratie eine Rückkehr zum Feudalismus und zur uneingeschränkten Herrschaft der Kriegsherren der Ökonomie – die jedoch alle in ihrem Bett sterben. Auf einer dicken Matratze aus Aktienoptionen.

Die herrliche Zukunft der Neuen Wirtschaft

Kommen Sie mit in die wunderbare Welt der "Neuen Wirtschaft": "Die Zeit des dauerhaften Wachstums ist angebrochen", so Michel Aglietta. Der Aufschwung ist wieder da, dank der Neuen Wirtschaft, die ihn unterstützt und auch in den folgenden Jahrhunderten weiterbringen wird. "Dauerhaftes Wachstum" – ist das kein wunderbares Versprechen? Wirtschaftswachstum und Kapitalismus sind unsterblich. Wir können dem Kapitalismus niemals entkommen. Dieser kleine Bursche ist zwar höchstens zwei- oder dreihundert Jahre alt und damit erst spät in die Jahrtausende alte menschliche Zivilisation getreten, aber er ist dennoch fest entschlossen, seine Eroberungen zu erhalten und auszuweiten, ganz bestimmt.

Seit fast sieben Jahren können die USA ein enormes Wirtschaftswachstum und eine beträchtliche Anzahl neu geschaffener Arbeitsplätze verzeichnen. Die Arbeitslosenquote der USA nähert sich vier bis fünf Prozent, was allemal wie ein nicht zu unterbietendes Minimum scheint, das den freiwillig und vorübergehend Arbeitslosen erlaubt, ihren Job zu wechseln, damit sie die in der Arbeitswelt gefragte Flexibilität erbringen. Wir werden später noch auf diese fünf Prozent zurückkommen, die doch sehr suspekt sind, ebenso wie auf die Flexibilität, die genauso neu ist wie die Unsicherheit.

Woher kommt dieses Wachstum, dieser spektakuläre Rückgang der Arbeitslosigkeit in den USA? Die Antwort kennen wir zur Genüge: dadurch, daß die USA vor uns in die "Neue Wirtschaft" eingetreten sind. Es gab bereits die Neue Armut, die Neue Philosophie, die Neue Romantik, jetzt gibt es also auch die Neue Wirtschaft.

Auf dem Neuen Markt funktioniert alles on demand, nachfrage- und verbraucherorientiert. Die Kunden verlangen etwas, und darauf macht man sich an die Arbeit. "Im Dienstleistungssektor entscheidet der Kunde über den Preis", erklärt Michel Aglietta. Verbraucher und Aktionäre haben gleichermaßen Einfluß auf die Wirtschaft. Der Verbraucher geht in den Supermarkt oder surft im Internet, zugleich sitzt er aber auch im Betriebsrat. So ist letztendlich wohl der Kunde der eigentliche Gebieter über jene Ungeheuer, die sich jeden Tag durch Übernahmen und Fusionen bilden.

Natürlich ist die Zeit des small is beautiful, der ersten Version des liberalen Diskurses vorbei, der mit dem strengen stalinistischen Diskurs eines gemeinsam hat: die magische Fähigkeit, sich um 180 Grad zu drehen. Von nun an gilt: big is beautiful, denn nur so wird ein Wert geschaffen, nämlich der Börsenwert, der das Volk der Groß- und Kleinaktionäre zufriedenstellen soll. Und Europa macht da keine Ausnahme. Vor zwei Jahren ist auch hier der "Ball der Fusionen und Übernahmen" eröffnet worden – immer die kritische Größe im Blick, um einen Markt beherrschen zu können.

Wenn ein Konzernungeheuer einen Markt dominiert, stellt sich im Zusammenhang mit der angeblichen Herrschaft des Kunden ein kleines logisches Problem, aber lassen wir das. Bei den weltweiten Fusionen und Übernahmen ging es 1999 um 3160 Milliarden Dollar, 1998 waren es noch 2600 Milliarden. Die Summen, um die es dabei in Europa geht, sind schier beeindruckend: Vodafone (Großbritannien) hat 150 Milliarden Dollar gezahlt, um Mannesmann (Deutschland) zu kaufen, das schließlich kapituliert hat. Die Übernahme von Elf durch Total (für 55 Milliarden Dollar) erscheint dagegen fast niedlich.

Wer die Schriften von Ricardo, Keynes, Marx oder Schumpeter gelesen hat, weiß, daß die Bildung von Monopolen zum Kapitalismus gehört, denn nur auf diese Weise läßt sich ein Markt beherrschen, nur so kann man Kunden einfangen und wie Kühe in einen Stall pferchen. Den Konsumenten einsperren, ihn füttern, bis er bis oben hin abgefüllt ist, das ist der große Traum. Der "gefangene Kunde" ist für Manager die schönste Vorstellung überhaupt. Also, was ist denn nun eigentlich neu an der Neuen Wirtschaft?

Die Explosion des Dienstleistungssektors

Die Branchen mit den meisten Fusionen und Übernahmen sind die Telekommunikation und die Medien. Im Grunde ist die Neue Wirtschaft eine neue Herrschaft durch Kapitalakkumulation (man kann sie natürlich auch als neue Phase des Aufschwungs des Kapitalismus sehen), die das Wachstum im Dienstleistungskektor und bei den neuen Informationstechnologien miteinander verknüpft. Nun sind Dienstleistungen besonders arbeitsintensiv und schaffen so neue Arbeitsplätze. Welche Arten von Beschäftigung bietet der Dienstleistungssektor? Software- und Algorithmenentwickler, Informatiker allgemein, Verkaufsstrategen, Werbefachleute, Händler, Versicherungsexperten, Anwälte, Banker, Hersteller, Organisatoren, Manager, Techniker, Berater und diverse Zwischenhändler, Mitarbeiter für Forschung und Entwicklung (dies sind die Schlüsselpositionen in den Unternehmen), kurz: Produzenten und Vertreiber von Informationen, Ideen und Bildern, Konzeptioner aller Art. Lesen Sie mal die Stellenanzeigen in den Wochenendausgaben der Tageszeitungen. Der Dienstleistungssektor benötigt außerdem Hardwarehersteller in der Computerindustrie, Forscher in der Biotechnologie, Ingenieure und insbesondere gering qualifizierte Arbeiter in hochautomatisierten Fabriken, wo "Dienstleistungen" inzwischen eine bedeutende Rolle spielen. Außerdem gibt es noch die so genannten kleinen personenbezogenen Dienstleistungen: als Kellner im Restaurant oder als Page in amerikanischen Hotels, wo die Menge an Servicepersonal beeindruckende Ausmaße angenommen hat und schon mit dem Hauspersonal der Reichen in Entwicklungsländern vergleichbar ist. Die Herrschaft und die Launen des Kunden, der über den Preis entscheidet, "lassen eine Flut von neuen Arbeitsplätzen und sehr unterschiedlichen Beschäftigungsformen entstehen. Damit einher gehen enorme Ungleichheiten. Die beiden Extreme bilden die unsichere Beschäftigung eines Kassierers im Supermarkt und die besonders gesuchten Consultants auf dem internationalen Markt."

Die Elite der neuen Arbeitskräfte konzentriert sich im High-Tech-Bereich, in allen Bereichen, die mit Informationen, Informatik und nun natürlich auch mit dem sagenhaften Internet zu tun haben. Da diese Aktivitäten das Phänomen der Überproduktion und Marktsättigung, mit denen die Industrie früher zu kämpfen hatte, nicht mehr zu fürchten haben, haben sie die Grenzen der Nachfrage und des Wachstums ins Unendliche verschoben. Nebenbei bemerkt scheinen die Entwicklungsländer eine schier unerschöpfliche Quelle für unterbezahlte Informatiker und sklavenähnlich Beschäftigte zu sein, mit denen man jede Konkurrenz lahmlegt. Hier haben wir also die Erklärung für das ungebrochene Wachstum.

Niemand, vielleicht mit Ausnahme von Jacques Calvet, dem ehemaligen Chef von Peugeot, glaubt, daß die Zahl der Autos endlos zunehmen wird. Das Auto als Industrieprodukt hat mit den Problemen der Überlastung der Straßen und der Marktsättigung zu kämpfen (und mit der Luftverschmutzung – aber die existiert ja nur in den Köpfen der ewigen Nörgler und in den Lungen von Asthmakranken). Aber wer würde denn leugnen, daß der Bedarf an Information, Kultur und Wissen unendlich ist, seitdem ein Mensch in einen Apfel gebissen hat? Und genau hier tritt die Neue Wirtschaft hervor und nimmt sich unserer schier unendlichen Bedürfnisse an.

Das Internet – Portal des unendlichen Wachstums

Betrachten wir die Fusion von AOL (America Online) und Time Warner. Ein Unternehmen, das erst vor sieben Jahren an die Börse gegangen und heute schon 164 Milliarden schwer ist und dessen Börsenwert den des Flugzeugherstellers Boeing oder den von Coca-Cola damit um das Vierfache übersteigt, fusioniert mit einem 83 Milliarden Dollar-Unternehmen, das schon lange an der Börse notiert wird und einen Umsatz macht, der sogar dreimal so hoch ist wie sein eigener. Die so entstandene Unternehmensgruppe wird zusammen mit allen Tochtergesellschaften 350 Milliarden Dollar schwer sein und kommt damit dem Ungeheuer Microsoft schon ziemlich nahe, das fast 500 Milliarden Dollar wert ist. Dies entspricht dem Staatshaushalt von Frankreich. Neben Internetunternehmen wie Yahoo!, Amazon.com und Broadcast, die vor zehn Jahren noch gar nicht existierten, erscheinen die meisten der klassischen Unternehmen wie Zwerge. Dennoch machen sie alle kaum Gewinn, oder sogar stetig Verlust, so wie der Online-Buchhandel Amazon.com. Aber sie versprechen so außerordentliche zukünftige Gewinne, daß sie bei den Börsianern Begeisterungsstürme hervorrufen.
Die Hochzeit von AOL und Time Warner ist symbolisch. Einmal, weil sie am Anfang dieses Jahrhunderts, des ersten Jahrhunderts des endlosen Wachstums, stattfindet, aber auch, weil sie dem Internet – diesem Netzwerk, das Computerterminals über die Infrastruktur der Telekommunikation verbindet – seine wahre Bestimmung verleiht.
AOL ist ein Eingangsportal für das Internet – wie die Sperren auf der Autobahn, wo man Mautgebühren entrichtet. Wenn Sie weiterfahren wollen, müssen sie dort durch. Außerdem bietet AOL den Browser Netscape an. AOL verleihen vor allem seine 22 Millionen Anwender Macht. Es ist das einzige Internetportal, das (ein wenig) Gewinn macht.

AOL stellt die Infrastruktur, Time Warner dagegen den Inhalt, der befördert wird: Fernsehen (CNN), Zeitschriften (Time), (5000) Spielfilme, Zeichentrickfilme, Serien, Musik. Der Musikhändler EMI hat sich vor kurzem ebenfalls mit dem neuen Giganten zusammengetan, womit in Zukunft nahezu alle Musiktitel, die auf dem gesamten Globus verbreitet werden, durch die Mautstellen und Leitungen von AOL wandern könnten.

AOL wird seinen "Cybernauten" die Inhalte von Time Warner und EMI anbieten. Es wird aus den Abonnenten oder Kunden von Time Warner (mehr als 100 Millionen, durch Fernsehen und Magazine) Internetkunden machen. Die Hochzeit von AOL und Time Warner besiegelt also den Tod des Internets und gibt die eigentliche Motivation des Handels preis, der nur eines kennt: alles Lebendige töten, das heißt, es in Geld oder ein einträgliches Geschäft verwandeln.

Das Internet war ursprünglich ein Kommunikationsnetzwerk zu militärischen Zwecken. Darauf ist es zu einem Mittel des Austausches zwischen Universitätsangehörigen und anderen Interessierten geworden, durch das man kostenlos an die verschiedensten Informationen gelangen konnte. Das Internet war der Prototyp jener gemeinschaftlichen, nichtkommerziellen und wunderbaren Dinge, die die Menschheit hervorbringen kann. Unsere Sprache ist wohl das erstaunlichste Beispiel dafür. Aber der Markt duldet die Gemeinschaft nicht. Oder vielmehr er kann nicht leben, kann sich nicht ausbreiten, wenn sie nicht privatisiert wird. Das Internet war wie ein wild gewachsener Wald, in dem man leicht vom Weg abkommen konnte. Also mußten festgelegte Routen und Anlaufstellen eingerichtet werden.

Steve Case, Chef von AOL, faßt die Idee, die hinter der kommerziellen Nutzung des Internets steckt, recht gut zusammen: "Der Kunde möchte etwas Einfaches, Effizientes und Nützliches." Steve Case denkt und spricht hier natürlich im Namen des Kunden, eines Otto-Normal-Verbrauchers, der zweifellos ein wenig dumm sein muß. In seiner sehr einprägsamen Beschreibung erkennt man jenes Individuum, das durch Pizza Hut geprägt wird: einfach, gesalzen, ein Glas Cola dazu und fertig. Information? Was ist das? Wieviel kostet das? Die Information dient dazu, zum Kauf zu animieren. Sie ist ein Köder. Als das Mobilfunkunternehmen Bouygues den Fernsehsender TF1 kaufte,hat es damit gleichzeitig ein Instrument zur Einflußnahme erworben, einen Trichter, durch den es die Gänse mit Werbung mästen kann. Hören wir noch einmal Steve Case:

"Das Ziel von AOL ist, das Internet zu einem genauso unverzichtbaren Bestandteil des Lebens zu machen, wie es das Telefon oder der Fernseher bereits sind. Wenn nicht zu einem noch unverzichtbareren."

In diesem Komparativ steckt alles. Das Internet zu einem zentralen Teil des Lebens machen. Sie entkommen dem Netz nicht, das genauso klebt wie ein Spinnennetz. Das Auto ist bereits "unverzichtbar", genau wie der Gütertransport auf der Straße, die Luftverschmutzung, die Zerstörung von Landschaften und die zahllosen Staus, die sich verdreifacht haben, seitdem sich die Zahl der Autobahnen verdoppelt hat. Das Handy ist unverzichtbar, denn bald ist es die Nabelschnur, die uns ununterbrochen mit dem Internet verbindet, um dort unsere personal networks zu kontaktieren, Einkaufskörbe mit individuell für uns zusammengestellten Waren – also von Steve Case zusammengestellten Waren. Steve Case sagt dazu: "Das Wuchern des Internets wird uns unentbehrlich machen." Er setzt darauf, daß das "Gewirr", das Durcheinander des Internets, der millionenfach angebotene Ramsch, vom Geschwätz des Deppen aus dem globalen Dorf bis zum Gedicht von Rimbaud, ihn unentbehrlich macht. Gut erkannt.
Tim Koogle, Chef von Yahoo!, der ersten Suchmaschine im Internet, hat bedauert, daß das Konzept des freien, universellen und offenen Internets mit dem Deal zwischen AOL und Time Warner gestorben ist, der weitere Fusionen nach sich ziehen wird. Aber er weiß auch, daß freie Verbraucher einem Unternehmen nichts einbringen – auch er möchte gefangene Kunden. Er denkt daran, sich mit Disney zusammenzutun. Da ist es wieder, das Zauberwort vom gefangenen Kunden, dessen man nicht überdrüssig wird, nicht wahr? Also los, schickt die Gefängniswärter auf den Markt, damit sie die Kunden verhaften.

Nachdem Bill Gates ihm Platz gemacht hat, ist Steve Ballmer der neue Chef von Microsoft, des ersten globalen Unternehmens. Obwohl es mit seinen Stahlabsätzen alle Versuche der Konkurrenz seitens anderer Hersteller und jede Freiheit der Käufer zermalmt, indem es sie erpreßt und ihnen seine Software wie Handschellen anlegt, gibt der Monopolist dennoch vor, im Namen der Freiheit und im Interesse des Kunden zu handeln. In einem Interview mit Le Monde spricht sich Steve Ballmer entschieden "gegen den Nulltarif, der sich im Internet breitmacht", aus. Aber Kostenersparnis gehört nun einmal zu menschlichem Verhalten dazu. Das konnten wir wieder erleben, als die Erika gesunken ist, ein Öltanker, der skandalöserweise von Geldmachern gechartert wurde, die sich, nur um ein paar Pfennige zu sparen, weder um den schwarzen Ölteppich geschert haben, der hinterher Felsen und Seevögel bedeckte, noch um die Menschen, die gutmütig genug waren, diese zu säubern.

Der Markt kämpft immer und ewig gegen das Gratisangebot – man schämt sich ja fast, so eine Banalität zu Papier zu bringen. Ist Wasser gratis? Wie schade! Höchste Zeit, daß es knapp wird, verschmutzt, damit man Profit daraus schlagen kann, indem man es klärt und verkauft. Höchste Zeit auch, daß mit Luft kommerziell gehandelt wird. Ist das Leben umsonst? Höchste Zeit, daß das menschliche Genom entschlüsselt, zerlegt, patentiert und stückweise verkauft wird. Pflanzen können sich selbst vermehren? Höchste Zeit, daß Samen erfunden werden, die man nur einmal verwenden kann. Es wäre doch wirklich albern und einfältig, wenn man die freie Natur einfach sich selbst überließe. Und wenn die Menschen unter sich etwas entwickeln und aufbauen, das jedem frei zur Verfügung steht, nämlich das kostenlose Internet? Was für eine Horrorvorstellung! Nieder mit der Freiheit! Nieder mit dem Gratis-Angebot! Steve Ballmer und Steve Case kennen nur eins, den Grundpfeiler und die größte Errungenschaft des Kapitalismus: Massenkonsum, kostenpflichtig und obligatorisch.

Das Internet ist also die alte und ewige Geschichte vom freien Kollektiv, das vom Markt vereinnahmt wird, um privatisiert und verkauft zu werden. Ist das schon alles?

Hard und Soft

Als AOL und Time Warner fusionierten, haben die meisten Marktbeobachter dies als "Kulturrevolution" begrüßt, die allen und jedem ermöglicht ... na, was eigentlich? Produkte online zu kaufen, also ein wenig rascher als über den Quelle-Katalog? Den Herzenswunsch von Steve Ballmer und Steve Case zu erfüllen – Händlern von der Sorte, deren Blick nicht über den Tellerrand ihres virtuellen Wertes hinausreicht? Und das in der Erwartung, einmal "als die Reichsten des Friedhofs" bestattet zu werden, wie es in einem arabische Sprichwort heißt? Nein. Diese Kommentatoren begrüßen die Möglichkeit, die Encyclopaedia universalis zu konsultieren oder sich die Milliarden Buchtitel herunterzuladen, die Amazon.com anbietet – eine Buchhandlung, die mit Literatur ungefähr genauso viel zu tun hat wie ein Tapetenverkäufer mit Vélasquez. Sie sprechen von einer "Kulturrevolution" oder von der "Revolution der Kommunikation". Das Alibi des kommerziellen Internets ist das Wissen.

Darüber sollten wir ein wenig nachdenken. Wenn die Menschheit mehr Zeit vor dem Computer verbringt als im Auto oder auf einem Hochsitz, kann dies Umweltschützern und Tierfreunden ja nur recht sein. Jemand, der ein Buch liest, kann in seiner Umgebung eigentlich keinen Schaden anrichten, denn er ist gebannt. Jemand, der surft, umherstreift und abschweift, kann eigentlich nicht bösartig sein. Wahrscheinlicher ist allerdings, daß die Zeit, die man mit dem Surfen und der Suche nach der richtigen Lektüre verbringt, einen vom Lesen abhält; aber sehen wir über dieses kleine Detail einfach hinweg.

Obwohl die Fusion von AOL und Time Warner mit einem plötzlichen Anstieg der TF1-Aktien gefeiert wurde, da TF1 nun bald per Internet konsumiert werden kann, bleibt doch fraglich, ob die Leute darauf brennen, die Abhandlungen über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung oder Auf der Suche nach der verlorenen Zeit zu lesen, statt ihre Zeit vor dem Fernseher zu verbringen. Das Radio hat weder Kriege verhindert noch die Lust am Sammeln von Nippes gebremst. Vielleicht, daß das Fernsehen und die Satelliten saubere Kriege ermöglichen, in denen nur Zivilisten getötet werden? Abwarten. Träumen. Stellen Sie sich vor, wie die Menschen vor ihren Computern sitzen, jeder für sich, radioaktiv verseucht, aber natürlich unendlich klug und in freudiger Erwartung, daß ihnen ein Chip direkt ins Gehirn gepflanzt wird, womit sie dann enorm viel Zeit sparen, die sie sonst mit leidenschaftlichen Diskussionen mit Lehrern oder Freunden bei einem Glas Wein verbracht hätten.
Bis wir so weit sind, wächst aber noch ein anderer Sektor, nämlich die Automobilindustrie, die 1999 den größten Marktanteil und die größten Gewinne verzeichnen konnte. Ein Auto ist doch wenigstens etwas Konkretes. Asphalt, zerstörte Landschaften, Kohlendioxid, Streß im Stau und jedes Jahr 8000 Tote allein auf Frankreichs Straßen (und nur 200 weniger in Deutschland) – wenn das nichts ist. Es steht also zu befürchten, daß die Entwicklung des Internets, so wie Steve Case sie sich vorstellt, den Autoverkauf noch weiter ankurbelt ebenso wie den Handel mit anderen "handgreiflichen" Dingen wie Flugzeugen, nuklearen Sprengköpfen und Hühnern aus Konzentrationslagern – Verzeihung, aus Legebatterien.

Hinter der Neuen Wirtschaft steckt die alte

Vergessen wir die Entwicklungsländer. Lassen wir auch die Möglichkeit beiseite, daß China jedem seiner Einwohner ein Auto zur Verfügung stellen könnte (was für eine Horrorvision!). Denn selbst wenn wir bei den Ländern des Nordens bleiben, wird auf Soft stets Hard folgen. Lkws und Autos auf den Straßen, Kühlschränke, Swimmingpools und Fernseher in den Häusern, Häuser in den Städten, Städte in den Landschaften, Flugplätze und Straßen, die die Menschen miteinander verbinden – all diese Dinge werden sich weiter explosionsartig vermehren. Auch wenn man dazu immer mehr Experten und Berater (aus dem Softwarebereich) benötigt und die Bedeutung von Dienstleistungen im Vergleich zur Industrie oder Landwirtschaft stetig zunimmt. Auch wenn aus dieser äußerst instabilen Netzwerk-Wirtschaft eine Risiko-Wirtschaft entsteht, eine äußerst entwickelte Absicherungswirtschaft: hochspekulative Märkte wie den der Aktienderivate – Märkte, die den Crash des Hochrisikofonds LTCM (Long Term Capital Management) hervorgerufen haben.

Obwohl sie für das Bruttoinlandsprodukt der reichen Nationen keine Rolle mehr spielt, produziert die Landwirtschaft weiterhin Berge von Schweinefleisch, Geflügel und Mais und verbraucht damit 80 Prozent des Trinkwassers, das sie fröhlich vergiftet – und schafft so Bedarf an Kläranlagen.

Die "virtuelle", "qualitative" Wirtschaft des Internets geht also mit einem quantitativen Wachstum einher, das die Urbanisierung und den Ausbau des Verkehrsnetzes (ob nun zu Land, zu Wasser oder in der Luft) vorantreibt. So werden auch die Unfälle zunehmen, selbst wenn der Internetsurfer einen guten Teil des Tages vor dem Bildschirm verbringt – was er ja dank Handy bald auch vom Auto aus tun kann.

Wo ist dabei der Fortschritt (des Wissens)? Wer wird denn ernsthaft glauben, daß tausend Fernsehprogramme, die uns via Satellit und bald via Internet zur Verfügung stehen, dazu beitragen, den Durchschnittseuropäer des Jahres 2000 gebildeter zu machen als jenen von 1960, der völlig gebannt in die Röhre guckte, wenn auf dem einzigen Fernsehsender die Tagesschau lief? Der Analphabetismus in Frankreich ist seit 50 Jahren nicht zurückgegangen, sondern hat eher noch zugenommen. Genauso wie die Selbstmordrate unter jungen Leuten übrigens. Weltweit hat sich die Selbstmordrate verdoppelt. Wenn aus Statistiken des Militärs hervorgeht, daß der "durchschnittliche Bildungsgrad kaum steigt", wird dabei nicht berücksichtigt, daß das Abitur 2000 mit dem des Jahres 1960 wenig gemeinsam hat.

Räumen wir dennoch ein, daß die Neue Wirtschaft eine neue Phase des Kapitalismus einläutet, selbst wenn der alte Kapitalismus – dieser Zerstörer, Verschmutzer, und Verschwender von Energie, von Raum und Zeit, ja, unseres Lebens – noch weiter wächst, und zwar als Trittbrettfahrer der Neuen Wirtschaft. Worin unterscheidet sich diese Neue Wirtschaft dann von der alten?

Wie wird der Kuchen aufgeteilt?

Der Produktivitätsrhythmus hat sich geändert. Produktivität wird danach bemessen, ob mit gleichen Mitteln mehr hergestellt werden kann. Produktivitätssteigerung bedeutet also, daß die gleiche Menge nicht mehr von 100, sondern von 80 Arbeitern produziert wird.

Im früheren kapitalistischen Regime, das manche Ökonomen als "Fordismus" bezeichnen – nach dem Unternehmenschef Henry Ford, der Autos in allen Farben anbot, unter der Bedingung, daß man sich für ein schwarzes entschied, und seine Leute gut bezahlte, damit sie auch alle seine schwarzen Autos kaufen konnten –, sparte man durch den technischen Fortschritt Arbeitskräfte, wodurch die Löhne regelmäßig stiegen, was wiederum zum Massenkonsum führte. Der fordistische Kompromiß, der die 30 glorreichen Nachkriegsjahre prägte, sah folgendermaßen aus: stetiger Anstieg der Löhne, starkes Wachstum, vermögensbildende Maßnahmen, Inflation, von der die Kreditnehmer profitierten, wenige Rentner, Rückgang der Ungleichheiten. Die hohe Produktivitätsrate ließ den Gewinn ansteigen, auch wenn mehr Lohn gezahlt wurde.

Heute ist es genau umgekehrt. Dank der Informationstechnologien – die Preise für Geräte und Software sind enorm gesunken – ist das Kapital produktiver, während die Arbeitsproduktivität weltweit zurückgeht; denn die Tätigkeiten des Dienstleistungssektors können nicht durch Maschinen ausgeführt werden. Die Neue Wirtschaft benötigt viele Arbeitskräfte – für die Organisation, Koordination und Vermittlung in allen Bereichen. Aber wir stehen hier keinesfalls vor einem Rätsel: Früher garantierte die hohe Arbeitsproduktivität den Gewinn, heute tut dies die hohe Kapitalproduktivität.

Ein genauerer Blick auf das amerikanische Wirtschaftswachstum lohnt sich. Denn anders als man uns weismachen will, handelt es sich keineswegs um ein außergewöhnliches Phänomen. Wenn man anhand der Statistiken des Bureau of Economic Analysis des amerikanischen Wirtschaftsministeriums die Wachstumsraten der jeweiligen Regierungszeit von Kennedy-Johnson, Reagan-Bush und Clinton (letztere ist ein wenig kürzer) vergleicht, stellt man fest, daß das durchschnittliche Wachstum in der ersten 4,1 Prozent, in der zweiten 3 Prozent und in der dritten 2,6 Prozent jährlich betrug. Interessant, nicht?

Was aber doch überrascht, ist die Tatsache, daß die Nachfrage der Amerikaner ungebrochen ist, obwohl die Löhne nicht mehr steigen. Früher kurbelte der starke Anstieg der Löhne die Nachfrage an, die wiederum das Wachstum ankurbelte. In den USA ist das private Sparaufkommen negativ. Die Amerikaner geben mehr aus, als sie verdienen. Amerika ist eine Republik der Aktionäre. Die Amerikaner haben Aktien. Sie sind so überzeugt davon, daß die Kurse steigen werden, daß sie ihre zukünftigen Börsengewinne schon vorher ausgeben und sogar Kredite aufnehmen, um Aktien kaufen zu können. Das ist auch der Grund, warum viel mehr französische Spargelder in die USA fließen als umgekehrt. Anders gesagt: Die Franzosen leihen den Amerikanern Geld, damit diese mittels Pensionsfonds französische Firmen aufkaufen können.

Warum bewegen sich die Löhne in den Ländern des Nordens nicht, ja, sinken sie sogar weltweit? Weil die ohnehin schwache Arbeitsproduktivität nicht einmal insgesamt den Lohnempfängern zugute kommt. Die europäische Kommission hat die Produktivitätsraten für das Jahr 2000 berechnet. In fast allen Ländern ist der Lohnanstieg geringer als der Produktivitätszuwachs. In Frankreich nimmt die Arbeitsproduktivität um 1,8 Prozent zu, während die Löhne um 1,6 Prozent steigen; in Italien ist das Verhältnis 1,6 zu 0,6 (womit ein Prozent der Arbeitsproduktivität an das Kapital geht). In Belgien gehen 0,8 Prozent an das Kapital, in Deutschland 0,6 und in Spanien 0,8 Prozent.

Auf diese Weise fällt die Arbeitsproduktivität im Vergleich zur Kapitalproduktivität nicht nur geringer aus, sondern ein Teil dieses Ertrages geht auch noch von den Lohnempfängern zu den Kapitalisten. Die Folge: Das Hauptmerkmal der Neuen Wirtschaft ist eine enorme Unsicherheit der Beschäftigungssituation, die man "Flexibilität" nennt.

Neue Sklaven für die Neue Wirschaft

In der Kompromißlösung der 30 glorreichen Nachkriegsjahre fügte sich der Arbeitnehmer in einen monotonen und gleichförmigen Prozeß am Fließband. Dafür hatte er aber einen mehr oder weniger sicheren Arbeitsplatz, im Hinterkopf ein alternatives Modell (das ferne Rußland, leider!) und einige Leute, die er, ohne gewalttätig zu werden, hassen konnte – um Dampf abzulassen: die Chefs.

Mit der Zunahme an Dienstleistungen werden Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an eine schwankende Nachfrage geschätzt, genauso wie eine pseudo-egalitäre Arbeitsorganisation. Tatsächlich hat die Neue Wirtschaft einen Arbeitsmarkt wiederbelebt, der jenem der alten Wirtschaft in nichts nachsteht: Derjenige, der seine Arbeitskraft anbietet, hat nur wenige Rechte und tritt in einen harten Konkurrenzkampf mit anderen Arbeitsuchenden, die wie er panische Angst vor der Arbeitslosigkeit haben. Am Eröffnungstag des Wirtschaftsgipfels in Davos erklärte Craig Barrett, Geschäftsführer von Intel, gegenüber der Herald Tribune, "Angst und Paranoia" seien Gefühle, die der amerikanische Arbeitnehmer verinnerlicht habe.

Die hohe Arbeitslosenquote hat ohne Frage eine Bevormundung, eine Flexibilisierung des Erwerbstätigen möglich gemacht, der nun zurechtgebogen werden kann und dem Frondienst ausgeliefert ist – ein Rückfall in alte Zeiten, als es noch kein Arbeitsrecht gab. Und obwohl die Arbeitslosigkeit in den USA durch einen explosionsartigen Anstieg der Quartalsarbeit (niedere Dienstleistungen) und von Aushilfsjobs rückläufig ist, werden die Schwächsten dennoch immer ärmer – man nimmt sie nur nicht wahr angesichts des ungeheuren Reichtums der Führungsgkräfte – und Angst macht sich breit.

Die Neue Wirtschaft hat eine Welle von Zeitarbeit erzeugt, die manchmal auch auf qualifizierte Kräfte baut (Studenten werden zu Anrufbeantwortern). Die "elektronischen Knechte", die bei Amazon.com arbeiten, müssen schon Leistung erbringen: zwölf E-Mails pro Stunde. Ihre kleinen Chefs sind dank der Elektronik genauso streng und noch viel genauer als die archaischen Stoppuhren bei Citroën.

Non-Stop ist das neue Modell, das sich durchsetzt. Die Konkurrenz treibt an, der Kunde fordert und der Arbeitnehmer folgt. Die Paranoia, die der Firmenleiter von Intel zu schätzen weiß, greift um sich – denn der Kunde ist auch Arbeitnehmer und umgekehrt. Wenn er eine Servicenummer wählt, wird er zum fordernden Ungeheuer, bis er dann an seinen eigenen Bildschirm zurückkehrt und die Grausamkeit der anderen ihm zu schaffen macht. Und das pausenlos, denn das Internet kann jederzeit besucht werden und garantiert Konsum rund um die Uhr. Das Ende der Arbeit (Rifkin, wie konnten Sie sich nur so irren!) ist zur Arbeit ohne Ende geworden. In Frankreich arbeiten bereits 15.000 Menschen in Call-Centern, 24 Stunden, an sieben Tagen der Woche. "Für diesen Frondienst stellt man junge Leute ein, die rackern, bis sie zusammenbrechen. Kennen Sie Menschen, die sich daran gewöhnen können, immer und zu jeder Zeit zu arbeiten und das Woche für Woche?" Nein. Nachtarbeit, Wochenendarbeit, der Chef mit Jeans und Ohrring – so sieht die Neue Wirtschaft aus. Ständig erreichbar für das Management, immer bereit, Akten durchzuarbeiten, ob im Zug, im Flugzeug, abends zuhause oder am Wochenende. In Europa bekam der größte Teil der 1999 neu eingestellten Mitarbeiter einen Zeitvertrag. Dabei verfolgt jeder sein eigenes Modell: Spanien hält den Rekord, nicht nur was die Arbeitslosenzahl betrifft, sondern auch in der Unsicherheit der Jobs – 40 Prozent der Stellen sind befristet (11 Prozent davon sind Aushilfsjobs), 16 Prozent der Spanier sind arbeitslos – womit also, wenn wir richtig rechnen, 44 Prozent sichere Beschäftigungsverhältnisse übrigbleiben. Außerdem hält Spanien den traurigen Rekord bei Arbeitsunfällen: 450 täglich, so La Tribune. Aber es ist auch ein Faktum, daß sich 100 leitende Manager von Telefonica 260 Millionen Dollar Aktienkapital teilen (fällige ehemalige Aktienoptionen, ein Geschenk des Unternehmens also) – das macht pro Kopf 2,6 Millionen Dollar, wenn wir uns nicht verrechnet haben. Großbritannien stellt durch seine minimalistische Gesetzgebung eine besondere Ausnahme dar. In Italien setzt sich eine "Lombardei der Zeitarbeit" durch. Der OECD zufolge ist Frankreich seit fünf Jahren absoluter Rekordhalter in der Zunahme von Zeitarbeit (plus 87 Prozent). Damit steht es, immer noch laut der OECD, mit 22 Prozent befristeten Stellen 1998 und 30 Prozent 1999 hinter Spanien an zweiter Stelle. Die Flexibilität der Arbeit, die sich die Unternehmen immer so sehr gewünscht haben, ist nun Realität.

Und langsam wird dies auch wahrgenommen: "Misere in Frankreich", "Moralische Schikane", "Das barbarische Unternehmen" ... Allen, die glauben, daß das Internet ihnen nun endlich ermöglicht, Montaigne zu lesen, dank Jeff Bezos, des Chefs von Amazon.com, müßten eigentlich Bedenken kommen. Es wird keine Freizeitgesellschaft geben, auch wenn man dieses hübsche Gesetz der 35-Stunden-Woche erfunden hat, das ja doch nicht hinhaut, weil man nun Überstunden macht. Wer arbeitet denn wirklich 35 Stunden? In den USA ist die Wochenarbeitszeit innerhalb der letzten 20 Jahre von 43 auf 47 Stunden gestiegen. Und französische Führungskräfte arbeiten noch länger.

Und die leitenden Angestellten?

Französische leitende Angestellte arbeiten mehr als 52 Stunden pro Woche. Am Wochenende bilden sie sich fort. Alles dient der Arbeit: das Fernsehprogramm ebenso wie das Wirtschaftsmagazin. Überall nur atemlose Manager, die nirgendwo mehr Dampf ablassen können. Eine Studie zeigt, daß ein amerikanischer Manager im Durchschnitt 190 E-Mails pro Tag bekommt – ein bißchen weniger als sein französischer Kollege. Die von Aktionären umjubelten Regeln des modernen Managements lauten: Flexibilität, maximale Produktivität, just in time, Topqualität (total quality), Verantwortlichkeit und Autonomie. Der persönliche Cyberwächter ist allgegenwärtig; die elektronischen Handschellen des Computers, dessen Software die elektronische Post kontrolliert, wird niemand mehr los. Diese Regeln führen zu einem furchtbaren Streß, der entweder als Droge (workaholism) oder als Krankheit (Depression) gesehen wird. Was den leitenden Angestellten – diesen fanatischen Arbeitssklaven, dem man morgen sein Erspartes klauen wird, im Namen des Wirtschaftskriegs und zur Rettung der nationalen Unternehmen – am besten charakterisiert, ist seine Zeitnot. Ständig in Eile, ständig in Angst – so leben wir, liebe Mitmenschen der modernen Gesellschaft. DARES (der Direction de 1’animation de la recherche, des éudes et des statistiques des Arbeitsministeriums) zufolge erklärten 1991 46 Prozent der leitenden Angestellten, sie hätten Angst vor Sanktionen – heute sind es 60 Prozent. Dennoch ist die Arbeitslosigkeit zurückgegangen und einige Branchen suchen händeringend nach Arbeitskräften ... "Angst und Paranoia", sagt der Chef von Intel grinsend.

Wie alle Alkoholiker sind auch Workaholics im Allgemeinen depressiv und – noch allgemeiner gesprochen – unglücklich. "Sie gehen sich selbst und den anderen auf die Nerven", um die Worte des Präsidenten vom Institut für den gesellschaftlichen Dialog zu umschreiben. In den Fabriken ist jeder der Kunde eines anderen. Man ist nicht mehr Kollege, sondern Lieferant oder Kunde, und vor allem Rivale. Potenzieller Konkurrent. Der Rauswurf sitzt einem immer im Nacken, auch wenn die Wahrscheinlichkeit, eine neue Arbeit zu finden (nachdem man sich den Streß gemacht hat, danach zu suchen), heute wieder größer geworden ist. Paradoxerweise hat der Computer eine Art der Überwachung, eine Zerstückelung der Aufgaben und eine Eigenverantwortlichkeit der Beschäftigten hervorgebracht, von der Taylor nicht zu träumen gewagt hätte. Die "Arbeit in kleinen Teilstücken" und die Möglichkeit, Fehler zurückzuverfolgen, erzwingen eine "Valorisierung" (eine Evaluation der Tätigkeit, diese Obsession des modernen Managements) und eine immer größere Verantwortung.

Angesichts der Angst, des Bedürfnisses nach sinnvoller Arbeit und der Paranoia unter den Mitarbeitern stellen inzwischen viele französische Chefs fest: "Unsere Angestellten haben noch nie so wenig Lust gehabt zu arbeiten." Gleichzeitig haben die leitenden Angestellten, trotz der Lässigkeit, die ihre Chefs zur Schau stellen, aufgrund deren fantastischer Bezahlung den Sinn für gesellschaftliche Klassen und Hierarchie wiederentdeckt. Sie selbst tauchen höchstens als Zahlen in einer Produktivitätsstatistik auf. Auch das ist die Neue Wirtschaft. Die Milliarden wandern nach oben, ganz nach oben, über ihre Schultern hinweg, die aber eine immer größere Last tragen. Nun, bald bekommen sie ja Unternehmensanteile, nicht wahr?

Man hat den Beschäftigten Verantwortung übertragen, und im Gegenzug zieht man sie auch für ihre Arbeit zur Rechenschaft. Man hat sie mit Verantwortung überhäuft, im Tausch gegen Streß und Angst. Und man wird sie mit den Mitteln der Pensionsfonds und Aktienoptionen noch einmal einwickeln. Sie sind nicht nur schon die Betrogenen, sondern morgen müssen sie auch noch auf eigene Rechnung arbeiten. In dieser Welt, in der man sich schon an der Tankstelle, im Supermarkt und im Restaurant selbst bedient, ist es ganz normal, daß man auch seine Geschäftsbriefe selbst tippt, unaufhörlich jede anfallende Arbeit erledigt und am Wochenende freiwillig kommt. Denn wen soll man schon zur Pflicht rufen, wenn nicht sich selbst, wo man doch "verantwortlich" ist?

Das Ziel dabei ist, Einsparungen vorzunehmen, indem man so viele Aufgaben wie möglich von ein und derselben Person erledigen läßt: Man schickt seine Faxe selbst, die Telefonistin macht heute Kopien und erledigt morgen die Buchhaltung, der Kfz-Mechaniker, der einen erneutem Streß ausliefert, weil man auf sein Auto warten muß, verkauft einem in der Zwischenzeit Versicherungen. Der Beweggrund ist natürlich, daß der Kunde "Druck" ausübt. Dieser Druck des Kunden bringt den Vertrieb dazu, Druck auf die Produktion auszuüben, damit der verehrte Kunde schneller und billiger an sein "Futter" kommt.

Die große Maskerade der Neuen Wirtschaft besteht darin, daß es gelungen ist, sie als Börsianerin und Finanzier hinzustellen, obwohl es um ein systematisches Zurechtschneiden, ein wahres Massaker der Arbeit geht, wie in guten alten Zeiten. Man spricht nur nicht mehr von "Ausbeutung" (das wäre ja altmodisch), sondern von "Intensivierung" (das hört sich doch korrekter an). Aber der Arbeiter aus Germinal wußte wenigstens, wogegen er sich auflehnen, wem er seinen Haß ins Gesicht spucken konnte, wenn es ihm zuviel wurde. Der leitende Angestellte kann seine Wut nur in sich hineinfressen und dadurch sein Magengeschwür vergrößern. Und wenn er seine Produktivität nicht erhöht, KLICK, zieht ihm der Computer gleich seine drei Aktienoptionen ab. Hier wird nicht mehr mit der Peitsche angetrieben, sondern mit Druck. Das tut genauso weh. Wie bitte, Marx ist tot? Hört ihr denn nicht, wie er sich in seinen Bart lacht?

Der Neostakhanovismus

Inzwischen sehen wir also klarer in dieser wunderbaren Neuen Ökonomie. Machen wir noch etwas Neues, stellen wir der Neuen Wirtschaft den Neostakhanovismus* zur Seite.

* Stakhanovismus: Nach dem russischen Bergarbeiter Alexej Stakhanov, der für seine heroische Arbeitseinstellung mit Pickel und Schaufel unter Tage hohes Lob von Stalin erntete. Stakhanovs Absichtserklärung, so hart wie möglich zu arbeiten, immer darum bemüht, die eigene Leistungsfähigkeit noch weiter zu steigern, wurde zum Modell für die erwünschte Eigeninitiative auf dem Weg ins Arbeiter- und Bauernparadies hochstilisiert. Allerdings hat sich der Stakhanovismus nicht lange gehalten.

Ist es wirklich notwendig, noch einmal daran zu erinnern, daß heute mehr als je zuvor die Unsicherheit (Verzeihung, Flexibilität) und die Ungleichheit dem gelähmten Arbeitnehmer als Krücken dienen? Die Neue Wirtschaft, die in einer groß angelegten Publicity-Aktion als "Freiheit", "Flexibilität" und "Nomadentum" verkauft wird – dieses zauberhafte Wort erinnert an Touaregs und besonders an Zigeuner, die heutzutage so glücklich und frei als Bettler in der U-Bahn kauern –, wird von den Betroffenen als Streß, Druck und neue Armut erlebt, und zwar in ihrer schlimmsten Form: als Armut jener, die sich reich vorkommen.

Der französische Arbeitsmarkt, der von Wirtschaftsexperten und besonders von der OECD jahrelang schlechtgemacht wurde, ist inzwischen sehr flexibel geworden und "reagiert äußerst schnell", wie die Personalchefs sagen. Früher vergingen einige Monate zwischen einer erneuten Marktaktivität und ihrer Umsetzung in Gestalt neuer Arbeitsplätze. Heute reagieren die Unternehmen sofort. Vor vier Jahren verrichteten noch 290.000 Menschen Zeitarbeit, heute sind es 550.000. Flexible Arbeit (Vertretungen, Zeitverträge, Auszubildende, Praktikanten) betrifft mehr als 2 Millionen Menschen, also 15 Prozent der Lohnempfänger. Außerdem arbeiten 17 Prozent der Beschäftigten Teilzeit. Somit ist mehr als ein Drittel der Arbeitskräfte "flexibel" – also nicht weit entfernt von den 50 Prozent in Großbritannien. Ach! All diese Menschen werden so glücklich mit ihren Aktien! Diese Menschen sind übrigens Frauen. Sie sind die vornehmlichen Opfer der unfreiwilligen Teilzeitarbeit. 40 Prozent der Frauen in Teilzeitjobs würden gerne mehr arbeiten. Wir werden dieses Problem wieder aufgreifen, wenn wir uns der Rentenproblematik widmen. Dadurch, daß viele Frauen arbeiten wollen, entsteht ein enormes Potenzial für die Finanzierung der Rente nach dem Umlageverfahren.

Warum handelt es sich bei diesem wunderbaren "Nomadentum" also um Neostakhanovismus?

Der Preis für die beste Dissertation in Wirtschaftswissenschaft, der von der AFSE (Association française des sciences éonomiques) verliehen wird, ging an Philippe Askénazy, der am CNRS (Centre National de la Recherche Scientifique) forscht und übrigens, was seinen Erfolg nicht im geringsten schmälern soll, auch die Lehrerprüfung in Mathematik abgeschlossen hat. Er scheint ein kluger Kopf zu sein.

Das Bild, das er von der neuen amerikanischen Wirtschaft entwirft, ist einfach erschreckend. "Die Umstrukturierung der Unternehmen hat die Häufigkeit von Arbeitsunfällen und arbeitsbedingten Gesundheitsschäden in der Industrie und im Dienstleistungssektor von 20 auf 30 Prozent ansteigen lassen. Dies geht so weit, daß die Versicherungen Druck auf die Firmen ausüben, damit diese ihre Arbeitskräfte davor schützen." Wie soll man das "Paradox von Solow" (Nobelpreis von 1987) erklären, fragt Askénazy: Überall stehen Computer, aber wenn man die wirtschaftliche Lage in den USA insgesamt betrachtet, nimmt die Produktivität nicht bzw. nur gering zu. Die Antwort lautet: Es spielt sich alles in der Reorganisation der Arbeit ab, sprich in der organisierten Unsicherheit (schon wieder, entschuldigen Sie: Flexibilität) ab.

Das Sahnehäubchen des "Nomadentums" (der Freiheit), die dem "Taylorismus" (der Fließbandarbeit) folgt, ist eigentlich eine große und sehr zynische Lüge. Die Flexibilität bringt Vielbeschäftigung, immer weniger Freizeit und immer mehr Verantwortung mit sich, die, wie der Schwarze Peter, dem Arbeitnehmer vom Unternehmer zugeschoben wurde. Die Produktivitätszuwächse sind dem Kapital zugute gekommen (womit die Äußerungen von Aglietta, Askénazy und Solow bestätigt wären), die Arbeit ist wieder zur Knechtschaft geworden – nur wird sie inzwischen "Verantwortlichkeit" genannt.

Der Geniestreich der Neuen Wirtschaft besteht darin, etwas als "Freiheit" zu bezeichnen, das den Leuten im Grunde aufgezwängt wird. Man hat die unfreiwillige Knechtschaft, die Zwangsarbeit wiederentdeckt – fragen Sie nur die Kassierer im Supermarkt. Die Ketten der Neuen Wirtschaft sind subtiler, aber genauso grausam wie die der alten, als die Arbeiter wirklich ans Fließband gebunden waren, um Unfällen vorzubeugen. Das Ziel ist, Sparmaßnahmen in die Tat umzusetzen, indem eine möglichst große Anzahl von Aufgaben von derselben Anzahl von Menschen erledigt wird. Und das Deckmäntelchen lautet natürlich, daß "der Kunde Druck ausübt". Es handelt sich um einen wenig poetischen "Reigen": Der Kunde übt Druck auf den Händler aus, der Druck auf den Hersteller ausübt, der Druck auf den Kunden in der Rolle des Beschäftigten ausübt. Dieser geschlossene Kreis ist ein Konzept, das die Wirtschaft nie aufgeben wird. Schon komisch, wenn man beobachtet, wie die "Kunden" Schalterbeamte anschnauzen, um kurz darauf selbst hinter den Schalter zu treten und von anderen Kunden genervt zu werden.

So kann man dann auch verstehen, warum die Trommler für die Neue Wirtschaft sich daran erfreuen, daß die Arbeitszeit keine Rolle mehr spielt. Denn jeder macht sich seine Zeit selbst; jeder navigiert für sich, streunt und bummelt herum, von einem Vertrag zum anderen, zwei Monate hier, drei Monate dort; und natürlich hätte jedes Gesetz, das die Arbeitszeit (35 Stunden) regeln will, den Anschein, aus der proletarischen Mottenkiste hervorgeholt worden zu sein. Das eigentliche Phänomen der Neuen Wirtschaft ist ein enormer Zeitdruck, der tonnenschwer auf den Schultern der leitenden Angestellten lastet, die zu nichts mehr Zeit haben. Aber nein! Sie können sich doch die Milliarden von Buchtiteln anschauen, die Amazon.com anbietet.

Und die Arbeiter?

Bei ihnen steht es noch schlimmer. Unsichere Arbeitsplätze, Teilzeit, unregelmäßige Arbeitszeit – die Beschäftigungsverhältnisse häufen sich. Wer zuletzt kommt, geht zuerst. Streiks gibt es nicht mehr. Seit fünfzig Jahren war die Anzahl der aufgrund von Streiks verlorenen Arbeitstage noch nie so gering. Flexible Arbeitszeiten, sinkendes Gehalt. Sonntagsarbeit. Marks & Spencer stellt ausschließlich Teilzeitkräfte ein. In Tätigkeiten, die man früher abgelehnt hat, rackern sich heute junge Leute und Frauen ab. Renault ist zu 40 Prozent in staatlicher Hand (es soll Trottel geben, die – ganz Patrioten – glauben, daß man die Unternehmen in Frankreich halten kann, indem man drei Prozent des Kapitals an die Beschäftigten verkauft). Renault – dieses multinationale, allgegenwärtige, göttliche Unternehmen, das sich ausbreitet, indem es überall ein Zentrum und nirgendwo eine Peripherie hat, dieser Spezialist der Kostendämpfung – hat den befristeten Zeitvertrag erfunden, der zu 80 Prozent auf ein Jahr begrenzt ist. Das Unternehmen hat den Arbeitsplatz unsicher gemacht, um für die jungen Leute den Stoßdämpfer zu spielen. Valeo hat die "Pauschale" erfunden, damit keine Überstunden mehr bezahlt werden müssen. (Sind Sie ein "Nomade", eine Führungskraft? Dann werden Sie doch nicht so früh gehen wollen, oder?)

Die Hochtechnologie hat Unsicherheit, Flexibilität und die Zunahme der Vergabe von Aufträgen an Zulieferfirmen hervorgebracht. In den Unternehmen spricht man in diesem Fall von "Auslagerung". Wenn ein Tanker Öl ins Meer kippt, werden die Kosten ausgelagert, also mit anderen Worten der Gemeinschaft überlassen. Die Beschäftigten (kann man sie noch "Arbeitnehmer" nennen?) sitzen immer am kürzeren Hebel. Sie sind gezwungen, ohne zu murren "Ja" zu sagen, sind aggressiv, müssen um Wertsteigerung und gegen die anderen kämpfen. Unsere schöne Jugend wandert nach Großbritannien aus, diesem wunderbaren Land, um sich für 1550 Francs monatlich ausbeuten zu lassen. Von wegen! Die schöne Jugend ist schneller wieder da, als man denkt! Es gibt dort keine geregelte Arbeitszeit, man kann so viele Zeitverträge abschließen und befristete Stellen vergeben wie man will. Ein Recht auf Arbeit existiert im Grunde nicht. Kinderarbeit nimmt stark zu. Die Profite ebenfalls.

Das hat beträchtliche Auswirkungen. Anders als die Wirtschaftswissenschaftler untersuchen die Soziologen den Wandel der Arbeitswelt. "Die Fabrik ist zu einem Ort des Unmuts geworden. Viele Arbeiten werden in Klein- und Mittelbetriebe ausgelagert. Junge Leute, die dort anfangen, bekommen befristete Arbeitsverträge. Die Beschäftigten arbeiten diskontinuierlich, der Arbeitstakt ist schlimmer als am Fließband. Aufgrund der Nachfrageorientierung wird das System immer transparenter. Die Arbeitsräume sind grell beleuchtet – hier kommt zum Zeitdruck noch physischer Streß hinzu. Immer mehr Menschen leiden unter ihrem Arbeitsplatz." Beaud und Pialoux bestätigen die Worte Askénazys: "Berufsbedingte Krankheiten häufen sich." Die Idee der kollektiven Zusammenarbeit verblaßt. Aber besonders interessant ist folgende Beobachtung:

Seitdem die Bedeutung der Unternehmen in den 80er-Jahren wieder zugenommen hat, hat die französische Intelligenz dazu beigetragen, die Arbeiterschaft zu verunglimpfen, indem sie sie als archaisch und rückständig bezeichnete. Inzwischen hat die breite Masse diese Ansicht übernommen, und diejenigen, die immer noch Arbeiter sind, sind in ihren Augen "arme Kerle".

Aber macht Euch keine Sorgen, liebe Arbeiter, auch Ihr werdet Euch eines Tages alle Bücher im Internet auflisten lassen, die Ihr nie lesen werdet, und werdet außerdem von der Börse profitieren, denn die Republik der Aktionäre wurde schließlich auch für Euch geschaffen.

In einer Studie mit dem trockenen Titel "Arbeit und psychische Belastung" (1998) zeichnet DARES ein düsteres Bild dessen, was im Grunde nur "Die Angst am Arbeitsplatz" genannt werden kann. Angst. Wirkliche Angst – jene, die auch Craig Barrett meint. Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, Angst, weniger Lohn zu bekommen – sie trifft auch immer mehr leitende Angestellte, die sich dem Immer-Schneller und dem Just-in-time beugen müssen. Die Studie von DARES erklärt auch jenes amerikanische Paradox, das schon vielen Fachleuten Schwierigkeiten bereitet hat: Warum steigen angesichts der niedrigen Arbeitslosenquote die Löhne nicht? Die Antwort ist höchst interessant: Die Angst ist zur ständigen Einrichtung geworden. Sie ist immer und überall Thema. Die Amerikaner haben die Angst vor der Arbeitslosigkeit so verinnerlicht, daß sie auch dann noch bestehen bleibt, wenn die Quote sinkt – wie das Grinsen der Katze bei Alice, nachdem die Katze schon längst verschwunden ist.

Außerdem hat sich die Lage der Arbeitnehmer nicht wirklich verbessert, seitdem die Arbeitslosigkeit zurückgegangen ist. Ein erstaunlich hoher Anteil der Bevölkerung sitzt im Gefängnis (zwei Prozent der männlichen Erwachsenen hinter Schloß und Riegel! Da reibt man sich doch die Augen, oder?). Einige sind überhaupt nicht mehr beim Arbeitsamt registriert, weil sie die Arbeitssuche frustriert aufgegeben haben. Es gibt eine Menge working poors, Berater, die sich Berater nennen, weil sie sich schämen, als arbeitslos zu gelten, und Saisonarbeiter, die in keiner Statistik erfaßt werden. Unterbeschäftigung bleibt weiterhin ein Problem.

Die Auswirkungen sind so schlimm und auch dermaßen kontraproduktiv, daß sogar die OECD – diese Organisation der Unterdrückung, diese feine Gesellschaft, die einst die Flexibilität der Arbeit beweihräuchert hat und nun von ihr verfolgt wird; diese erbärmliche OECD, die klammheimlich das MAI (Multilaterales Abkommen über Investitionen) vorbereitet hat; diese Vereinigung, die angesichts der Inflation ständig Alarm schlägt und Lohnkürzungen für notwendig hält, die den tariflich festgesetzten Mindestlohn abschaffen will, die die Arbeitnehmerschaft ausradieren möchte, um neue Stellen zu schaffen und die Situation der Arbeiter zu verbessern; kurz: diese Organisation, in der wohl die größte Ansammlung von Schwachköpfen und Lakaien pro Quadratmeter der wirtschaftlichen Galaxie vertreten ist (die europäische Zentralbank mal ausgenommen), – daß die OECD sich nun endlich rührt. Denn sogar die OECD erkennt, daß "die Flexibilität unwirtschaftlich sein könnte".24 Beinahe acht von zehn Beschäftigungsverhältnissen basieren auf Zeitverträgen, sorgt sich die neue Freundin der Schwachen ... Nun, "die schlechte Arbeitssituation hat ihren Preis". Das ganz sicher. Also kommt die OECD dann doch auf die Idee, daß ein garantierter Mindestlohn vielleicht keine schlechte Sache ist! Was haben sie denn auf einmal, diese hörigen Experten?

Haben sie etwa Angst, daß der "Sozialplan" bedroht sein könnte?

Die Verteilung

Die grundlegende Frage der politischen Ökonomie, die einzig wirklich wichtige Frage (oh, Ricardo!) ist jene der Verteilung. Wer schneidet den Kuchen? Wer verteilt die Stücke? Und wer bekommt was?

Mit dem fordistischen Kompromiß, dem politischen Kompromiß der glorreichen 30 Jahre von 1945 bis 1975, konnte man die Verteilung sehr einfach nach dem Lohnaufkommen regeln, da die Arbeitsproduktivität stetig zunahm. Nachdem dann ein sicherer Arbeitsplatz nicht mehr garantiert werden konnte, entwickelten sich andere Formen der Motivation und der Bindung an das Unternehmen. Die Löhne steigen kaum noch. Aber die Gewinne und Kapitalerträge wachsen gewaltig. Einigen Beschäftigten, denjenigen auf den "höheren" Posten, wird ein neuer Anreiz geboten: Aktienoptionen, die eine zukünftige Wertsteigerung des Unternehmenskapitals in Aussicht stellen. Wenn Sie gut arbeiten, wird Ihr Unternehmen einmal viel Geld wert sein. Sie bekommen eine Option auf den zukünftigen Wert des Unternehmens und werden damit zum Arbeiten angehalten. Sie tragen mit dafür "Verantwortung".

"In den USA", so Michel Aglietta, "gibt es zig Millionen Privatanleger, und Beteiligungen an Unternehmen sind gang und gäbe. In den letzten Jahren hat vor allem die zunehmende Zahl der Privatanleger den amerikanischen Konsum angekurbelt: Durch die Unternehmensgewinne steigen die Aktien und das Vermögen der privaten Haushalte, die daraufhin noch mehr konsumieren und die Gewinne weiter anwachsen lassen: noch ein wunderbarer Kreis, der sich schließt." Es geht nicht mehr um die Gleichung: mehr Gehalt gleich mehr Konsum gleich mehr Profit, sondern um die Gleichung: mehr Profit gleich mehr Beteiligung für die Beschäftigten gleich mehr Konsum gleich mehr Profit.

Aber so ganz stimmt das alles nicht. Im Verhältnis gesehen verteilen die amerikanischen Unternehmen weniger Gewinne (und machen übrigens auch weniger) als die europäischen. Aber, wie wir gesehen haben, "rechnen" die amerikanischen Haushalte mit den Gewinnen. Vielleicht handelt es sich also um eine weitere sich selbst erfüllende Prophezeiung: Ich rechne mit Gewinn, also konsumiere ich schon jetzt, indem ich meine zukünftigen zusätzlichen Einkünfte bereits heute ausgebe – wodurch die Unternehmen dann tatsächlich Profit machen und ich wirklich zu dem Wertzuwachs meines Vermögens komme, mit dem ich gerechnet habe. Das ist das virtuelle Wirtschaftswunder.

Das ist also der Deal, die neue Teilung, die man den Opfern der neuen Ökonomie anbietet: Krümel vom Gewinn. Ihr Gehalt sinkt? Ihre Arbeit ist furchtbar? Sie haben keine Aussicht auf Rente und ihre Kinder werden aller Wahrscheinlichkeit nach keine bessere Position erreichen können als Sie selbst? Ihr Sohn wird also Informatiker in leitender Position wie Sie? Die Erwartung des zukünftigen Gewinns wird Sie schon aufrichten.

Und auf der anderen Seite?

Fassen wir zusammen. Die technische Revolution hat eine fantastische Umstrukturierung der Arbeit bewirkt, hin zur flexiblen, befristeten, unsicheren und vorübergehenden Beschäftigung. Es ist kein Geheimnis, daß diese Revolution die Produktivität und die Rentabilität des Kapitals beträchtlich erhöht hat. Die Gewinne sind logischerweise explosionsartig gestiegen. Die Beschäftigten sind, im wahrsten Sinne des Wortes, radioaktiv verseucht worden und zu Staub zerfallen. Das, was mal Teamarbeit war, ist zerstückelt und zersplittert, und nicht einmal der Einheitsarbeitstakt am Fließband oder in der Werkhalle verbindet die Kollegen noch miteinander. Einige Soziologen, darunter Pierre Naville, haben das schon lange vorausgesehen.

Die Beschäftigten streiken nicht mehr – die Unsicherheit, die ständige Angst, der Zeitdruck und die freiwillige Knechtschaft sind zu einem festen Bestandteil ihres Lebens geworden. Sie verfügen über keinen "republikanischen" Eifer mehr: Ich war Arbeiter, mein Sohn, aber du wirst leitender Angestellter, nachdem du studiert hast, so wie der Sohn des Lehrers Ingenieur oder Universitätsprofessor geworden ist. Der studierte Informatiker in der Führungsetage weiß, daß sein Sohn nicht mehr erreichen wird: er wird, genau wie er selbst, ein Diplom haben, aber einer unsicheren Beschäftigung nachgehen. Und genau wie er wird er keinem offensichtlichen Feind mehr gegenüberstehen. Die Arbeitnehmer (man muß dies eigentlich nicht noch einmal betonen) verfügen nicht mehr über einen Gegenentwurf zum "ewigen" Kapitalismus – gegen eine Gottheit läßt sich schwer angehen. Das Unternehmen ist "barbarisch" geworden, wie der Titel eines Buches lautet: die Neue Wirtschaft, geschmückt mit dem Flitter des Internets, ist es auch.
Und auf der anderen Seite? Wer befindet sich auf der anderen Seite des Zaunes, den die Beschäftigten so schnell wie möglich überwinden wollen? Alte Menschen und wohlhabende Rentner. Einer der großen Wandel in der westlichen Welt ist die demographische Verschiebung. Fortan nehmen die Alten und die Rentner gegenüber der arbeitenden Bevölkerung eine bedeutende Rolle ein.

Was steht zwischen den beiden? Ein Mythos. Ein Eldorado. Die explosionsartige Entwicklung der Börse und des Internets. Was soll man diesen 30-jahrigen Beschäftigten raten, die noch nie so viel gearbeitet, produziert und geforscht haben und doch erkennen müssen, daß nach ihnen nur sie selbst kommen, nämlich wieder Beschäftigte, die mit der Unsicherheit und dem Druck klarkommen müssen und jederzeit bereit sind, sich zu opfern, noch mehr zu erfinden und immer mehr zu produzieren? Wer kann da etwas anderes sehen als wachsende Ungleichheit unter den Beschäftigten und eine immer größere Kluft zwischen Nord und Süd? Wer sieht denn nicht, daß es unmöglich geworden ist, den Kindern eine bessere Zukunft zu bieten? Die Kinder vom Mai ’68, die heute in den Fünfzigern sind, haben sich dagegen schön aus der Affäre gezogen, im Vergleich zu der fleißigen Generation, die ihnen vorangegangen ist: Wer von ihnen ist nicht Werber, Medienmogul oder Chef eines Software-Unternehmens geworden? Seht ihr denn nicht, daß man als Beschäftigter nicht weiterkommt, und vor allem, um es noch einmal zu wiederholen, daß die eigenen Kinder nicht mehr erreichen können? Im Gegenteil, sie müssen mit weniger auskommen, sie werden mit weniger sauberer Luft und mit weniger klarem Wasser leben müssen. Wie kann man die Dreißigjährigen dazu bringen, die unglaublich ungerechte Verteilung des Reichtums zu schlucken? Durch die Börse. Durch die Republik der Aktionäre.

Diese Welt der Unterdrückung, der Ungleichheit und des Überflusses, in der unvorstellbare, womöglich virtuelle, aber sehr symbolische Summen hin- und hergeschoben werden, bedarf schon einer sehr guten Rechtfertigung. So dankt man einem Firmenchef, dessen Geschäftsführung der Übernahme durch den Konkurrenten zugestimmt hat, mit einem Gehalt und Aktienoptionen in Höhe von 300 Millionen – manche sagen auch 200, andere wiederum 400. Es ist schon eine zynische Welt, wenn der gleiche Firmenleiter eine neue Firma namens Stock Option ins Leben ruft. Was ist das für eine Wunderwelt aus 1001 Nacht, in der ein Krösus ein Vermögen macht, indem er auf seiner Tastatur klimpert? Zweifellos eine Welt der Kapitalisten, Unternehmer, Händler, Geldmacher, Eigentümer und Aktionäre ... Und? Na, werden Sie Aktionär! Werden auch Sie Teil der neuen Republik! Die Börse empfängt Sie mit offenen Armen!

Und wenn Sie nicht ganz überzeugt sind von dieser wunderbaren Welt der Aktienoptionen, der Start-ups, des schnellen Reichtums, der sich viel schneller einstellt als in den Zeiten des Goldrauschs und Ölfiebers, dann wird ein anderes Argument auf den Tisch gebracht, das immer zieht: die Angst. Entweder das oder nichts. Aktien oder Tod. Wenn Sie nicht Aktionär werden, gibt es keine Rente und eines Tages auch keine Krankenversicherung, und, früher oder später, auch keine Möglichkeit, ihre Kinder an Internet-Hochschulen studieren zu lassen (denn schon seit langem möchte Steve Ballmer, Chef von Microsoft, den Campus abschaffen – was sind wir doch gerne über den amerikanischen Campus gebummelt! –, um ein "interaktives" Online-Studium zu verwirklichen.)

Aber die Verführung wird immer von Angst begleitet: Ist eine Welt, in der es "keinen Klassenkampf mehr gibt", nicht wunderbar? Zu Anfang dieses neuen Jahrhunderts häufen sich die Anspielungen auf Marx in bemerkenswertem Ausmaß, als wolle man ihn austreiben: "Marx auf den Müll", meint einer. "Und wenn Marx mit der Neuen Wirtschaft sein Ziel erreicht hätte?", meint ein anderer, Guru der Neuen Wirtschaft und Marxist in einer Person. Denn in der Neuen Wirtschaft wird jeder über das Internet so viel bekommen, wie er benötigt, und so viel geben, wie ihm als Cybernauten möglich ist. Dan Sperber, Manuel Castells – es wimmelt nur so von Cyber-Gurus.

Globalisierung, Verelendung

Diese Neue Wirtschaft kommt uns doch sehr veraltet vor ... Schikanierte Arbeitnehmer, explosionsartige Gewinne, Rentiers auf dem Gipfel der Macht. Und alle werden durch den Trick gelockt, der "wunderbarer Fortschritt des Wissens" genannt wird und der Menschheit, genauso wie das Handy (wenn man dem Versprechen der Werbung glaubt), zu besserer Kommunikation, Verständigung, Liebe und Harmonie verhilft. Diejenigen, die am liebsten alle Handybesitzer lynchen würden, wenn sie im Restaurant, im Zug oder im Kino telefonieren, sind nur Griesgrame, die nicht einsehen wollen, daß Publicity eine Kunst und nicht etwa ein schäbiger Verkaufstrick ist. Außerdem taucht Lärmbelästigung ebenso wenig wie Ölteppiche im Bruttoinlandsprodukt auf.

Die Neue Wirtschaft verspricht also Riesengewinne und eine nie dagewesene Zunahme der Ungleichheit. Diese Wirtschaft verteilt das Sozialprodukt ganz schamlos zu Gunsten der Reichen. Diese Wirtschaft ist Zeuge einer Tyrannei der Rentiers, die zu der der großen und kleinen Chefs hinzukommt. Diese Wirtschaft läßt immer mehr Menschen am Wegesrand liegen. Denn Globalisierung bedeutet in Wahrheit eine Gleichschaltung der Verhaltensweisen von französischen und amerikanischen multinationalen Unternehmen (Renault benimmt sich wie ein kleiner Disney und senkt mit aller Kraft die Kosten, um den Pensionsfondsmanagern mit zitternden Gliedern und hochrotem Kopf 15 Prozent Rendite zu präsentieren – diese sind mit 5 Prozent beteiligt und haben dennoch Befehlsgewalt ... Ist das nicht rührend?). Zur Realität dieser Wirtschaft gehören außerdem, wie Alvin Toffler in einem Interview mit L’Express erläutert, "Elendsviertel, die sich wie Lepra auf der ganzen Erde ausbreiten, nach dem Muster von Rio oder Abidjan." Wie kann sich ein solches System nur hinter dem Schlagwort "neu" verstecken?

Aber die Neue Wirtschaft lädt uns ein ins Paradies, in ein Paradies der Milliardäre, der jungen Erfolgreichen, die sich doch eigentlich nicht besonders von uns selbst unterscheiden, oder? Sie tragen Jeans und Nike-Turnschuhe, wie der Unternehmensvorstand von Nike, ein ehemaliger Hippie, der nun Kinder in Indonesien ausbeutet. Ihnen gehören Millionen von Aktien und uns wollen sie ein halbes Dutzend davon abgeben. Ist das etwa kein verführerisches Angebot?

Leider! Michel Aglietta ist ein großer Ökonom. Er hat ein Buch mitverfaßt, das noch Epoche machen wird. Und doch erklärt er sich, trotz einiger Vorbehalte, mit der Republik der Aktionäre einverstanden und engagiert sich mehr für die Börse als für das Leben. Er erinnert an das unvermeidliche Problem der Wirtschaft: die Verteilung. "Der Kapitalismus kann nur überleben, wenn er die Schaffung von Vermögen mit dessen Verteilung vereinbart." Ja! Einverstanden. Aber wie soll das funktionieren? Belegschaftsaktien, sagt Michel Aglietta.

Darauf lassen wir die Arme wieder sinken.

Nachdem der Kapitalismus das Problem der Übersättigung meisterhaft gelöst hat, weil er dem Haß der 68er-Generation auf die Konsumgesellschaft den Verbraucherschutz entgegensetzte, das heißt einen Massenkonsum von "freien" Produkten (die No-Name-Artikel im Supermarkt) und die Herrschaft der großen Discounter, die den Kunden Müll zum Fressen vorwerfen, ist er nun auf dem besten Wege, das Problem der Verteilung zu lösen. Und nebenkei beseitigt er auch den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, zwischen Besitzenden und Arbeitnehmern! Denn wir sind doch alle Kapitalisten. Warum auch nicht? Andere meinten, wir wären alle "Arbeiter" – daraus entstand dann der Gulag.

Aber der Markt schreitet unweigerlich voran. Professor Hoppe wird sich freuen. Bald wird er eine Gasmaske vor dem Gesicht haben, mit der er berechnen kann, wieviel Luft er einatmet. Das Bruttoinlandsprodukt seines Landes wird sich bis dahin bestimmt verzehnfacht haben und der "Wert", der auf die Aktionäre verteilt wird, liegt sicher tausendmal so hoch.

Der Markt schreitet voran, angetrieben durch diejenigen, die den öffentlichen Sektor verschleudern.

Privatisierungen

Lassen Sie uns ein wenig träumen. Wir befinden uns im Jahr 2084. Frankreich ist eine riesige Aktiengesellschaft geworden, und alle Franzosen sind Aktionäre. Das Ende eines langen Weges. Der Garten Eden. Der Markt ist überall. Der öffentliche Dienst, Schulen und Universitäten, die Polizei, der Gesundheitsbereich – alles ist privatisiert. Kunst, Meinung, Mode – alles gehört zur Welt des Handels. Die Wertschöpfung als einzige Referenz. Es gibt kein Parlament mehr. Jedes Jahr tritt eine Hauptversammlung zusammen, die die Bilanz der Frankreich AG vorstellt und die Dividende festsetzt, die den glücklichen Anteilseignern zukommt. Die Verteilung, also die Anzahl der Aktien, die sie halten, wird "gerecht" vorgenommen. Auf diese Weise hat man nun endlich das alte Prinzip der Gleichheit verwirklicht. Jedem das, was er verdient, je nachdem, wieviel er zur "Wertschöpfung" beiträgt. Selbstverständlich nehmen die Modernen, die Cleveren, die Mobilen, die High-Tech-Konsumenten, die CAC 40- und Dax-Abhängigen und die Wettbewerbssüchtigen den "gerechten" Löwenanteil für sich in Anspruch, der natürlich den Anteil derjenigen übersteigt, die sich nicht um neue Investitionen oder die Entwicklung des Dow Jones kümmern und auch nicht davon träumen, ihr eigenes Unternehmen zu gründen. "Gerecht". Jeder, wie er will, auf eigene "Verantwortung". Wenn du nicht spielen willst, gibt es auch keine Jetons, ist doch klar. Du magst wohl keinen Wettbewerb?

"Berechtigung, Verantwortlichkeit, Wettbewerbsfähigkeit". Das ist die neue Devise, die das alte Motto "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" an den Eingängen von öffentlichen Gebäuden ersetzt, die allesamt Immobilienfirmen übergeben wurden. Die Frankreich AG wird auf dem Weltmarkt notiert. Sie ist eine Tochtergesellschaft der Europa AG neben der Italien AG, der Deutschland AG und vielen anderen. Die große europäische Debatte dreht sich darum, wieviel Eigenständigkeit man den Tochterfirmen zugesteht. Die Befürworter der Integration sprechen sich für eine vollständige Fusion aus, um einen eigenständigen Kontinent zu schaffen, der sich gegenüber der mächtigen Amerika AG (an der die USA, Kanada und Südamerika beteiligt sind) und besonders der aufstrebenden China AG und Indien AG behaupten kann. Die Befürworter der Eigenständigkeit wehren sich gegen eine Fusion, die Frankreich nicht mehr erlauben würde, als Minderheit Entscheidungen zu blockieren. Nun spricht man also endlich über entscheidende Dinge, unter wichtigen und verantwortungsbewußten Menschen. Wir haben endlich das Ende der Geschichte erreicht!

Die abgeschmetterte Debatte um das öffentliche Eigentum

Wachen wir wieder auf. Noch sind wir nicht dort angelangt. Aber wir sind auf dem besten Weg dahin, Schritt für Schritt. Die Privatisierungswelle, die wir in den letzten fünfzehn Jahren beobachtet haben, ist ein untrügliches Zeichen dafür. Privatisieren heißt, den Besitz der Gemeinschaft zu schmälern und neuen Aktionären zu ermöglichen, das Börsenparadies zu entdecken. Und das alles, weil das Ende der Ideologien verkündet wird. In dieser generellen Entwicklung stellt Frankreich eine Ausnahme dar (eine zu viel, würden die Befürworter der Globalisierung sagen). Frankreich ist tatsächlich die einzige Industrienation, die in den letzten zwanzig Jahren eine massive Verstaatlichung vorangetrieben hat und damit Privatisierungen nur dort zuläßt, wo sie unvermeidlich sind. An dieser Stelle sollte man huldigende Worte für die Sozialisten finden, die großen "Verstaatlicher", die sich in den Kopf gesetzt haben, sie könnten "das Leben ändern" und "mit dem Kapitalismus brechen", und dabei zu großen "Privatisierern" geworden sind, weil sie sich ja den neuen Gegebenheiten der globalen Wirtschaft anpassen mußten. Sie geben übrigens zu, daß sie nicht in der Lage sind, die Wirtschaft zu steuern.

Es wäre ein Fall von Gedächtnisschwund, wenn man ihnen deswegen jetzt Vorwürfe machte. Man würde vergessen, daß die Linken in der Regierung sich im Laufe der Jahre einem streng orthodoxen Wirtschaftsglauben angeschlossen haben. Ebenso, daß die Verstaatlichungen von 1981 schon vor zwanzig Jahren eine überholte Maßnahme der Aneignung durch die Gemeinschaft darstellten. Denn es war eine ziemlich dumme oder gerade deshalb ganz schön altmodische Idee, einen weitestgehend geschwächten Kapitalismus durch staatlichen Kapitalismus ersetzen zu wollen. Aber genau so haben sich die Dinge entwickelt. Anfang der 80er-Jahre sahen sich die staatlichen Unternehmen, die doch eigentlich die Lanze für den Durchbruch brechen sollten, den gleichen Prinzipien unterworfen wie ihre privaten Gegenstücke. Rentabilität und Wettbewerbsfähigkeit waren auch hier die Schlagworte, Umstrukturierungen wurden ebenfalls mit dem Holzhammer durchgeführt, der Aktionär Staat lenkte alles (aber nicht für alle!) zum Guten. Die Geschäftspläne der verstaatlichten Unternehmen standen denen der Familie Peugeot oder der Dynastie Michelin in nichts nach. Kapitalismus bleibt nun mal Kapitalismus, auch wenn er vom Staat kommt. Die Beschäftigten in den Stahlfirmen, die einmal dem Staat gehörten, können ein Lied davon singen. Sie wissen so gut Bescheid, daß kaum einer auf die Straße gegangen ist, als ihre Betriebe privatisiert wurden. Wen wundert’s?

Die von der jetzigen Regierung großgeschriebene Ehrlichkeit verlangt auch, daß bei einer Bestandsaufnahme Fehler zugegeben werden. Man wird eingestehen müssen, daß die Verstaatlichungen, so wie sie in der Wirtschaft vor dem Krieg durchgeführt wurden, überholt waren, und die Aneignung durch die Gemeinschaft eigentlich andere Formen hätte annehmen müssen, als den Staat zum Unternehmenschef zu machen. Ein solches Eingeständnis wäre nicht nur ehrenhaft, sondern könnte auch dazu beitragen, die Diskussion wieder auf das Gemeineigentum zu lenken – ein Thema, das wie nie zuvor auf den Nägeln brennt, ob es nun um die Sicherung der öffentlichen Dienste geht, mit der Garantie, daß allen Bürgern die gleichen Chancen und gleichen Nutzungsrechte eingeräumt werden, oder die Verwaltung der gemeinschaftlichen Ressourcen, die unentbehrlich und knapp sind, wie zum Beispiel Luft und Wasser.

Aber diese Debatte findet nicht statt. Man spricht lieber über Belegschaftsaktien. Mangels einer Auseinandersetzung hat man einfach pragmatisch gehandelt, was den Wirtschaftsexperten ja besonders gut gefällt. Jospin tritt also in die Fußstapfen von Balladur und Juppé und schwört dabei natürlich, daß ihm nichts anderes übrigbleibt. Denn die Regierung privatisiert nicht gerne. Sie wird durch Brüssel gezwungen, das internationale Allianzen für absolut notwendig hält. Sie muß die internationalen Investoren von ihrem guten Willen überzeugen. Manchmal genügt es sogar, "Investitionen oder Allianzen wohlwollend zu dulden". Erkennen Sie den Unterschied? Nein? Sie haben Recht. Denn im Grunde ist eine derartige Duldung das gleiche wie eine Privatisierung. Und der Beweis? Der Staat ist Hauptaktionär von Renault. Erzählen Sie das einmal den Beschäftigten von Vilvorde oder Nissan! Eigentlich ist es ganz simpel: Sobald ein Unternehmen einen noch so geringen Teil seines Kapitals an der Börse notiert, ist es de facto privatisiert. Warum? Ganz einfach, weil die neuen Aktionäre von der Unternehmensleitung vergleichbare Strategien und Resultate wie bei anderen Unternehmen fordern. Deshalb verfolgt Renault auch eine sehr ähnliche Unternehmenspolitik wie Peugeot oder Daimler-Chrysler, obwohl der Staat die meisten Anteile hält! Nebenbei bemerkt läßt sich hieran auch erkennen, über wieviel Macht Kleinanleger und Inhaber von Belegschaftsaktien wirklich verfügen.

Privatisierungen sind also etwas ganz Alltägliches geworden. Wahrscheinlich hat höchstens Edouard Balladur zu heulen angefangen, als die Presse eine Bilanz vorlegte, aus der hervorging, daß Jospin mehr privatisert hat als er. So wie die Dinge stehen, wird er wohl nicht aufhören zu flennen ...

Man wird doch zugeben dürfen, daß diese Privatisierungen, die zu einer gängigen Praxis geworden sind, uns ein wenig melancholisch stimmen und vor allem ratlos machen. Immerhin geht es darum, einigen wenigen ein Vermögen zu verkaufen, daß eigentlich allen zusteht. Wie sollte man das nicht als Raubbau am Besitz der Gemeinschaft empfinden? Damit erklärt sich die Melancholie. Die Ratlosigkeit betrifft die Umstände dieser Maßnahmen: Man erklärt uns urbi et orbi, daß die Interessen der Gemeinschaft gewahrt werden, und garantiert gleichzeitig dem Käufer Gewinn.

1982 erwiderte ein eifriger Finanzminister der rechten Opposition, die "Entstaatlichungen" forderte (man wagte noch nicht, von Privatisierungen zu sprechen): "Welche privaten Unternehmen wären denn überhaupt in der Lage, diese Käufe zu tätigen? Soll man etwa Peugeot bitten, Renault zu übernehmen? Also fragen sie lieber die Lohnempfänger und Sparer, ob sie nicht Anleger bei den staatlichen Firmen werden möchten. Aber genau an diesem Punkt tritt ein grundlegender Widerspruch zu Tage: Wenn diese Unternehmen schlecht geführt werden und Verlust machen, würden die Anleger doch betrogen. Wenn sie aber gut laufen und Gewinn abwerfen, warum soll man sie dann privatisieren?" Diese Argumentation von Laurent Fabius scheint vernünftig und ist zumindest eine Debatte wert. Aber damals rechnete man noch nicht mit dem "Pragmatismus".

Was ist also passiert? Die Rechte hat die gut gehenden Unternehmen privatisiert, und zwar im Namen der liberalen Ideologie, die fordert, daß der Einfluß des Staates eingeschränkt wird. Dabei wurde außerdem dem Prinzip Folge geleistet, daß man Gewinne privatisieren und Verluste der Gemeinschaft überlassen soll. Die Linke, ganz folgsame Tochter, hat sich dem Flottmachen der flügellahmen Unternehmen gewidmet, im großen Rahmen subventioniert und Stellenabbau betrieben, um die Unternehmen dann dem Markt zu übergeben – das alles im Namen des ... Pragmatismus! Wenn man den Experten Glauben schenkt, haben dabei alle gewonnen. Die öffentliche Hand hat ihre Kapitaleinlage mit Bonus zurückbekommen, und die Anleger haben mit Blick auf die Kursentwicklung der Aktien von "privatisierten" Unternehmen bestimmt keinen schlechten Tausch gemacht. Also: weiter so, nur nicht stehenbleiben! Die Privatisierungen haben die Menschen nur glücklicher gemacht! Oder?

Wer setzt den Preis für privatisierte Unternehmen fest?

Wenn man weiß, daß der Preis für private Übernahmen von der Börse festgesetzt wird, ist man wohl nicht mehr so glücklich. Wie? Sie wußten das nicht? Sie haben gedacht, der Staat würde den Preis festlegen? Wie naiv! Wenn sich die Regierung entscheidet, ein staatliches Unternehmen zu verkaufen, beauftragt sie eine Investmentbank mit einer Expertise, um sich beraten und das Objekt bewerten zu lassen. Das fragliche Unternehmen macht das gleiche. Die beiden Gutachten werden verglichen und daraufhin wird eine bestimmte Preisspanne festgelegt, die der Kommission für Beteiligungen und Transfers vorgelegt wird, die dann einen Mindestbetrag festsetzt. Wie wird dieser Preis ermittelt? François Lagrange, Präsident der besagten Kommission, hat es in Les Échos erklärt: "Der empfohlene Preis errechnet sich aus einer Analyse vieler Kriterien, unter Berücksichtigung des neubewerteten und konsolidierten Reinvermögens, des Vergleichs mit ähnlichen börsennotierten Unternehmen, des aktualisierten Cashflows, der Liquidität oder der Dividenden sowie der geplanten Unternehmensentwicklung, deren Glaubwürdigkeit mit Blick auf die Konkurrenz und das Management untersucht wird. Eine schwierige Aufgabe." Da hat Lagrange Recht, eine wirklich schwierige Aufgabe. Aber er sagt nur die halbe Wahrheit. Denn zu den Bewertungskriterien gehört natürlich auch der Börsenkurs von Unternehmen der gleichen Branche, also das Urteil des Marktes. Letzten Endes ist der Börsenwert das ausschlaggebende Kriterium.

Wer die Vorgehensweisen der Akteure am Markt (dem eleganten Wort für Börsianer, das doch zu gewöhnlich klingt) kennt, dem läuft nun bestimmt ein Schauer über den Rücken. Denn eine Börsenhysterie kann immer zwei Richtungen einschlagen. Wenn man in einer Phase der Euphorie verkauft, kann man den Jackpot schon knacken. Umgekehrt aber, beim Durchschreiten einer Talsohle, macht man schnell eine Bauchlandung. Somit hängt die Bewertung eines Unternehmens also auch vom Zufall ab.

Und sogar Alain Juppé hat das eines Abends in einer Fernsehsendung zu erkennen gegeben, als er unter anderem erläuterte, daß Thomson Multimédia, eine Tochter der Thomson-Gruppe, einen Franc wert sei und man unter diesen Umständen heilfroh sei, wenn man sie der starken koreanischen Unternehmensgruppe Daewoo andrehen könne. Die Wirtschaftsexperten stimmten allesamt traurig zu. Letzten Endes kam der Deal aber nicht zustande, aufgrund eines negativen Bescheids der Ad-hoc-Kommission. Was geschah dann? Folgendes: Der Staat sah sich gezwungen, Thomson Multimédia zu behalten, machte das Unternehmen mit 11 Milliarden Francs wieder flott und öffnete das Firmenkapital für Anleger, die insgesamt zwei Milliarden Francs investierten. Zwei Jahre später ging Thomson Multimédia an die Börse. Noch am Tag des Börsengangs stieg der Kurs um 35 Prozent. Der Börsenwert von Thomson Multimédia betrug damit 20 Milliarden Francs. Im Februar 2000 war Thomson Multimédia "an der Börse" 100 Milliarden Francs wert. Wie kann man sich doch täuschen! Aber das ist noch nicht alles. Die "starke Unternehmensgruppe Daewoo", dessen Chef Management-Kurse gab, ist pleite!

Transparenz und Manipulation

Was für die Bewertung eines Unternehmens zutrifft, gilt oft auch für seine Bilanzen. Möchten Sie wieder ein Beispiel? Alcatels Unternehmensvorstand Pierre Suard mußte gehen, nachdem ein Verfahren gegen ihn eingeleitet worden war – wegen einer Affäre um Arbeiten an seinem Privathaus, die angeblich vom Firmenkonto bezahlt worden waren. Kaum ernannt, verkündete sein Nachfolger Serge Tchuruk dem Verwaltungsrat, daß die Firma keinen Gewinn mache und es deshalb notwendig sei, 25 Milliarden Francs Rückstellungen aufzubringen (man benötigt Rückstellungen sowohl zur Finanzierung von in der Vergangenheit aufgelaufenen als auch von zukünftigen Verlusten). Der Verwaltungsrat nahm den Vorschlag einstimmig an. Kurze Zeit vorher hatte er genauso einhellig die von Suard vorgelegten Bilanzen gebilligt, aus denen ein Gewinn von einigen Milliarden hervorging. Kein einziges Mitglied des Verwaltungsrates ist zurückgetreten, zu dem übrigens auch ein gewisser Marc Viénot gehört, Chef der Société Générale und Autor eines 1997 verfaßten Berichtes über Transparenz und vorbildliche Unternehmensführung! Was soll man dem noch hinzufügen?

Aber, werden Sie sagen, zwei Beispiele, so spektakulär sie auch sein mögen, können doch nicht die Regel sein. Das stimmt. Zumindest kann man aber anhand dieser Beispiele deutlich machen, wie komplex finanzielle Operationen eigentlich sind, die ja sonst nur allzu gerne als völlig banal dargestellt werden. Von einem Skandal zu sprechen wäre unangemessen. Die Wahrheit ist viel einfacher: Die Methoden bei Privatisierungen sind einfach pervers. Die Karten sind gezinkt. Die Interessen der öffentlichen Hand und die der Käufer sind unvereinbar. Sobald der Staat seine Absicht zu verkaufen kundtut, ist er der Schwächere. Wenn er dann verkauft, versucht er nicht den höchstmöglichen Preis zu erreichen, sondern denkt eher an eine Summe, mit der er nicht als Verlierer dasteht, damit er dadurch noch Investoren anlocken und in dem Glauben wiegen kann, daß sie sehr viel Geld machen werden. Das stimmt genauso wie die inzwischen allgemein bekannte Tatsache, daß der Emissionskurs an der Börse vom Finanzministerium um etwa 10 Prozent unterbewertet wird, womit man es einigen gewitzten Kerlen ermöglicht, am gleichen Tag zu kaufen und zu verkaufen. An der Börse nennt man das "einen Treffer landen". So etwas kann man sich doch nicht ausdenken!

Welche Bilanz der Privatisierungswelle läßt sich über den rein rechnerischen Vergleich hinaus (der, wie wir gesehen haben, auch vom Zufall abhängt) noch ziehen? Eines der Ziele war, "die Franzosen an die Börse zu gewöhnen" und mit dem Aktienbesitz einen neuen Trend zu schaffen. Das war wohl ein Flop. Ein Flop, wie ihn nur eine große landesweite Kampagne landen konnte, die allen die wunderbare Welt des Börsenindexes CAC 40 erschließen wollte. Warum ist die Aktion gescheitert?

Einige kluge Köpfe (oder diejenigen, die sich dafür hielten) haben sehr schnell Gewinn gemacht, indem sie ihre gerade erworbenen Aktien wieder verkauften. Andere waren geduldiger und sind auch dafür belohnt worden. Man braucht schon Nerven, um seine France Télécom-Aktien nicht für 1075 Francs (Kurs im Februar 2000) zu verkaufen, wenn man sie im Oktober 1997 für ... 182 Francs gekauft hat! Generell haben sich die Newcomer, die die Börse aufgrund der Privatisierungen für sich entdeckt haben, nur für diese Art von Wertpapieren interessiert. Einige Millionen Franzosen haben also ein Portfolio, das sich ausschließlich aus Aktien privatisierter Unternehmen zusammensetzt. Diese haben mehr oder weniger Gewinn gemacht. Manchmal einen ganzen Batzen, manchmal bescheidenere Summen – je nachdem, wie sich die neuen Verantwortlichen in den Unternehmen und der Markt "entschieden" haben.

Die Ausländer kommen

Die Franzosen waren aber nicht die einzigen, die sich für privatisierte Unternehmen interessierten. Auch Ausländer haben sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen. Und das vor allem, weil sie gewußt haben, daß es für eine Regierung gleich welcher Partei gefährlich ist, wenn sie ihre Bürger dazu ermuntert, Anleger zu werden, und sie damit ein hohes Risiko eingehen läßt. Als sie dann noch fanden, daß zweifellos einige "interessante" Geldanlagen im Angebot waren, gingen sie vergnügt einen Schritt weiter, zumal einige privatisierte Firmen inzwischen zu den mächtigsten Unternehmen Frankreichs zählten und folglich ihr Kapital bedeutend genug wäre, nur für einen liquiden Markt zu sorgen. Auf diese Weise sind die ausländischen Investoren zu den Königen des CAC 40 geworden – des Aktienindexes, der die größten französischen Firmen zusammenfaßt.

Dieses Eindringen um jeden Preis ist sogar erbeten worden. Der Wirtschaftswissenschaftler Jacques Nikonoff hat rechtzeitig in Le Monde diplomatique daran erinnert. Warum, so fragte er sich, investiert das Ausland in Frankreich? Abgesehen davon, daß die französischen Beschäftigten fügsam und qualifiziert sind, Arbeitskonflikte praktisch nicht vorkommen und der Staat sich immer zu Subventionen bereit zeigt, muß es noch andere Gründe geben.

Frankreich ist nämlich das Land, in dem in den letzten Jahren am meisten privatisiert wurde. An wen soll man noch verkaufen, wenn das nationale Sparvolumen schon erschöpft ist und zum Großteil in Lebensversicherungen steckt? An die ausländischen Sparer.

In der Zeit von 1994 bis 1999 hat Frankreich in Europa die Spitzenposition errungen, indem es Aktien im Wert von 40 Milliarden Dollar auf den Markt gebracht hat (in Großbritannien waren es im gleichen Zeitraum 20 und in Italien 15 Milliarden). Die Privatisierungswelle begann 1986. Der Aktienbesitz von Anlegern ohne Sitz in Frankreich betrug 1986 noch 146 Milliarden Francs (12,3 Prozent der an der Börse notierten Aktien), stieg 1997 aber auf einen Wert von 1016 Milliarden Francs (26,6 Prozent der Börsenkapitalisierung). 1998 war 35,7 Prozent des Börsenkapitals in ausländischer Hand, gegenüber 27,8 Prozent in Großbritannien, 11,8 in Deutschland und sieben Prozent in den USA.

Ein zweiter Grund lautet: Im Vergleich zu anderen Ländern hat Frankreich in den letzten zwanzig Jahren die Lohnkosten am meisten gedrückt. Frankreich ist besonders rentabel und attraktiv, weil die Lohnkosten sehr gering sind (sogar der französische Unternehmerverband MEDEF wagt nicht mehr, über die "Lohnkosten" zu jammern, die ihn erdrücken.)

Drittens: Frankreich ist das Land, das die ausländischen Anleger am intensivsten systematisch umworben hat. Peyrelevade, ehemaliges Mitglied des Kabinetts Mauroy und Chef des Crédit Lyonnais, sagt in Le Monde im Wesentlichen folgendes: "Solange es keine Pensionsfonds nach angelsächsischem Muster gibt, bleibt nur eine Möglichkeit: Geld aus dem Ausland zu holen. Dann müssen wir uns aber mehr an die Regeln des angelsächsischen Kapitalismus halten." Die "Elite" begeistert sich für den angelsächsischen Kapitalismus. Peyrelevade hat sich inzwischen wieder etwas beruhigt.

Und viertens: Seit der gute Bérégovoy, ehemaliger Minister für Wirtschaft und Finanzen, sich für die Finanzwelt begeistert hat und aus Paris einen Börsenplatz nach dem Vorbild der Londoner City machen wollte, ist die französische Börse ein Paradies für ausländische Investoren geworden – und zwar besonders ein Steuerparadies. Paris bietet die günstigsten Tarife für Börsenaufträge: Die Kosten belaufen sich generell auf 30 Basispunkte, wobei der internationale Durchschnitt bei 72 Punkten liegt. Dieses überzeugende Resultat wurde durch die Steuerfreiheit für alle Börsengeschäfte, die von Nicht-Franzosen getätigt werden, erreicht ... Kommt, ihr ausländischen Kapitalisten. Man läßt die Ausländer auf den Markt, indem man alle glauben macht, das sei ganz "normal". Oder noch schlimmer: Indem man sagt, es sei praktisch ein Hilferuf aus dem Nichts, mangels französischer Sparguthaben. Und dann macht man sich Sorgen über die kapitalistische Immigration und schreit: Es leben die französischen Pensionsfonds! Diese Vorgehensweise ist schon einmalig, oder?

Fünftens: Frankreich ist ein Steuerparadies für Anleger. Es ist das einzige europäische Land, das ausländischen Investoren einen vollständigen Steuernachlaß gewährt. Dem Staat gehen dadurch lumpige 3 bis 4 Milliarden pro Jahr durch die Lappen.

Nicht nur, daß die französischen Arbeitskräfte für amerikanische Fonds arbeiten – der französische Fiskus läßt sie auch noch ein wenig bluten, um ihre Arbeitgeber zu subventionieren. 1998 haben ausländische Investoren 70 Milliarden Dividende kassiert. Nikonoff schätzt, daß diese Summe 1999 bei über 100 Milliarden lag.

Die Bilanz der Privatisierungen wäre nicht vollständig, wenn man nicht hinzufügen würde, daß sie den Arbeitnehmern ermöglicht haben, zumindest kurzfristig in den Besitz von Aktien zu gelangen. Sie kaufen Aktien von privatisierten Unternehmen, um schnell mal ein bißchen zu spekulieren. Mit dem Kleinaktionärstum hat man so manchem einen Floh ins Ohr gesetzt ...

Pensionsfonds

"Warum verwaltet die CFDT (Confédération française et démocratique du travail) nicht einen Pensionsfonds?", fragt Nicole Notat. Sie würde dann wohl gerne den Vorsitz eines solchen Fonds der französischen Gewerkschaft übernehmen. Auch die gesetzliche Krankenversicherung CNAM (Caisse Nationale d’Assurance Maladie) sollte ihrer Ansicht nach ein wenig "lockerer" sein und ein wenig privater. Denn mit Hilfe eines solchen Fonds "könnten die Gewerkschaftler nach wirklichem Einfluß bei wirtschaftlichen Entscheidungen streben" Ist Nicole Notat so verblendet, daß sie das tatsächlich glaubt? Ist sie so fasziniert vom Erfolg der amerikanischen Pensionsfonds-Chefs, die ja auch oft aus Gewerkschaften stammen? Zumindest hat sie begriffen, daß das Kapital die wirtschaftlichen Entscheidungen bestimmt. Wenn also wirtschaftliche Macht gleich Kapital ist, warum soll man dann nicht Kapitalist werden? Wenn die Gewerkschaften die Verwaltung von Kapitalfonds übernehmen, wie können ihre Mitglieder dann noch gegen das Kapital sein? In Québéc verwaltet die Gewerkschaft FTQ (Fédération des travailleurs de Québéc) einen Fonds für Spareinlagen von Beschäftigten sowie für Risikokapital. Dieser Fonds arbeitet mit 1400 Unternehmen zusammen, die meist nicht an der Börse notiert sind, und ist 14 Milliarden Francs schwer. In den Unternehmen, in denen die FTQ vertreten ist, kontrolliert sie die Personalführung und berät die Unternehmensleitung. Die 385.000 Fondsanleger haben 1999 eine Rendite von 4,4 Prozent bekommen, die damit eher bescheiden ausfällt. Den gleichen Gewinn können Franzosen ohne jedes Risiko mit einem Bausparvertrag machen. Eine Lebensversicherung bringt noch mehr ein. Dennoch liegen diese 4,4 Prozent höher als die durchschnittlichen Renditen von anderen offenen Investmentfonds in Québéc. Irgendwann wird man einsehen, daß diese Fonds den Rentnern letztendlich sehr wenig bringen. Hat die FTQ auf irgendeine Weise verhindert, daß die Neue Wirtschaft sich in Québéc breit gemacht hat? Hat sie die dramatische Zunahme der sozialen Ungleichheit verhindert? Oder das Stagnieren der Löhne? Die Zunahme seelischer Gewalt? Offensichtlich nicht. Was bringt ihre "beratende Funktion gegenüber der Firmenleitung"? Sprenkelt sie damit nicht nur Weihwasser auf das Hackbeil des Arbeitsmarktes?

Dennoch wird den Beschäftigten der Aktienkauf im Sprechchor und in Slogans schmackhaft gemacht: Sie werden keine Rente bekommen, setzen Sie sich für Frankreich und seine Kapitalisten ein (oder: Frankreich den Franzosen), finanzieren Sie doch nicht den Amerikanern die Rente, denken Sie lieber an ihre eigene. Und vor allem: Werden Sie reich. Gehen Sie an die Börse. Werden Sie alle zum Chef von Aktiengesellschaften, über den Umweg der Corporate Governance, der Unternehmensaufsicht, der Demokratie des Kapitals.

Sie werden keine Rente bekommen

In gleicher Weise, wie eine raffinierte Propaganda die Errungenschaften des "Wirtschaftskriegs" beweihräuchert und die Globalisierung als Verhängnis dargestellt hat ("Wir können nichts machen", dixit Jospin – zeitgleich verkündete Michelin einen enormen Gewinnzuwachs und eine massive Entlassungswelle), wird nun Tag für Tag die Meinung geschürt, daß Pensionsfonds aufgrund des schicksalhaften Wandels der Wirtschaft absolut notwendig geworden sind. Die neuen "Gesetze" der Wirtschaft lassen sich nicht wieder rückgängig machen, um im Expertenjargon zu sprechen, und ganz oben steht die unausweichliche Überalterung der Bevölkerung.

Welcher Arbeitnehmer träumt nicht von der Rente, diesem wunderbaren Augenblick, wenn man nicht mehr der Untergebene, nicht mehr dem Streß, der Zeit, dem Leistungsdruck und den Verkehrsstaus ausgesetzt ist. Wenn man keine Angst mehr haben muß – Angst vor dem Chef, Angst vor der Arbeitslosigkeit – und endlich das machen kann, was man sein ganzes Leben lang tun wollte – mit diesem Leben, das man vergeudet hat, weil man es sich verdienen mußte, das man damit verbracht hat, auf die Rente zu warten. Junge Leute träumen von der Rente und haben dabei ihre noch jungen Körper, am Urlaubsstrand liegend, vor Augen ... Sie laufen Gefahr, eine böse Überraschung zu erleben. Mit nichts läßt sich leichter Panik erzeugen, als die erträumte Rente in Frage zu stellen. Die jungen Leute möchten aus dem Arbeitsleben scheiden wie Gefangene aus der Haft entlassen werden wollen, und vergessen dabei, daß sie zum Zeitpunkt ihrer Freilassung alte Menschen sein werden. Und dann sagt man ihnen noch: Und wenn die Tore für immer verschlossen bleiben? So entsteht der grauenhafte Terror: Am Ende eines arbeitsreichen, mühsamen Lebens läßt der wohlverdiente Ruhestand auf sich warten. Man kann das Geld für die Renten nicht mehr aufbringen.

Durch mehrere Papiere wurden wir in Panik versetzt: durch einen Bericht der Weltbank und in Frankreich durch den Davannes- und den Charpin-Bericht, die im Auftrag der Plankommission gefertigt und dem Premierminister im Januar 2000 vorgelegt wurden. Weitere Dokumente wie zum Beispiel der Teulade-Bericht haben ebenfalls das Ihre dazu beigetragen. Ein letzter Bericht von Balligand-Foucauld, der im Januar 2000 vorgelegt wurde, hat der Debatte bis auf weiteres ein Ende gemacht.

Die Ergebnisse sind offensichtlich niederschmetternd: In der überalterten Bevölkerung gibt es immer mehr Rentner und immer weniger Erwerbstätige. Gegenwärtig haben wir in Frankreich 20 Prozent Nicht-Erwerbstätige über 60. Bis zum Jahr 2025 werden es mindestens 25 Prozent der Bevölkerung sein, vielleicht auch 29.

Wie kommt es zu einer überalterten Bevölkerung? Aufgrund des medizinischen Fortschritts und so weiter und so fort? Bestimmt nicht. Vielmehr, weil die Frauen keine Kinder mehr bekommen. Die Alterspyramide spitzt sich nach unten hin zu. Es gibt mehr alte Menschen, weil es weniger Kinder gibt. Den letzten Babyboom im Westen gab es in der Nachkriegszeit.

Und warum nimmt die erwerbstätige Bevölkerung immer mehr ab? Weil der Anstieg der Zahl der Erwerbstätigen vor allem daher rührte, daß viele Frauen von einem Leben "im Haushalt" in ein sozialisiertes Arbeitsleben getreten sind. Diese Quelle ist nun erschöpft.

Der Beitrag der weiblichen Bevölkerung zur Zahl der Erwerbstätigen ist bereits geleistet. Die zweite Quelle für die Zunahme der erwerbstätigen Bevölkerung war die Immigration, aber auch sie ist nun versiegt. Die Einwanderungsrate ist seit 1973 gering und geht praktisch gegen Null. Nun könnte man natürlich eine weitere Immigration organisieren, so wie 1945, und zwar aus den gleichen Gründen: um Frankreich wieder zu bevölkern und wieder aufzubauen. Manche sprechen sogar davon, jedes Jahr 600.000 Immigranten zusätzlich nach Frankreich kommen zu lassen, um das Defizit an Erwerbstätigen auszugleichen!

Der medizinische Fortschritt hat sich bis heute besonders auf die Kindersterblichkeit konzentriert und so der Überalterung der Gesellschaft vom unteren Teil der Pyramide aus entgegengewirkt. Von nun an läßt die Medizin aber auch die Spitze der Alterspyramide weiter anwachsen: Die Lebenserwartung steigt. Deshalb gilt also seit kurzem, daß die Gesellschaft nicht nur überaltert ist, weil es weniger junge Menschen gibt, sondern auch, weil die alten Menschen älter werden.

Für das Jahr 2040 – also in etwa zwei Generationen – kann man mit einiger Wahrscheinlichkeit damit rechnen, daß die über 60-jährigen einen Bevölkerungsanteil von 29 Prozent ausmachen, gegenüber einem Anteil der 20- bis 60-jährigen, der sich kaum bewegt haben wird und bei ungefähr 50 Prozent liegt. Katastrophal! Wie sollen die Erwerbstätigen weiter für die Rentner aufkommen? Das ist ganz unmöglich, sagt man uns. Das gegenwärtige System der umlagefinanzierten Rente, in dem die Erwerbstätigen Tag für Tag die Rente der Ruheständler bezahlen, kann nicht mehr aufrechterhalten werden. "Ab dem Jahr 2005 oder 2006 kann dieses System die Renten nicht mehr finanzieren ... Wenn man den Rentnern im Jahr 2025 einen ähnlichen Lebensstandard wie heute ermöglichen will, werden die Renten – übrigens bei absolut gleichen Bedingungen – 20 bis 29 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt schlucken, das ist ein Sprung von 45 Prozent – eine gewaltige Summe!" Man kann es auch anders sagen: Im Jahr 2000 kommen grob gerechnet zwei Erwerbstätige auf einen Rentner – 2040 wird ein Erwerbstätiger auf einen Rentner kommen.

Das gegenwärtige System der Verteilung funktioniert so lange gut, wie ausreichend neue Erwerbstätige ins Arbeitsleben eintreten, die für diejenigen aufkommen, die es verlassen. Tatsächlich sieht es so aus, daß der heutige Rentner, der während seines Arbeitslebens einen Franc eingesetzt hat, mit 1,7 Francs in der Tasche nach Hause geht, wenn er leitender Angestellter, und mit 1,1 Francs, wenn er Arbeiter war. Der leitende Angestellte lebt (neun Jahre) länger als der Arbeiter – das erklärt die Differenz. Die Rentner von heute profitieren von den fetten Nachkriegsjahren, also davon, daß viele Frauen ins Arbeitsleben eingetreten sind, eine massive Einwanderung stattgefunden hat und damit die Zahl der Beitragszahler für die Rentenkasse gestiegen ist.

Die katastrophale Schlußfolgerung aus der sinkenden Zahl von Erwerbstätigen lautet: Die Umlagefinanzierung muß fallengelassen werden. Jeder muß nun selbst für seine eigene Rente sorgen und Beiträge in Rentenkapitalfonds, also Pensionsfonds einzahlen. In diesen Fonds stecken Aktien – hoffentlich Aktien französischer Unternehmen, die hoffentlich Franzosen einstellen. Denn heutzutage kaufen die amerikanischen Pensionsfonds Aktien von französischen Firmen, die Dividenden abwerfen – so kommt es, daß die französischen Arbeiter für die amerikanischen Witwen arbeiten (denn bekanntermaßen sind Senioren meist Frauen, da ihre Lebenserwartung etwa zehn Jahre höher liegt als die der Männer).

Bleibt die Umlagefinanzierung bestehen?

Kann man sich aus dieser Lage irgendwie herauslavieren? Nein. Wenn nichts geschieht, der Kuchen nicht größer wird, immer mehr alte Menschen vom Kuchen essen und immer weniger junge Leute den Kuchen backen (also Beiträge zahlen) – dann bekommen die alten Menschen ein immer kleineres Stück davon.

Es sei denn, man reduziert per Gesetz die zu erwartende Zahl der Rentner und beschließt, daß die Beschäftigten nicht nach 37,5-jähriger, sondern erst nach 42,5-jähriger Beitragszahlung in Rente gehen, was für Beamte hieße, fünf Jahre später, und für Angestellte im privatwirtschaftlichen Sektor zwei Jahre später in Rente zu gehen. Dieser Weg wurde vom Charpin-Bericht angedeutet, in Verbindung mit einer wahrscheinlich hohen Arbeitslosenquote von sechs oder neun Prozent und einer zu erwartenden Steigerung der schwachen Produktivität. Auf diese Weise sollen die Rentner weiterhin aus vollen Töpfen schöpfen können, d.h. der Standard von heute gehalten werden.

Diese einfache Überlegung hat die Gewerkschaftler allgemein und die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes im besonderen auf die Barrikaden gebracht. Wenn die hohe Arbeitslosenquote nicht zurückgeht, kann man doch schlecht den Abeitsmarkt blockieren, indem man das Erwerbsleben verlängert, und gleichzeitig auch noch Gesetze zur 35-Stunden-Woche verabschieden, um die Arbeitslosenquote zu senken.

Abgesehen von der Maßnahme, die Zeit der Erwerbstätigkeit und Beitragszahlung zu verlängern, könnte man auch die Beiträge erhöhen oder genauso gut die Renten in Anpassung an die Einkommen der Erwerbstätigen senken – oder, noch besser, die drei genannten Maßnahmen miteinander kombinieren.

Das Argument der Produktivität

Der Wirtschafts- und Sozialrat hat sich der gleichen Aufgabe gewidmet wie die Plankommission und im November 1999 einen Bericht vorgelegt, den Teulade-Bericht. In ihm werden Zahlen genannt, nach denen die Rentenleistungen 1995 noch 12,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betrugen, im Jahr 2040 aber 17,6 bis 24,3 Prozent ausmachen werden. Das ist weit entfernt von den apokalyptischen 29 Prozent, die Patrick Artus für 2025 voraussieht – aber, um ehrlich zu sein, spielt auch das keine Rolle. Der Wirtschafts- und Sozialrat registriert scharfsinnig, daß sich die Produktivität der Erwerbstätigen verändert. So wird die von einem Menschen produzierte Menge im Jahr 2025 oder 2040 zweifellos höher liegen als heute. Wenn ein Erwerbstätiger im Jahr 2000 für zwei Rentner aufkommt, könnte er in zwanzig Jahren wahrscheinlich fünf- oder sechsmal so viele versorgen. Kurz nach dem Krieg hat ein französischer Bauer drei bis vier seiner Landsleute ernährt, heute sind es 40 bis 50. Wenn die Produktivitätssteigerung sich normal weiterentwickelt, müssen die Beiträge zur Rentenkasse nur geringfügig (nach Teulade um 0,5 Prozent) angehoben werden, um das System zu retten.

Denis Kessler, Versicherungslobbyist, Vizepräsident des Unternehmerverbands MEDEF und Anhänger der Pensionsfonds, hat das Produktivitätsargument natürlich gerne aufgegriffen. "Nehmen wir also an, daß sich die wirtschaftliche Lage in der Zeit von 2005 bis 2025 stark verschlechtern wird – selbst dann wäre eine Produktivitätssteigerung von 0,5 Prozent pro Jahr ausreichend, um den relativen Rückgang der Erwerbstätigenzahl auszugleichen." Zu jener Zeit war Denis Kessler noch ein großer Verfechter der Umlagefinanzierung und außerdem Wissenschaftler.

Dennoch ist das Argument der Produktivität nicht ohne weiteres annehmbar. Patrick Artus hat sich da nicht getäuscht.

Was könnte Artus dem Argument der Produktivität entgegensetzen? In groben Zügen wohl folgendes: "Der Landwirt im Jahr 2000 produziert zehnmal so viel wie der Landwirt von 1945 – stimmt, aber er verdient auch zehnmal so viel. Wenn man dies in Relation setzt und die Rentner im Jahr 2000 also auch zehnmal so viel bekommen müssen, hat sich eigentlich nichts geändert." Zur Kenntnis genommen. Was soll man Artus antworten? Daß man sich doch auch fragen könnte, ob die Ansprüche eines Rentners an Nahrung, Autos und Kühlschränke wirklich exponentiell steigen werden. Nehmen wir also an, daß ein Rentner im Jahr 2000 zehnmal so viel Nahrung und Autos benötigt wie 1945 – so wird es 2025 fünfzigmal so viel sein.

Ignoriert der Charpin-Bericht das Argument der Produktivität, mit dem man das System der Verteilung zu einer sanften Landung bringen kann?

Offensichtlich nicht. Die neugelagerte Bevölkerungspyramide, so der Bericht, führt zu einer "neuen Gewichtung von Höhe und Dauer der Beiträge und Leistungen [...]. Wenn die Produktivität auf ihrem hohen Niveau bleibt, garantiert sie den zukünftigen Generationen von Rentnern eine höhere Kaufkraft als heute, ohne die wachsende Kaufkraft der Erwerbstätigen einzuschränken." In anderen Worten: Wenn sich die Lage nicht ändert und die Produktivität gesichert ist, werden die Rentner von morgen mehr bekommen als die Rentner von heute und zweifellos auch mehr als die Erwerbstätigen von heute, aber ein bißchen weniger als die Erwerbstätigen von morgen. Der Charpin-Bericht hat eigentlich nichts Tragisches an sich.

Der Wirtschafts- und Sozialrat hat sich ebenfalls bemüht, auf die Fragen des Premierministers an Charpin eine Antwort zu finden: Wie werden sich die Regelungen des sozialen Netzes generell weiterentwickeln? (Alter, aber auch Gesundheit, Familie, Arbeitslosigkeit). Es ist natürlich klar, daß sich die überhöhten oder eben doch tragbaren Sozialabgaben nicht nur nach der Altersfrage, sondern nach all diesen Faktoren berechnen. So würde zum Beispiel eine deutliche Verringerung der Arbeitslosenzahl und damit eine Entlastung der Arbeitslosenkasse die hohen Rentenbeiträge ausgleichen.

Kann man Charpin und seinen Gehilfen vorwerfen, hinsichtlich der Arbeitslosigkeit wenig optimistische Voraussagen getroffen zu haben? Ja. Sie haben angenommen, daß die hohe Arbeitslosenquote bestehen bleibt und sie mit sechs bis neun Prozent beziffert. Das ist eine wirtschaftliche Fehlleistung. Ein Rückgang der Arbeitslosigkeit wäre für die heutige Wirtschaft des schnellen Geldes, der Rentiers und der Stellenstreichungen eine Katastrophe. Die Arbeitslosigkeit ist die beste Methode, um die Löhne und Köpfe zu steuern. Weil es die Arbeitslosigkeit gibt, kann man Pensionsfonds, Kleinaktionäre, Aktienoptionen und eine Handelsfreiheit anpreisen, die die Armen reicher macht und Stellen schafft. Die Arbeitslosigkeit bricht jeden Streik und ermöglicht eine Verteilung der nationalen Erträge zugunsten des Kapitals. Wenn der Anteil der Löhne am Sozialprodukt wieder auf die 70 Prozent von 1970 (heute liegt er bei 59 Prozent) ansteigen würde, dann wäre der Geldtopf, aus dem man für die Bedürfnisse der älteren Bevölkerung aufkommt, sicherlich größer.

Aber geben wir Charpin Recht und nehmen an, daß die Arbeitslosenzahl kaum zurückgehen wird. Und glauben wir auch, daß der Rentner von morgen viel mehr benötigt als der Rentner von heute. Sie werden zweifellos bemerkt haben, daß wir somit alle Hypothesen akzeptieren, die gegen das System der Umlagefinanzierung sprechen.

Dennoch bleibt ein interessanter Punkt bestehen: Die Zahl der jungen Menschen, die nicht erwerbstätig sind, sinkt ebenfalls ... Die arbeitende Bevölkerung unterstützt also mehr alte Menschen und weniger junge Menschen. Wenn man sich die Entwicklung der französischen Bevölkerung in den letzten 200 Jahren ansieht, kann man sogar feststellen, daß das Gewicht der (jungen und alten) Nicht-Erwerbstätigen im Vergleich zu den Erwachsenen immer gleich geblieben ist: 50 zu 50. Davon sprechen Charpin und die Kassandrarufer nicht. Man kann auch annehmen, daß der Lebensstandard eines Jugendlichen in zwanzig Jahren nicht das Doppelte eines Jugendlichen heute betragen wird. Da kann man einiges sparen. Dieses Argument wurde von mehreren linken Wirtschaftsexperten vorgebracht.

Aber sie liegen falsch.

Warum? Weil die Ausgaben für Heranwachsende nicht von gleicher Natur sind wie die reinen Gesundheitskosten für alte Männer und Frauen, die nicht mehr zur Wertschöpfung beitragen. Kinder und Jugendliche dagegen werden aller Voraussicht nach einmal zur Wertschöpfung beitragen. Und man kann sich vorstellen, daß sie um so produktiver sind, je besser sie ausgebildet werden.

Also werden wir die Umlagefinanzierung mit anderen Mitteln, aber – da können Sie sicher sein – ohne große Probleme verteidigen.

Die Bemessungsgrundlage

Das Problem der Bemessungsgrundlage für Renten (welches Kuchenstück soll verkleinert werden, damit ältere Mitbürger mehr bekommen?) ist ziemlich interessant: Warum können die Profite, die doch gleichermaßen zum Volkseinkommen zählen wie die Löhne, nicht für die Renten verwendet werden? Man könnte sich eine Finanzierung der Renten durch Steuern vorstellen: anteilig zu zahlende Beiträge, mit denen man jedes Jahr für die Nicht-Erwerbstätigen aufkommt. Jedenfalls ist es eine große Ungerechtigkeit, wenn Profite als Kapitalerträge nicht genauso wie Löhne als Arbeitserträge zur Finanzierung der Nicht-Erwerbstätigen beitragen.

Die schlechte Lohnsituation bedeutet für die Verteilung eine enorme Einbuße. Alles, was dem Lohnaufkommen auf Kosten des Profits zugute käme (Senkung der Arbeitslosenzahl, Lohnerhöhungen, niedrigere Lohnsteuer und höhere Kapitalsteuer) wäre natürlich auch für die Umlagefinanzierung von Vorteil.

Nehmen wir einen Teil des folgenden Kapitels vorweg. Die explosionsartige Entwicklung der Börse erklärt größtenteils den sinkenden Anteil der Löhne am Volkseinkommen. Ihr Anteil ist seit 1983 von 69 auf 59 Prozent gesunken – damit geht ihr Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt um zehn Prozentpunkte zurück. Gemessen am gegenwärtigen BIP, ergibt sich ein "kleiner" Verlust von 135 Milliarden Euro, also 1000 Milliarden Francs. 1000 Milliarden weniger für die Renten, bei einer gleichbleibenden Arbeitslosenquote.

Aber das Kapital begnügt sich damit nicht.

Denn die Debatte um das private Sparaufkommen, bei der das Thema der privaten Rentenfinanzierung ein Punkt ist, dreht sich vor allem darum, so Michel Husson, folgendes kriminalistisches Rätsel zu lösen: Warum will man die Lohn- und Gehaltsempfänger dazu zwingen, ihr Einkommen in Form von Dividenden entgegenzunehmen, wenn man ihnen doch einfach mehr Lohn zahlen könnte? Sie könnten ja trotzdem noch ein wenig spekulieren, wenn sie den dringenden Wunsch danach verspüren. Die liberale Anwort lautet immer und ewig gleich: Wenn man ihnen Dividenden gibt, zahlt man weniger Lohn, spart so Arbeitskosten und bleibt wettbewerbsfähig. Es läßt sich nur schwer begreifen – wenn man nicht Zeuge dessen wäre –, durch welches Wunder sich die Wettbewerbsfähigkeit mit Großzügigkeiten beim Thema Dividende (ein Franc Dividende bedeutet einen Franc weniger zur Selbstfinanzierung des Unternehmens) und Härten beim Thema Lohn verträgt.

Tatsächlich werden Lohneinsparungen, Pensionsfonds und dergleichen so leidenschaftlich angepriesen, weil für Zahlungen, die nicht in Form von Lohn geleistet werden, keine Sozialabgaben (für diejenigen, die sie zahlen) und weniger Steuern (für diejenigen, die sie bekommen) anfallen. Um dieses System noch mehr zu fördern, müssen die Pensionsfonds ebenso wie andere Formen der Geldanlage (Lebensversicherungen zum Beispiel) von weiteren Steuerbefreiungen profitieren, damit der Durchschnittsbürger und sein Chef ermuntert werden, sich an den Fonds zu beteiligen. Jetzt wird einem klar, warum die Firmen den Pensionsfonds so sehr zugetan sind: mit ihrer Hilfe können sie den Fiskus besser erpressen.

All die Steuern, die dadurch der öffentlichen Hand entgehen, bedeuten weniger Geld für die öffentlichen Dienste und damit weniger Sozialleistungen. Dann kann man triumphierend ausrufen: "Da habt ihr’s! Wir haben es doch immer gesagt! Lauter Finanzierungsprobleme! Der öffentliche Dienst funktioniert nicht! Die staatliche Sozial- und Krankenversicherung arbeitet nicht wirtschaftlich! Es lebe die private Rente! Wir nehmen noch Geld an!" Man nennt das auch eine sich selbst erfüllende Prophezeiung – ein spekulatives Phänomen, das Wirtschaftsexperten gut bekannt ist. Ein anderes Synonym dafür ist: "Thatcherismus". Ich kürze den Krankenhäusern die Mittel, stelle fest, daß die Krankenhäuser sich nicht halten können und gebe sie in private Hand. Mit der Bahn ist das Gleiche geschehen. In Großbritannien konnte man in beiden Fällen die Konsequenzen dieser Maßnahmen beobachten.

Fassen wir zusammen. Kessler und die Versicherungslobby schlagen folgenden Deal vor: Im Tausch gegen ein generelles Einfrieren der Löhne bieten wir einen hypothetischen, individuell bemessenen Anstieg der Gewinne, je nach den persönlichen finanziellen Mitteln, nach der Fähigkeit, das Geld richtig anzulegen, und dem jeweiligen Anteil am Kapital der Unternehmen. Jetzt heißt es also nicht mehr: "Gib mir deine Uhr, dann sag’ ich dir, wie spät es ist", sondern: "Vielleicht sag’ ich dir morgen, wie spät es ist, wenn du bis dahin genügend Stufen der Hierarchie genommen hast, um meine Uhr ablesen zu können. "

Wer legt sein Geld an?

Die Reichen. Sehen wir uns das Sparaufkommen der Lohn- und Gehaltsempfänger etwas genauer an: Jemand, der 14.000 bis 20.000 Francs netto im Monat verdient, kann durch Arbeitnehmer-Sparprogramme, Aktien oder andere Geldanlagen bis zu 42 Prozent seines Gehalts anlegen. Bei jemandem, der 6000 Francs verdient, sind es gerade einmal acht Prozent. Ein dreimal so hoher Lohn ergibt eine fünfmal so hohe Spartätigkeit. Das ist die Hebelwirkung, der Multiplikatoreffekt des angelegten Kapitals, auf dessen Basis Keynes sein Werk aufgebaut und mit dem Denis Kessler uns während unserer Jugend in den Ohren gelegen hat: Das Sparen nimmt überproportional zum Einkommen zu. Wenn man die Leute zum Geldanlegen ermuntert, nimmt auch die Ungleichheit unverhältnismäßig zu.

Und was ist mit dem amerikanischen Wunder, von dem Michel Aglietta spricht? Hat man auf der anderen Seite des Atlantiks die Wahrheit gefunden, während hier alles falsch läuft? Nein, dort geht es ganz ähnlich zu. Die enorme Zunahme der sozialen Ungleichheit in Amerika ist in Verbindung mit der enormen Zunahme der Aktionäre zu sehen. Zehn Prozent der amerikanischen Haushalte halten 86,8 Prozent der Aktien. Das nennt man demokratisch.

Wer verfügt denn über ausreichend Einkommen, um sich eine angemessene Rente zu verschaffen, die seinem jetzigen Lohn als Erwerbstätigem entspricht? Niemand. Warum wendet man das System nicht auch im Gesundheitswesen an? Oder bei der Arbeitslosigkeit? Wer verfügt schon über die finanziellen Mittel, um in seiner Jugend genug Geld zu sparen, damit er im Alter für seine Krebserkrankungen und seine Chemotherapien selbst aufkommen kann?

Sie können sicher sein, die Versicherungsunternehmen träumen von nichts anderem: Das Vermögen der Sozialversicherung (2200 Milliarden Francs, mehr als der Staatshaushalt) darf nicht dort bleiben. Jeder sollte für sich selbst sorgen. Immer her mit dem Geld.

Wie soll man denn seinem behinderten Kind durch das Abschließen einer Lebensversicherung eine lebenslange Rente sichern, wenn Monsieur Bébéar, Chef von Axa, die Tarife verdoppelt? Einfach so, zack. Wenn man ein behindertes Kind hat, sollte man besser zu den Reichen gehören.

Bébéars Maßnahme war so beschämend und skandalös, daß er einen Rückzieher machte und damit gleichzeitig seine wahren Absichten zeigte: "Ich bin eine Versicherungsgesellschaft, mir geht es um Gewinn, nicht um Solidarität", sagte er wortwörtlich in Le Monde. Natürlich: Vergemeinschaftung der Verluste, Privatisierung der Profite. Mit seiner einmaligen und unglaublich zynischen Feststellung hat Bébéar zwanzig Jahre Versicherungslobbyismus zunichte gemacht.

Die meisten Franzosen verfügen nur über einen Bausparvertrag. Wenn man das durchschnittliche Sparaufkommen auf die französische Bevölkerung verteilt, fällt dies eher gering aus – eine Wohnung ist nicht besonders teuer. So ist es eigentlich unvorstellbar, wie die Franzosen auch noch für ihre Rente und Krankenversicherung aufkommen können. Ein Rentensystem, das auf privater Geldanlage beruht, käme damit nur denjenigen zugute, die viel Geld zur Seite legen können, also den Reichen. In Frankreich (wie auch in anderen Ländern) ist der Reichtum sehr ungleich verteilt. Das Vermögen erwächst aus dem angelegten Kapital. Es ist eigentlich nichts anderes als akkumuliertes Sparguthaben. Damit ist auch klar, daß der überproportionale Gewinn aus dem ohnehin ungleich verteilen Kapital die Kluft noch vergrößert.

Je mehr Ungleichheit es aber gibt, desto weiter entfernen wir uns von der Demokratie.

Aber was sind wir doch für Pedanten, haben wir denn keinen Sinn für "Eigenverantwortung"? Denn "jeder für sich", das ist doch verantwortungsvolles Handeln, oder? Jaffré hat sich seinen Reichtum im Schweiße seines Angesichts selbst verdient, genau wie der Obdachlose seinen Dreck und sein Elend und Afrika seine Not und sein Aids. Alle sind für sich selbst verantwortlich.

Haben Sie noch ein wenig Geduld. Wir werden das System der "kapitalistischen Rentner" von einem weiteren Punkt aus zur Strecke bringen.

Vermehrt sich das Geld von allein?

Im Kapitalismus arbeitet das Geld nicht von allein.

Wie bitte? Aber was ist denn mit dem ganzen Geld, das sich auf der Bank durch Zinsen vermehrt und an der Börse in unermeßliche Höhen steigt – diesem Geld, das arbeitet, während sein Besitzer schläft? Ja, ja, das haben wir schon öfter gehört. Aber dieses Geld würde nicht existieren, wenn es keine Ingenieure, Handwerker, Intellektuellen und Tänzerinnen im Crazy Horse (hartverdientes Brot) geben würde, die arbeiten. Nehmen Sie einmal einen 100 Francs-Schein, stecken ihn in eine Dose, schütteln kräftig und warten eine Woche. Wenn Sie die Dose wieder öffnen, wird immer noch ein 100 Francs-Schein darin sein. Oder öffnen Sie doch mal eine Dose Ihres Großvaters, die voller russischer Staatsanleihen ist – Sie werden erstaunt sein, wie wenig diese Papiere wert sind, auch wenn die aufgedruckten Zahlen etwas anderes vermuten lassen. Denn dieses Geld hat ganz einfach nicht "gearbeitet". Es hat keine Banker, Versicherungsleute, Wirtschaftsexperten, Marktfrauen, Arbeitnehmer und Pizzaboten arbeiten lassen.

All das deutet also drauf hin, daß unser kapitalistischer Rentner nicht allein von dem schönen Geld leben kann, das er mit sauberen Händen zusammengetragen hat. Komme da, was wolle, die Erwerbstätigen müssen das Kapital arbeiten lassen. Oder, wenn man folgende Formulierung vorzieht: Das Kapital unseres Rentners muß die Erwerbstätigen arbeiten lassen.

Und schon sind wir wieder beim Ausgangspunkt angelangt. Eine lustige Geschichte, oder? Man hatte gehofft, ohne die Erwerbstätigen auszukommen, die nicht mehr in ausreichend hoher Zahl vorhanden sind, um sich der Nicht-Erwerbstätigen anzunehmen, und schon tauchen sie wieder auf! Es ist offensichtlich, daß die Lohnempfänger im Traum von Geld und Kapital nicht vorkommen. Sie stören nur, denn sie wollen Lohn. Und alles, was in die Lohnzahlung wandert, geht dem Profit verloren, so einfach ist das. Aber leider hat das Kapital bis jetzt noch keine Methode gefunden, um ganz ohne die Arbeit auszukommen. Die Automatisierung war ein Versuch in diese Richtung. Aber Maschinen sind schlechte Konsumenten, ganz im Gegensatz zu den Lohnabhängigen. Die glauben an die Werbung. Vielleicht auch an jene, die ihnen sagt, daß sie gar keine Lohnempfänger sind, sondern Kapitalisten, genauso wie sie dem Renault-Spot Glauben schenken, der ihnen suggeriert, man müsse nur einen Espace kaufen und schon führe man in seiner Fantasie durch die Wüste Nevada anstatt auf verstopften Stadtautobahnen. "Werden Sie Kapitalist!", sagt die Werbung. "Ja! Sie sind der Chef! Sie leiten die Firma! Es lebe die Corporate Governance!" Die Kapitalisten brauchen die Arbeitnehmer. Und sie lieben die Macht, die Befehlsgewalt. Eine Maschine zu beherrschen hat schon seinen Reiz. Aber Menschen zu befehligen und Angst zu machen, ist noch reizvoller.

Kurz gesagt, man braucht Erwerbstätige, die zahlen.

Auf: "Gib mir deine Uhr, dann sag’ ich dir, wie spät es ist"

folgt: "Gib mir noch dein Hemd, und du kriegst auch die Wettervorhersage".

Wenn man ohne die Beschäftigten nicht auskommt, geht es bei der Frage der Pensionsfonds darum, das Geld aus der staatlichen Sozialversicherung in private Versicherungen und private Fonds zu stecken. Das ist genauso, als wenn Claude Bébéar sagte: "Tja, all diese Steuern an den Staat, das ist doch eigentlich zu schade. Geben Sie uns doch das Geld. Wir sind der Staat." So sagt er es nicht, zumindest nicht mit diesen Worten. Er sagt: "Wir sind besser als der Staat. Wir arbeiten viel wirtschaftlicher. Senken wir die Steuern, die so eingesparten Summen gehen an uns, und Sie werden sehen, alles wird besser!"

Wenn man die Rente nicht abschafft (was doch die einfachste Lösung wäre – man könnte ja auch die Arbeitsämter schließen und die Arbeitslosenhilfe streichen, dann würden die Arbeitslosen von selbst verschwinden – so wie es die Liberalen ziemlich unverhohlen vorschlagen), wird man automatisch einen Teil des Kuchens für die nicht mehr erwerbstätigen, älteren Mitbürger aufheben. Und welches System auch gewinnt, ob nun die Umlagefinanzierung oder die Pensionsfonds – die Erwerbstätigen werden genauso viel oder wenig haben wie die Nicht-Erwerbstätigen wenig oder viel haben.

Lesen wir Patrick Artus, der zwei Vorzüge hat: er kennt die wirtschaftlichen Zusammenhänge und ist nicht ganz so zynisch wie die meisten Liberalen: "Da die Zahl der Rentner stark wächst, stellt sich das Problem der Verteilung zwischen Erwerbstätigen und Nicht-Erwerbstätigen immer dringlicher. Wenn man die Freigebigkeit des Rentensystems zum Prinzip macht, muß der Anteil des Volkseinkommens, der den Erwerbstätigen genommen und den Rentnern gegeben wird, konsequenterweise ansteigen. Dies hat aber keinen Einfluß auf die Beschaffenheit des Rentensystems." Reiben wir uns die Augen und lesen noch einmal: "Dies hat aber keinen Einfluß auf die Beschaffenheit des Rentensystems." Und weiter: "Anders ausgedrückt, wenn die Renten gänzlich durch privat angelegtes Geld finanziert werden, so zwingt die höhere Lebenserwartung die Beschäftigten während ihrer Erwerbstätigkeit noch höhere Summen anzulegen im gleichen Umfang, wie die Sozialbeiträge im Rahmen der Umlagefinanzierung steigen würden. Somit wird das Einkommen in beiden Fällen gleichermaßen belastet."

Also lautet die Frage: Läßt man den Lohnempfängern ihr Geld oder gibt man es lieber den Kapitalisten, die sich wie stets bemühen werden, es zum größtmöglichen Wohl der Erwerbstätigen anzulegen?

Die Demographie macht auch die Pensionsfonds zunichte

Neben den radikalen Verfechtern der Geldanlage und den Fonds-Fanatikern sind, wie immer, auch "vernünftige" Stimmen zu vernehmen. Diese schlagen einen Sockelbetrag für alle bei der Verteilung vor, der durch private Vorsorge ergänzt wird. Denn eigentlich, sagen sie, ist die private Rente etwas für Privilegierte. Bei Unternehmenssparverträgen zum Beispiel muß das Guthaben für fünf Jahre fest angelegt werden, um in den Genuß von Steuervorteilen zu kommen. Das Guthaben unterliegt nicht der Vermögenssteuer, und die anfallenden Dividenden werden nicht besteuert, solange sie erneut investiert werden. Die Unternehmenssparverträge sind zwischen 1993 und 1998 jährlich um 17 Prozent im Wert gestiegen.

Wenn es nun genug Geld gibt, um die Renten der Reichen zu sichern, warum ist es dann nicht auch für alle möglich?

Der ehrwürdige Douste-Blazy zum Beispiel schlägt vor, jedes Jahr 200 Milliarden aufzubringen, "damit das Gleichgewicht unseres Systems auch im Jahre 2015 gesichert ist". Da die Franzosen bereits sehr viel sparen, werden diese zusätzlichen Milliarden wohl aus Steuererleichterungen kommen müssen, die jenen Unternehmen zugestanden werden, die an Pensionsfonds beteiligt sind, sowie aus einer Steuerbegünstigung für Gewinne aus Vermögenswerten – aber auch aus einer geringeren Erbschaftssteuer und anderen enormen Steuervergünstigungen für die wohlhabende erwerbstätige Bevölkerung, die bestimmt nicht mehr Geld anlegen kann, aber auf diese Weise einen Teil ihrer Ersparnisse in die viel gerühmten Fonds fließen läßt.

Das Sparguthaben der Arbeitnehmer beträgt heute nur 350 Milliarden Francs, alle diesbezüglichen Angebote zusammengenommen. Dem gegenüber stecken 4400 Milliarden in Lebensversicherungen und 1500 Milliarden in Bausparverträgen. In Frankreich gibt es also schon Pensionsfonds, sie nennen sich nur Lebensversicherung. Aber die Unternehmen können aus Lebensversicherungen keine Steuervorteile ziehen. Das ist ein ganzer Batzen Geld, lieber Staat. Laßt ihn uns doch lieber teilen, liebe Freunde. Die Verteilung ist das Herzstück der Wirtschaftspolitik. Im Krimi steckt meist eine Frau dahinter. In der Wirtschaft heißt diese Frau Verteilung.

Nota bene: Sicherlich könnte man einen Teil der Ersparnisse in Pensionsfonds stecken: nämlich jene Gelder aus den Unternehmenssparverträgen (in denen das Kapital in Aktien angelegt wird, was den Pensionsfonds ja sowieso schon nahekommt) oder auch aus anderen Sparverträgen und den Lebensversicherungen. Um aus den Unternehmenssparverträgen richtige Pensionsfonds zu machen, müßte man nur das Fälligkeitsdatum auf den Beginn des Ruhestands festsetzen, anstatt wie bisher eine bestimmte Zahl von Jahren (5 bis 8) zu vereinbaren. Klammer zu.

Ganz gleich, für welches System wir uns auch entscheiden, die Erwerbstätigen müßen für die Nicht-Erwerbstätigen aufkommen. Nehmen wir einmal an, unsere gutgläubigen Arbeiter und Angestellten tauschen das Gold der staatlichen Sozial- und Krankenversicherung gegen das Blei der Pensionsfonds. Wenn unsere braven kapitalistischen Lohnempfänger, die ihr ganzes Leben für die Rente gespart haben, dann endlich das entsprechende Alter erreichen und das ihnen zustehende Geld ausbezahlt wird, geht dieses dem Bruttosozialprodukt verloren. Auf die gleiche Weise wie heute ein Teil des Bruttosozialprodukts dafür aufgewendet wird, die Renten zu finanzieren, wird auch in einem rein kapitalistischen System (einem System, in dem die staatliche Sozialversicherung in "Bébéar und Kessler-Versicherungen für alle Risiken, besonders für Sie" umbenannt wird), ein Teil des Bruttosozialprodukts dazu dienen, die nicht mehr Erwerbstätigen zu unterstützen. Bébéar und Kessler werden zu diesem Zweck jährlich ein Stück vom nationalen Kuchen abschneiden, um ihn den Rentnern zukommen zu lassen. Auch im Jahre 2040 wird man das, was die Rentner verbrauchen, auf jeden Fall produzieren müßen. Man kann es wohl nicht oft genug wiederholen: Die für den nicht erwerbstätigen Teil der Bevölkerung bereitgestellten Geldmittel gehen immer dem Bruttosozialprodukt verloren.

Was wird geschehen, wenn die Erträge aus dem Kapital, das die Rentner anlegen (die Gewinne aus dem Rentensparvolumen) nicht ausreichen? Dann müßten die Pensionsfonds einen Teil des Kapitals verkaufen, um die Renten bezahlen zu können. Man kann sich kaum vorstellen, wie die Renten 25 Prozent des Bruttosozialprodukts erreichen können – die Rentner müßten einen enormen Anteil am einheimischen Kapital besitzen, praktisch zwei Drittel davon. Der wahrscheinlichste Fall ist, daß die Rentner der folgenden Generation, wenn diese Pechvögel sich für das System der Pensionsfonds entschieden haben, ihr Kapital verkaufen müßen, damit sie überhaupt leben können. Oder sie verkaufen ihre Aktien an die nachfolgende Generation, die zahlenmäßig kleiner sein wird. Sie haben ihre Aktien dann zu einem Zeitpunkt erworben, als große Nachfrage bestand, während sie sie verkaufen müssen, wenn die Nachfrage gering sein wird. Folgendes wird für die Rentner von 2025 bis 2040 sehr wahrscheinlich der Fall sein: ein Überangebot bei geringer Nachfrage – der Aktienpreis wird dementsprechend fallen ...

Und da die Generation der Erwerbstätigen, die diese Aktien kaufen sollen, aus relativ wenigen Menschen bestehen wird, wird sich die Verteilung von Lohn und Profit wohl wieder zugunsten der Lohnempfänger entscheiden. Damit sinken auch die Kapitalerträge. Also wird man mit den Pensionsfonds auf alle Fälle Verluste hinnehmen müssen.
Nichts und niemand kann einem jungen Menschen, der in Fonds investiert, garantieren, daß diese 40 Jahre lang, also über zwei Generationen hinweg, rentabel bleiben. Ab 2006 geht der Babyboom zu Ende und die geburtenstarken Jahrgänge, die dann bereits in Rente sind, werden ihre Aktien an die geburtenschwachen Jahrgänge, die für ihren Ruhestand Vorsorge treffen müssen, verkaufen müssen. Alles in allem wird es also mehr Anbieter und weniger Käufer geben. Somit wird der Wert der Aktien sinken, und das an einer Börse, die bereits heute hoffnungslos überbewertet ist.

Sie glauben, wir betreiben Schwarzmalerei? Lesen Sie doch nach, was die OECD schreibt. Sie hat nämlich selbst Angst: "Wenn die Generation der Babyboomer in zehn oder zwanzig Jahren in Rente geht, muß sie wahrscheinlich die Wertpapiere verkaufen, die sie während ihres Arbeitslebens erworben hat. Die folgende Generation ist geburtenschwächer – weshalb die Preise für Wertpapiere sinken können. Wegen der geburtenschwachen Jahrgänge wird außerdem die Kapitalmenge schneller ansteigen als das Kontingent an Arbeitskräften – und dies wird ebenfalls die Erträge aus den Sachanlagen schmälern. Die Babyboomer könnten also entdecken, daß die Erträge aus den Pensionsfonds nicht dem entsprechen, was die Extrapolation der aktuellen Tendenzen erwarten ließ."

Im Klartext: Das Kapital wird weniger wert sein und die Kapitalerträge werden sinken.

Der Blick auf die Chinesen

Wie kommen die Freunde der Fonds aus dieser Sackgasse heraus? Die Pensionsfonds, die ja eigentlich das Ungleichgewicht zwischen Erwerbstätigen und Nicht-Erwerbstätigen beheben sollten, sehen sich mit genau dem gleichen Problem konfrontiert. Denn um der steigenden Zahl von Rentnern eine angemessene Rente zukommen zu lassen, müssen immer mehr junge Menschen entweder mehr Beiträge zahlen oder ihnen ihr Kapital abkaufen. Was tun? Sich neue Trottel suchen, die die Höllenmaschine antreiben.

Dazu wird man ein globales System entwickeln müssen, an dem mehr Menschen beteiligt sind, eine Art Pyramidensystem, durch das die Spekulation aufrechterhalten wird. Die Beweihräucherer der Fonds, etwa der sozialistische Abgeordnete Pascal Bouard, hoffen, daß bald die Chinesen und Inder für die Rente der Franzosen aufkommen. Schöne Idee, Monsieur Boulard. Warum sollten die französischen Arbeiter und Angestellten nicht auch das Recht haben, über ihre Pensionsfonds die zahlreichen armen Arbeiter auszubeuten? Eine Sache wenigstens ist klar: Man benötigt Beschäftigte, um das schlafende Geld in Bewegung zu bringen. Somit ist es schlicht und ergreifend eine Lüge, wenn man behauptet, daß die Pensionsfonds den Franzosen ermöglichen, Franzosen zu unterstützen und dabei die Kluft in der Bevölkerungsverteilung zu umgehen. Wer wird eigentlich einige Generationen später für die Rente der Chinesen aufkommen? Wahrscheinlich die Marsmenschen.

Und wenn die Chinesen lieber ihre eigenen Fonds aufbauen? Dann steckt man wieder in der Patsche, oder?

Das System der Pensionsfonds gleicht demjenigen eines Kettenbriefes. Den Leuten, die zuerst antreten, verspricht man Geld – viel Geld –, das man dank des zweiten Schubs aufbringen kann. Genauso wird die zweite Kette von der dritten finanziert, die inzwischen eine beträchtliche Größe hat. Alle, die zuletzt kommen und alles gegeben haben, können am Ende nur einen Pfennig entgegennehmen. So ist es in Albanien geschehen. Warum soll eine Gesellschaft, die auf der Spekulation gründet, also nicht nach Trotteln Ausschau halten, denen man die absolute Sicherheit ihrer Geldanlagen vorgaukeln kann?

Aber das geschlossene System der Kapitalisierung für alle stößt erneut an eine Unmöglichkeit – diesmal der letzten, definitiven, die übrigens Charpin aufgebracht hat.

Eine Rentenkasse durch Kapitalbildung ist nicht realisierbar

Angenommen, man müßte einen Pensionsfonds einrichten, um überhöhte Beitragszahlungen der Lohnempfänger zu verhindern und ein Gleichgewicht im System zu schaffen. Die Beiträge müßten eigentlich um fünf Prozent steigen, was wahrscheinlich nicht tragbar sein wird. Sollen sie nun um nur 3,5 Prozent erhöht werden, welche Summe müßte dann zusätzlich aufgebracht werden, wenn man außerdem die Beitragsdauer nicht verlängert und die Rentenleistungen nicht weiter sinken läßt? Lesen wir La Tribune: "Um dieses magere Resultat zu erlangen, müßte man Unsummen in den Rücklagefonds anhäufen, oder, was auf das Gleiche hinausläuft, enorme Geldmengen in den privaten Kapitalfonds ansammeln." Wieviel genau? Das hängt davon ab, wie man das Geld anlegt und wie der Ertrag aussieht. Nehmen wir einmal an, man investiert – ohne ein Risiko einzugehen – in Schuldverschreibungen. Welche Summe müßte man anlegen? 10.000 Milliarden Francs. Oder aber man geht ein Risiko ein und investiert in Aktien. Bei einer mittleren Rendite müßte man dann 5000 Milliarden Francs anlegen. Das sind 55 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und entspricht außerdem dem derzeitigen Schuldenberg Frankreichs. Wenn man besonders hohe Renditen bekommt, muß man vielleicht auch nur 2500 Milliarden aufbringen. Danke, Charpin.

Tatsächlich spielen die Zinssätze in einem System der Kapitalbildung genau die gleiche Rolle wie das Produktivitätswachstum bei der Umlagefinanzierung. Was würde eine massive Kapitalakkumulation hervorrufen? Natürlich eine Senkung der Kapitalerträge. Charpin klammert dies nicht aus: "Die Entwicklung der Kapitalerträge ist sehr unsicher", bemerkt er. Oder aber die Aktienkurse fallen. Oder auch beides, wenn auf Baisse spekuliert wird.

Jean-Pierre Thomas, ein militanter Verfechter der Fonds, meint, daß diese in einem guten Jahr zwischen 30 bis 40 Milliarden einbringen könnten. Also nichts mit den 200 Milliarden, von denen Douste-Blazy spricht ... Die Association française des banques (AFB) ist sogar noch bescheidener und veranschlagt um die 20 Milliarden.
Setzen wir also auf die 40 Milliarden. "In diese Berechnungen muß noch eingehen, daß ausländische Investoren französische Aktien im Wert von 2000 Milliarden Francs besitzen. Geht man davon aus, daß die Hälfte der 40 Milliarden Francs in französischen Aktien angelegt werden soll, bräuchte man 100 Jahre, um die ausländischen Investoren abzulösen."

Hundert Jahre! Douste-Blazy wird dann 152 Jahre alt ein, wenn er das nicht jetzt schon ist ...

Fassen wir zusammen. Wenn man gewährleisten will, daß der Lebensstandard der Rentner jenem der Erwerbstätigen entspricht, sich also jede Produktivitätssteigerung während der Zeit als Erwerbstätiger später in der Rente niederschlägt und somit die Renten strikt am Lohnniveau der Erwerbstätigen bemessen werden, ergibt sich natürlich ein demographisches Problem: Da inzwischen alle Frauen arbeiten gehen, die Einwanderung gestoppt ist und die Zahl der Erwerbstätigen mit der sinkenden Geburtenrate fällt, kommen weniger Erwerbstätige für die Renten auf. Also muß man entweder die Renten ein wenig kürzen, oder die Beiträge der Lohn- und Gehaltsempfänger ein wenig anheben, oder die Dauer der Beitragszahlung verlängern, oder aber alle drei Maßnahmen miteinander kombinieren.

Eines ist jedoch klar: Auch durch eine geringe Produktivitätssteigerung ist gewährleistet, daß der Lebensstandard der Rentner und Erwerbstätigen im Jahr 2040 jenem von heute weit überlegen sein wird.

Die britischen Renten, oder: Die Betrogenen

Im Zusammenhang mit dem wunderbaren angelsächsischen Kapitalismus, in dem die Züge nicht mehr pünktlich ankommen und dadurch manchmal ihre "Kunden" vertreiben, muß man eine gesonderte Bemerkung zur Rentenfinanzierung durch Kapitalbildung machen.

In Großbritannien haben die Versicherungsunternehmen den Trotteln vom öffentlichen Sektor 11 Milliarden Pfund gestohlen. Die Unglücklichen haben nämlich die Sirenenstimmen vernommen, die von "Transparenz", "Vertrauen", der "Demokratie des Kapitals" und anderen leeren Versprechungen sangen. In der Zeit von 1988 bis 1995 haben zwei Millionen Briten, angespornt durch die konservative Regierung, ihre Rentenversicherung zugunsten einer privaten Vorsorge aufgegeben. "Der Raub des Jahrhunderts", titelte La Vie française, eine Zeitung, der man kaum kommunistische Sympathien nachsagen kann. Die Betrüger urteilten dem Sinn nach ungefähr so:

Dieser Plan ist ja noch besser, als der, den ich ausgeheckt hatte.

1998 startete der Schatzkanzler Nigel Lawson eine großangelegte Kampagne im Namen von Freiheit und Modernität: Ein Pfui auf diesen Staat, der euch beraubt, seid frei, tragt selbst Verantwortung, es lebe die Transparenz. "Sprengt die Ketten", "Befreit euch aus der Zwangsjacke" – das waren die Slogans einer Werbekampagne, in der phänomenale Erträge versprochen wurden und man die Leute beschwor, für ihr Land einzutreten, indem sie richtige Kapitalisten würden. Die entlassenen Bergleute hat man gebeten, ihre Ersparnisse denjenigen anzuvertrauen, die ihnen gerade gekündigt hatten – und diese Dummköpfe haben es auch noch getan! Innerhalb von drei Monaten hoben 2000 Bergleute ungefähr 60 Millionen Pfund von der öffentlichen Rentenkasse ab. Die großen Versicherungen umwarben sie eifrig. Das Motiv ihrer Erpressung war folgendes: "Männer! Nachdem die Regierung schon die Bergwerke geschlossen hat, solltet Ihr nicht zulassen, daß sie nun auch noch eure mageren Ersparnisse an sich reißt, oder? Denkt an eure Rente! Legt das Geld besser bei uns gewinnbringend an!" Genau so. Auf diese Weise erpreßten die großen Banken und Versicherungen Prudential, Lloyd’s und Pearl die Bergarbeiter (heute rühmen sie sich der höchsten Profitraten Europas, die zwischen 30 und 40 Prozent liegen). Transparenz, Demokratie. Das Gleiche geschah im Gesundheitswesen, wo Krankenhausangestellte auf Kosten einer Medizin gekündigt wurde, die nicht mehr dazu dient, sich um die Menschen zu kümmern, sondern die Verwaltung zu bezahlen, und doch ihre Ersparnisse dort wieder hineinsteckten, weil sie auf die Worte: "Befreit euch, seid für euch selbst verantwortlich, der Staat hat euch rausgeschmissen, laßt ihm nicht einen Pfennig!" hörten.

1991 nahm der Skandal seinen Anfang. Maxwell verschwindet mit vier Milliarden aus den hauseigenen Pensionsfonds. Transparenz, Demokratie. Zu der Erpresserbande gehören 41 Versicherungsunternehmen (also alle). Sämtliche Tochterfirmen der französischen Unternehmen – eben jene, die heute Ihr Geld haben wollen – sind ebenfalls an der Sache beteiligt. Es bleibt die Vermutung, daß sie sogar besonders tief mit drinstecken, denn bis Ende Juli 1997 hat der Versicherungskonzern GAN erst 133 von 8358 Fällen (0,01 Prozent!) untersucht (untersucht, nicht erstattet – die Summen werden wohl nie erstattet und wenn, dann nur zu einem Zehntel). 0,01 Prozent. Transparenz, Demokratie.

Nachdem Labour bereits zwei Jahre die Regierungsgeschäfte lenkte, wurde endlich beschlossen, die Versicherungen zur Rechenschaft zu ziehen. Bis dahin war nur ein Prozent der Fälle geklärt. Im August 1999 waren dann 57.000 so genannte "eilige" Fälle geregelt. Meist handelte es sich dabei um Verstorbene, denen das Ganze unter der Erde besonders viel nutzt. "Das Verfahren nimmt enorm viel Zeit in Anspruch", vernimmt man aus der Umgebung Tony Blairs. Die Zeit arbeitet für die Versicherungen. Lloyd’s – das Haus mit der weltweit größten Rentabilität – konnte im ersten Halbjahr 1999 eine Gewinnsteigerung von 16,6 Prozent verbuchen. Der Nettogewinn für 1999 soll bei 22 Milliarden Francs liegen, so die Unternehmensgruppe. Transparenz. Dennoch werden Stellenstreichungen anvisiert, da man "die Arbeitskosten drücken muß". Demokratie. Seit 1995 hat Lloyd’s 16.021 Stellen abgebaut. Hat Lloyd’s etwa Arbeitsplätze für jene Leute geschaffen, die die Akten der Betrogenen bearbeiten?

Wie konnten die Ruheständler sich derart einwickeln lassen? Mit undurchsichtigen Verträgen natürlich. Alle, die an Transparenz glauben, haben von Kapitalismus, Markt und Geschäften rein gar nichts verstanden. Außerdem haben sie noch nicht bemerkt, daß die zwielichtigsten Organisationen sich immer besonders durchschaubar geben.

Die Börse

John F. Kennedys Vater – übrigens Milliardär – war einer der wenigen, die die Krise von 1929 vorausgeahnt haben. Als sein Chauffeur sich erlaubte, ihm zwischen zwei Servilitätsbekundungen Anlagetipps zu geben, ahnte er schon, daß es wahrscheinlich zu einem Börsenkrach kommen würde. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt, als der Liftboy aus seinem Privathochhaus ihn um Börsentipps bat.

Im Moment läuft es in der Republik der Aktionäre gar nicht gut, und der Beweis dafür ist die Tatsache, daß niemand außer den Ewiggestrigen und Nörglern – also jenen, die um den Reichtum betrogen werden – die Börse zu kritisieren wagt. Alle träumen davon, auf den Zug des schnellen Geldes aufzuspringen. Wirklich alle? Wir werden sehen ...
"Die Franzosen mögen die Börse nicht", jammern die Versicherungsunternehmen, die Börsenaufsicht, der Unternehmerverband und die Fonds-Fans. Ende des Jahres soll eine außergewöhnliche Werbekampagne den Franzosen die Börse näherbringen.

Nur elf Prozent der an der Pariser Börse notierten Aktien sind im Besitz von Franzosen – 45 bis 48 Prozent halten hingegen Amerikaner. Die Zahl der Privatanleger ist seit 1995 von 5,5 auf 5,2 Millionen gesunken. Und auch nach den ersten Privatisierungen 1987 hat sie sich kaum bewegt.

Dennoch, die Höhe der ausgeschütteten Dividenden hat sich zwischen 1992 und 1998 mehr als verdoppelt. Und die Dividenden der an der Börse notierten Unternehmen haben sich mehr als verdreifacht. Seit 1983, dem Jahr des "Kurswechsels", sinkt der Anteil der Löhne am BIP. Sieht man sich die durchschnittlichen Einkünfte der Jahre 1992 bis 1996 an, welche nicht aus Vermögen stammen, sondern nur aus Lohn und Transfers, so sinken sie um ein Prozent jährlich, bis sie dann ab 1996 stagnieren. Die Kaufkraft aber geht nicht zurück. Mit der Börsenexplosion hat die soziale Ungleichheit also in unglaublichem Ausmaß zugenommen. Treten Sie näher! Machen Sie mit! Profitieren Sie von der Börse!

Warum haben Sie noch keine Aktien?

Die Finanzwelt hat gewonnen! Die Börse hat gesiegt! Sehen Sie denn nicht, wie sich die Rekorde überschlagen, jeden Tag aufs Neue, alle 15 Minuten! Allein im Dezember 1999 ist die TF1-Aktie um 120 Prozent gestiegen! Kaufen Sie jetzt! Machen Sie aus 10.000 Francs in nur einem Monat 22.000 Francs! Mehr als das Doppelte! Warum springen Sie jetzt nicht auf den Zug auf? Sie werden reich, machen sich nützlich und bekommen Macht!

1)      Sie werden reich. Dies ist anscheinend so offensichtlich, daß man es nicht mehr erklären muß. Aber niemand verliert ein Wort darüber, daß dieses Geld nur virtuell ist und eigentlich gar nicht existiert, bis es in Güter, Möbel, Autos, Reisen und Immobilien verwandelt wird. Wenn alle auf einmal ihre Aktien verkaufen würden, um sich ein schönes Leben zu machen, würde dem Ballon Börse ganz schnell die Luft ausgehen. Das, was den Börsenwert ausmacht, sind einzig und allein die Erwartungen zukünftiger Gewinne; nur das. Ich investiere an der Börse, weil ich darauf hoffe, morgen mehr Gewinn zu erzielen, und nicht etwa, weil ich echten Reichtum besitzen möchte, in Form von Möbeln, Gemälden, Autos, Badekuren und Urlaub.

In diesem Sinne argumentiert Gérard Dupuy, Leitartikler bei Libération, ganz hervorragend. Die Kurse steigen mit einem Mal rasend schnell. Ein "historischer" Erfolg jagt den anderen. Wie alle historischen Rekorde wird aber auch der Börsenrekord nur einige Minuten anhalten. Gérard Dupuy gibt uns deshalb den unvergleichlichen Rat: Die Börse steigt, aber sie wird nicht in den Himmel wachsen. Irgendwann muß sie auf die Schnauze fallen. Je länger Sie zögern, desto größer wird das Risiko, daß Sie zum Zeitpunkt des Sturzes einsteigen. Also: Profitieren Sie heute, machen Sie jetzt mit. Sie sind doch kein Angsthase, oder? Der Abgeordnete Boulard sagt auch nichts anderes.

2)      Sie machen sich nützlich. Sie bringen der Wirtschaft und den starken Unternehmen die Mittelzuflüsse, die sie brauchen. Da spielt es wohl keine Rolle, daß die Unternehmen Kapital schon im Überfluß besitzen und es exportieren. Sie lassen das Kapital verschwinden, um die Erträge aus dem ausstehenden Kapital zu erhöhen. Genauso nebensächlich ist dann auch, daß die Unternehmen keine Stellen schaffen, sondern von einer enorm hohen Arbeitslosigkeit im wahrsten Sinne des Wortes profitieren.

3)      Sie bekommen Macht. Felix Rohatyn, amerikanischer Botschafter in Paris und ehemaliger Chef der Bank Lazard & Sons in New York, hat in Libération die pädagogischen Tugenden der Pensionsfonds gepriesen: "Der Volks-Kapitalismus hat den Amerikanern eine Kultur des Eigentums vermittelt. Diese Entwicklung hat auch in der Politik Auswirkungen gezeigt: Vor zehn Jahren hätten die Demokraten beispielsweise niemals gewagt, einen ausgeglichenen Haushalt anzupreisen. Die Aktienkultur hat außerdem ermöglicht, die drastischen Umstrukturierungen in den großen Unternehmen abzufedern." Welche Weisheit in diesen Sätzen steckt! Besonders die Arbeitnehmer haben viel gelernt: sie können ihre Aktien zwar an einer Hand abzählen, akzeptieren aber die restriktiven Programme, die die Regierungen zu ihrem Wohl entwickeln. Sie haben sich auch mit der Gesundschrumpfung der Unternehmen angefreundet, da durch Fusionen und Übernahmen der Börsenwert steigt. Zweifellos, so Felix Rohatyn, "haben die Fonds eine disziplinierende Wirkung". In den Vereinigten Staaten ist das Nettoeinkommen der reichsten 20 Prozent der Bevölkerung seit 1987 um 43 Prozent gestiegen, während das der ärmsten 20 Prozent, ebenfalls nach Steuern, um 9 Prozent gesunken ist. Aber wer will denn anzweifeln, daß diese phänomenale Ungleichheit eine besonders erzieherische Wirkung hat? Wer glaubt denn nicht, daß er eines Tages im Boot der reichsten 20 Prozent sitzt und mit vollen Segeln die ärmsten 20 Prozent hinter sich läßt, die dabei sind, zu ertrinken? Wer erkennt denn nicht die erzieherische Wirkung der Arbeitslosigkeit? Und die der Flexibilisierung der Arbeit? Wer begrüßt nicht die erzieherische Maßnahme, derzufolge die Zahl der Inhaftierten von 1990 bis 1999 von einer auf zwei Millionen angestiegen ist? Und wer sieht es nicht als pädagogische Maßnahme, daß 1999 98 Menschen hingerichtet worden sind?

Unser Bankenbotschafter weiß diese Ungerechtigkeiten sehr wohl zu einzuschätzen. Wer würde denn nicht anerkennen, daß die USA generell reicher sind?
Wir sicherlich nicht. Wenn Bill Gates seine Einkünfte verdoppelt, während das Einkommen von einer Million armen Amerikanern halbiert wird, ist Amerika rein rechnerisch reicher. Ist es auch demokratischer? Aber verfügt der Kapitalismus etwa nicht über die wundervolle Eigenschaft, sich an alle Systeme anpassen zu können – an das totalitäre China, die Mafia in Russland und das wunderbare Amerika – in dem Moment, wo Privateigentum entsteht, mit dem einzigen Ziel, Wert zu schaffen?

Der berühmte "Wert", der an der Börse geschaffen wurde? Wir werden sehen, was der Kapitalismus sonst noch bringt.

Demokratie in den Unternehmen?

Daß die Kapitalisten uns ein X für ein U vormachen wollen, die Erzeugung von Profit als Schaffung von Arbeitsplätzen betrachten und die Krümel vom Tisch der Reichen als besonders exquisite Stücke anpreisen, mag noch durchgehen. Daß die "Sozialisten" ernsthaft glauben, dem Wohlstand aller und dem Arbeitsmarkt desto besser zu dienen, je mehr man den Unternehmen hilft, ebenfalls. Aber daß einigermaßen vernunftbegabte Individuen annehmen, durch die Demokratie des Kapitals werde den Anlegern Macht verliehen, das geht wirklich zu weit. Diese Leute haben wohl nie in einem Unternehmen des privatwirtschaftlichen Sektors gearbeitet und wissen daher nicht, wie groß und verborgen die Macht dort ist. Entscheidungen werden hinter verschlossenen Türen gefällt – vor allem, wenn es um Fusionen und Übernahmen geht, die gerade den Eingeweihten erhebliche Zugewinne bescheren. Aber auch bei der Bezahlung, den Produkten, den Absatzmärkten und den Sozialplänen gilt strengste Geheimhaltung. Alle, die von der "Demokratie des Kapitals" oder von "Transparenz" sprechen, sind in ihrem ganzen Leben noch keinem Wirtschaftsanwalt oder Controller begegnet. Je heftiger Transparenz gefordert wird, desto mehr verdunkelt sich das Ganze. Je lauter man nach Demokratie schreit, desto mehr zieht sie sich zurück und die Chefs entscheiden allein. Wie Kriegsherren. Diktatoren haben sich immer gerne mit den Federn allgemeiner Zustimmung und der Maske der Freiheit geschmückt. Da sie aber nicht besonders geschickt sind, tragen sie ihre Schminke zu dick auf: 95 Prozent stimmen zu. Wie bei Vivendi, das mit seinen 2,9 Prozent Belegschaftsaktien protzt.

Sicher, es gibt Hauptversammlungen. Aber wer hat schon Einsicht in die Konten, die so verschleiert und durcheinandergebracht werden, daß das Stammhaus seine Tochterunternehmen nicht mehr wiederfindet? Jeder mittelmäßige Buchhalter kann Verluste, Gewinne und Provisionen verschwinden und wieder auftauchen lassen wie Kaninchen aus einem Zylinder. Fonds werden transferiert, Bilanzen werden konsolidiert, Finanzspritzen aus noch so komplizierten Steuerrechten organisiert, je nachdem, ob man sich in dem einen oder dem anderen Land befindet oder auch in allen, wenn man von der labyrinthischen Organisation multinationaler Konzerne profitieren will.

Ja sicher, in den Firmen, die nach dem angelsächsischen Prinzip der Corporate Governance geführt werden, fordern die Anleger, das heißt die Fondsmanager, Einsicht in die Konten, fragen also nach den Erträgen des investierten Kapitals (früher nannte man dies Gewinnspanne). Na und? Seit wann verlangen Geldgeber keine Bilanzen? Seit wann will man im Finanzgeschäft keine Erträge sehen? Und was tun die Unternehmen, die alle Wünsche bereitwillig erfüllen? Sie präsentieren phänomenale Gewinne. Was hat der Kleinanleger dabei zu sagen? Nichts. Er darf zuschauen. Er sieht zu, wie die Fondsmanager 15 Prozent verlangen und er selbst am Ende der Fahnenstange knapp fünf Prozent bekommt – das gleiche wie ein tüchtiger Arbeiter mit seinem Bausparvertrag.

Hören die Fondsmanager auf die Stimme ihrer Geldgeber, der Kleinanleger? Nein. Sie wollen Cash. Und als Ausbeuter, die ihren Job gut machen, streichen sie den größten Teil ein und lassen, wie immer, ihren Geldgebern, den Kleinaktionären, Kleinsparern und großen ... naja, lassen ihnen die Krümel übrig.

Aber! Manchmal wird ein Unternehmensvorstand sogar abgesetzt, weil er nicht genug Profit gemacht hat. Ist das etwa nicht demokratisch, meine Herren? Wir sind diejenigen, die den Chef feuern. Wir sind doch keine kleinen Arbeiter mehr, die ihren Chef nicht entlassen können.

Tatsächlich hat sich der Turnover, das heißt die Häufigkeit des Wechsels an der Unternehmensspitze, seit es Pensionsfonds gibt, kaum verändert. Außerdem werden Chefs immer dann entlassen, nachdem eine Abfindung gezahlt wurde, die eher an eine herausragende Leistung als an ein Scheitern denken läßt. Die ganz großen Chefs werden selten arbeitslos. Sehr schnell tauchen sie irgendwo wieder auf, an der Spitze eines anderen Unternehmens, manchmal auch bei einer Neugründung. Warum? Weil ein großer Chef ein Netzwerk mitbringt, ein Adreßbuch mit Freunden, Bekannten, Verwandten und potenziellen Verbündeten. Nur die Zyniker des Neoliberalismus geben noch vor, an Transparenz zu glauben.

Wie kann ein Kleinanleger sich nur einbilden, in die Geheimnisse der Geschäftswelt eingeweiht zu werden? Welcher Idiot glaubt denn noch an Transparenz, die man in Unternehmen genauso oft vorfindet wie Jungfräulichkeit in einem Freudenhaus? Wer hat denn immer noch nicht gelernt, daß Ehre und Tugend immer von denjenigen am meisten gepriesen werden, die am wenigsten davon besitzen? Wer wird in Rußland Transparenz fordern außer Camdessus, der lächerlichste Bankier des Jahrhunderts, nachdem Haberer nun in Rente gegangen ist?

Corporate Governance

Eines der modischsten Themen der letzten Jahre war Corporate Governance, Unternehmensaufsicht. Das moderne Unternehmen soll von den Anlegern kontrolliert werden, die durch ihre Pensionsfonds vertreten sind, welche wiederum durch Fondsmanager geleitet werden, also von Investmentbanken, die für die Fonds eine gute, vernünftige und transparente Unternehmensführung verlangen. Die Firmenchefs sind eigentlich nur Beauftragte, die ihren Auftraggebern Rechenschaft schuldig sind. Wenn sie die gewünschte Rendite – im Allgemeinen 15 Prozent – aus dem ihnen anvertrauten Privatkapital nicht erbringen können, werden sie mit Gehaltskürzungen, ja sogar Entlassungen bestraft.

Wenn es aber um die von den Unternehmen geforderte Transparenz geht, bewahrt man über die Konten, die vollkommen undurchsichtig und verworren sind, lieber Stillschweigen (angesichts der gewitzten Machenschaften zur Verschleierung der Geldwege in multinationalen Konzernen ist es unmöglich herauszufinden, wo das Geld steckt – selbst ein ganzes Kabinett von Controllern könnte die Unterschlagungen nicht aufspüren). Lieber spricht man vom Einkommen der Chefs und leitenden Manager oder von den Aktienoptionen, die sie untereinander verteilen. Die Transparenz bei den Gehältern soll ermöglichen, eine gute Unternehmensführung von einer schlechten zu unterscheiden. Michael Eisner, der Geschäftsführer von Disney, hat 1998 575,6 Millionen bekommen und sich für das Jahr 1999 mit 750.000 Dollar (plus 50 Millionen in Aktienoptionen) begnügt, weil sein Unternehmen rote Zahlen schrieb. Steve Jobs, Geschäftsführer von Apple, war 1999 mit 90 Millionen Dollar zufrieden, plus einiger Vergünstigungen in "Naturalien" (einem Privatjet zum Beispiel), obwohl er doch, wie man sagt, 800 Millionen Dollar Profit "bewirkt" hat. Steve Jobs bekommt also 12 Prozent des Unternehmensgewinns – nicht schlecht.

Amerikanische Firmenbosse machen ihre Gehälter publik. Im Internet werden unheimlich lustige Spielchen angeboten, bei denen man erfährt, wie viele Jahrhunderte ein Arbeitsloser leben müßte, um irgendwann auf die Gehaltssumme der ganz Großen zu kommen.

Die französischen Unternehmer haben sich stets gegen die Transparenz ausgesprochen. 1997 entstand heftige Auflehnung gegen den Viénot-Bericht, der ein wenig mehr Transparenz bei den Gehältern – Sitzungsgelder, Aktienoptionen, Sachzuwendungen (Auto, Wohnung, Rente ...) vorschlug. Außerdem wurde angeregt, die Funktion des Aufsichtsratsvorsitzenden und des Firmenvorstands voneinander zu trennen (also verschiedene Personen mit der Aufsicht und der Leitung der Firmen zu betrauen), die Sitzungsgelder zu kürzen, den Verwaltungsrat für Externe zu öffnen, die Praxis der Überkreuzbeteiligungen einzuschränken und Lohnkomitées in den Firmen einzurichten. Gegen diese Vorschläge lehnte sich die Afep (Association française des entreprises privées, ein Zusammenschluß von sehr großen Unternehmen des privaten Sektors) und der Arbeitgeberverband CNPF auf. Als im Juli 1999 eine zweite, mildere Version des Viénot-Berichts vorgestellt wurde, gab es die gleichen Beschwerden seitens der Afep und des Unternehmerverbandes Medef. Sie brachten amüsante Einwände vor: etwa das Risiko, die Blicke der Konkurrenz auf das eigene Unternehmen zu lenken, da man notorisch unterbezahlt sei (bei Unternehmen, die mehr als eine Milliarde Jahresumsatz machen, mit durchschnittlich 1,72 Millionen jährlich – bei jenen, die weniger als eine Milliarde umsetzen, mit 0,95 Millionen), außerdem wolle man Voyeurismus und Diskriminierung vermeiden und das Privatleben schützen ("Welche andere Berufssparte gibt denn ihr Einkommen an?", dixit Marc Viénot).

Im Januar 2000 erfolgte dann die Wendung um 180 Grad. Ab 2001 macht man alles öffentlich. Gehälter, Sitzungsgelder, Sachzuwendungen und Aktienoptionen werden von nun an in den Jahresbilanzen der Firmen offengelegt. Das heißt, die Gesamtsumme der Optionen für die Führungsetage und für andere, die zum Aktienbezug berechtigt sind, wird angegeben – aber man geht nicht ins Detail, um keine Konkurrenz zu schüren. Die Transparenz ist der natürliche Feind der Konkurrenz. Ein ziemlich überhebliches Argument des Managements lautet: Sportstars geben ihre Einkünfte an, und die amerikanischen Profi-Basketballer verdienen zehnmal so viel wie die größten Firmenchefs. Nun gut, dann sagen wir jetzt also auch, was wir verdienen ...

Ein besonders geschicktes Manöver, mit dem Ungleichheiten banalisiert werden. Seht her, was für eine enorme, unglaubliche Kluft – Summen, die zehn oder zwanzig Mal so hoch sind wie der Hauptgewinn im Lotto, von dem ihr immer träumt. So ist das nun mal. Aber von heute an könnt ihr die hohen Gehälter beeinflussen, wenn ihr Aktien kauft. Denn ihr seid die Anleger und wir sind euch Rechenschaft schuldig. Die Offenlegung der Einkünfte geht also mit der Offensive in Sachen Kapitalbeteiligung der Mitarbeiter einher.

Die Macht im Unternehmen

Die Kleinanleger kontrollieren rein gar nichts. Sie bekommen nichts (die Verwalter der Pensionsfonds sind keine guten Geschäftsführer, denn es gelingt ihnen meist nicht, den "Index zu schlagen", und sie haben außerdem nicht den geringsten Einfluß auf Unternehmensentscheidungen.

Aber halt! Die Société générale! Es waren doch die Beschäftigten mit ihren zehn Prozent der Stimmen, die die Société générale vor der Übernahme durch die BNP (Banque National de Paris) gerettet haben! Ohne sie hätte sich Bouton Pébereau doch nie widersetzen können!

Dummköpfe, Einfaltspinsel. Wer hat die Familie Seillière gerettet, die in die Stahlindustrie verstrickt ist? Wer hat ein Programm nach dem anderen gestartet und 200 Milliarden (100 von links, 100 von rechts) aufgebracht, mit denen die Eigentümer der Stahlwerke überschüttet wurden? Die Arbeitnehmer. Die Arbeitnehmer, die Angst davor hatten, ihren Job zu verlieren, und die Schließung der Werke so lange wie möglich hinausgezögert haben. Und man versteht sie auch noch, die Unglücklichen. Durch diesen historischen Kompromiß folgte ein Finanzierungsplan dem anderen, Geld überflutete die Bankkonten der Firmeninhaber und die Fabriken liefen wie die Mühle von Maitre Cornille, nämlich leer. Wer hat die Société générale gerettet? Die Beschäftigten, die Angst hatten, ihre Arbeit zu verlieren. Man kann sie verstehen.

Natürlich hat die sozialistische Regierung zu Corporate Governance ja gesagt, genauso wie vorher zu den Aktienoptionen und ungefähr zur gleichen Zeit zur Schaffung eines Marktes von Schadstoffemissionsrechten. Sie verwickelt sich in alle dickeren Fäden, die die Liberalen spinnen. Mit den Schwalben und dem Frühling 2000 kam dann die "Befragung der Beschäftigten bei betrieblichen und finanziellen Maßnahmen" – ein Remake der Ausschüsse, die 1982 von den Auroux-Gesetzen geschaffen wurden und genau die gleiche Kontrollfunktion innehaben sollten – Transparenz und anderes leeres Geschwätz.

Wie lächerlich diese Corporate Governance doch ist! Was kann der Beschäftigte bei Renault mit seinen Belegschaftsaktien schon gegen die Schließung von Vilvorde unternehmen? Nichts. Er kann nur schweigend zusehen. Abwarten, mit seinen vier Aktien in den zitternden Händen. Wie kann man die Leute nur glauben machen, daß nun Demokratie in die Unternehmen einzieht? Sie war dort niemals vorhanden und kann dort auch niemals herrschen. Es ist bestimmt einfacher, die Demokratie im Militär oder in der Kirche einzuführen als in den Unternehmen. Der Sowjet Renault beschließt also in fröhlicher Runde, daß dieses Werk geschlossen und jenes errichtet werden soll; entscheidet, welches neue Modell auf den Markt kommt und mit welchem Konzern man fusioniert? Wer kann sich Demokratie in den Unternehmen vorstellen? Jedenfalls kein Firmenchef, der seinem Namen Ehre macht. Er wird sich nie anders verhalten als ein Feudalherr oder ein Feldmarschall.

Bertrand Collomb ist Vorstandsvorsitzender von Lafarge. Er hat 1,7 Prozent des Firmenkapitals an die Beschäftigten verteilt. Das ist sehr wenig, viel weniger als die 9,3 Prozent der Société générale (welche den CAC 40-Index der wichtigsten französischen Aktienwerte anführt) oder die 8,4 Prozent bei Bouygues, die 3,2 Prozent bei der France Télécom und die 2,9 Prozent bei Vivendi. Aber immer noch ein Prozent besser als AXA, Danone, AGF, Casino und andere, sowie 0,3 Prozent mehr als Canal+ und 0,8 Prozent mehr als Renault. Im Durchschnitt besitzen die Beschäftigten der im CAC 40 geführten Unternehmen 2,1 Prozent des Firmenkapitals. Bertrand Collomb ist also Corporate Governance nicht gänzlich abgeneigt, aber er ist entschieden gegen eine Kontrolle der Unternehmen durch die Beschäftigten: "Denken wir doch vernünftig. Wenn das Ziel sein soll, den Beschäftigten die Kontrolle zu übergeben, sind wir doch ganz schnell bei Asterix und den Galliern, bei der französischen Sonderrolle. Natürlich sollen die Beschäftigten bei Entscheidungen ein Gewicht haben, wenn sie Anleger sind. Aber zu verlangen, daß sie die Kontrolle übernehmen – nein." Ende der Vorstellung. Sie haben zwei Aktien? Sie besitzen damit ein anteiliges Stimmrecht, das sich nach zwei Aktien berechnet. Sie haben 1000? 10.000? Je mehr Sie haben, desto mehr haben Sie zu sagen. Francis Mer, im Vorstand von Unisor, ist entschieden gegen das Prinzip von Belegschaftsaktien. Aus ehrenhaften Motiven: "damit die Beschäftigten nicht schizophren werden". Er ist eben auch ein echter Unternehmenschef.

Aktionär und Bürger

Man muß nicht Jeremias sein, um das Schicksal zu erraten, das dem schönen Wort "Bürger" beschieden ist: es wird ebenfalls vereinnahmt. Schon die Ausdrücke "demokratisches Unternehmen" oder "Unternehmensethik" sind doch lachhaft, wenn man bedenkt, daß dieses System sich auf nichts anderes gründet als auf Geld. Wenn diesem Kapitalismus etwas wirklich Revolutionäres innewohnt, wie Marx immer betont hat, so ist es die Tatsache, daß er die Moral auf einmalige Weise übergeht. Stattdessen spricht er lieber von ihr, und das pausenlos. Nach der Freiheit, dem Glück, dem Wert, dem Vaterland ("Sie werden doch nicht für die schottischen Witwen arbeiten wollen!") und anderen Begriffen, die dem Menschen wichtig sind, wird man nun auch die Demokratie über den Begriff "Aktionär" erklären und vereinnahmen. Alle, die sich dagegen sträubten, als Proletarier bezeichnet zu werden, nachdem der Konsum Kunden aus ihnen gemacht hatte, nennen sich von nun an "Kleinaktionäre". Das ist doch viel schicker.

Der Anleger ist also der neue Staatsbürger.

Dennoch ... Wenn es etwas gibt, das wirklich jeder Beschäftigte eines Unternehmens (oder auch einer Behörde) verstanden hat, so ist es, daß ein Unternehmen ein hierarchisches System ist. Ein Chef, Vasallen und Leibeigene. Bei der Bezahlung gilt das gleiche Prinzip wie bei einem Raubzug. Die Beute wird verteilt. Zuerst bedient sich der Chef, dann kommen die Vasallen, dann die Leibeigenen. Das wunderbare System der Optionen ist die perfekte Feudalherrschaft. Es handelt sich um eine Gewinnbeteiligung an Plünderung und Raub. Nehmt die Märkte ein, dann bekommt ihr was aus dem Sack voll Diebesgut.

Vor der Schlacht gegen Italien sagte Napoleon Bonaparte zu den Gaunern, die ihm folgen wollten: "Ihr habt keine Schuhe? Wir werden uns neue kaufen, wenn wir die italienischen Städte ausgeraubt und geplündert haben." Kurze Zeit später (1800) gründete er die Banque de France, gemeinsam mit zwei Händlern für militärisches Gerät: Perrégaux und Le Coulteux.

Wo bleibt die Demokratie in einem System der Aktienoptionen, das doch nur eine Weiterentwicklung des Raubzugs darstellt?

Aktien kann man sich kaufen. Staatsbürgerschaft verdient man sich.

Die Börse gehört dem Ausland

Der sozialistische Senator Henri Weber, ehemals Überlebender der ultra-marxistischen Bewegung, gibt nach einer überschwenglichen Lobrede auf den Kapitalismus zu, daß die schwache Börsenbegeisterung der Franzosen problematisch ist: "Die Hälfte des Kapitals der im CAC 40-Index geführten Unternehmen ist in ausländischer Hand. Die Lösung besteht in der Ausweitung von Belegschaftsaktien." "Ich bin für eine Demokratisierung des Firmeneigentums und die Mitbestimmung der Mitarbeiter", übertrumpft ihn der Kommunist Brard, Vizepräsident des Finanzausschusses der Regierung, "damit wirtschaftliche Entscheidungen weiterhin in Frankreich getroffen werden."

Wenn man fordert, daß die wirtschaftliche Schaltzentrale in Frankreich bleiben muß, hat man das Konzept des multinationalen Großkonzerns nicht verstanden, der international organisiert ist und sich nach Standorten umsieht, an denen die Steuern niedrig, die Subventionen hoch und Arbeitskräfte billig sind. Diese Argumentation macht damit keinen Sinn. So hat sich die DASA, ein Unternehmen der Luft- und Raumfahrtindustrie, in Holland niedergelassen und Englisch als Arbeitssprache eingeführt. Aber in diesem Kontext taucht ein weiteres widersinniges Argument auf: Ein französischer Rentner, der über keinen Pensionsfonds verfügt, arbeitet für den amerikanischen Rentner – den Postbeamten aus Sacramento oder den Lehrer aus Los Angeles –, aber auch für den schottischen Rentner (bzw. die schottische Witwe). Die amerikanischen Fonds besitzen Aktien von CAC 40-Unternehmen und lassen so Franzosen für sich arbeiten. Die Franzosen zahlen für die Rente der Ausländer, anstatt ihre eigene zu finanzieren.
"Wir brauchen mehr Pensionsfonds, um die Unternehmen bei uns fester zu verwurzeln!", sagt Henri Lachmann, Vorstandvorsitzender von Schneider. "Man kann den Kapitalismus nicht ohne Kapitalisten durchsetzen. In Frankreich gibt es keine Kapitalisten, weil das Rentensystem auf der Umlagefinanzierung basiert. Es gibt keine Kapitalisten, weil die Vermögenssteuern unendlich hoch sind und unsere Kultur das Risiko scheut [...]. Wenn wir keine Kolonie werden wollen, sollten wir Interesse daran haben, einen Teil der Konzerne in Frankreich zu verwurzeln."

Wir mußten diese Worte einfach zitieren, aber sie bedürfen einiger Anmerkungen. Sie verdienen einen ausführlichen Kommentar:

1.       Ganz im Gegensatz zu dem, was Henri Lachmann behauptet, schwimmt Frankreich in Geld.

2.       Dieser Herr möchte die Arbeitnehmer durch die Pensionsfonds zu Kapitalisten machen. Wir glauben immer noch, daß Arbeitnehmer keine Kapitalisten sind.

3.       Die Vermögenssteuer in Frankreich gehört weltweit zu den niedrigsten.
Im Vergleich zu anderen Ländern werden Kapitaleinkünfte, Gewinne und Wertzuwächse in Frankreich eher gering besteuert. Stellt man die durchschnittlich erhobenen Steuern für Kapital und Lohn (in eben dieser Reihenfolge) einander gegenüber, ergibt sich folgendes Bild:

USA

41 %

23 %

Japan

40 %

21 %

EU

29 %

36 %

Frankreich

24 %

45 %

Jetzt versteht man auch, warum die Rente durch Kapitalbildung Probleme bereitet (unzureichende Bemessungsgrundlage der Sozialbeiträge), und warum ausländische Kapitalisten neben der günstigen Gesetzeslage für Investitionen an der Börse außerdem Interesse an Frankreich haben könnten.

Vom Risiko des Kapitals zum Risiko der Arbeit

Risikokultur ... Der Arbeitnehmer soll also nicht nur seine mageren Ersparnisse einbringen, sondern auch noch das Risiko tragen.

Patrick Artus hat in seinem hervorragenden Aufsatz "Un capitalisme sans capital" (Ein Kapitalismus ohne Kapital) deutlich gemacht, daß französische Unternehmen (und alle multinationalen Konzerne) das Kapital vertilgen und zerstören, ohne irgendein Risiko einzugehen – dieses wird auf die Beschäftigten abgewälzt. In der wunderbaren Welt der Aktionärsrepublik muß das Kapital, das seine Erträge bisher durch das hohe Risiko gerechtfertigt hat, nun nichts mehr wagen. Artus zeigt auf, daß die Firmen das Kapital (vor allem durch den Rückkauf ihrer eigenen Aktien) vertilgen, damit die Rentabilitätsraten rein rechnerisch steigen und die Pensionsfonds zufrieden sind. Im Grunde genommen wird durch das System der Fonds also Wert erzeugt und Kapital zerstört.

Francis Mer, Vorstandsvorsitzender von Unisor, übernimmt einfach die Argumentation von Artus: "Die Wertschöpfung, die den Unternehmen im Moment abverlangt wird, ist eine große Lüge. Das globale Wirtschaftssystem kann keine Rendite von 15 Prozent hervorbringen. Die Anleger [die Pensionsfonds] konzentrieren sich auf einige besonders rentable Branchen ... und fordern von den anderen die gleiche Performance. Das ist aber nicht möglich." Jean-Louis Beffa, Vorstandsvorsitzender von Saint-Gobain, meint dazu: "Früher mußte man Geld verdienen. Heute muß man einen Wert schaffen. Das angelsächsische Prinzip zwingt uns, jene Branchen aufzugeben, die besonders viel Kapital benötigen." Also, was tun? "Flexibel sein", sagt Jean-Louis Beffa. Immer flexibel sein. Seid flexibel, seid risikobereit, all ihr Beschäftigten. Ihr möchtet gern der Chef sein? Dann seid ihr erst recht bedingungslos ausgeliefert.

Henri Lachmann läutet hemmungslos die Alarmglocken, weil er ein "kolonialisiertes Frankreich" voraussieht.

Obwohl Panikmache immer Wirkung zeigt, besonders wenn es um die Franzosen und ihr Land geht, täuschen sich Senator Weber, der Abgeordnete Brard und der Unternehmer Lachmann. Die Aktien im CAC 40-Index gehören nur zu 25 bis 30 Prozent ausländischen Investoren.

"Ausländisches Kapital ist in französischen Firmen nur begrenzt vertreten", titelt Les Échos vom 9. Oktober 1999 und zitiert eine Studie vom Forschungsinstitut für das Sparwesen, dessen Leiter Professor Bebeau ist. Ähnlich wie in den übrigen europäischen Ländern beträgt der ausländische Kapitalbesitz bei an der Börse notierten Unternehmen 21 Prozent, bei nicht börsennotierten sind es 16,1 Prozent. Die Verteilung in Großbritannien unterscheidet sich kaum davon: 19,7 und 14,8 Prozent. Spanien ist da offener, mit 38,8 und 25,7 Prozent, aber von dieser Öffnung profitieren eher die französischen als die amerikanischen Kapitalisten. In Frankreich besitzen Amerikaner 24 der oben genannten 21 Prozent. Wenn man das gesamte Kapital der französischen Unternehmen berücksichtigt, befindet sich 13,4 Prozent in ausländischer Hand. Das ist sehr wenig. Wir sind noch weit entfernt von den 50 Prozent des Sozialisten Weber oder den 38 Prozent im Bericht der Banque de France. Die anhaltende Panik angesichts der "Ausländer, die Frankreich einnehmen", erinnert an den Streit um die Zahl der immigrierten Arbeitskräfte.

Aber eine der grundlegenden Eigenschaften des Kapitals, die er übrigens mit Schadstoffwolken und Zugvögeln teilt, ist die Staatenlosigkeit. Man könnte ja meinen, es wäre besser, sich von einem einheimischen Chef ausbeuten zu lassen als von einem amerikanischen, aber eigentlich spielt das auch keine Rolle mehr. Außerdem müßte man dann verbieten, daß ausländisches Geld nach Frankreich fließt.

Daneben ist noch interessant zu wissen, daß das gute und patriotische französische Kapital im Ausland mehr ausländische Arbeitskraft verwertet als das ausländische Kapital französische Arbeitskraft in Frankreich. Die Bilanz der Kapitalflüsse zwischen Frankreich und dem Ausland fällt meist zum Vorteil für Frankreich aus, das in den letzten zehn Jahren ungefähr 150 Milliarden Francs exportiert hat. Frankreich fehlt es an Kapital, die Ausländer nehmen uns aus ... Gnade! Gnade!

Die französischen Pensionsfonds werden französische Arbeitsplätze retten

Sicher, wir haben gesehen, wie die französischen Unternehmen in den letzten zwanzig Jahre Profite erwirtschaftet haben, um "Arbeitsplätze zu schaffen". Sie haben die Arbeitslosigkeit genutzt, um ihre Gewinne zu steigern, aber darum geht es jetzt nicht.

Stellen wir uns nun vor, es gäbe französische Fonds. Ein Fonds für pensionierte Lehrer aus der Region Midi-Pyrénées. Warum sollte dieser Fonds sich mit den schlechten und schwankenden Erträgen in Frankreich abfinden, wenn es im Ausland sichere und hohe Renditen gibt? Warum sollten die französischen Fonds sich mit der schlechten Rentabilität in Frankreich, die vielleicht bei fünf Prozent liegt, zufrieden geben, nur damit sie in Unternehmen investieren, die von Franzosen geführt werden – wo sie doch im Ausland eine viel bessere Rendite von 15 Prozent geboten bekommen? Der Großmut des Kapitals wird niemals so weit gehen, auch nur ein Milliardstel Profit auszuschlagen.

Das oben vorgebrachte Argument ist so typisch französisch, nationalistisch und fremdenfeindlich, wie man sich nur vorstellen kann. Die französischen Chefs sind gut und mögen ihre Mitarbeiter. Die ausländischen Chefs sind böse und mögen ihre Mitarbeiter nicht. Wenn unser guter Michelin Pensionsfonds gehabt hätte, hätte er keine Leute entlassen müssen. Ja, eigentlich sind die Beschäftigten selbst schuld daran, daß sie ihre Arbeit verloren haben, denn sie haben ihrem Chef, der doch für seine Güte so bekannt ist, keine Pensionsfonds verschafft.

Mit ihrer Nächstenliebe wollen die Pensionsfonds nur eines erreichen: die Rentabilität ihrer eigenen Fonds steigern und den Börsenwert in die Höhe treiben. Sie interessiert weniger das Wachstum der Unternehmen als deren Rentabilität. Sie wollen unrentable Bereiche schließen, "Sozial"-Pläne durchsetzen und damit den Ertrag steigern. Da spielt es auch keine Rolle, wenn aufgrund der wilden Jagd nach Produktivität nach dem Motto "Jeder für sich" kollektive Katastrophen auftreten, wie zum Beispiel bei der Produktion von Schweinefleisch, welche die Umwelt zerstört, das Wasser verseucht und schließlich die Schweinezüchter ruiniert hat.

Und immer noch aus reiner Nächstenliebe verdrängen die Pensionsfonds den früheren finanziellen Mittler zwischen Anleger und Unternehmen, der sich staatliche Depositenbank nannte. Die Depositenbank fungierte als Stoßdämpfer, indem sie die Risiken verteilte. Sie war die Pufferzone zwischen Konjunkturschwankungen und Unternehmen.

Über die Fonds kommt der Arbeitnehmer in direkten Kontakt mit der Börse. Wenn die Kurse und Wertpapiere steigen, steigen auch sein Vermögen und seine Rente. Und umgekehrt. Er nimmt die Konsequenzen der Flexibilität in Kauf, die der sofortige maximale Gewinn fordert. Er nimmt Entlassungen in Kauf, damit er größtmöglichen Profit erlangt. Er hofft, daß die Löhne nicht steigen, damit der Profit nicht gedämpft wird. Er betet, daß die Rentenwirtschaft andauert und die Arbeitnehmer in der wirtschaftlichen Aktivität auf das Existenzminimum reduziert werden. Er bittet, daß man ihm eine Hand amputiert, damit er mit der anderen sein gerade frisch verdientes Geld herüberreichen kann, das man von ihm fordert. Und wenn er keine Hände mehr hat, dann zahlt er seinen Obolus mit den Stummeln, die ihm bleiben.

Dabei vergißt er aber, daß es doch im Wesentlichen die Beschäftigten, die Erwerbstätigen sind, die die Firmen, Krankenhäuser und Callcenter arbeiten lassen und ihm, als ehemaligem Beschäftigten, zu leben ermöglichen. Er vergißt auch, daß die Beschäftigten immer noch Sozialbeiträge für ihn zahlen. Der Unternehmenschef Francis Mer hat Recht: er ist schizophren. Wenn Édouard Michelin seinen nächsten Sozialplan vorstellt, wird er nicht mehr sagen: "Schuld sind die schottischen Pensionsfonds", sondern: "Es sind die französischen Pensionsfonds eurer Landsleute, die jetzt Senioren und Aktionäre geworden sind, die eure Entlassung fordern". Damit wird er Recht haben. Hoffen wir, daß sich der französische Rentner nicht beschweren wird, wenn er im Krankenhaus liegt, weil dort zu wenig Pflegepersonal vorhanden ist. Aber vielleicht läßt er sich ja auch lieber in England behandeln, wo das Pflegepersonal und die Krankenbetten ganz verschwunden sind?

Blicken wir zurück. Stellen wir uns vor, der tüchtige französische Bergarbeiter hätte vor 25 Jahren in die Kohlebergwerke oder Stahlhütten der Lorraine investiert. Was hielte er dann jetzt in den Händen? Ein paar Pfennige. Das gesamte Kapital der Stahlindustrie, das durch zwei Generationen von Steuerzahlern aufgebracht wurde, ist von Ernest-Antoine Seillière (und ein paar anderen) vereinnahmt worden.

Und wer ahnt denn nicht, daß die schönen Pläne zur "Verteilung" von Aktien (Verteilung? Verkauf, liebe Freunde, Verkauf! – es gibt doch keine Aktienoptionen, die faktisch nichts Bares vom Bezugsberechtigten fordern) an die Mitarbeiter des Unternehmens ein hervorragendes Mittel sind, wieder an Bargeld zu kommen? Vivendi hat mit der Aktion "Pegasus" (Aktien für alle) im Frühjahr 1999 2,5 Milliarden Francs eingenommen, was doch immerhin eine erhebliche Summe ist, die außerdem eine beträchtliche Hebelwirkung hat: Mit den neuen liquiden Mitteln – sozusagen Cash – im Rücken kann das Unternehmen zur Bank gehen und um einen Kredit ersuchen (der ungefähr zehnmal so hoch ist).

Die schottische Witwe und der Postbeamte aus Sacramento profitieren von der Leistung der Franzosen

"Ich bin’s nicht, sondern die schottische Witwe", jammert einer der größten Umweltverschmutzer unseres Planeten – oh, Entschuldigung, einer der größten Händler des persönlichen Freiraums, der nebenbei noch Autos herstellt und Verkehrsstaus verursacht, Louis Schweitzer bei der Schließung von Vilvorde. Genau sagt er folgendes: "Die institutionellen Investoren [die Pensionsfonds] fordern ...". Diese Pensionsfonds arbeiten für kalifornische und schottische Beamte.

Den armen ausländischen Rentnern auf diese Weise den Schwarzen Peter zuzuschieben, ist einfach skandalös.

Die schottische Witwe und der Postbeamte aus Sacramento sehen nur wenig von dem Geld, das auf Kosten des tüchtigen französischen Arbeiters eingetrieben wird. Von den berühmten 15 Prozent Rendite, die die Pensionsfondsmanager verlangen, geht ein großer Teil eben an die Fondsmanager, an die Investmentbank, die als Mittler und eigentlicher Entscheidungsträger zwischen Fonds und Unternehmen steht. (Sie entscheidet zum Beispiel: "Entlaßt mehr Beschäftigte, um die Rentabilität zu steigern".) In den USA funktioniert dieses System so "hervorragend", daß immer weniger Beschäftigte abgesichert sind: 1987 waren es 53 Prozent, 1995 nur noch 40 Prozent. Die Höhe der Pension wird immer seltener im Voraus festgelegt. 1989 waren 28 Prozent der Beschäftigten durch eine festgesetzte und regelmäßige Leistung abgesichert, 1995 waren es nur noch 19 Prozent. Besonders hart trifft diese Entwicklung die Beschäftigten der kleineren und mittleren Unternehmen: Lediglich 15 Prozent des Personalbestands von Unternehmen mit weniger als 500 Mitarbeitern sind durch die Fonds abgesichert. In Firmen, die weniger als 25 Mitarbeiter beschäftigen, sind nur 6,2 Prozent der Lohnempfänger abgesichert! Die Rente ist so niedrig, daß viele Menschen, die eigentlich das Rentenalter erreicht haben, weiter arbeiten müssen.

Mit den wunderbaren Pensionsfonds als Geldgebern werden in den USA im Verhältnis weniger Firmen gegründet als in Frankreich ohne Fonds. 1996 waren es 842.357 in den USA und 275.286 in Frankreich, wobei die USA aber viermal so viele Einwohner haben. Die Überlebensrate der Neugründungen ist aber dieselbe: 50 Prozent halten sich fünf Jahre.

Solchermaßen angegriffen, verteidigen sich die Pensionsfonds.

Calpers und Templeton (die jeweils 158 und 230 Milliarden Dollar verwalten) wissen nur zu gut, daß sie in Frankreich wenig Freunde haben, weil die Alcatel-Aktien in den Keller gesunken sind, nachdem sie sich aus dem Unternehmen zurückgezogen hatten. Jetzt jammern sie. "Wir besitzen nur ein bis drei Prozent des Kapitals der großen Unternehmensgruppen", meint Bill Crist, der Chef von Calpers. "Wir behalten unsere Aktien im Durchschnitt fünf Jahre, während der Geschäftsführer einer Investmentfondsgesellschaft sein Portfolio jedes Jahr vollkommen neu bestückt", sagt François Carlotti, Chef von Templeton Frankreich. Bill Crist hat sich gegen die Behauptung gewehrt, er würde den Unternehmen ein bestimmtes Renditeziel vorgeben. Er betont, daß man sich für die Strategie der nächsten fünf bis zehn Jahre interessiere und dabei nur eine Forderung habe: Offenlegung der Gehaltszahlungen für die Chefetage, Einschränkung der Vollmachten (wie im Viénot-Bericht angeregt) und die Verteilung von Aktienoptionen an alle Beschäftigten.

Calpers, ein Pensionsfonds von kalifornischen Beamten, besitzt 158 Milliarden Dollar, also 950 Milliarden Francs, zweieinhalb Mal so viel, wie man in Frankreich für die private Rentenvorsorge ausgibt. TIAA-Cref – ein Pensionsfonds für Lehrer – verwaltet 230 Milliarden Dollar: 1400 Milliarden Francs. So läßt sich ungefähr ermessen, was die "Fonds à la française" noch vor sich haben, um gegen solche Ungeheuer anzutreten. Da werden die Arbeitnehmer wohl ihre gesamten Ersparnisse blechen müssen, damit die französischen Firmen in Frankreich "Wurzeln schlagen"!

Aber es stimmt schon, der Anteil der Pensionsfonds am Unternehmenskapital übersteigt selten drei Prozent. Sie sind besonders in großen Konzernen vertreten (20 Prozent der ausländischen Fonds bei Pechiney, 19 Prozent bei BNP, 16 Prozent bei Alcatel und 15 Prozent bei Michelin), aber ein unerwarteter Verkauf dieser drei Prozent reicht schon aus, um den Kurs abrupt fallen zu lassen. Bei Fusionen und Übernahmen wird den Fonds stets der Hof gemacht. Jean-Louis gibt aufschlußreiche Äußerungen über die Fonds und die Saint-Gobain-Aktie von sich, die das Konzept der Demokratie des Kapitals hervorragend verdeutlichen: "Zwischen dem tatsächlichem Wert eines Unternehmens und dem Wert, den die Märkte ihm zuschreiben, besteht keinerlei Zusammenhang. Seit Anfang des Jahres ist unser Börsenkurs um 35 Prozent gestiegen, und das allein deswegen, weil wir uns bei unseren Unternehmensmeldungen an die Regeln gehalten haben. Der Markt ist wie eine Schafherde. Es ist nicht schlimm, wenn man die gleichen Fehler wie die anderen macht, denn die Dinge verändern sich schnell und kurzfristig." Er schließt mit den Worten: "Die Saint-Gobain-Aktie wird im Wesentlichen von 15 Personen beeinflußt." Dies sollten sich die Millionen Kleinaktionäre, die immer noch an die "Demokratie" des Kapitals und der Märkte glauben, gut merken. Und auch Nicole Notat, die scheinheilig meint: "Die Organisation der Kapitalbeteiligung von Mitarbeitern ist von nun an Aufgabe der Gewerkschaften." Wie modern diese Zarin doch ist!

Wenn Nicole Notat auf eine leitende Position hofft, wird sie ganz sicher enttäuscht. Denn die Pensionsfonds verwalten die Gelder der Rentner nicht direkt. Sie übertragen die Leitung an "Fondsmanager", also an Investmentbanken. So wird zum Beispiel der Unilever Superannuation Fund (USF), ein Pensionsfonds des multinationalen Konzerns Unilever, von Mercury Asset Management (MAM) geleitet, einer Tochter von Merill Lynch. Nun verlangt USF von MAM 154 Millionen Euro Schadensersatz, weil die Bank schlechte Arbeit geleistet hat und die geforderten acht Prozent Rendite nicht erbringen konnte. MAM erwidert, daß im Vertrag ein Spielraum von drei Prozent unterhalb der geforderten Performance vereinbart wurde. Die Investmentbank MAM ist oberste Kontrollinstanz für alle Unternehmen, deren Aktien im USF vertreten sind. Investmentbanken organisieren weltweit Fusionen und Übernahmen, öffentliche Aktientausch- und -kaufangebote, Beteiligungen und Bündnisse von Anteilseignern – kurz gesagt: sie organisieren den Kapitalismus. Ihre Führungskräfte werden gut bezahlt. Carol Garey, die zweite Geschäftsführerin von MAM, hat 1998 12 Millionen Dollar verdient. "Die City ist beunruhigt über die gewaltigen Einkommen der Fondsmanager." Oh, wenn schon der City nicht mehr ganz wohl dabei ist! Aber es ist nun mal üblich, daß Mittler (wie zum Beispiel der Großhandel, der strategisch günstig zwischen Hersteller und Konsument steht) sich ein großes Stück vom Kuchen abschneiden.

Die Methode ist ganz einfach: Die Investmentbank (der Fondsmanager) fordert vom Unternehmen eine bestimmte Rendite (sagen wir 15 Prozent). Das Unternehmen rückt mit diesen 15 Prozent in Form von Aktien raus. Aber der Gewinn kommt nicht den braven Kleinanlegern zugute, sondern ein Großteil wird von den Fondsmanagern vereinnahmt und ein weiterer Teil fließt in den Fonds selbst. Der Rest, ungefähr fünf Prozent des Wertes, den das Unternehmen aus seinen Beschäftigten zieht, geht an den Rentenempfänger. Aus diesem Grund sind die Renten nicht so unwahrscheinlich hoch, wie die explosionsartige Entwicklung an der Börse vermuten läßt. Und hier zeigt sich auch, daß man die schottische Witwe und den Lehrer aus Sacramento zu Unrecht beschuldigt.

Die Fondsmanager leiten nicht nur Pensionsfonds, sondern auch mutual funds, die offenen Investmentfonds unserer Investmentfondsgesellschaften entsprechen. In den USA gab es 1998 7700 mutual funds mit einer Kapitalmenge von insgesamt 5500 Milliarden Dollar. "95 Prozent dieser Gesellschaften schaffen es nicht, den Markt zu schlagen" – das heißt, sie erreichen nicht den am Markt erreichten Durchschnitt. Dies hindert die Fondsmanager aber nicht daran, ein Prozent des Kapitalwerts als Verdienst an sich zu nehmen, plus 20 Prozent des Gewinns aus den Aktiva. "Ein Teil des weltweiten Sparvolumens wandert so in die USA – ein Land mit einem außerordentlich hohen Pro-Kopf-Vermögen, das eigentlich Sparguthaben exportieren müßte."

Aber es gibt ja noch unsere tüchtigen französischen Arbeitnehmer! Sie werden die Geldströme Richtung USA ausgleichen. Denn die reichen Franzosen investieren in den USA, aber die Armen werden ihr Erspartes in Frankreich anlegen, damit sie die französischen Firmen unterstützen, die dann ihr Kapital in die USA schicken – dahin, wo es ordentlich Rendite gibt. Arbeitnehmer sind zwar alte Meckerfritzen, aber Patrioten, nicht wahr? Sie werden mit ihren Fonds, die nichts abwerfen, in Frankreich bleiben.

Fonds sind wie Familienväter

Anders als eine weitverbreitete Meinung vermuten läßt, sind die amerikanischen Fonds vorsichtig. Sobald der Wind dreht, verkaufen sie. Sie haben den Crash von 1987 in Europa und den Börsensturz in den Entwicklungsländern verursacht, indem sie zugunsten amerikanischer Obligationen (Anleihen des amerikanischen Staatshaushaltes) verkauften, bei denen sie wieder Zuflucht fanden. Aus diesem Grund sind einige hedge funds (stark spekulierende Investmentfonds) wie Quantum von George Soros oder Long Term Capital Management (LTCM) von Merriwether auf die Nase gefallen, denn sie hatten auf Baisse der amerikanischen Obligationen spekuliert. Wenn die Fonds irgendwo einsteigen, steigt der Börsenwert. Die Unternehmen haben sich nicht verändert, es wurde nichts geschaffen, alles nur Antizipation. Wenn die Fonds wieder aussteigen, sinkt der Wert. Die Pensionsfonds sind etwas beständiger als die mutual funds, die sich im Schnitt alle neun Monate von hier nach da wenden. Die Spekulation, sagt der Davannes-Bericht, korrigiert sich von selbst. Hier haben wir den Mythos von einem Markt, der sich allein reguliert, die unsichtbare Hand steuert alles ganz von selbst. Wirtschaftsexperten, die dieses Phänomen erforscht haben, haben diesen Mythos jedoch schon vor dreißig Jahren fallengelassen.

Nun, ihr möchtet, daß den Rentnern die Leistungen zukommen, die sie als treusorgende Familienväter verdienen? Dann laßt sie bloß in Ruhe. Zerstört nicht die Umlagefinanzierung und nehmt ihnen nicht ihren Lohn und ihre Sparkonten. Hört auf, sie zu bestehlen.

Die Unternehmen benötigen Geld

Ein gerne vorgebrachtes Argument lautet: Die Löhne sinken immer mehr, die Profite steigen, aber die Unternehmen benötigen immer mehr Geld und sind deshalb darauf angewiesen, ihre Mitarbeiter um Hilfe zu bitten. Der französische Kapitalismus muß ohne Kapital auskommen, meinte ja schon der sachkundige Henri Lachmann.
Das ist schlichtweg falsch. Die Firmen brauchen kein Geld. Ja, sie brauchen nicht nur kein Geld, sie haben sogar mehr als genug. Sie haben nicht nur mehr als genug, sie exportieren es auch noch. Sie exportieren es nicht nur, sie vernichten es sogar.

Die Aktienmärkte bringen den Unternehmen kein frisches Geld ein. "Auf allen europäischen Märkten sind die Netto-Emissionen, das heißt die Bruttobeträge nach dem Rückkauf von Aktien und der Ausschüttung der Dividenden an die Aktionäre, seit Jahren negativ. Die Dividenden nähern sich der Höhe der Emissionen: somit emittieren die Aktiengesellschaften, um ihre Anleger zu bezahlen." Die Anleger an der Börse (Pensionsfonds, Immobilienfonds, Versicherungen) ziehen damit mehr Geld aus den Unternehmen ab, als sie hineinstecken. Ist das nicht eine feine Sache, Herr Lachmann?

Wozu dient nun die Börse, wenn es nicht darum geht, die Unternehmen zu finanzieren? Zur Restrukturierung und Fusionierung. Die Börse ist der Ort, an dem Branchen und wirtschaftliche Aktivitäten neu definiert werden (soll man Autos, genmanipulierte Lebensmittel oder Software herstellen?), hier werden öffentliche Aktienkauf- und tauschangebote, Übernahmen und Fusionen herbeigeführt. Die Börse ist vor allem ein Gelegenheitsmarkt. Man verhandelt über vorhandene Werte. Man bringt den Kapitalismus voran. Der multinationale Mega-Kapitalismus trifft sich dort, befühlt und beschnüffelt sich, heiratet auch. Er vergnügt sich umso mehr, wenn jene Trottel, die sich reich glauben, weiter gehorsam ihren Zehnten abgeben. Ein Reicher verschmäht nie einen Pfennig, auch wenn dieser von einem Bettler kommt.

Die Unternehmen brauchen bestimmt kein Geld, denn sie schaffen es ja nicht einmal, all ihren Gewinn erneut zu investieren. Der Anteil der Eigenfinanzierung (die erneut investierten Profite), der in den 60er-Jahren bei 60 bis 70 Prozent lag (was also heißt, wenn eine Firma 100 Francs investierte, um eine neue Maschine zu kaufen oder eine neue Produktionseinheit zu schaffen, fehlten ihr dabei 30 bis 40 Francs), ist in den letzten fünf Jahren auf 110 bis 120 Prozent gestiegen. Somit hat das Unternehmen noch 10 bis 20 Francs übrig. Was tun damit? Es wird exportiert, ins Ausland geschickt.

Der Aktienrückkauf

Seit dem 1. Juli 1998 dürfen französische Unternehmen ihre Aktien zurückkaufen. Sie können bis zu zehn Prozent des Kapitals vernichten. In der Zeit vom 1. Juli bis 1. Oktober 1999 haben 165 Aktiengesellschaften solche Rückkäufe getätigt. Unter ihnen sind 35 der 38 Unternehmen, die den CAC 40 bilden. 17 Prozent der zurückerworbenen Aktien sind schlicht und einfach dahin, 25 Prozent wandern in Belegschaftsaktien. Der Rest dient zur "Regulierung" der Kurse, also um die Pensionsfonds zufriedenzustellen.

Indem sie ihr Kapital verkleinern, erreichen die Unternehmen automatisch höhere Erträge für das Restkapital. Dies nennt man "Relution", im Gegensatz zur "Dilution". Die Unternehmen haben also keinen Geldbedarf, denn sie vernichten ja das Kapital. Zum Rückkauf der eigenen Aktien verwenden sie entweder Bargeld, verwandeln die zurückgekauften Aktien in Optionen oder verschulden sich (das ist meist der Fall). Wegen der fünf Prozent Zinsen auf Anleihen und den 15 Prozent Rendite aus ihren Aktien, den die Fondsmanager fordern, haben sie Interesse daran, Schulden zu machen, Aktien zu vernichten und erfreuen die Aktienbesitzer nicht nur damit, daß die Rentabilität von 15 Prozent erreicht wird, sondern außerdem dadurch, daß ihre Aktien steigen – schon allein deswegen, weil es weniger geworden sind. Ihre Rückkauf-Aktionen, die bei der Börsenaufsicht verzeichnet werden, betrugen bis Ende 1999 schätzungsweise 656 Milliarden Francs.

Der Rückkauf von Aktien ermöglicht den französischen Unternehmen, ihren return on equity (die Eigenkapitalrendite, in Frankreich 12,4%) jenem der britischen (33,8%), amerikanischen (21,8%) und deutschen (19,4%) Unternehmen anzupassen. Nur die Japaner liegen noch weiter zurück (mit 6,9%). Es ist schon absurd, wenn dem Land, das seine Bahn so erfolgreich privatisiert hat, daß die Lokomotiven sich gegenseitig zertrümmern und aus Gründen der Rentabilität die Leiche eines Selbstmörders mehrfach überrollen; dem Land, das nicht mehr fähig ist, die Kranken einer Grippe-Epidemie zu versorgen und so auch den Tod eines sympathischen internationalen Rugby-Stars aus Wales zu verantworten hat; dem Land, das sich mit den höchsten Profitraten brüstet (sowie den bestbezahlten Managern, der größten Kluft zwischen arm und reich und der meisten Kinderarbeit in Europa), wenn diesem Land der meiste Respekt entgegengebracht wird.

In den USA hat Microsoft von 1990 bis 1997 134 Millionen Aktien auf den Markt gebracht und dann die Hälfte wieder zurückgekauft, zugunsten seiner Führungsetage, die in Aktienoptionen vergütet wird. Französische Firmen verfahren nun nach der gleichen Methode, wenn auch in einem geringeren Ausmaß. Sie machen Kapital unfruchtbar, um eine Handvoll Privilegierter zu begünstigen. Das ist also die Demokratie des Kapitals. Sicher, sobald die Mindestlohnempfänger Kapitalisten sind, werden sie von diesen Börsenmanipulationen besonders profitieren.

Die Börse schafft keinen Wert

Die Wertschöpfung ist die seltsamste Mystifizierung, mit der die Lohnempfänger von der Kaste der Wirtschaftsexperten an der Nase herumgeführt werden, seitdem Fachleute sich eifrig für die Reichen einsetzen.

Als Michelin 7500 Mitarbeiter entließ und zugleich ankündigte, daß die Unternehmensgewinne jedes halbe Jahr um 20 Prozent zunehmen werden, stieg die Aktie sofort um zwölf Prozent. Was bedeutet das? Daß die von der Aktiengesellschaft Michelin erwarteten zukünftigen Gewinne ermöglichen, dem Finanzkapital von Michelin schon im Voraus eine Rendite von zwölf Prozent zukommen zu lassen. Das Finanzkapital bildet das Gegenstück zum physischen, geistigen und "Lohnkapital" (Marx nannte die Löhne zu Recht "variables Kapital").

Wie kann sich eine solche Steigerung ergeben? Ganz einfach durch ein Phänomen der Spekulation: Ich kaufe Michelin, weil ich weiß, daß die Aktie steigen wird; da wir alle wissen, daß sie steigen wird, kaufen wir alle – und sie steigt tatsächlich. Dies nennt man eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Zu Anfang ist es nur eine Seifenblase. Um aus dieser Seifenblase einen Wert zu machen, müssen die leitenden Manager von Michelin die "Arbeit" und "Aktivität" des Unternehmens dahin bringen, die in sie gesetzten Hoffnungen wahr werden zu lassen. Ansonsten bleibt die Seifenblase, was sie ist: ein leeres Versprechen.

Man kann auch folgende sich selbst erfüllende Prophezeiung betreiben: Ich bin ein Pensionsfonds. Ich fordere 15 Prozent Reingewinn von Michelin. Ich kaufe Michelin-Aktien, weil ich weiß, daß das Unternehmen Druck auf seine Produktion ausüben wird und die Maschinen derart auf Hochtouren laufen lassen wird, daß der Wert der durch meinen Kauf gestiegenen Aktien den zu Anfang geforderten 15 Prozent Rentabilität entspricht.

All dies soll nur zeigen, daß der Wert am Ende doch in wirtschaftlicher Aktivität, Arbeit, Ingenieuren, Maschinen und verkauften Reifen besteht. Ohne verkaufte Reifen kein Wert. Ohne Arbeit keine Reifen. Wie man es auch dreht und wendet: Am Ende steht auch im Kapitalismus die Arbeit. Am Schluß seiner fesselnden Studie über das Börsenmilieu und die Abläufe des Finanzkapitalismus erkennt Keynes, großer Spekulant und erbitterter Feind von Marx, daß hinter dem Wert immer die Arbeit steckt. Wenn die Arbeit den Wert nicht realisiert, bleibt er eine Hypothese, eine Seifenblase.

Ach, Worte töten. Der Ausdruck "Wertschöpfung" läßt vermuten, daß der Wert sui generis entsteht, durch den Zauberstab der Spekulanten, Fusionierer und Wegbereiter des internationalen Kapitalismus. Damit geht eine Geringschätzung der Arbeit einher. Sind diese Arbeitnehmer nicht verachtenswert, wo doch ihre lumpigen Löhne stagnieren, während die Börsenkurse phänomenal steigen? Wer sind denn die Blöden, die Gelackmeierten, die armen Kerle? Die Lohn- und Gehaltsempfänger oder die Aktionäre? Wer sind die Betrogenen? Also versucht Euer Glück auch an der Börse! Wenn dann aber Rechenschaft abgelegt werden muß, tritt der wahre Richter hervor: die Arbeit.

Spekulationsblasen an der Börse sind ein rein inflationäres Phänomen. Früher einmal beschränkte sich die Inflation auf die Löhne und die Spirale von Preisniveau und Kaufkraft. Heute konzentriert sie sich auf die Börse und die Schöpfung von virtuellem Geld, mit dem man Unternehmen kaufen kann. Dieses Geld ist nichts als Börsengeld, dessen Papier aus Aktien besteht. Da immer mehr Manager mit Aktien bzw. mit Gutscheinen zum Erwerb von Aktien und nicht durch Lohnzahlungen vergütet werden, ist auch ganz klar, daß die Inflation die Börse heimsuchen wird.

"Im Bereich der Wirtschaft wird, wie einst im Bereich der Politik, die protegierte und gottgegebene Macht der Firmenchefs (sture Kerle, die mit anderen unter einer Decke steckten und Geheimnisse hatten) miterleben, wie sich ein neuer dritter Stand erhebt, nämlich jener der Anleger und Verbraucher. Der marxistische Arbeiter wollte den kollektiven Besitz der Produktionsmittel erkämpfen. Heute investiert der Kleinanleger, um peu à peu das gleiche Ziel zu erreichen ..."

Ein neuer dritter Stand ... wenn es mehr nicht ist. In dem "peu à peu" steckt eigentlich alles.

Jenseits des Lohns: Aktienoptionen

Erinnern Sie sich an Alcatel? Der Aktienkurs dieses Unternehmens ist an nur einem Tag um fast 40 Prozent gefallen, weil die Pensionsfonds die Nase darüber rümpften, daß der Firmenchef erklärte, die Gewinne würden wohl doch nicht so bedeutend ausfallen wie erhofft. Zack, man verzieht sich. Inzwischen hat sich Alcatel wieder aufgerappelt. Jetzt verkündet das Unternehmen mit Pauken und Trompeten, daß 1,8 Millionen Aktienoptionen an alle 120.000 Beschäftigten gehen, bis auf die Amerikaner. Da macht also 15 Aktien pro Mitarbeiter. Nebenbei bemerkt soll die amerikanische Belegschaft von Alcatel 2,4 Millionen Aktienoptionen bekommen. Die leitenden Manager von Alcatel sollen mit 3 Millionen Aktienoptionen bedacht werden – damit könnte jeder der glückliche Besitzer von 1000 Aktienoptionen sein. Aber die erste Regel lautet: "Je höher du stehst, desto mehr hängt die Zukunft von dir ab." Also bekommen die führenden Manager von ganz oben 10.000 und die weiter unten 500 Optionen. Die Kluft zwischen Führungsetage und Fußvolk ist bemerkenswert: 1000 für erstere, 15 für den Rest. Das nennt man dann "Demokratie" durch Belegschaftsaktien für das Volk.

Mit der Aktion "Bouygues Vertrauen" wendet sich Bouygues an 57.000 Beschäftigte, die daran interessiert sein könnten, Unternehmensaktien zu kaufen. (Die Aktie sollte am 1. Januar 1999 1645 Francs kosten, bei 20 Prozent Unterbewertung). Die Betreffenden können nun auch mehr Aktien erwerben, dank eines Kredits der Crédit Lyonnais. Sie müssen dafür vier Jahre lang auf 40 Prozent des Wertzuwachses und auf Dividenden verzichten. Bei einem Wertpapier, das allein im Dezember 1999 um 100 Prozent zugelegt hat, macht sich das schon bemerkbar.

Vivendi hat ein Programm mit dem Namen "Pegasus" ins Leben gerufen, Suez-Lyonnaise den Plan "Spring" ... Alle Unternehmen haben inzwischen begriffen, daß es von Vorteil ist, wenn man einen Teil des zukünftigen Gewinns verspricht, statt Lohn zu zahlen.

Inzwischen stürzen sich zahllose Unternehmen in Pläne zur Verteilung von Aktienoptionen und zum Verkauf von Aktien an ihre Belegschaft.

Diese Entwicklung ist revolutionär. Der Anfang vom Ende der Lohnzahlungen. Die größte Bedrohung für die Lohnempfänger, seitdem es Lohn und Gehalt gibt. Ja, sicher, es wird immer eine Mehrheit von mittleren Führungskräften, Angestellten, niedrigbezahlten Arbeitern, Mindestlohnempfängern und working poor geben. Aber für die anderen, die gehobene Mittelschicht, von der Oberschicht ganz zu schweigen, wird es keine reale, regelmäßige Lohn- und Gehaltszahlung mehr geben, sondern die Möglichkeit, am zukünftigen Gewinn ihrer Firma beteiligt zu sein.

Mit Aktienoptionen werden den Beschäftigten noch stärkere unsichtbare Fesseln angelegt, nachdem ihnen bereits die linke unsichtbare Hand des Marktes das Maul aufsperrt, damit die rechte ihren Trichter ansetzen kann, durch den man sie mit Prionen, genmanipulierten Lebensmitteln, Autos, Werbung in Internet und Fernsehen, Sondermüll und anderen Vergnügen jeglicher Art mästen kann.

Alcatel und Konsorten rechtfertigen die Verteilung von Aktienoptionen durch die Notwendigkeit, die Führungskräfte und leitenden Manager an sich zu binden. Früher einmal hat man sie mit hohen Löhnen gehalten. Heutzutage verspricht man ihnen fantastische Gewinne, die zehn- bis hundertmal höher liegen als die besten Gehälter der 70er- und 80er-Jahre. Um die Botschaft zu verbreiten, bekommen alle Beschäftigten ein paar Krümel der Aktienoptionen – sie werden aber für immer und ewig ganz unten bleiben. Jenseits dieses platten Zynismus geht es darum, die Philosophie der Aktienoptionen zu verstehen, die alles andere als platt oder banal ist.

Gewinnversprechen statt Lohn und Gehalt

Was ist eine Aktienoption? Eine versprochene Aktie, ein versprochener Anteil am Kapital eines Unternehmens. Meine Aktie ist 100 Francs wert. Meinem Arbeitnehmer biete ich eine Option zu einem niedrigeren Preis, sagen wir 80 Francs. Dieser kann sein Optionsrecht nach Ablauf von ein bis fünf Jahren ausüben (ein Jahr in den USA, fünf in Frankreich, um nicht vom Finanzamt für die Wertsteigerung der Aktien bestraft zu werden, wenn man wieder verkauft) und sie virtuell für 80 Francs erwerben.

Der Arbeitnehmer zahlt keinen Pfennig. Er hat ein Anrecht auf die Aktie. Wenn der Börsenwert der Aktie in den fünf Jahren auf 200 Francs steigt, übt er das Optionsrecht aus. Er kauft die Aktie, aber zum Basispreis von 80 Francs. Er hat damit 120 Francs Nettogewinn gemacht, ohne einen Pfennig auszugeben.

Wenn er fünf Jahre wartet, betrachtet die französische Steuer seinen Gewinn nicht mehr als Lohn. Somit muß der Begünstigte auf den Betrag keine Einkommenssteuer (bis zu 54 Prozent) noch Sozialabgaben zahlen, wie sonst beim Lohn üblich. Und das Unternehmen natürlich auch nicht. Optionen bringen also eine Steuerbefreiung für Unternehmen und Beschäftigte.

Was zahlt der Beschäftigte nach Ablauf von fünf Jahren? 40 Prozent vom Wertzuwachs (seit 1995, nach der Erhöhung durch Juppé – bis dahin waren es 25 Prozent, in den USA und generell im Ausland liegt der Satz weiterhin um die 25 Prozent. Dominique Strauss-Kahn möchte die Besteuerung wieder auf dieses Niveau zurückbringen).

Wenn der Arbeitnehmer keine fünf Jahre wartet und innerhalb von sechs Monaten seine Option gegen eine Aktie eintauscht, weil diese um 100 Prozent gestiegen ist, dann zahlt er 54 Prozent des Wertzuwachses an das Finanzamt.

Und wenn die Aktie für 100 Francs in fünf Jahren noch 70 Francs wert ist? Dann übt der Beschäftigte sein Optionsrecht nicht aus, ohne dabei einen Verlust zu machen. Die Eurotunnel-Bosse, potenzielle Options-Milliardäre, haben nicht einen Pfennig Verlust gemacht, als der Kurs der Eurotunnel-Aktie abstürzte. Aber die Kleinanleger haben für ihre Aktien ihr letztes Hemd hergegeben. Feine Sache.

Das System der Aktienoptionen ist also vor allem ein sicheres System. Man kann nichts verlieren (das meint man also mit Risikobereitschaft ...). Schlimmstenfalls kann man den erhofften Wertzuwachs nicht kassieren. Darüber hinaus kosten diese Aktienoptionen die Unternehmen nichts. Sie werden in den Konten verzeichnet und werden nach und nach ausgezahlt, je nachdem, wie viele glückliche Bezugsberechtigte von ihrem Optionsrecht Gebrauch machen. Wenn die Optionen zurückgekaufte Aktien betreffen, zahlt das Unternehmen. In jedem Fall umgeht es aber die Sozialabgaben, die bei Lohnzahlungen fällig werden.

Zweifellos bestraft man mit Aktienoptionen die traditionellen Anleger. Durch mehr Aktienoptionen bringt man zeitverschoben auch mehr Aktien auf den Markt, zum Nachteil der bereits an der Börse gehandelten Papiere. Sogar Chirac hat letzten Endes begriffen, daß Aktienoptionen den Kleinanlegern schaden, die am Ende als "Betrogene" dastehen. Auch die Pensionsfonds sind von dieser Vorgehensweise nicht besonders angetan: Indem man das Aktienvolumen erhöht, sinkt der Gewinnanteil pro Aktie, der return on equity. Deshalb fordern die Fonds mehr Transparenz bei Optionsvorhaben.

Aber diese Transparenz existiert natürlich nicht. Die Reichtümer, die französische Firmenleiter aufgrund von Aktienoptionen angehäuft haben, sind wirklich übertrieben. In Frankreich bekam man vor kurzem einen Eindruck davon und konnte sprachlos zusehen, wie einem Geschäftsführer, der von dem neuen Eigentümer des Unternehmens entlassen wurde, 250 Millionen Entschädigung in Form von Aktienoptionen mit auf den Weg gegeben wurden. Da haben wir den besten Beweis dafür, daß Optionen zur Bindung von Talenten dienen. L’Expansion hat für das Jahr 1998 eine aufschlußreiche Studie zu diesem Thema veröffentlicht. In ihr erfährt man, daß sich bei L’Oréa1 neun Führungskräfte 27,4 Prozent der Aktienoptionen reserviert haben, mit individuellen Mehreinahmen, die allein 1998 auf 83,37 Millionen geschätzt wurden. Den anderen 101 Berechtigten blieben nur 19,69 Millionen Wertsteigerung. Der individuelle Vermögenszuwachs bei AXA beträgt 67,24 Millionen, bei Paribas 59,53 Millionen (ein weiteres wunderbares Beispiel für entschädigte Talente), 43,21 Millionen bei Casino (bei drei Berechtigten) und 42,39 Millionen bei Vivendi. Dagegen sieht Lagardère mit seinen 9,11 Millionen für neun Berechtigte schon armselig aus. Aktienoptionen kommen im Durchschnitt jeweils 7,50 Personen aus den im CAC 40 verzeichneten Unternehmen zugute. Insgesamt teilen sich 28.013 Personen 45.403 Millionen Francs Mehreinkommen. Nota bene: Alle diese Unternehmen verteilen ihre Aktienoptionen seit mehr als zehn Jahren. Somit addieren sich zum "potenziellen Wertzuwachs" noch sehr reale Vermögen, die sich im Laufe von zehn Jahren angehäuft haben. Nun, die Armen unter den Reichen haben 1998 im Durchschnitt von nur einer Million Wertzuwachs profitiert. Die Führungsetage hat im Durchschnitt das Zwanzigfache eingenommen. So ist das Leben.

Letztere weisen gerne darauf hin, daß ihre Vergütung im Vergleich zu ihren amerikanischen oder englischen Kollegen eher bescheiden ausfällt. Man mag diese ja schon gar nicht mehr zum Essen einladen. Die zehn bestbezahlten Unternehmensbosse der USA bekommen 2,3 Millionen Dollar "Lohn" und verfügen zudem über Aktienoptionen ihres Unternehmens in Höhe von 38 Milliarden Dollar. Natürlich, verglichen mit diesem oder jenem Basketballspieler oder Sänger, sehen auch sie klein aus. Aber haben nicht auch sie außergewöhnliche Talente? Dieser geniale Mensch, der Paribas verläßt, und dieser Künstler, der Elf den Rücken kehrt, oder sein Nachfolger, der Star, der eine ganze Region verpestet?

Zur Erinnerung: Beim spanischen Konzern Telefonica, einer wahren Talentschmiede, teilen sich seit Februar 2000 100 Personen Aktienoptionen im Wert von 270 Milliarden Dollar! Wenn das keine Künstler sind!

Die Ökonomie der Aktienoptionen

In den USA wird der Anteil der Aktienoptionen 1999 auf 800 Milliarden Dollar geschätzt, das sind neun Prozent der an der Börse gehandelten Aktien. Acht Millionen Amerikaner besitzen Aktienoptionen, das heißt acht Prozent der Beschäftigten des privaten Sektors, die Landwirtschaft ausgenommen. Sie dienen dazu, die Mitarbeiter zu motivieren, an sich zu binden und die besten Leute zu bekommen. Tatsächlich betrifft die Vergütung in Aktienoptionen auch in den USA eine Minderheit. Das ganz große Vermögen an Optionen teilt sich eine sehr kleine Minderheit. Aber nahezu alle führenden Politiker und Unternehmer möchten das System der Aktienoptionen auf die gesamte Bevölkerung ausweiten. Geht es hier einfach nur darum, die Ungleichheit und die riesigen Vermögen zu einer alltäglichen Erscheinung zu machen, damit man sagen kann: "Seht her, ich habe Millionen gemacht, aber meine Sekretärin hat auch zwei Aktienoptionen. Das ist Demokratie, Kapitalismus für alle"? Ja, aber es geht um noch viel mehr. Es geht um eine echte Revolution des Kapitalismus, mit der man schlicht und einfach die Autonomie des Lohnempfängers vernichten will – oder zumindest das, was von ihr übriggeblieben ist.

"Wirtschaften heißt Verteilen." Das ist noch nie besser gesagt worden. Wie will man zukünftig den Reichtum mit dem System der Aktienoptionen verteilen?

Von nun an ist es nicht mehr der Kapitalist, der den Arbeitnehmern den Lohn vorstreckt, damit sie sich an der Produktion beteiligen, sondern der Erwerbstätige bietet dem Kapitalisten seine Arbeit an, damit er die Ehre hat, an der Produktion mitwirken zu dürfen. Die Löhne stellen einen großen Teil des Betriebskapitals, das die Unternehmen benötigen. Löhne müssen gezahlt werden, bevor die produzierte Ware abgesetzt ist. In Zukunft werden die Beschäftigten ihre Löhne und Gehälter vorstrecken, und das über einige Jahre hinweg, wenn die Optionen nicht vor Ablauf von fünf Jahren eingetauscht werden, um vom Steuernachlaß auf den Kapitalertrag zu profitieren. Dieses System ist vor allem deshalb so interessant, weil die Aktienoptionen Lohnerhöhungen ersetzen. Nur wohlhabende Beschäftigte können es sich leisten, mehrere Jahre auf ihre komplette Bezahlung zu warten. Damit verschärfen sich zwar die Ungleichheiten, aber das ist noch nicht das Schlimmste und Tiefgreifendste an dieser Revolution.

Früher trug allein der Kapitalist das Risiko, indem er Lohn zahlte, bevor die Produktion abgesetzt war. Durch die Optionen teilt er das Risiko mit seinen Beschäftigten.
Und das ist noch nicht alles: Von nun an geht es bei dem alten Kampf um die Verteilung, der Ricardo dazu bewegt hat, die Wirtschaftswissenschaft zu begründen, und Marx dazu anspornte, einige Bände über das Kapital zu schreiben, nicht mehr um die laufenden Einnahmen des Unternehmens, sondern um die laufende Verteilung von Lohn und Profit. Lohnempfänger und Kapitalisten gehen gemeinsam eine Wette über die zukünftigen Erträge des Unternehmens ein. Das System der Aktienoptionen beinhaltet folgende Abmachung: Schaffen wir gemeinsam ein Produkt, und dann später, wenn wir das Produkt auf dem Markt abgesetzt haben und wenn dieser Absatz in den Wert unserer Aktien eingegangen ist (ihr habt zwei, ich hab’ 2000, aber das macht ja nichts), dann wird auch eure Bezahlung durch den erzielten Wertzuwachs steigen.

Man sollte sich klarmachen, was diese neue Risikoverteilung bedeutet. Bis jetzt hat der Beschäftigte das Risiko getragen, weil man ihn vor die Tür setzen, ihn bei einem Beschäftigungsrückgang "wegrationalisieren" konnte. Er war dafür verantwortlich, daß sich seine Beschäftigung auch amortisierte. Heute muß er sich auch in die potenzielle, virtuelle, nicht-reale, hypothetische Wirtschaft von morgen integrieren und akzeptieren, daß sein Gehalt nun auch virtuell ist. Er ist also nicht nur das Netz für seine seiltanzenden Chefs, diese einzigartigen Künstler, die ihn natürlich immer noch rauswerfen können, sondern nun hängt auch noch seine Bezahlung von den Künsten des Chefs ab. Er besitzt nichts mehr. Er hat alles verloren. Er existiert nicht mehr. Er bekommt nur einen kleinen Krümel vom zukünftigen Gewinn. In den Zahlen und Kurven der Analysten ist er eine Zahl hinter dem Komma. Diese schmeichlerischen Betrüger glauben ernsthaft, daß sie in Gestalt von Börsencharts Hypothesen über den zukünftigen Wert der Aktien erkennen können – wie Orakelpriester, die aus den Eingeweiden von Opfertieren die Zukunft lasen.

Die Ökonomie der Aktienoptionen hat zum Motto: "Vergeßt die Realität, denkt nicht an heute, sondern an morgen! Vorausgesetzt, daß es aufwärts geht!"

Der Beschäftigte hat seine Arbeit der Flexibilität wegen aufgegeben.

Er wird seine Rente aufgeben, um Pensionsfonds zu bekommen.

Aber darüber hinaus will man ihn noch dazu bewegen, seinen Lohn aufzugeben, um eine Wette auf das Luftschloß Unternehmen einzugehen, an das er auf Gedeih und Verderb gebunden ist, genau wie sein Chef.

Ehrlich, wie ihr Künstler das hingekriegt habt – Hut ab!

Nun, geben wir das Wort an Philippe Manière, Autor von Marx à la Corbeille (Marx auf den Müll!), dem man kaum Sozialismus, Interventionismus oder Keynesianismus nachsagen kann: "Den Beschäftigten bringt diese Entwicklung nicht etwa mehr Emanzipation, sondern mehr Entfremdung [...]. Belegschaftsaktien sind gefährlich. Sie versetzen die Betroffenen in eine schizophrene Lage: Die Stewards und Stewardessen von United Airlines haben für ihre eigene Entlassung gestimmt, um ihr Unternehmen zu retten. Besonders die Arbeitnehmer riskieren, alles zu verlieren, ihre Arbeit und ihr Erspartes, wenn das Unternehmen pleite macht." Zu Aktienoptionen meint er:

Abgesehen von Start-ups in der Anlaufphase kann diese sehr spezielle Vorgehensweise bestimmt nicht generell durchgesetzt werden und den angestammten Kreis von Entscheidungsträgern verlassen, die die Entwicklung der Börse wirklich beeinflussen – schließlich finanzieren die Anleger die Aktienoptionen.

Guter Freund, wir werden dein Buch lesen.

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