Auszüge aus Hans Leyendecker's
"Die große Gier"

Korruption, Kartelle, Lustreisen: Warum unsere Wirtschaft eine neue Moral braucht

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Einleitung: "Wir sind doch hier nicht unter Jungfrauen!"

Wir nummerieren die Jahre. Manchmal auch hängen wir ihnen nicht nur eine kalte, nüchterne Zahl an, sondern verbinden ein Jahr mit einem Ereignis, das die Zeit in ein Davor und ein Danach scheidet.

In der Geschichte der Korruption in Deutschland könnte der 15. November 2006 ein solches Datum sein. An diesem Dienstag startete die Münchner Staatsanwaltschaft eine Razzia bei Siemens, die Europas größten Technologiekonzern erschütterte, die alte Führungsmannschaft hinwegfegte oder zumindest paralysierte und deren Folgen für das weltumspannende Unternehmen bislang unabsehbar sind. Selbst viele Monate später waren die Beteiligten noch immer außer Atem.

Einen Schmiergeldskandal mit problematischen Zahlungen in mindestens dreistelliger Millionenhöhe hat es in dieser Republik noch nie gegeben, und die Konsequenzen sind einmalig: Ein Siemens-Zentralvorstand saß tagelang in Untersuchungshaft; verwickelt sind auch ehemalige Zentralvorstände und etliche Bereichsvorstände. Strafzahlungen – womöglich in Milliardenhöhe – sind nicht ausgeschlossen. Amerikanische Anwälte durchforsten den Konzern, der in seiner 160-jährigen Geschichte eine solche Krise noch nicht durchlebt hat.

Der Untertitel dieses Buches, "Warum die Wirtschaft eine neue Moral braucht", mag dem einen oder anderen zu moralinsauer klingen, wenngleich Moral, abgeleitet vom lateinischen mos, soviel wie Gewohnheit, Charakter, Sitte bedeutet. (Wertvoller wäre natürlich die Tugend, denn die kommt von Herzen und baut auf Selbsterkenntnis und Selbstfindung.) Aber auch Skeptiker werden einräumen, daß sich die These von der Notwendigkeit ethischen Verhaltens angesichts des Siemens-Falles nicht nur für den Münchner Konzern fast von selbst beantwortet.

Lehrreich kann es sein, die Diskussionen noch einmal nachzuvollziehen, wie sie normalerweise geführt werden, wenn das Schmieren solche Dimensionen erreicht: Daß die Wirtschaft von ganz eigener Art sei, eine Klasse für sich darstellend, sui generis eben, erklären dann die Vertreter der Leider-ist-die-Welt-kein-Ponyhof-Fraktion. Die Gebildeten unter ihnen zitieren in einem solchen Fall den Philosophen Arthur Schopenhauer: "Moral predigen ist leicht, Moral begründen schwer."

Die Ökonomen unter ihnen berufen sich wiederum auf den 2007 verstorbenen Nobelpreisträger für Wirtschaft Milton Friedman, der gesagt hat, die "Ethik des Unternehmens besteht darin, den Profit zu steigern". Dieser Satz ist von Chefmanagern und ihrem Personal nimmermüde wiederholt worden. Ein bißchen untergegangen ist dabei manchmal Friedmans späterer Hinweis, daß soziale Verantwortung für Unternehmen, die in einem Markt auftreten, in dem es auf Reputation ankomme, ebenfalls vernünftig sein könne.

"Wir sind doch hier nicht unter Jungfrauen!", hat vor ein paar Jahren ein ehemaliger Thyssen-Manager in einem Berliner Untersuchungsausschuß den Bundestagsabgeordneten zugerufen. Schmiergelder seien nun einmal international üblich. Im Ausland, so hieß es auch in anderen Debatten, funktioniere die Wirtschaft anders gar nicht. In gewissen Ländern gebe es eben bei gewissen Geschäften einen Hang zur Handreichung.

Ohnehin galt und gilt die Umgehung von Moral und Regeln zum eigenen Vorteil vielen Bundesbürgern als pfiffig. Lauter kleine Cleverles, die auch noch Sinn fürs Große haben, argumentieren dann, das Schmieren in anderen Ländern sichere doch hierzulande Arbeitsplätze. Schließlich müsse man zugreifen, ehe die Konkurrenz es tut, einsteigen, bevor die anderen vorn in der Lokomotive sitzen. Notwehr gewissermaßen.

Das Publikum geht denn auch mit seiner Empörung meist sparsam um. Nach einer Talkshow über das ethische Einmaleins schrieb mir ein Zuschauer, Forderungen nach einer neuen Moral in der Wirtschaft setzten die Schaffung eines "guten Menschen ganz neuen Typus" voraus. Vom guten Menschen bis zum Gutmenschentum, also zum schwarzen Angstethos des Puritanismus, ist es dann nur noch ein kleiner Schritt.

Der Chor, der in inbrünstiger Unkenntnis Thesen wie "Der Ehrliche ist der Dumme" verkündete, ist seit dem 15. November 2006 allerdings leiser geworden. Standen Moralprediger leicht im Ruch, etwas verschroben zu sein, kleinliche, von der Welt enttäuschte Spießer, melancholische, verbitterte Idealisten, mit denen in China, Nigeria und ich weiß nicht wo kein Geschäft zu machen sei, so hat die Causa Siemens auf dramatische Weise gezeigt, daß durch Korruption und illegale Durchstechereien die Existenz ganzer Sparten eines großen Unternehmens gefährdet werden kann.

"Es war mehr als ein Verbrechen, es war ein Fehler", sagte im achtzehnten Jahrhundert der kaltblütige Polizeiminister Joseph Fouché, nachdem sich Napoleon Bonaparte von Talleyrand hatte dazu verleiten lassen, die Entführung des Herzogs von Enghien durch Gendarmen auf neutralem Boden und dessen Erschießung anzuordnen. Ein gigantischer Fehler ist es, wenn ein Konzern wie Siemens Leitbilder, Ethikregeln und Moralkodizes präsentiert und gleichzeitig sudelt. Das gilt natürlich für alle Unternehmen, für alle Branchen.

Es gab in den vergangenen Jahren eine erstaunliche Abfolge von Skandalen, und bemerkenswert war schon, wer da alles in die Fänge der Ermittler geraten war: Spitzenpersonal von VW, Rewe, Siemens, Infineon, Faurecia – die Manager waren zu gierig, zu zynisch, zu selbstgerecht gewesen, und die meisten von ihnen hatten sich unangreifbar gefühlt. Irgendwann jedenfalls war einigen von ihnen das Gefühl für Größenordnungen, für die Unterscheidung zwischen richtig und falsch abhanden gekommen. Ein einfacher Satz wie "Das tut man nicht" kam in ihrem Vokabular offenkundig nicht mehr vor. In diesem Buch finden sich einige Beispiele dafür.

Daß Volkswagen Arbeitnehmervertretern auch in fernen Ländern den Zugang zu teuren Etablissements bezahlte, war eine besondere Form von Beziehungspflege. Sieht so der Sieg der Arbeiterklasse aus? Früher durften sich nur die Bonzen oder die Halbweltler mit teuren Edelnutten vergnügen. "Sextrade" nannte man das in einschlägigen Kreisen. Sex and crime in Deutschland: Man gönnt sich mal was, weil einem sonst nichts gegönnt wird. Das ist natürlich von eher trübsinniger Erotik.

Die Bielefelder Wissenschaftlerin Britta Bannenberg hat vor einigen Jahren mehr als hundert einschlägige Strafverfahren ausgewertet und dann eine Art Typologie der Korruption verfaßt. Danach unterscheiden sich "Geber und Nehmer in einem geringeren Maße, als es vermutet" wird. "Beide Seiten" seien "ehrgeizig, berufsorientiert", hätten "grundsätzlich legale Wertvorstellungen" und wollten dennoch illegal abkassieren. Viele hätten das Bestechungsgeld und die teuren Einladungen als Ausgleich für die Arbeit empfunden, die ihnen nicht ausreichend entgolten worden sei.

Der Konstanzer Wirtschaftsethiker Josef Wieland hat in einem Gespräch mit dem Bayerischen Rundfunk vier Tätertypen beschrieben:

Der eine Typus ist der Zyniker. Der Zyniker weiß, daß das, was er tut, falsch ist. Aber er ist der Meinung, daß das in seinem Geschäft nun mal so sei. Er fühlt sich alleine gelassen, aber zieht das dann halt allein durch. Der zweite Typus sagt: Das steht mir zu! Er ist der Ansicht, ich arbeite hart, ich opfere viel – vor allem für seine Familie. Der dritte Typus glaubt, daß er über dem Recht steht. Das ist der Typ, der weit herumgekommen ist, die Macht hat und der weiß, daß Normen kulturrelevant sind. Er ist jemand, der glaubt, darüberstehen zu können. Der vierte Typus ist eigentlich der interessanteste von allen, das ist der Spieler. Er schließt Wetten auf die Zukunft ab; er weiß auch, daß er früher oder später erwischt wird, aber er braucht sozusagen das Risiko.

Und er bewegt sich, könnte man hinzufügen, in einem Umfeld, das seine Machenschaften nur im Einzelfall ablehnt. Die Moral in Deutschland war noch nie so öffentlich und zugleich seit den Schwarzmarktzeiten der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht mehr derart volatil. Demographie, Arbeit, Rente, Steuerlast: Außer ein paar Sozialromantikern ist Großen wie Kleinen immerfort klar, daß irgendjemand uns allen an die Brieftasche gehen will. Das sehen wir nicht ein. Das holen wir uns zurück. Wir sind doch nicht blöd. Moralische Schizophrenie ist so zu unserer Lebensform geworden.

Ende 2006 erschien in England im British Journal of Criminology eine internationale Studie über die Schlaumeiereien der kleinen Leute, die Trickbetrügereien des Alltags. Auch 1700 Personen in West- und 800 in Ostdeutschland waren befragt worden. Das Ergebnis war verheerend: Wer sich nicht darauf versteht, nach Strich und Faden einzuklagen, krumme Sachen geradezubiegen, rauszuholen, abzusetzen, der gilt, wenn diese Umfrage repräsentativ sein sollte, fast als Sonderling. Die Mehrheit hält sich, wie die Mehrheit sagt, nicht an die Gesetze. 70 Prozent der West- und 60 Prozent der Ostdeutschen betrügen, mogeln und tricksen. Überall gilt der Imperativ des Nassauerns und Absahnens. Ob Sozialwohnung, Schwarzarbeit, Gebrauchtwagenverkauf, Krankenkasse oder Stütze: Es wird getrickst.

Kai Bussmann von der Universität Halle, der die Zahlen für Deutschland zusammen mit zwei britischen Forschern erhoben hat, sagte:

Der Bürger beobachtet, was Unternehmen machen, und hat das Gefühl, das sei normal.

Eine Wirtschaft, die als kriminogen wahrgenommen werde, mache Menschen zu Betrügern. Die beiden Briten stellten insgesamt eine "zynische Einstellung" der Bürger "gegenüber dem Gesetz" fest. Das öffentliche Bewußtsein gegenüber Filz und Vetternwirtschaft war selten so wachsam wie in diesen Tagen. Und gleichzeitig ist die Bereitschaft gewachsen, in die eigene Tasche zu arbeiten.

Vernünftigerweise müßten wir uns sagen, daß wir mit den oben beschriebenen Tricks auch uns selbst betrügen, weil sie zwangsläufig zu höheren Versicherungsbeiträgen oder anderen höheren Zahlungen führen, aber die Furcht, der andere könnte noch geschickter sein, ist übermächtig. Sind wir ein Volk von gierigen Gelegenheits-Kleinkriminellen? Sagen wir so: Wir sind nicht mehr zu enttäuschen, weil wir oft selber täuschen.

Daß die Wirtschaftskriminalität in ihrer nationalen Bedeutung und in ihrer internationalen Verflechtung und Organisation eine kapitale Gefahr sein kann, ist mittlerweile unstrittig. Bilanzwahrheit und Bilanzklarheit beispielsweise sind unverzichtbare Voraussetzungen für eine funktionierende Unternehmenswirtschaft.

Verzerrt werden sie jedoch mitunter durch hohe Vorstandsgehälter, die zwar nicht illegal sind, aber zum Skandal werden, wenn die Saläre (an den Aktienkurs gekoppelt) umso höher steigen, je mehr Menschen wegrationalisiert werden. Auch davon wird in diesem Buch die Rede sein. Aktienoptionen, die dazu geführt haben, daß manche Unternehmen innerhalb weniger Jahre von ihrem amtierenden Management regelrecht ausgeplündert wurden, sind ein ganz eigenes Ärgernis. Wirtschaftskriminalität ist eben auch ein spezieller Teil jener anarchischen Shareholder-Value-Ökonomie, die Spekulanten begünstigt, langfristige Investitionen behindert und dauerhaften wirtschaftlichen Erfolg verhindert. Kinderarbeit, Umweltkriminalität, Menschenrechtsverletzungen, Diskriminierungen können (meist dreckigen) Profit bringen, zerstören letztlich aber womöglich den Ruf eines Unternehmens.

Wir brauchen also – aus vielerlei Gründen – stabile Leitlinien und Institutionen, die – wie Geländer – Halt geben. Dazu zählen klare Richtlinien für "Compliance" und "Corporate Governance", mit deren Hilfe eine gute Unternehmensverfassung definiert und die Einhaltung von gesetzlichen Regelungen und internen Standards garantiert werden. Auf beides wird in diesem Buch noch eingegangen werden.

Wie es funktionieren kann, zeigt das Beispiel des größten Mischkonzerns der Welt, General Electric (GE), des wichtigsten Siemens-Konkurrenten. Das Unternehmen kämpft mit ähnlichen Produkten auf denselben Märkten wie der Münchner Konzern und ist doch – weitgehend – von Skandalen verschont geblieben. Seit Jahrzehnten schon werden bei GE Ethikgrundsätze diskutiert, und es gibt eine eiserne Regel: Wer unsauber arbeitet und erwischt wird, fliegt und kommt auch bei keinem verwandten Unternehmen mehr unter.

Die Lehrinhalte an den Universitäten geraten ebenfalls ins Blickfeld, wenn wir die kapitale Gefahr besser bekämpfen wollen. Daß eine Schule, das Evangelische Internatsgymnasium Schloß Gaienhofen am Bodensee, 2004 das Schulfach "Wirtschaft und gesellschaftliche Verantwortung" (Business & Society) erstmals in seinen Lehrplan integriert hat, ist ein Signal von unten – ein bemerkenswertes Zeichen, denn oft fehlt es an Schulen, Hochschulen und in Unternehmen an einem ganzheitlichen Ansatz, in den auch die soziale Verantwortung einbezogen wird.

Der Konstanzer Wieland, der Moral als "Treibsatz für erfolgreiches Business" bezeichnet, verkörpert den Beginn eines Wandels an deutschen Universitäten. An seiner Fachhochschule ist werteorientiertes Verhalten für die Studenten schon seit vielen Jahren Pflichtfach. "Wir nehmen Fallstudien, um die Situationen, in die Manager reingeraten können, möglichst realitätsnah zu bearbeiten", sagt er. Früher seien die Studenten nur auf zwei Fragen hin getrimmt worden: "Wie läßt sich der Gewinn des Unternehmens maximieren – und wie dein eigenes Einkommen?" Deshalb habe in den USA an den Universitäten schon vor langer Zeit eine Diskussion darüber begonnen, ob die Ausbildung eine Ursache für das Problem sei.

Die rund zweihundert Wirtschaftshochschulen in den USA haben das Thema Ethik längst in ihre Lehrpläne eingebaut. Zum MBA-Programm der University of Maryland gehört es beispielsweise, daß die Studierenden in den Gefängnissen mit den Folgen von Wirtschaftskriminalität bekanntgemacht werden. Die Studierenden sprechen mit inhaftierten Wirtschaftskriminellen, die Bilanzen manipuliert, Steuern hinterzogen oder bestochen haben. Nicht immer reichen die praxisnahen Lektionen allerdings für ein sauberes Geschäftsleben.

Die Versuchungen sind groß, und in Ländern, in denen Bestechung angeblich oder tatsächlich üblich ist, hat jeder, der nicht mitmacht, auf den ersten Blick einen Wettbewerbsnachteil. Auf den zweiten Blick sieht die Situation etwas anders aus. Die Korruption vor Ort schadet nicht nur den Ländern, sondern die Mitarbeiter der Unternehmen, die mit Durchstechereien ihren Vorteil gesucht haben, landen, wenn sie Pech haben, neuerdings im Gefängnis. Daß korrupten Managern selbst hie und da in Afrika der Prozeß gemacht wird, wie in einem der folgenden Kapitel beschrieben, signalisiert die Veränderung der Lage.

Es ist nicht, wie oft behauptet, der harte Wettbewerb, der den Exportweltmeister Deutschland dazu gebracht hat, viele Jahre bei Auslandsgeschäften sehr unsensibel vorzugehen – es war der Fiskus. Bis Mitte der neunziger Jahre konnten in Deutschland Bestechungszahlungen, ganz gleich, ob sie im In- oder im Ausland getätigt worden waren, als "nützliche Aufwendungen" von der Steuer abgesetzt werden. Den Finanzbehörden war es sogar untersagt, Informationen über Bestechungsdelikte an die Strafverfolgungsbehörden weiterzuleiten. Mit dem Jahressteuergesetz 1996 wurde zwar die steuerliche Absetzbarkeit von Betriebsausgaben für Bestechungen aufgehoben, wenn in der Sache ein Bußgeld verhängt oder eine rechtskräftige strafrechtliche Verurteilung erfolgt war. In der Praxis hatte dieses Gesetz jedoch keine Konsequenzen.
Verbandsvertreter der deutschen Wirtschaft legten sich sogar noch quer, als im selben Jahr die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) drängte, zumindest die steuerliche Abzugsfähigkeit von Gaben an ausländische Amtsträger zu streichen. Erst 1999 wurden die schmutzigen Steuererleichterungen im Zusammenhang mit dem Erlaß des Gesetzes zur Bekämpfung internationaler Bestechung gestrichen.

Mit ausschlaggebend dafür war der zunehmende Druck aus den USA. Denn bereits 1977 wurde dort durch den Foreign Corrupt Practices Act die Bestechung staatlicher Entscheidungsträger im Ausland unter Strafe gestellt. Amerikanische Unternehmen haben damals zunächst wegen Beschränkungen im Wettbewerb gegen die Maßnahme protestiert, aber dann ihre eigenen Regeln dem Gesetz angepaßt.

Fortan hatten sie aus ihrer Sicht den Nachteil, daß sie beim Wettbewerb um Aufträge (anders als ihre Konkurrenten) Beschränkungen unterlagen. Das Interesse der Vereinigten Staaten, die eigenen Wettbewerbsnachteile abzubauen und die Belange der amerikanischen Anleger zu schützen, führt auf lange Sicht zu einer Amerikanisierung des Wirtschaftsrechts und zur Änderung der Spielregeln.

Auf Betreiben der USA arbeitete beispielsweise die OECD eine Konvention über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr aus, die 1997 von etlichen Staaten verabschiedet wurde. Am 15. Februar 1999 trat die Konvention in Kraft. Auch die von den Amerikanern beherrschte Weltbank, die nach dem Krieg das Phänomen Korruption lange Zeit ignoriert hatte, vollzog einen Paradigmenwechsel und setzte eine spezielle, unabhängige Einheit ein, die seitdem mehrere tausend Fälle untersucht hat. Seit 1999 zog die Bank mehr als dreihundert Unternehmen und Personen, die mit unsauberen Praktiken aufgefallen waren, zur Verantwortung.

In den USA gilt außerdem seit vielen Jahren das angloamerikanische Common Law, das die Strafbarkeit von Unternehmen erlaubt. Organisationen werden mit in Haftung genommen. Das bedeutet in schweren Fällen Geldstrafen in Höhe von mehreren hundert Millionen Dollar und möglicherweise Gefängnis für die Chefs. Für europäische Unternehmen, die Niederlassungen in den USA haben, ändern sich damit die Regeln. Wer an der US-Börse gelistet ist, muß sich amerikanischen Standards unterwerfen.
Vor drei Jahren hat die amerikanische Börsenaufsicht SEC beispielsweise Untersuchungen gegen den an der Wall Street notierten Konzern DaimlerChrysler eingeleitet, weil Daimler-Manager auf drei Kontinenten in mehr als einem Dutzend Ländern Schmiergelder gezahlt haben sollen. Ausgelöst wurden die Ermittlungen durch die Aussage eines früheren Chrysler-Buchhalters in seiner Kündigungsschutzklage, es habe im Konzern Dutzende Geheimkonten für Bestechungszahlungen gegeben. Die US-Behörden waren alarmiert. Kurz darauf räumte der Stuttgarter Konzern außerdem ein, über einen Zeitraum von rund zehn Jahren zu wenig Lohnsteuer für Mitarbeiter abgeführt zu haben, die im Ausland eingesetzt waren.

Ein Heer amerikanischer Spezialisten ermittelt seitdem die Details in Stuttgart und liefert die Ergebnisse beim US-Justizministerium ab. Die Sitten sind rau. Bei einer Einreise in die USA wurde der ehemalige Personal- und Finanzvorstand des Konzerns, Manfred Gentz, eine Stunde lang festgehalten und befragt. Daimler muß sich auf eine Strafzahlung in hoher dreistelliger Millionenhöhe gefaßt machen. Der Chef der Konzernrevision und der Leiter der Rechtsabteilung verließen das Unternehmen. Solche Personalwechsel sind in den USA üblich. Strafmilderung kann nur durch volle Kooperation mit den Ermittlungsbehörden erwirkt werden und dadurch, daß die Firma ihre Unternehmenskultur nachweislich auf die Vermeidung von Straftaten ausrichtet und Ethikkodizes ernst nimmt.

Die veränderten Spielregeln führten auch hierzulande zu einer Amerikanisierung des Umgangs mit Korruption – in Ansätzen. Trotz einiger Initiativen von Politikern und Wissenschaftlern stößt aber in Deutschland die Strafbarkeit von Unternehmen beispielsweise, wie sie in den USA üblich ist, noch immer auf erhebliche Vorbehalte. Die Gegner eines solchen Strafrechts argumentieren gern, daß Unternehmen nicht wie natürliche Personen schuldfähig seien, und Strafe setze nun einmal Schuld voraus. Diese Diskussion ist zäh, und sie wird sich aller Voraussicht nach noch hinziehen. Wie unabdingbar die Einführung eines solchen Strafrechts auch bei uns ist, zeigen die zahlreichen Rechtsbrüche zum vermeintlichen Besten des Unternehmens (und in dessen Schutz), von denen in diesem Buch die Rede ist.

In letzter Zeit ist allerdings ein vorsichtiger Wandel zu beobachten: Vor Jahren noch beschäftigten sich die wenigen Korruptionsfahnder, die es gab, vorwiegend mit Durchstechereien in der öffentlichen Verwaltung. Die Wirtschaft, wie der liebgemeinte Spitzname für das Kapital lautet, war, alles in allem, Terra incognita. Es war lange Zeit sogar schwierig, junge Juristen zu finden, die als Beisitzer einer Wirtschaftsstrafkammer oder als Staatsanwälte einer Abteilung für Wirtschafts- und Steuersachen arbeiten wollten. Polizeibeamte befaßten sich ebenfalls lieber mit anderen Strafsachen als den oft nur schwer durchschaubaren Delikten der Wirtschaftskriminalität. Mittlerweile gibt es in den Landeskriminalämtern und bei Schwerpunktstaatsanwaltschaften auf Korruptionsbekämpfung spezialisierte Beamte, und die Ermittler haben das Reich der Wirtschaft als Aufgabengebiet entdeckt. Ein Fall wie die Siemens-Affäre mit ihren weitverzweigten Verästelungen wäre früher längst nicht so konsequent wie heute bearbeitet worden.

Manche Skandale fliegen auf, weil einer aus dem Betrieb oder der Behörde selbst Alarm schlägt. Das kann für die Hinweisgeber verheerend ausgehen, wie einige der in diesem Buch genannten Beispiele zeigen, denn noch ist hierzulande der Schutz für diese "Whistleblower" unzureichend. Doch solche internen Auskunftgeber können für das Unternehmen eine Chance sein, und allmählich werden mit Ombudsstellen und aus den USA übernommenen "Ethics Hotlines" Systeme etabliert, die dieser Einsicht Rechnung tragen.

Dennoch: Wir sind Heuchler, und die großen Korruptionsfälle der letzten Jahre sind Lehrstücke an Heuchelei. Das fängt schon bei der Statistik an. Die Zahl der aufsehenerregenden Fälle hat zugenommen, aber haben sich die Regelverstöße tatsächlich epidemisch vermehrt? Wir wissen es nicht. Die Korruptionsforschung unterscheidet zwischen einem Dunkel- und einem Hellfeld. Da immer mehr Staaten und Organisationen gemeinsam gegen diese Gefährdung angehen, ist anzunehmen, daß derzeit lediglich eine Verschiebung stattfindet. Das Dunkelfeld wird ein bißchen kleiner und das Hellfeld ein wenig größer. Und zwar wirklich nur ein wenig: Auf 80 Prozent schätzt eine Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG zur Wirtschaftskriminalität die Quote der nicht entdeckten Fälle. Wie viele nicht entdeckt werden, weil Wirtschaftsprüfungsgesellschaften wie die KPMG im Zweifel wegschauen, sagt die Studie nicht. Die Richter des Bundesgerichtshofs gehen in einem Beschluß aus dem Jahr 2005 sogar davon aus, daß 95 Prozent der Verstöße nie ans Licht kommen.

Regelverstöße sind Verletzungen der Pflicht, der Normen und der Wohlfahrt, die den Markt außer Kraft setzen und die Folgen für die Gesellschaft, aber auch für das eigene Unternehmen häufig mißachten. So hindern Kartelle und Korruption die Firmen beispielsweise, ihre Innovationspotenziale voll zu nutzen – auch wenn nichts auffliegt. "Wenn man eine Organisation darauf abrichtet, Aufträge zu kaufen, dann geht das durchaus eine Weile gut", sagt der bereits zitierte Wirtschaftsethiker Wieland, "aber die Preise werden höher, die Abhängigkeiten werden stärker, und am Ende des Tages sind solche Organisationen beziehungsweise Unternehmen leer wie eine Hülle und kollabieren ganz einfach."

Kürzlich erschien in den USA eine Studie, in der Unternehmen, die nicht durch illegale Praktiken aufgefallen waren, mit Firmen verglichen wurden, die unsauber agierten. Das Ergebnis: Die Sauberen erwirtschafteten erheblich bessere Resultate. Der Aktionärsverband Institutional Shareholder Services veröffentlichte eine Untersuchung, in der mehr als fünftausend Firmen auf so unterschiedliche Kategorien wie Ethikgrundsätze und Buchprüfungsergebnisse hin durchleuchtet wurden. Die zehn verantwortungsvollsten Unternehmen waren um mehr als elf Prozent profitabler als die zehn verantwortungslosesten. Ihre Aktienkurse waren weniger volatil, und ihre Dividenden lagen höher.

"Honesty is the best policy", hat der Soziologe Max Weber 1917 die anzustrebende Geschäftsethik beschrieben.* "Wir haben immer gewußt, daß rücksichtsloses Eigeninteresse moralisch schlecht ist; jetzt wissen wir auch, daß es wirtschaftlich schlecht ist", sagte US-Präsident Franklin D. Roosevelt schon vor knapp siebzig Jahren. Es wird noch eine Weile dauern, bis die Botschaft hierzulande von allen verstanden wird.

* Ehrlichkeit ist die beste Politik.

Jedem das Seine, mir das meiste: Von Gehältern und sonstigen Douceurs

Das Wort Gier kommt in vielen Zusammensetzungen vor: Es gibt die Blutgier, die Geldgier, die Habgier, die Raffgier. Das Raffen – "gierig nehmen", "geizig anhäufen" umschreibt es Wahrigs Wörterbuch –, das Raffen also ist vielen von uns zur lieben Gewohnheit geworden. Manchmal denkt man sogar, es sei der Sockel, der Grundstein des Landes, weil es für Erfolg und gesellschaftliche Anerkennung offenbar keinen überzeugenderen Maßstab gibt als den Erwerb von möglichst viel Geld.

Das Lamento klingt allerdings vertraut. "Wir haben es satt, in einer Raffgesellschaft zu leben", erklärte vor anderthalb Jahrzehnten der honorige Altkanzler Helmut Schmidt in einem Manifest, das ebenso folgenlos blieb wie viele andere Grundsatzerklärungen davor und danach. So viel zum allgemeinen Klima, in dem wir fortwährend aufeinander mit dem Finger zeigen, ohne uns einzugestehen, daß drei Finger der Hand auf uns selbst zurückweisen. "Jedem das Seine, mir das meiste" ist nicht nur eine Redensart.
Und dennoch überrascht uns mitunter die Habgier, die Raffgier – die der anderen zumindest. Wer beispielsweise dem Wirtschaftsmanager Ernst Dieter Berninghaus erstmals begegnet, wird vermutlich keinen dieser Begriffe mit dem Rheinländer verbinden. Der Kölner, Jahrgang 1965, ist ein offener, fröhlicher Typ. Im Karneval ist er aktiv, beim 1. FC Köln wurde er oft auf der Tribüne gesehen, und mit seinen bunten Krawatten und den ziemlich langen Haaren paßt er so gar nicht in die Kaste jener Führungsleute, die Wasser predigen und Wein saufen, die Maßlosigkeit zu ihrem Maß gemacht haben und dabei noch ganz vornehm tun und denen im Souterrain empfehlen, doch den Gürtel enger zu schnallen. Aber sogar einer wie Berninghaus ist ein übler Selbstbediener gewesen.

Auch deshalb kann es sinnvoll sein, einige Stationen seines Lebensweges näher zu betrachten. Seine Karriere war so ungewöhnlich wie seine Erscheinung. Berninghaus kannte nur eine Richtung: nach oben. Abitur, Wirtschaftsstudium, Promotion, alles ging ganz fix, vorbildlich. Der Enkel kleiner Kaufleute aus dem Ruhrgebietsstädtchen Ennepetal (die Großeltern hatten einen Rewe-Laden) fing mit 27 Jahren im Vorstandsstab der Metro Holding im schweizerischen Baar an. Er blieb fünf Jahre lang in der Schweiz, arbeitete dem einst fast allmächtigen Metro-Generalbevollmächtigten Erwin Conradi zu und koordinierte die europaweite Expansion des Konzerns.

Er arbeitete in "Silent City", wie der große Schweizer Autor Niklaus Meienberg das Städtchen Zug nannte, in dem "Schweigevirtuosen, Verschweigungskünstler, Diskretionsfanatiker" unermüdlich den Mehrwert der Reichen mehren. Tausende Berater, Treuhänder, Rechtsanwälte und Vermögensverwalter gehen in dem Kleinkanton ihren Geschäftigkeiten nach, und der junge Berninghaus hat dort viel fürs Leben gelernt. In der Ära Conradi wurde die Metro der führende Handelskonzern in Europa. Der Umsatz lag bei umgerechnet 45 Milliarden Euro. Freunde von Berninghaus, und an denen ist kein Mangel, sagen, daß ihn die Zahlen damals auch ein bißchen größenwahnsinnig gemacht haben.

1999 wechselte er zu Rewe nach Köln, rückte erst in die Leitung der Rewe-Zentral AG und der Rewe-Zentralfinanz eG auf und schon zwei Jahre später in den Vorstand. Er entwickelte das Österreich-Geschäft (Billa, Mercur, Mondo, Bipa), renovierte die italienische Supermarktkette Standa, die einmal Silvio Berlusconi gehört hat, und verdrängte sogar seinen ehemaligen Chef Conradi aus dem Verwaltungsrat der Bon Appetit Group. Bereits 2004 wurde Berninghaus Vorstandssprecher bei Rewe, dem mit 42 Milliarden Euro Umsatz und 260.000 Mitarbeitern nach der Metro zweitgrößten deutschen Handelskonzern. Mit 39 Jahren verdiente er rund 1,4 Millionen Euro Grundgehalt plus 450.000 Euro Komplementärsvergütung bei der Rewe-Tochter Deutscher Supermarkt KG. Damit läßt sich doch leben, auch wenn man verheiratet ist und zwei kleine Kinder hat.

Der nette Berninghaus hatte ein zweites Gesicht. Beim Kauf einer kleinen, ziemlich wertlosen Internetfirma namens Nexum AG, den er eingefädelt hatte und der Rewe 25 Millionen Euro kostete, bekam er unter der Hand eine Provision in Höhe von 6,5 Millionen Euro – am Finanzamt vorbei. Im Herbst 2004 kam die Staatsgewalt zu Besuch, im Frühjahr 2006 wurde er in seiner Heimatstadt zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Er verlor seinen Job, mußte Rewe die 6,5 Millionen Euro zurückzahlen und war fassungslos über sich selbst.

Die Loyalität zur Firma, wie sie ein Herr Friedrich Wilhelm Marcus, der Sozius des Thomas Buddenbrook, noch im Übermaß besaß, war ihm fremd geworden. Für einen protestantischen Manager wie den von Thomas Mann beschriebenen Marcus hätte es kaum ein größeres Verbrechen gegeben, als sich an dem Kapital zu vergreifen, dessen Fürsorge ihm anvertraut war. "Obsorge" nannte man das früher – aber nicht nur das einst im Oberdeutschen heimische Wort ist verschwunden.

Von all den Affären in diesem Buch ist Berninghaus’ Fehltritt für Leute mit überschaubarem Salär vermutlich am schwersten nachzuvollziehen. Warum wird so einer gierig, wenn er doch schon in jungen Jahren so viel hat?

Sein Fall gehört zu den Exzessen aus der Zeit der totalen Börseneuphorie, die eher ein Wahn war. Echte high-potentials und solche, die sich dafür hielten, hatten jeden Sinn für richtig und falsch verloren, und die Ansprüche auf der nach oben offenen Gierskala der Schneller-reich-Wirtschaft waren ins Unermeßliche gestiegen. Die Ausschweifungen der Blasen-Ökonomie, deren schlimmste Auswüchse international die Desaster der Konzerne Enron, Comroad und Global Crossing waren, haben Verheerendes angerichtet. Gleichzeitig ließen sie bei vielen Menschen die Gewißheit aufkommen, daß Lug und Trug sich auf die Dauer doch nicht auszahlen, Einzelfälle ausgenommen.

Das schnelle Geld war eine Versuchung, der viele nicht widerstehen konnten; der Cashflow wurde mal eben in die eigene Richtung gelenkt. Die Unbestechlichen sahen wie langweilige Verlierer aus, und manche fühlten sich auch so. Vor etlichen Jahren sprang ein Mann von der Golden Gate Bridge bei San Francisco in den Tod. Er hinterließ eine winzige Notiz, in der aber alles Wesentliche stand: "Survival of the fittest. Adios – unfit." Die Metapher vom Markt, auf dem einer überlebt oder nicht, ist manchmal nicht nur als Sinnbild zu verstehen.

Der globale Markt hat den nicht so Fitten ein paar Unannehmlichkeiten und Unübersichtlichkeiten wie den Verlust des sicher geglaubten Arbeitsplatzes und – nicht selten – der Existenz beschert und den Fitten ein paar nette Extras. In einer Studie der Unternehmensberatung Mercer kann man nachlesen, daß mehr als die Hälfte der 350 größten amerikanischen Konzerne ihren Chefs erlauben, das Firmenflugzeug zu nutzen; jedes vierte Unternehmen zahlt die Mitgliedsbeiträge für den Country- und den Golfclub. Sogar für die Kosten der Vermögensverwaltung ihrer Angestellten kommen viele Firmen auf.

Um Mißverständnissen vorzubeugen: Einer Nivellierung von Einkommen soll hier nicht das Wort geredet werden. Es gibt kein demokratisches Einkommen. Ein wesentlicher Ansporn für bessere Leistung und Individualität war zu allen Zeiten die Ungleichheit beim Verdienst. Gleichheit ist nicht a priori gerecht, Ungleichheit ist nicht a priori ungerecht. Seit Jean-Jacques Rousseaus im achtzehnten Jahrhundert veröffentlichtem Diskurs über die Ungleichheit hat es immer wieder neue Aufrufe zur Schleifung der Klassen und Schichten gegeben, und sie endeten meist in der totalen Ungleichheit. Die Schere zwischen den vermögenden Bestimmern und dem einflußlosen Prekariat ging in sozialistischen Ländern besonders weit auseinander.

Aber es gibt Formen der unverfrorenen Bereicherung, bei denen die Linie zwischen fehlendem Anstand und kriminellem Mißstand längst verwischt ist. Ein weltweites Ärgernis, ein Skandal sind in diesem Zusammenhang die Aktienoptionen. Nicht nur schmälert die Option auf Ausgabe neuer Anteilsscheine den Wert der bereits an der Börse gehandelten Aktien, ohne daß kleinere und mittlere Aktionäre darauf Einfluß haben. Unternehmen, die Optionen gewährt hatten, legen bei diesem System außerdem nicht selten das Ausgabedatum nachträglich auf einen Zeitpunkt, an dem der Kurs besonders niedrig war. Je geringer der Bezugspreis, desto höher ist der Gewinn bei einer späteren Kurserholung.

Im Jahr 2006 enthüllte das Wall Street Journal, daß fast zweihundert Unternehmen in den Wochen nach den Terroranschlägen vom 11. September zusätzliche Optionen an ihre Spitzenmanager ausgegeben hatten. Auf die Spur waren die Journalisten dem Skandal durch die Forschungen des Statistikers Erik Lie gekommen, der an der Universität von Iowa beschäftigt ist. Ihm war beim Studium von Optionsgeschenken an Spitzenmanager aufgefallen, daß die Daten auffallend günstig lagen. Das ließ sich nur damit erklären, daß die Optionen rückdatiert worden waren.

Es waren sehr wertvolle Geschenke, da die Aktienkurse unter dem Schock der Anschläge vom 11. September stark eingebrochen waren und sich dann wieder erholt hatten. "Es ist, als wenn du dir ein Pferderennen anschaust und nach dem Einlauf auf den Sieger setzen darfst", kommentierte ein Börsenspezialist das Verfahren. Mit dem "Ausfüllen des Lottoscheins nach der Ziehung" verglich ein deutscher Manager das Bereicherungssystem.

Aktienoptionen sind nicht illegal, die Rückdatierung ist es auch nicht. Geprüft werden muß nur, ob die Aktionäre ausreichend informiert wurden und ob die Verwaltungsräte ihren Pflichten nachgekommen sind. Sie sind jedoch zu einem Instrument der Selbstbedienung geworden. Eine alte Börsenweisheit lautet, daß der Aktienkurs stark von psychologischen Faktoren abhängt, und etliche Manager haben ihre Energie auf die Manipulation des Aktienkurses verwandt. Kriminelle Bilanzfälschungen erhöhten den eigenen Gewinn. So gaukelte das Unternehmen WorldCom kurz vor seinem Zusammenbruch im Jahr 2002 durch Luftbuchungen und andere Bilanztricks riesige Gewinne vor, und am Ende bezifferten Staatsanwälte den Bilanzbetrug auf elf Milliarden Dollar. Es handelte sich um die größte Pleite der amerikanischen Wirtschaftsgeschichte. 20.000 Mitarbeiter verloren ihren Job, Investoren büßten 180 Milliarden Dollar ein. (Inzwischen ist das Unternehmen saniert und stark geschrumpft als MCI Inc. wieder am Markt.)

Die Gewinnzahlen bei Aktienoptionen sind berauschend. Der Chef des amerikanischen Krankenversicherers United Health Group hielt zeitweise nicht genutzte Optionen im Wert von rund 1,7 Milliarden Dollar. (Nach Veröffentlichung eines kritischen Untersuchungsberichts über die Praktiken in seinem Unternehmen erklärte er sich allerdings bereit, alle ihm zwischen 1994 und 2002 gewährten Optionen zum jeweiligen Jahreshöchstkurs zu bewerten.) Als der Chef des Ölproduzenten Occidental Petroleum, Ray Irani, 2006 seine gesammelten Aktienoptionen einlöste, erreichte er, das Bonus-Programm eingeschlossen, eine Entlohnung von 400 Millionen Dollar (299 Millionen Euro). Diese Liste ließe sich mit etlichen Namen und langen Zahlenreihen mit vielen Nullen fast beliebig fortsetzen.

Die Fragwürdigkeit solcher Optionen hat in Deutschland einen Namen: Jürgen Schrempp. Der frühere Topmanager, dessen Idee die Welt-AG war, hatte 1998 die Daimler-Benz AG in einem knapp 40 Milliarden Euro teuren Deal mit Chrysler fusioniert. Die Übernahme führte zu einer Gehaltsexplosion bei Daimler, von der auch Schrempp profitierte. Für das Chrysler-Abenteuer mußten jahrelang Spezialisten aus Stuttgart abgezogen werden, die in Detroit aushalfen. 2007 wurde Chrysler für 5,5 Milliarden Euro an den Finanzinvestor Cerberus (so heißt der mehrköpfige Hund aus der griechischen Sage, der den Eingang zur Hölle bewacht) verkauft, doch nicht einmal dieser Betrag landete in der Stuttgarter Kasse. Der größte Teil diente dazu, das Eigenkapital von Chrysler aufzustocken, außerdem mußte die frühere US-Tochter komplett von den Schulden befreit werden. Unterm Strich legte Daimler noch einmal 500 Millionen drauf.

Was für ein Management-Desaster: Der Aktienkurs gab in der Schrempp-Ära gewaltig nach; seit Schrempps Rücktrittsankündigung im Juli 2005 stieg er wieder um mehr als 80 Prozent. Schrempp kann indirekt davon profitieren. Die Zeitung Handelsblatt rechnete im Frühsommer 2007 den Lesern vor, Schrempp könne jetzt seine Aktienoptionen ausüben und ihm stünden Aktien im Wert von 44,3 Millionen Euro zu. Sollte die Aktie den Wert erreichen, den sie zu Beginn der Daimler-Chrysler-Fusion hatte, wäre Schrempps Anteil rund 108 Millionen Euro wert.

Der Würzburger Wirtschaftsprofessor Ekkehard Wenger, ein bewährter Kämpfer für mehr Aktiendemokratie, wetterte bei Süddeutsche Online über die "totale Überbezahlung für eine totale Pfeife". Er fordert, bislang erfolglos, Sonderprüfungen "rund um die Leistung und Bezahlung des früheren Vorstandschefs". Auf die Frage des Online-Dienstes: "Ist das Nachkarten?", fragte Wenger zurück: "Wieso? Wenn jemand eine Bank überfällt und man ihn im Nachhinein einsperrt, ist das Nachkarten?"

Es ist eine Eigentümlichkeit dieser Zeit, daß hochbezahlte deutsche Spitzenmanager die Entwicklung in den USA und auch in ein paar anderen Ländern, in denen sehr viel abkassiert wird, aufmerksam verfolgen und daraus für ihr eigenes Einkommen Rückschlüsse ziehen. Wahr ist: Wenn sie sich mit den Kollegen vergleichen, wirken sie ziemlich provinziell, richtig piefig. Der Vergleich mit den Kollegen in Übersee führt jedoch auch deshalb ein wenig in die Irre, weil nicht viele deutsche Manager Angebote für Spitzenpositionen in den USA erhalten. In der Fortune-500-Liste der größten US-Konzerne findet sich an der Spitze der Unternehmen nur ein Deutscher: Der Kölner Martin Richenhagen ist Boß des Landmaschinenherstellers Agco, der auf Platz 399 der Liste rangiert.

Bei dem Thema Gehalt kommt es ohnehin darauf an, ob einer vom Gipfel oder aus der Ebene auf den Gegenstand schaut. In den USA verdient heute ein Vorstandschef normalerweise das Vierhundertfache eines gewöhnlichen Arbeitnehmers und zum Teil noch deutlich mehr. Es ist noch nicht lange her, da lag das Niveau beim Vierzigfachen – was auch nicht so schlecht war. Der Gründer der Bank Morgan Stanley, John Pierpont Morgan, hatte Ende des neunzehnten Jahrhunderts ein Modell eingeführt, dem zufolge der Bestbezahlte einer Firma nicht mehr als das Zwanzigfache des Geringstverdienenden erhalten durfte.

Nach Berechnungen von Lucian Bebchuk, einem Professor der Universität Harvard, belief sich die gesamte Vergütung der fünf bestbezahlten Manager börsennotierter US-Firmen in den Jahren 2000 bis 2003 auf zehn Prozent der Unternehmensgewinne. "Ganz natürliche zivilisatorische Grenzen" seien verlorengegangen, findet der deutsche Gesellschaftsrechtler Marcus Lutter. Den griechischen Philosophen waren die Grenzen noch bewußt. Aristoteles meinte, maßhalten heiße die Mitte einhalten, etwa die Mitte zwischen Verschwendung und Geiz. Die Römer benutzen die Formulierung: In medio stat virtus – "Die Tugend steht in der Mitte".

Die Lohnbezüge der Bosse nach amerikanischem Muster haben nichts mit Mitte und nichts mit Maß gemein, oft auch nichts mit dem vielstrapazierten Leistungsgedanken. Der Manager Robert Nardelli beispielsweise wurde im Jahr 2000 für ein Jahresgehalt von 38 Millionen Dollar Chef der amerikanischen Baumarktkette Home Depot. Wegen mangelnder Erfolge mußte er 2006 wieder gehen – mit einer Abfindung von 210 Millionen Dollar, obwohl der Aktienkurs des Unternehmens unter seiner Ägide um fast 15 Prozent gesunken war. Als Philipp Purcell die Morgan Stanley Bank verließ, die unter seiner Führung viele wichtige Manager verloren hatte, bekam er als Abschiedsgeschenk ein Gesamtpaket von rund 113 Millionen Dollar: 42,7 Millionen als Abfindung, 34,7 Millionen an Aktien, 20,1 Millionen an Aktienoptionen, einen Ruhestandsbonus von elf Millionen, darüber hinaus Büro und Sekretariat auf Lebenszeit. Morgan Stanley spendet außerdem jährlich 250.000 Dollar in seinem Namen.
2006 verdiente der bereits erwähnte Vorstandschef von Occidental Petroleum, Ray Irani, 322 Millionen Dollar im Jahr. Der Medienmanager Barry Diller brachte es auf 295 Millionen Dollar Jahresgehalt. Verglichen mit einigen Gehältern im Private-Equity-Bereich, was so viel heißt wie privates Beteiligungskapital, sind solche Bezüge wiederum bescheiden. Es kommt wirklich nur auf den Standort an. Die Vergütung der Spitzenverdiener von Hedge-Fonds, die von ihren Investoren meist eine Verwaltungsgebühr von zwei Prozent und 20 Prozent des Gewinns verlangen, liegt bei über einer Milliarde Dollar im Jahr. James Simsons, der Chef des Hedge-Fonds Renaissance Technologies, kommt nach Schätzungen von Branchenkennern sogar auf 1,7 Milliarden Dollar jährlich.

"Wenn ich mir das heute so angucke, was ein Geschäftsführer eines zu einem Private Equity gehörenden Unternehmens an 'SweetEquity'-Verdienstmöglichkeiten hat", sagt Karstadt-Chef Thomas Middelhoff, "dann geht das deutlich über das Lebenseinkommen" des Deutsche-Bank-Chefs Josef Ackermann hinaus. Das Phänomen finde nur deshalb keinen Niederschlag in der deutschen Presse, weil es nicht bekannt sei.

Hierzulande ist der Vorstandssprecher der Deutschen Bank offiziell der Spitzenverdiener – jedenfalls unter den Chefs, die ihre Einkommen offenlegen. Ackermann verdiente im Jahr 2006 rund 13,2 Millionen Euro. Nur rund 1,2 Millionen Euro waren fest, der Rest hing vom Erfolg der Bank ab, der vor Steuern bei 8,1 Milliarden Euro lag. Als er Ende der neunziger Jahre bei der Bank begann, lag sein Gehalt bei umgerechnet einer Million Euro. Die dreizehnmal höheren Einkünfte geben nach seiner Wahrnehmung seinen Marktwert in Deutschland wieder.

Und er ist in seiner Bank bei weitem nicht der Spitzenverdiener. "Vielleicht unter den ersten fünfzehn", stufte er seine Bezüge in einem Interview mit dem Zeit-Magazin ein. Der Inder Anshu Jain beispielsweise, Leiter des Bereichs Global Market, der Geldmaschine der Bank, wird auf rund 24 Millionen Euro Jahresgehalt geschätzt. Im Februar 2006 verkaufte er eine halbe Million Deutsche-Bank-Aktien und erlöste damit zusätzlich rund 45 Millionen Dollar.

Die Vorstandsbezüge in Deutschland sind – alles in allem – in den vergangenen Jahren zwar deutlich gestiegen, mit dem amerikanischen Niveau jedoch nicht vergleichbar. Eine Untersuchung in den USA ergab, daß 2006 rund fünfhundert Firmen ihre Chefs mit durchschnittlich sieben Millionen Dollar Jahresgehalt entlohnt hatten. In Deutschland kassierte Jochen Zeitz von Puma, Nummer zwei hinter Ackermann, rund 12,3 Millionen Euro. Nummer drei war der RWE-Chef Harry Roels mit 12,2 Millionen Euro.

Aus ökonomischer Sicht sind Gehälter Kosten, die auf dem Markt durch Erlöse gedeckt werden müssen. Sie sollen dem Leistungsbetrag des einzelnen Arbeitnehmers, egal ob in der Chefetage oder am Band, entsprechen. Natürlich enthalten solche Bewertungen auch subjektive Faktoren. Der Münchner Professor für Wirtschaftsethik Karl Homann kann "die öffentliche Aufregung über die Managergehälter nur zum Teil" verstehen. "Fußballspieler, Popstars und Dirigenten" hätten oft nicht geringere Einkünfte, ohne daß sich "der kleine Mann darüber aufregt", schreibt Homann in einem Aufsatz. "Es gilt in der Marktwirtschaft: Wer wirklich etwas leistet, ist immer sein Geld wert, und die Anleger und Arbeitnehmer bekommen unter Wettbewerbsbedingungen nur die Qualität, die sie bezahlen. Die Höhe der Bezüge bestimmt der Markt."

Nun ja. Jemand wie Porsche-Chef Wendelin Wiedeking, der das Unternehmen seit mehr als einem Jahrzehnt zu großen Erfolgen führt, gehört schon lange zu den absoluten Spitzenverdienern und geriet tatsächlich zu keiner Zeit in die Kritik, weil er unzweifelhaft herausragende Leistungen erbringt. Milliarden-Vernichter Schrempp hingegen verdiente 1997 das 51-fache Jahresgehalt eines Bandarbeiters und konnte sich 2003 über das 130-fache Jahresgehalt freuen – und das ist aus heutiger Sicht ein ziemliches Ärgernis.

Ein bißchen hängt die Betrachtung, was Gier ist und was nicht, auch von den Moden und den Zeiten ab. Als Ende der neunziger Jahre die Unternehmen an der Börse Monopoly spielten und erfolgreiche Topmanager die Idole der neuen Zeit waren, galten hohe Millionenverdienste als verdient, auch wenn das Geld erzockt worden war. Dann platzte die Börsenblase, die New Economy sah plötzlich ganz alt aus, und einige Mannesmann-Manager, beispielsweise deren damaliger Chef Klaus Esser, der umgerechnet knapp 30 Millionen Euro zusätzlich zum regulären Gehalt kassiert hatte, wurden plötzlich als üble Absahner betrachtet. Eigentlich läßt sich bei dieser Größenordnung nur schwer darüber streiten, ob diese zusätzliche Entlohnung für einen Spitzenmann noch angemessen ist, aber was wäre gewesen, wenn Mannesmann den Übernahmekampf gewonnen hätte? Wäre dann ein solcher Bonus für Esser nicht als verdiente Prämie in Zeiten einer nun mal entfesselten Marktwirtschaft gewürdigt worden?

Doch damals verloren Zehntausende von Kleinaktionären, die auch ein bißchen mitgespielt hatten, ihre Ersparnisse, und dieser Vorgang hat zweifelsohne zu vielen Irritationen gegenüber der Wirtschaft beigetragen. Es ist vor allem die Gleichzeitigkeit von Rekordgewinnen und Rekordarbeitslosigkeit, von hohen Millionengehältern selbst für unfähige Manager und von Dumpinglöhnen, die viele Menschen zunehmend erzürnt. Seit unter Berufung auf angebliche Gesetze des Marktes – Rendite, Rendite, Rendite – große Konzerne kleine, gesunde Firmen kaufen und sie dann zum Zweck der Marktbereinigung schließen und die wirtschaftliche Existenz ganzer Familien ruinieren, wird über die Angemessenheit von Gehältern anders diskutiert als früher.

Es ist höchst unmoralisch, das Morgen schon heute versilbern zu wollen. Diesmal wird nicht, wie noch zu Zeiten der Aktienblase, mit virtuellen, sondern mit echten Werten gezockt – mit gewachsenen Branchen, realen Unternehmen und mit Menschen.

Auch im Zentrum der Gesellschaft, der Mittelschicht, grassiert mittlerweile die Furcht vor dem sozialen Abstieg. "Die Angst vor Armut ist von den Rändern der Gesellschaft zur Mitte gewandert", stellte der Soziologe Ulrich Beck fest. Das Gefühl macht sich breit, daß es (fast) jeden treffen kann. Begriffe wie Rationalisierung und Globalisierung lösen bei vielen Unbehagen aus. Siemens etwa gliederte seine Handysparte in eine GmbH & Co OHG aus, bündelte die Vermögenswerte in einer Asset GmbH und reichte die Pakete dann für 250 Millionen Euro an das Unternehmen BenQ weiter, das kurz darauf Insolvenz anmeldete. Die BenQ-Beschäftigten verloren alles, obwohl sie zuvor auf Teile ihres Gehalts, auf Urlaubsgeld und alle Extras verzichtet hatten. Der damalige Siemens-Chef Klaus Kleinfeld geriet heftig in die Kritik, weil kurz zuvor bekannt geworden war, daß er und seine Vorstandskollegen um 30 Prozent höhere Gehälter bekommen sollten. Er versuchte sich durch die Ankündigung aus der Affäre zu ziehen, die Vorstände würden ein Jahr lang auf die Gehaltserhöhung verzichten und das Geld stattdessen in einen Fonds für die Job-Verlierer einbringen.

Die Geste, mehr war es nicht, wurde von vielen als protziger Ablaßhandel verstanden. Ein PR-Gau war, daß Kleinfelds Leute in dieser Zeit auf einem Foto, das nach seinem Amtsantritt entstanden war, seine Rolex wegretuschieren ließen. Original und Fälschung landeten bei den Sammlern der Wanderausstellung "Bilder, die lügen". Da war etwas aus dem Ruder gelaufen.

Die Rallye-Connection

Es gibt eine Menge Bilder aus der wilden Zeit der deutschen New Economy, aber ein Schnappschuß ist vielen Beobachtern besonders in Erinnerung geblieben: der Manager Ulrich Schumacher, der im März 2000 vor der Frankfurter Wertpapierbörse neben einem Porsche posierte. Der in einen Rennfahrerdreß gekleidete Chef des Halbleiterherstellers Infineon Technologies AG strahlte am Tag des Börsengangs in viele Kameras, während seine rechte Hand auf einem Rennfahrerhelm ruhte. Als "Schumi" oder "The Maniac" wurde er gefeiert.

Gas geben konnte der Hobbyrennfahrer jedoch nur symbolisch, denn das Rennauto, das am Rande des Börsenplatzes höchstens sieben Meter gerollt war, hatte nicht einmal ein Nummernschild. Dem Publikum war das egal: Was zählte, war, daß der erste Kurs der Infineon-Aktie mit 70,20 Euro um mehr als hundert Prozent über dem Ausgabepreis von 35 Euro lag. Die Emission war 33-fach überzeichnet, und Bild berichtete auf Seite eins über die "neue Volks-Aktie".

Schumacher war der Siegertyp, ein Popstar der Managerwelt. Bereits einen Tag nach dem Börsengang in Frankfurt bretterte er in New York (begleitet von dem früheren Formel-1-Weltmeister und Indy-Car-Gewinner Mario Andretti) in einem Porsche Richtung Wall Street. Kaum jemand bemerkte, daß die beiden sich verfuhren. Beifahrer Andretti kannte sich in der Stadt nicht aus. Ein Polizeiwagen eskortierte sie schließlich zu ihrem Ziel, und als sie vor der Börse ausstiegen, gab es viel Applaus. Andretti ist in den USA eine Legende, und den Börsianern gefiel auch der Deutsche.

In seiner Heimat wurde Schumacher für ein paar Monate zum Idol der neuen Börsenzeit, deren Maxime eigentlich aus dem achtzehnten Jahrhundert stammt: "Enrichez vous!" – "Bereichert euch!" Purer Egoismus galt als anerkennenswerte Haltung. Schumacher war ein Dynamiker, ein Erfolgreicher, ein Ehrgeizling. Bei einer Freizeit-Fahrrad-Rallye in München fiel er dadurch auf, daß er auf der Strecke alle Hinweisschilder hinter sich entfernte. "Hinweisschilder sind etwas für die Bequemen, die verzerren nur den Wettbewerb", behauptete er. "Ich hasse es zu verlieren", war sein Standardspruch.

Seine Karriere war imponierend: 1986 fing der promovierte Elektrotechniker bei Siemens an. Bereits 1996 war er Vorsitzender Bereichsvorstand der Halbleitersparte, 1998 wurde er mit 39 Jahren in den Siemens-Vorstand berufen und verdiente 1,4 Millionen Mark (umgerechnet knapp 700.000 Euro). Als im April 1999 die Halbleitersparte vom Mutterhaus Siemens abgetrennt wurde, war klar, daß er an die Spitze des neuen Unternehmens Infineon rücken würde.

"Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht", hat der Soziologe Max Weber den Begriff einst definiert. Schumacher war sehr willensstark und liebte es, sich gegen Widerstand durchzusetzen – insbesondere, wenn er Publikum hatte. Der Sproß einer rheinischen Unternehmerfamilie war in der Jugend eher ein Außenseiter gewesen. Er polarisierte und hatte stets ebenso erbitterte Gegner wie glühende Verehrer. Als drei seiner Vorstandskollegen Jahre später in einer vernichtenden "Stoffsammlung" über Schumacher auch "positive Eigenschaften" aus dessen Anfangszeit bei Infineon zusammenkratzten, notierten sie: "Charmant, gewinnend, amüsant, ironisch, witzig, smart, humorvoll, charismatisch; kann sehr freundschaftlich und nett sein; sehr gutes politisches Gespür; sehr schnelle Auffassungsgabe; guter Geschäftssinn; kann Leute für sich gewinnen und nutzen."

Dieser große Egozentriker ist in eine klebrige Affäre verwickelt, die dem Zuschauer einen seltenen Einblick in den Maschinenraum und gleichzeitig in die Beletage der Wirtschaft bietet. Es ist eine Welt, die von atemberaubender Machtgier und Geltungssucht beherrscht wird. Den Akteuren ist das Gefühl für Größenordnungen und für die Unterscheidung von Recht und Unrecht längst verlorengegangen. Der Eierdieb weiß, daß er geklaut hat, der Wirtschaftsstraftäter hält sich für das Opfer. Er holt sich vermeintlich nur das zurück, was er zuvor an Entbehrungen erbracht hat. Und steht am Ende vor einem Scherbenhaufen.

Doch bevor es schmuddelig wird, zunächst ein paar Worte über die sauberen Produkte der Firma: Infineon-Chips stecken unter anderem in Handys, Waschmaschinen, Computern, Autos und auch in Herzschrittmachern. Die Halbleiterindustrie ist eine globale Branche mit Erzeugnissen, die meist nur wenige Gramm wiegen. Schon wegen der geringen Transportkosten ist hier jeder Standort dieser Welt konkurrenzfähig.

Der Halbleitermarkt ist zyklisch und ausgesprochen schwankungsanfällig. Im Jahr 2000 erzielte Infineon einen Milliardengewinn. Als die Konjunktur in der Haibleiterbranche kurz darauf gewaltig einbrach, machte Infineon plötzlich Milliardenverluste. Die einstmals gefeierte Aktie verlor rund 80 Prozent ihres Wertes. Erboste Aktionäre änderten das Werbemotto des Konzerns "Never stop thinking" in "Never stop sinking".

Das Unternehmen, das anfangs durch eine Menge offener Stellen im Entwicklungsbereich seinen Expansionswillen dokumentiert hatte, entließ schon bald Tausende Mitarbeiter. Dem Überflieger Schumacher blies der Wind nun ins Gesicht. Auf der Infineon-Hauptversammlung im Januar 2002 wurde ihm die keine zwei Jahre zuvor noch gefeierte "Rennfahrermentalität" nun zum Vorwurf gemacht. Von "Täuschung der Anleger" sprach eine Rednerin. Schumacher wirkte seltsam verunsichert. "Als wir an die Börse gingen, hatten wir ein unbedarftes Verständnis des Kapitalmarktes", gestand er im Januar 2003 der Süddeutschen Zeitung.

Auch intern geriet der Star unter Druck. Er war viel unterwegs, tummelte sich auf Roadshows in aller Welt, gab viele Interviews und trat in seinen Vorstandssitzungen wie ein Gast auf. Er predigte Sparen, ließ die Buchhaltung von billigeren Mitarbeitern in Portugal erledigen und betonte, jede Stellschraube, mit der an den Kosten gedreht werden könne, müsse begutachtet werden. Sein eigener, unverändert aufwendiger Lebensstil wurde derweil zum Thema im Konzern.

Mitten in der Infineon-Krise begann außerdem ein häßlicher Kampf unter ehemaligen Freunden. Zu den langjährigen Weggefährten Schumachers zählte der Infineon-Vorstandskollege Andreas von Zitzewitz, Jahrgang 1960. Beide kannten sich seit 1990. Sie waren schon bei Siemens ein Team gewesen: Schumacher der Boß, von Zitzewitz sein Vertrauensmann. In der neuen Sprache des Managements war der eine der geborene Chief Executive Officer (CEO), der andere der Chief Operating Officer (COO).

Beide teilten den Hang zum Motorsport und waren Gokart-Rennen gefahren. Schumachers Vorliebe galt dabei den Autos, die er sammelte wie andere Leute Briefmarken: Zeitweise besaß er bis zu 27 Fahrzeuge, von denen etwa zwölf Wagen, getrennt von den anderen Autos, in der Tiefgarage von Infineon standen. Durch regen Kauf und Verkauf kam der Vorstandsvorsitzende in einem Zeitraum von sieben, acht Jahren auf einen Durchlauf von 53 Wagen. Porschefahrer von Zitzewitz dagegen liebte auch Motorräder. Er konnte mit geschlossenen Augen eine dumpf brummende MV-Agusta von den japanischen Heulern (Yamahas, Suzukis) unterscheiden. Seinen Chef Schumacher fand er bald unerträglich, was der aber zu spät mitbekam.

Am 17. März 2004 schrieben von Zitzewitz und die beiden Infineon-Vorständler Peter Fischt und Peter Bauer dem Aufsichtsratsvorsitzenden Max Dietrich Kley "persönlich/vertraulich" einen Brandbrief mitsamt sechsseitiger Anlage, in dem sie nicht weniger forderten, als Schumachers Vertrag aufzulösen. "In den letzten Monaten" habe sich die Zusammenarbeit mit Schumacher "drastisch verschlechtert". "Aufgrund der dramatischen Ausprägung dieses Zustandes sehen wir nicht nur einen Verfall der Führungskultur, sondern auch eine massive Gefährdung des Geschäftes." Schumacher zeige "starke Stimmungsschwankungen, hört bei Gesprächen nicht zu, steigt inhaltlich nicht ein, lenkt dauernd ab, ist entweder hochemotional und monologisiert mit starkem Druck oder schläft auch manchmal ein". Tatsächlich war Schumacher, als er mit einem der Vorständler zu Bosch fuhr, im Auto einmal kurz eingenickt.

Die Vorstandsmitglieder beschuldigten ihren Chef "persönlicher Beziehungen zu externen Gesprächspartnern, verbunden mit der Annahme von Vorteilen". Schumacher sei für die Führungsmannschaft "untragbar geworden". Er verbringe beispielsweise Urlaub mit Geschäftspartnern und verabrede dann mit ihnen Sonderkonditionen. In Stichworten: "Macht private Geschäfte mit Lieferanten und setzt Informationen der Lieferanten intern gegen die eigenen Verantwortlichen für diese Lieferanten ein (vertraut den Externen mehr als den eigenen Mitarbeitern) – Gefahr für das externe Ansehen des Unternehmens und seine Führung – Gefahr für das Ansehen des Aufsichtsrates – Finanzielle Schäden für das Unternehmen."

Die drei Vorstandsmitglieder, die zu Kley nach Speyer flogen, waren sich nicht sicher, wie der Aufsichtsratschef auf die Aufforderung, Schumacher zu stürzen, reagieren werde. "Wir hatten Angst, Kley werde uns zerlegen", sagt von Zitzewitz. Auch im Zeitalter der Ratgeberliteratur fehlt offenkundig immer noch ein Werk, das Verhaltenstipps für zerstrittene Vorstände gibt, eine Art Trennungs-Knigge für das Management. Es herrscht immer gleich Krieg. Doch als Kley die Aufzeichnungen studierte, fiel sein Kommentar knapp aus: "Das habe ich befürchtet." Sie hatten gewonnen.

Der ahnungslose Schumacher karriolte währenddessen auf einer Rallye in Mallorca und wunderte sich nur, daß von Zitzewitz, der auch kommen wollte, ein paar Wochen vorher abgesagt hatte. Nach seiner Rückkehr am 22. März erfuhr Schumacher von der Revolte. Er versuchte, mit den drei Kollegen zu reden – vergeblich. "Herr Bauer nahm das Telefon nicht ab, Herr Fischt hängte den Telefonhörer nach kurzer Tirade wieder ein. Herr von Zitzewitz ließ sich verleugnen und mich später dann auch vor seiner Haustür stehen." Schumacher notierte: "Ein Aufstand." In Erinnerung ist ihm eine Bemerkung Fischis geblieben, er, Schumacher, habe "in den letzten Monaten viele Menschen in den Staub getreten".

Schumacher analysierte die Situation später so: "Herr von Zitzewitz wollte einfach nur meinen Job. Er litt sehr unter seiner Rolle als Nummer zwei im Unternehmen und fühlte sich unter Wert geschätzt." Auch behauptete Schumacher, ihm sei zugetragen worden, der Adlige habe für die Vermittlung von Sponsoren heimlich Provisionen eingesteckt.

Als am 25. März 2004 der Infineon-Aufsichtsrat zu einer außerordentlichen Sitzung zusammentraf, begegneten sich von Zitzewitz und Schumacher auf dem Flur. "Bringen wir es anständig hinter uns", sagte von Zitzewitz. In der Sitzung kam Schumacher nur knapp zu Wort. Daß einer seiner Unterstützer, der damalige Audi-Chef und heutige VW-Vorstandsvorsitzende Martin Winterkorn, zu spät zur Sitzung kam, war ein Alarmzeichen. Schumacher bekam den Brandbrief der Kollegen nicht einmal zu sehen. Er trug nur das Ergebnis einer vergleichsweise kurzfristig erstellten McKinsey-Studie vor, der zufolge seine Vorstandskollegen unfähig seien. Kurios war: Er hatte die Vorstandskollegen ausgesucht, er war ihr Chef. Ganz streng genommen muß ein Chef gehen, wenn er an so wichtiger Stelle die falschen Leute ausgesucht hat.

Das Urteil der Kapitaleigner stand schon vorher fest: Nicht die anderen mußten gehen, sondern Schumacher. Ein Funktionär der IG Metall freute sich: "Der Porsche ist aus der Kurve geflogen." Der damalige Siemens-Vorstandsvorsitzende Heinrich von Pierer rief Schumacher am Abend an und behauptete, er sei sprachlos. Der glaubte ihm kein Wort. Die Siemens-Vertreter im Aufsichtsrat waren als Erste über ihn hergefallen.

Viele Monate später kam eine Affäre ans Licht, zu deren Aufdeckung Schumacher noch vor seinem Rauswurf die Spur gelegt hatte. Kurz vor der entscheidenden Aufsichtsratssitzung am 25. März 2004 hatte der Vorstandsvorsitzende dem Chef des Kontrollgremiums eine eidesstattliche Versicherung des Schweizer Unternehmers Udo Schneider vom 24. März 2004 überreicht. Schneider betrieb eine Agentur für das Sponsoring von Rennsportveranstaltungen, die BF Consulting GmbH, deren Hauptkunde Infineon war. Der Schweizer belastete von Zitzewitz schwer. Auszug: "In Zusammenhang mit der Betreuung der Sponsoringengagements der Firma Infineon Technologies AG, München, habe ich dem Vorstandsmitglied Herrn Dr. Andreas von Zitzewitz im Zeitraum von ca. drei Jahren sog. Kickbacks, d.h. Rückflüsse in Barbeträgen und/oder geldwerten Leistungen, aus durch Infineon Technologies AG an BF Consulting GmbH vergebenen Sponsoringengagements und darauf gezahlten Sponsoringengagements und darauf gezahlten Sponsoringsummen in Höhe von etwa 300.000 Euro gezahlt bzw. solche Leistungen gewährt."

Am 7. April kündigte Infineon den Vertrag mit Schneider, was Insider nicht überraschte. Die Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung, die Schumachers Position stärken sollte, war aus Sicht Schneiders ziemlich dumm gewesen: Stimmten seine Behauptungen, hatte er entweder von Zitzewitz zu Straftaten angestiftet oder sich der Beihilfe an dessen Vergehen schuldig gemacht. Sagte er die Unwahrheit, dann hatte er von Zitzewitz verächtlich gemacht oder in der öffentlichen Meinung herabgewürdigt. Beides waren Kündigungsgründe.

Für Sponsoring sind normalerweise Vorstandsvorsitzende zuständig, und Schumacher war mit Schneider befreundet. Wenn die Vorwürfe gegen von Zitzewitz zutrafen, wie sollte er dann nichts davon gewußt haben? Bei Infineon wurde mit der Ära Schumacher radikal abgeschlossen. Bei Siemens war er ohnehin schon in Ungnade gefallen, weil er beim erfolgreichen Börsenstart von Infineon im Vorzugsprogramm "friends & family" ungewöhnlich massiv eingestiegen war und wohl auch, weil er dank der Boni sehr viel Geld verdiente. Nach seinem Weggang mußten einige seiner Vertrauten Infineon verlassen oder wurden auf andere Posten abgeschoben. Hinter den Kulissen ging es ziemlich unsauber zu. Was damals niemand ahnte: Am Ende sollten alle Hauptakteure heftige Probleme mit der Staatsanwaltschaft bekommen.

Zunächst jedoch blieb von Zitzewitz eine ganze Weile unbehelligt, obwohl Schumacher den Aufsichtsratschef aufgefordert hatte, den Staatsanwalt einzuschalten. Kley lehnte ab. "Das wäre ein Mißtrauensbeweis gegen einen Vorstand gewesen. Da kann man dem Management auch gleich kündigen", erklärte er später. Interne Untersuchungen hätten die Vorwürfe gegen von Zitzewitz außerdem nicht bestätigt.

Gegen Schumacher wurde indes Belastendes zusammengekratzt. Im Mai 2004 schickte seine frühere Sekretärin auf Bitten des Vorstands Fischt eine E-Mail an Kley: "Wenn Herr Dr. Schumacher Urlaub mit seiner Familie gemacht hat, hat er häufig versucht, am Urlaubsziel (z.B. Thailand) einen geschäftlichen Termin zu vereinbaren, um einen First-Class-Flug auf Firmenkosten zu rechtfertigen." Schumacher behauptete später: "Meine Sekretärin hat in vielen Fällen hochvertrauliche Informationen nach außen getragen, zielgerichtet gegen mich." Er habe sie einmal loswerden wollen, auf Bitten seiner Frau die gesundheitlich angeschlagene Vorzimmerdame aber behalten. Was er nicht wußte: Bei Infineon wurden heimlich die von ihm gelöschten Mails wieder sichtbar gemacht und gesammelt.

Doch warum kommt jemand wie Schumacher, der Millionen verdiente, überhaupt in den Verdacht, ein Spesenritter zu sein? Konnte er Privates und Geschäftliches so schlecht trennen?

Nur ein paar Beispiele, die Fragen aufwerfen: Am 11. März 2003 flog er mit einem Learjet von München nach Hannover, wo er auf der CeBIT einen Vortrag hielt und den damaligen Kanzler Gerhard Schröder traf. Am nächsten Tag war er auf Mallorca, um an einem Autorennen teilzunehmen. Die Kosten – 14.966 Euro plus 240 Euro für den VIP-Service – zahlte Infineon. Am 20. August 2003 flog er zunächst dienstlich nach Berlin, dann nach Saarbrücken, um mit dem Inhaber und Geschäftsführer einer auf Ersatzteile von Porsche spezialisierten Firma zu sprechen. Anschließend ging es nach München weiter. Die Kosten lagen diesmal bei 12.239 Euro. Am 4. März 2004 flog er mit einem privat gecharterten Flugzeug nach Berlin zu einem Abendessen mit Kanzler Schröder, dann dienstlich weiter nach London und von dort nach Köln, wo er den Betreiber eines Restaurierungsbetriebs für Automobile traf. Die gesamte Flugreise kostete 16.218 Euro.

Schumacher erklärt zu den drei Reisen: In Mallorca habe er neben der privaten Rennveranstaltung auch einen Geschäftstermin gehabt (daß an einem Rennwochenende auch über Geschäftliches geredet wird, versteht sich eigentlich von selbst). Bei dem Zwischenstop in Köln, so Schumacher weiter, habe er nicht nur den Autorestaurateur getroffen, sondern – in Abstimmung mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden – einen Gesprächstermin wahrgenommen, und im Fall Saarbrücken sei er davon ausgegangen, daß sein Sekretariat die privat angefallenen Kosten korrekt ihm zurechnen werde. Die Sekretärin habe ihn hereingelegt.

Den Flug ins Saarland habe er mit der geplanten Berlin-Reise "koordiniert, weil ich natürlich irgendwie nach Saarbrücken kommen mußte". Dort habe er den berühmten Porsche 718RSK gekauft, der 1957 in Le Mans Klassensieger geworden war. Das "Fahrzeug lag komplett in Trümmern und Einzelteilen in den USA". Schumacher überwies 220.000 Dollar und zahlte 150.000 Dollar bar. Das Geld entnahm er einer Plastiktasche, die ihm Schneider, der sich nach Darstellung Schumachers an dem Auto beteiligen wollte, mitgegeben hatte – ein Vorstandsvorsitzender, der die Scheine in der Tüte mit sich führt. Schumacher: "Mir war das auch peinlich, aber der Verkäufer wollte Bares. Ich wollte das Fahrzeug als Prunkstück für meine Sammlung behalten, Herr Schneider sah das von Anfang an mehr als Geschäft an." Nach aufwendiger Restaurierung wäre das Fahrzeug "mit Sicherheit etwa 1,1 bis 1,2 Millionen Euro wert" gewesen. Soll man tatsächlich glauben, daß Schumacher einen Fremden – zumal eine so zwielichtige Figur wie Schneider – an einem solchen Projekt beteiligen würde? Die vielen merkwürdigen Details sind für Außenstehende nicht leicht nachvollziehbar. Fast jeder lügt sich in diesem Stück seine Wahrheit zurecht.

Das gilt auch für von Zitzewitz, der eine steile Karriere hinter sich und eine ansehnliche berufliche Zukunft vor sich hatte. Nach außen war der Manager, dessen letztes Jahresgehalt bei Infineon einschließlich Prämien 1,1 Millionen Euro betrug, nicht großspurig. Er residierte nicht wie Schumacher in einer feinen Villa am Starnberger See, sondern bewohnte eine schlichte Doppelhaushälfte in einem Dorf bei München. Nur sein Hobby, der Motorsport, war nicht ganz billig. Zu fünf, sechs Motorradrennen im Jahr nahm der Porschefahrer die beiden älteren seiner drei Söhne mit. Gemeinsam hockten sie dann an den Rennstrecken vor den Maschinen, putzten Lager, Antriebsketten, Bremsen, und der Geruch aus Gummi, Benzin und Rizinusöl, das oft dem Rennöl zur Leistungssteigerung beigemischt wird, war für sie kein Gestank, sondern ein Duft. "Unser Zusammengehörigkeitsgefühl war riesig", sagt von Zitzewitz.

Aber da waren die Teilnahmegebühren zu zahlen, Bremsbeläge, Reifen – vergleichsweise überschaubare Beträge; weil seiner musischen Frau das teure Vergnügen mißfiel, hat er viele der Ausgaben mit Schneiders Geld bezahlt. Das Ehepaar führt ein gemeinsames Konto, und so mußte er nicht lange begründen, warum er so viel Geld für sein Hobby ausgibt.

Seine Frau ist ausgesprochen robust. Als Ermittler das gemeinsame Haus durchsuchten, sägte sie mit stundenlangem Cellospiel an deren Nerven. Sie entschied sich für Vivaldi; der Venezianer hat rund 26 Konzerte für Cello geschrieben. Wie sie Vertrauten später sagte, wollte Frau von Zitzewitz auf konzertante Art dagegen protestieren, daß sich "auch die Staatsanwaltschaft von Schumacher instrumentalisieren ließ".

Der Fall Infineon verrät eine Menge über Korruptionskultur in deutschen Firmen, und das Beispiel des Herrn von Zitzewitz läßt erahnen, wie kleinkariert es auch in besseren Kreisen zugehen kann. "Die Grenzen zwischen Gefälligkeiten und dem Abrutschen in eine persönliche Abhängigkeit des Gebens und Nehmens sind fließend", sagt Peter von Blomberg von der Anti-Korruptions-Organisation Transparency International. Gier und Dummheit gehen manchmal Hand in Hand. Im Fall Zitzewitz überwog die Dummheit.

Als Täter und ein bißchen auch als Opfer agiert in dem Schmierenstück der Unternehmer Schneider, Jahrgang 1952. Einer, der zupacken konnte, aber mit seiner hellen Strähne im Haar und den braunen Schuhen zum blauen Anzug nicht so recht in die gehobenen Kreise paßte. Einer, der den Gesprächspartner zur Bekräftigung seiner Aussagen immer wieder am Arm packte. Er hatte den Schreinerberuf erlernt, das Abitur nachgeholt und war Bauingenieur geworden. Schreiner baute Holzblockhäuser und verkaufte die Firma schließlich für umgerechnet rund 600.000 Euro.

Ebenso wie von Zitzewitz und Schumacher war er ein Hobbyrennsportler, aber von anderer Klasse als die beiden Managerkameraden: Teilweise parallel zu seiner beruflichen Tätigkeit hatte er bis Mitte der achtziger Jahre Tourenwagenrennen gefahren. Später betreute er Rennteams wie das "BMW-Juniorenteam" oder das "Audi-Team Schneider". In den neunziger Jahren war er in die Schweiz gezogen und hatte die Unternehmensberatungsfirma BF Consulting AG mit Sitz im Kanton Thurgau gegründet. Er verkaufte Immobilien in Ägypten und kümmerte sich vor allem um die Vermarktung von Motorsportveranstaltungen.

Im Jahr 1997 lernte Schneider die beiden damaligen Siemens-Manager Schumacher und von Zitzewitz bei einer Veranstaltung auf dem Hockenheimring kennen. Er fragte die Autofans, ob sie "nicht Lust hätten, mal ein richtiges Rennen zu fahren". Nach ein paar Testrunden im Alfa hatten Schumacher und der Adelsmann Lust. Schneider besorgte ihnen die notwendigen Lizenzen und organisierte im Herbst 1998 das erste Rennen für die beiden Manager. Ein Jahr später führen sie schon drei Langstreckenrennen. Die beiden stiegen als Fahrer in den Porsche-Super-Cup ein – eine private Rennserie für vermögende Autobesitzer, die unter Rennsportleuten "Mäuseliga" heißt.

Der Kaufmann aus der Schweiz spendierte den gutverdienenden Managern Luxuswochenenden: Er mietete die Rennautos, zahlte Hotels, Restaurantbesuche, kam für Schäden an den Autos auf. Pro Rennen seien 10.000 bis 12.000 Mark angefallen, erinnerte sich Schneider. Investitionen in eine Männerfreundschaft, die aus seiner Sicht gut angelegt waren. Fütterte er Kunden an? Schumacher widerspricht: Er habe selbst bezahlt.

Am 3. Mai 2000, Infineon war an die Börse gegangen, schloß die BF Consulting mit dem Chip-Konzern den ersten Agenturrahmenvertrag ab. Auf Rennautos der Marke Porsche und Werbeflächen an Rennstrecken stand fortan der Name Infineon. Als Jahrespauschale waren 500.000 Euro vereinbart worden. Gegenstand des Vertrags waren, so steht es in Firmenunterlagen, "Beratungs-, Planungs- und Konzeptionsleistungen auf dem Gebiet des Sportsponsoring-Managements". Jährlich mußte BF Consulting ein Sponsoring-Gesamtkonzept erstellen sowie Events vorbereiten und koordinieren. Für die konkrete Umsetzung und Leitung von Sponsoring-Projekten gab es auf der Basis von Einzelaufträgen zusätzliches Geld. Infineon sponserte in der Formel 1 sogar das Jordan-Team mit rund 7,5 Millionen Dollar. Daß der damalige deutsche Jordan-Fahrer Heinz-Harold Frentzen eine mit "Infineon" beschriftete Kappe trug, kostete das Unternehmen weitere anderthalb Millionen Euro. Die Vereinbarung mit Jordan und Frentzen war vom damaligen Siemens-Vorstand Volker Jung durchgesetzt worden, der zeitweilig den Infineon-Aufsichtsrat leitete.

Im Konzern gab es strengste Kostenkontrolle, strengste Mitarbeiterführung, strengste Zielvorgaben. Nur wenn es um das Hobby einiger Vorstands- oder (wie bei der Formel 1) Aufsichtsratsmitglieder ging, galt das alles nicht mehr. Obwohl es zu zahllosen Unregelmäßigkeiten kam, die sich stets zum Nachteil von Infineon auswirkten, wurde Schneider "de facto von Mitarbeitern der Infineon nicht kontrolliert", stellten später Richter des Landgerichts München fest. "Aufgrund enger persönlicher Verbundenheit" Schneiders mit Schumacher habe dieser freihändig agieren können. Auch in den Jahren der Krise, als Tausende Mitarbeiter entlassen wurden, lief das Sportprogramm – mit Ausnahme der Formel 1 – weiter. Ob Porsche-Super-Cup, US-Rennserie oder Nascar-Serie: Der Krisen-Konzern, an dessen Spitze PS-Romantiker standen, gehörte zu den Gönnern auf den Rennstrecken der Welt.

Allen Beteiligten sei klar gewesen, erläuterte Schneider, daß man sich unlauterer Methoden bediene. "Wir können so nicht weitermachen", habe Schumacher bei einem gemeinsamen Abendessen gesagt. Das Rennvergnügen auf Firmenkosten sei dennoch fortgeführt worden. Er, Schneider, habe mit den Vorständen Privatverträge ausgehandelt, für die diese dann selbst aufgekommen seien – allerdings deutlich unter den tatsächlichen Kosten. Was Schumacher und von Zitzewitz offiziell bezahlten, habe er ihnen heimlich wieder zugesteckt. Das wird von den Managern dementiert. Unbestritten ist: Die Hochbezahlten predigten in den Jahren der Krise intern Leistung und Verzicht und waren sich selbst gegenüber unvermindert großzügig.

Bei einer Vernehmung in der Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim schilderte Schneider später einer Beamtin des Landeskriminalamts und dem Münchner Staatsanwalt Gerhard Köstler die Umstände eines 24-Stunden-Rennens in Spa im Jahr 2002. Schumacher, von Zitzewitz und ein Manager der HypoVereinsbank seien abwechselnd gefahren. Der Mann vom Geldhaus habe rund 100.000 Euro an Kosten für den Freizeitspaß im Voraus gezahlt. Schneider: "Sämtliche Nebenkosten für die Veranstaltung habe ich bezahlt. Diese Nebenkosten beliefen sich auf etwa 20.000 Euro ... Die 25.000 Euro der Herren Schumacher und von Zitzewitz habe ich beiden jeweils in einem Umschlag in München wieder zurückgegeben. Ich kann nicht mehr sagen, ob es exakt die 25.000 waren oder ob noch etwas dazugekommen war. In Spa äußerte sich Schumacher mir gegenüber verwundert darüber, daß von Zitzewitz mitfahre, wo es doch so teuer sei. Er fragte mich in diesem Zusammenhang: 'Oder gibst du ihm auch etwas?'"

Falsch, sagt Schumacher. Er habe selbst gezahlt. Weil von Zitzewitz "sehr geizig und sehr ehrgeizig" gewesen sei, habe er Schneider nur gefragt: "Hat der eigentlich einen Sponsor?" Von den heimlichen Zahlungen habe er keine Ahnung gehabt.

"Die angefütterten Raubtiere wurden immer gieriger", kommentierte der Vorsitzende Richter der 6. Strafkammer des Landgerichts München 1, Wolf-Stefan Wiegand, das Treiben bei Infineon später. Schneider schilderte Details angeblicher Übergaben: "Herr von Zitzewitz hatte mich mehrfach angerufen, wenn er Unfälle mit Motorrädern hatte und deshalb Geld brauchte. Er fragte mich dann, ob ich ihm etwas bringen könnte. Er sprach mich auch einmal an, weil seine Frau die A-Klasse kaputtgefahren habe. Er wolle dies nicht über die Versicherung laufen lassen. Ob ich ihm das Geld mitbringen könnte?"

Falsch, sagt von Zitzewitz. Er habe nie Geld von Schneider verlangt, sondern der habe ihm "das Geld regelrecht aufgedrängt": "Nimm doch was", und "leider" sei er "schwach geworden". Außerdem habe nicht seine Frau, sondern einer der Söhne das Auto kaputtgefahren, und der Schaden sei von seiner Versicherung bezahlt worden. Nachdem Schneider den Adligen angezeigt hatte und die Ermittler bei von Zitzewitz anrückten, wußte der nicht genau zu sagen, wie viel er von Schneider erhalten hatte. Er habe "nur die Dicke der Kuverts gefühlt, nicht nachgezählt". Im Büro müsse noch ein Kuvert herumliegen. Ein Beamter fuhr sofort zu Infineon und fand einen Umschlag mit 17.000 Euro. Ein weiterer hochrangiger Infineon-Mitarbeiter, Harald E., räumte ein, von Schneider 50.000 Dollar erhalten zu haben. E. verließ das Unternehmen.

Lange Zeit schonte Schneider allerdings den früheren Infineon-Chef Schumacher. Schumacher habe von ihm nichts bekommen, beteuerte er zunächst. Schumacher sei sein Sportskamerad gewesen. Doch nun drohten Schneider bis zu acht Jahren Haft. Aus dem Untersuchungsgefängnis schickte Schneider Ende 2005 einen Brief an Schumacher, der mit "dein Freund Udo, genannt der Knacki" unterzeichnet war. Ein Emissär, der nach München kam, erklärte, Schneider sei "ja nur aufgrund der eidesstattlichen Versicherung in Probleme" geraten und angeblich habe Schumacher dem Freund damals zugesagt, im Fall der Fälle die Anwalts- und Gerichtskosten zu übernehmen.

Schumacher: "Stimmt nicht." Gesichert ist jedoch, daß er Schneiders Verteidigung über einen Darlehensvertrag in Höhe von 400.000 Euro selbst finanzierte. Als Sicherheit wurde eine Eigentumswohnung Schneiders eingetragen. War das Schweigegeld? Schumacher: "Nein, ich konnte das moralisch rechtfertigen, weil ich glaubte, einem in Not geratenen Freund zu helfen."

Der Emissär meldete sich bald wieder und behauptete, Schumacher habe von Schneider heimlich Hunderttausende bekommen. Schneiders Firmen brauchten eine Finanzspritze – es fehlten 1,2 Millionen Euro. "Wir wollen doch nicht, daß Herr Schumacher gemeinsam mit Herrn Schneider den Hofgang macht", drohte er. Schumacher: "Das war ein vergleichsweise brutaler Erpressungsversuch." Er hatte Angst, "in der U-Haft zu verschwinden. Ich hatte schlichtweg die Hosen voll."

Im Herbst 2006 kündigte Schneider an, er werde den früheren Infineon-Chef "nicht mehr schonen". Auch Schumacher habe angeblich abkassiert. Staatsanwalt Köstler, ein skeptischer Strafverfolger mit viel Erfahrung, den Schneiders anfangs auch falsche Aussagen bereits Nerven gekostet hatten, setzte eine neue Vernehmung an. Wenn Schneider flunkerte, das stand fest, würde Köstler die Vernehmung abbrechen. Der Staatsanwalt hörte zu und war danach überzeugt.

Schumacher habe "richtig Druck gemacht", behauptete der Untersuchungshäftling. Beispielsweise habe er "im April oder Mai 2003 Schumacher entweder 100.000 oder 150.000 Dollar in bar nach München gebracht. Die Zahlung erfolgte in 100-Dollar-Scheinen, dies gab eine Menge Papier." Insgesamt habe er 2003 dem damaligen Vorstandsvorsitzenden 300.000 Dollar gegeben. Er habe an Schumacher gezahlt, weil er "weiterhin Aufträge von Infineon erhalten wollte". Völlig falsch, sagt Schumacher. Er habe nichts von Schneider gewollt und nichts bekommen. Keinen Cent. Im Gegenteil. Schneider konterte: "Herr Schumacher erkundigte sich immer wieder, ob das sicher sei, wie ich es verbuche. Ich sagte ihm, es sei wasserdicht." Schumacher: "Erlogen und erstunken."

Was ist Wahrheit, was ist Lüge? Die 6. Strafkammer mit dem Vorsitzenden Richter Wolf-Stefan Wiegand hat Schneider im September 2006 wegen Untreue und Bestechung im geschäftlichen Verkehr zu einer vergleichsweise milden Strafe von vier Jahren Haft verurteilt. Der Unternehmer hatte auch Geld von Co-Sponsoren unterschlagen, das eigentlich Infineon zustand.

Wiegands Kammer gab in der Urteilsbegründung im Fall Schneider ein paar Hinweise zur Causa Schumacher. An den Angaben Schneiders "zu den Zahlungen an die Vorstandsmitglieder" hätten die Richter "keinen Zweifel". Die angeblichen Zahlungen über 300.000 Dollar für den ehemaligen Vorstandschef mochte das Gericht nicht bewerten, weil diese "im vorliegenden Verfahren nicht angeklagt" gewesen seien. Die Richter wiesen darauf hin, daß der "dargestellte Sachverhalt" keine "präjudizielle Wirkung für etwaige andere Verfahren" habe.

Was wurde aus der Firma und ihren Zockern? Infineon ist mit der Zentrale auf einen schicken Campus am Münchner Stadtrand umgezogen. Das Speichergeschäft wurde abgetrennt, der Mutterkonzern Siemens mußte die Pleite des Großkunden BenQ verdauen. Das Unternehmen hat seinen Aktionären seit dem Börsengang keine Dividende gezahlt. Seit Schumacher weg ist, ging es zumindest nicht aufwärts.

Gegen Schumacher, der in manchen Jahren einschließlich der Boni bis zu sechs Millionen Euro verdiente und dennoch angeblich von Schneider vergleichsweise kleines Geld angenommen haben soll (was er lebhaft bestreitet), wurde im Sommer 2007 noch ermittelt. Staatsanwalt Köstler gab Ende 2006 den Infineon-Fall ab, weil er Richter in München wurde. Die Nachfolgerin, Staatsanwältin Ingrid Henn, will über Schumachers Fall noch im Jahr 2007 entscheiden. Der frühere Infineon-Chef ist heute einer der Köpfe eines Private-Equity-Unternehmens, aber die Ermittlungen sind ihm zur Last geworden. Wenn er mit Kunden über Investments spricht, weist er auf sein Verfahren hin. Er habe manchmal Angst vor dem "kompletten Ruin", sagt er. Auch streitet er mit Infineon über seine Abfindung. Die erste Rate in Höhe von 2,625 Millionen Euro hatte er am 31. März 2005 erhalten; wegen der zweiten in gleicher Höhe, die eigentlich zum 31. Oktober 2005 ausgezahlt werden sollte, sind die beiden Parteien vor Gericht gegangen. Bei einem Deal mit Infineon-Aktien hat er außerdem 1,2 Millionen Euro verloren.

Schneider ist angeblich ruiniert. Seine Wohnung in der Schweiz, die einen Wert von rund 1,5 Millionen Franken hatte, allerdings auch in dieser Höhe belastet war, wurde versteigert. Seine Altersversorgung ist für die Zahlung des monatlichen Unterhalts für seine Lebensgefährtin, das gemeinsame Kind und eine Tochter aus zweiter Ehe aufgelöst worden. Er hat einen Kontokorrentkredit von rund 100.000 Euro aufgenommen, und Infineon hat Ansprüche gegen ihn – in Höhe von 1.327.167,50 Euro angemeldet, will aber darauf verzichten, wenn er Schumacher belastet.

Von Zitzewitz, der beste Aussichten auf eine große Karriere hatte, kam um eine Hauptverhandlung herum. Ende 2006 erhielt er einen Stratbefehl. Weil er von Schneider rund 85.000 Euro kassiert hatte, wurde er zu einem Jahr Haft auf Bewährung verurteilt, mußte eine Geldbuße in Höhe von 100.000 Euro zahlen und das dem Fiskus vorenthaltene Geld nachversteuern. Er wurde geschäftsführender Gesellschafter einer Firma mit 22 Mitarbeitern und einer Jahresproduktion von rund zweihundert Campingbussen. Die Geschäfte laufen nicht toll. Er hat Existenzsorgen, schläft schlecht. Wird sein Betrieb überleben? Ein Gehalt nimmt sich der Gesellschafter nicht. Er hat sein Paket Infineon-Aktien verkauft, um solvent zu bleiben, und dabei ebenfalls sehr viel Geld verloren. Über die Gehälter und Boni, die im Topmanagement für normal gehalten werden, kann der ehemalige Dax-Vorstand und heutige Heine Mittelständler "nur noch staunen. Vieles ist maßlos überzogen."

Von früheren Infineon-Mitarbeitern, die sein Ausscheiden bedauerten, hat er zwar viel Zuspruch bekommen, doch selbst die Rückkehr in eine Position weit unterhalb der Spitze ist ihm derzeit versperrt. Wem der Ruch der Korruption anhaftet, gilt mittlerweile bei vielen Unternehmen als Aussätziger. Durch einen "fatalen Fehler", sagt von Zitzewitz, habe er sich "die Anerkennung aus zwanzig Jahren harter Arbeit kaputt gemacht". Ihm sei "nicht wohl" gewesen, als er das Geld angenommen habe, aber er sei "dem Reiz erlegen, unerwartet Geld in der Tasche zu haben, von dem niemand wußte".

Anfang 2007 forderten der Infineon-Vorstand und der Infineon-Aufsichtsrat in einer Einladung zur Hauptversammlung öffentlich seine Nichtentlastung. Zitzewitz war entsetzt. "Warum gewähren die mir keinen Abschluß in Ehren?", fragte er einen Vertrauten. Die Infineon-Spitze rührte die Klage des früheren Kollegen, die auch zu ihr durchgedrungen war, nicht sonderlich. Jedes Jahr wird ein wesentliches Thema für die Hauptversammlung gesucht: Im Vorjahr war es die Nichtvorlage der Entscheidung zur Speicherabspaltung, im Jahr zuvor die Treuepflicht für die Aktionäre. In diesem Jahr hatte man eben nichts Besseres gefunden als den Vorschlag, von Zitzewitz nicht zu entlasten.

Pflegefälle am Fließband

Der Manager Pierre Levi hat eine glanzvolle Karriere hingelegt. Sein Diplom schaffte er an der berühmten Ecole des Mines de Paris, seinen Master of Business Administration (MBA) machte er an der amerikanischen Wharton School, an der Spitzenleute wie der bescheidene Milliardär und amerikanische Investor Warren Buffett ausgebildet wurden.

Levi wurde stelivertretender Präsident eines Chemiekonzerns und Chef eines großen Dosenherstellers, bevor er erst zum Vize-Präsidenten, dann zum Vorstandsvorsitzenden des französischen Automobilzulieferers Faurecia aufstieg. Das Unternehmen, das zu 71 Prozent dem Automobilkonzern PSA Peugeot Citroen gehört, beschäftigt weltweit 60.000 Mitarbeiter und setzt im Jahr mehr als zehn Milliarden Euro um. Solche Unternehmen lassen sich mit dem Begriff "Zulieferer" nur unzulänglich beschreiben. Faurecia ist der zweitgrößte Zuliefererbetrieb für europäische Autobauer und weltweit die Nummer neun. Die Firma stellt unter anderem komplette Cockpits sowie die Innenausstattung von Autos her.

Worüber Levi öffentlich gern klagte, das waren die Preissteigerungen bei Energie und Rohstoffen und die fallenden Preise für Neuwagen. Experten vergleichen Levis Branche manchmal mit der Landwirtschaft. Entweder ist die Ernte noch auf den Feldern, oder sie ist schon auf den Feldern. Das eine ist aus diesem Grunde unvorteilhaft, das andere aus jenem. Es gibt bei den Autozulieferern und bei den Landwirten keine Tatsache, die nicht an einem "Schon" oder "Noch" kränkelte.

Über die wahre Plage, die sein Gemüt beschattete, hat Levi jedoch lange Zeit nicht gesprochen. Öffentlich jedenfalls nicht. Ein paar Jahre, nachdem er Chef geworden war, hatte ihn ein Insider zur Seite genommen und ihm berichtet, Faurecia stimme einige Einkäufer großer Automobilkonzerne durch geldliche und andere Zuwendungen gewogen. Die Berichte über Herrn Levis Reaktion sind widersprüchlich. Gesichert ist nur, daß er weder zur Staatsanwaltschaft ging, um die Schmierereien anzuzeigen, noch betriebsintern dafür sorgte, daß es bei Faurecia wieder nach Recht und Gesetz zuging. Er hat allerdings – denn er steht bei seinen Freunden im Ruf, ein Calvinist zu sein – über den scheinbar unverrückbaren Zusammenhang zwischen Zweck und Mittel geklagt, sich aber dann doch, vermutlich unfroh, gefügt.

Fortan ließ er sich von seinem deutschen Statthalter Jürgen K., der gelegentlich auch als Geldbote unterwegs war, über die Höhe der Zuwendungen schriftlich informieren. Auch Bestechung braucht einen Rahmen. Sein deutscher Manager schickte ein Fax: Darin waren 27 Fälle mit den jeweiligen Schmiergeldsummen sorgfältig aufgelistet.
Als kurz darauf, im Frühjahr 2005, einige deutsche Betriebsprüfer bei einer Faurecia-Niederlassung im pfälzischen Hagenbach vorbeischauten, ahnte noch niemand, daß Levis Absturz nur noch eine Frage der Zeit sein sollte und Faurecia in eine Krise taumeln würde, die schlimmer war als alle negativen Entwicklungen an der Rohstoffbörse. Der Fall Levi ist sogar zum Menetekel für andere große Bosse geworden, die Durchstechereien fördern oder zulassen.

Die durch die Ermittlungen der deutschen Fahnder und durch Medienberichte verschreckten Chefmanager der Automobilkonzerne, vorneweg der damalige VW-Vorstandschef Bernd Pischetsrieder, drohten, die Zusammenarbeit mit Faurecia zu beenden, wenn Levi keine personellen Konsequenzen ziehe. Der französische Spitzenmanager mußte im Sommer 2006 seine Demission einreichen. Für den Chefmanager war es ein tiefer Fall, aber auch die Chargen, die Absahner und Abzocker, wurden mit ihrer Beute nicht glücklich. Die meisten von ihnen verloren nicht nur den unrechtmäßig erzielten Gewinn, sondern ihren gesamten Besitz.

Die Branche schwitzt im Treibhaus der Korruption. Von den rund 750.000 Beschäftigten in der deutschen Automobilindustrie arbeiten 320.000 in der Zuliefererindustrie. Zwar können die großen Autohersteller ohne die Zulieferer keine Wagen mehr bauen: Längst gilt die Faustregel, daß BMW, Opel, Mercedes oder Volkswagen nur noch ein Drittel ihrer Autos selbst produzieren. Dächer, Getriebe, Sitze, Hinterachsen oder Frontpartien werden von Zulieferern direkt an die Montagebänder gebracht. Aber das Sagen haben die Autokonzerne.

Früher standen die Zulieferer in weit prächtigerer Wolle als heute. Dann drückten die Autokonzerne die Preise mit pauschalen Nachlaßforderungen in Höhe von 15 Prozent. Das Geschäft ist hart, und der Verlust eines einzigen großen Auftrags kann eine Firma in Schieflage bringen. Daß sogar einer der größten Lieferanten weltweit, der US-Konzern Delphi, Pleite machte, erschreckte die Zuliefererindustrie zusätzlich.

Die Frankfurter Strafverfolgerin Sibylle Gottwald hat den Verdacht, daß bei Auftragsvergaben in diesem Metier Schmiergeldzahlungen "an der Tagesordnung" gewesen und lange Zeit auch "stillschweigend geduldet" worden seien. Daß Volkswagen-Zulieferer beispielsweise einst zum Pläsier des einen oder anderen VW-Herrenreiters jedes Jahr in Wolfsburg ein Reitturnier veranstalteten, wußte jeder in der Branche, und kaum jemand nahm früher daran Anstoß. Vermutlich hat der Konzern bei der Endabrechnung jedes Turnier teuer bezahlt.

Die Geschichte, die bei Faurecia ihren Anfang nahm, hat viele Weiterungen, weil jeder Schlag ins Kontor einen anderen nach sich zog. Zu danken ist dafür den um Aufklärung bemühten Fiskalbeamten, die in der Buchhaltung des Autozulieferers in Hagenbuch auf Ungereimtheiten gestoßen waren und nicht lockerließen. Die Steuerprüfer hatten nach dem Zweck von Bargeldzahlungen gefragt, und die Auskünfte waren unbefriedigend gewesen. Später schalteten sich auch das Bundeskriminalamt, die Frankfurter und die Münchner Staatsanwaltschaft erfolgreich ein.

Ein ganzes Netzwerk aus korrupten Einkäufern und Beratern kam ans Licht, bei dem man leicht die Übersicht verlieren kann. Mancher Sünder beichtete freiwillig. Ein in der Hierarchie weit oben rangierender VW-Manager, der von einem Faurecia-Mitarbeiter heimlich große Summen zugesteckt bekam, meldete sich bei der Staatsanwaltschaft, bevor die Ermittler morgens an seine Tür klopfen konnten. Der Manager hatte einen tadellosen Ruf, war aber leider gierig gewesen. Einen kleinen Teil der Beute, rund 70.000 Euro, hatte er im Heizungskeller versteckt. Nicht einmal seine Frau kannte das Depot.

Dann ist da der Manager Andreas S. aus Niedersachsen, Jahrgang 1963. Er hatte eine überschaubare Karriere gemacht und war bis zum Geschäftsführer einer kleinen Firma aufgestiegen, die Faurecia im Jahr 2001 übernahm. Fortan agierte er als Abteilungsleiter für alle Entwicklungs- und Vertriebsprojekte mit VW. Daß er bei seiner Arbeit mit Geld nachhelfen sollte, wurde ihm rasch klar.

Er hatte es beispielsweise mit einem Audi-Einkäufer von Instrumententafeln und Mittelkonsolen zu tun. Der redete manchmal in Rätseln. Überhaupt ist es in der Branche so, daß Neulinge eine Weile brauchen, um die Spielregeln zu verstehen. Ihnen fehlt der Sinn für die Andeutung, das Ohr für die Worte, die unausgesprochen bleiben. S. müsse doch etwas für ihn tun, quengelte der Audi-Mann ständig, eine Kleinigkeit zumindest. Das Apartment in Ingolstadt für die Treffen mit der Freundin sei nicht günstig: 500 Euro Miete im Monat. Die Dame hatte er in Dresden kennengelernt, als ein aufmerksamer Lieferant ein kleines Essen spendierte und dazu netterweise vier "Mädchen" einlud. Dem Audi-Mann hatte die eine besonders gut gefallen, und sie hatte natürlich mitunter für sich auch spezielle Wünsche: einen Job, eine Uhr und ein bißchen Geld.

Der Audi-Mann habe gedrängelt, immer mehr Geld verlangt, behauptete Levis Manager Andreas S., und führte etwas umständlich aus, man könne auch von einer "gewissen Regelmäßigkeit" der erzwungenen Zahlungen sprechen. Anderenfalls, so habe der Audi-Mann anklingen lassen, dürfe das Unternehmen sich nicht wundern, wenn bei ihm eine Bestellung liege, die nicht an Faurecia gehe. 160.000 Euro habe er bekommen. "Unfug", behauptet der. Nie habe er etwas verlangt. Allenfalls Biermarken für kleine Feste, Schreibwaren oder eine Kaffeemaschine seien an ihn ausgegeben worden. Er sei doch kein Halsabschneider.

Um den Seat-Mann in Spanien zu "beatmen", wie es in der Fachsprache heißt, reiste S. mit dem Kollegen E. nach Barcelona. Der Seat-Mann galt – obwohl ganz schön viril und auch sonst belastbar – in der Branche als "Pflegefall". Herr E. hatte einige Erfahrung mit solchen Pflegefällen gesammelt und machte S. vor der Begegnung in einem vornehmen Restaurant klar, dieser solle irgendwann für zehn Minuten hinausgehen, damit er unter vier Augen mit dem Seat-Bediensteten reden könne. S. verschwand auf die Toilette, rauchte eine Zigarette, und als er wiederkam, strahlte E. und schlug ihm auf die Schulter. Fast beiläufig sagte E., um die Details werde sich S. kümmern. Als sie allein waren, erfuhr S. von E., die Sache sei "klargezogen". Er habe dem Seat-Mitarbeiter ein Vertriebsleitergehalt zugesichert: also achtzig- bis hunderttausend Euro Schmiergeld.

Der Einkaufsleiter eines Autokonzerns für den Bereich Chemie steckte zunächst Fußballkarten und dann in Peine Bares ein; der nimmersatte Mitarbeiter in Brasilien wollte immer Cash haben, und in China mußte natürlich auch Geld abgeliefert werden. Der Anwalt von S. erzählte den Frankfurter Staatsanwälten, sein Mandant könne sich bei den chinesischen Empfängern zwar an deren Funktion erinnern, aber "nachvollziehbar nicht an ihre chinesischen Namen". Das muß man verstehen. Zumal ein Vorgesetzter S. geraten hatte, über China zu reden, wenn die Staatsanwaltschaft sich nach den vielen Barzahlungen bei Faurecia erkundigen sollte.

Ein bißchen Bargeld hat S. für sich behalten: rund 60.000 Euro, die für den Kauf eines Grundstücks in Österreich oder als Anzahlung für ein Ferienhäuschen reichen sollten. Eine Kleinigkeit gewissermaßen.

Eine Berühmtheit in der Branche war der Diplomingenieur Günther L., ein Bajuware, der gleich nach der Promotion ("summa cum laude") in Landshut bei BMW angefangen und es zum Abteilungsleiter im Facheinkauf für Cockpit, Mittelkonsolen, Instrumententafeln und Türverkleidungen sowie zum Hauptabteilungsleiter für die Produktion des Mini gebracht hatte. Nach außen hin führte er ein sehr bürgerliches Leben mit Frau, Kindern und einem Häuschen, das natürlich schuldenfrei war. Zuletzt verdiente L. rund 220.000 Euro. Das ist ein schönes Sümmchen, doch es reichte ihm nicht. Er liebte das Besondere.

Eigentlich regierte L. wie ein kleiner Duodez-Fürst. Der skurrilste Fall betrifft eine bayerische Speditionsfirma. Das Unternehmen wolle als Zulieferer "bei BMW einen Fuß in die Tür bekommen", sagte ein Geschäftsführer im Gespräch mit L. Ein Speditionsunternehmen? L. hatte eine Idee. Er schlug vor, Handbremshebelbälge anzubieten, und kümmerte sich auch gleich um den passenden Facheinkäufer. Die Firma bekam den Zuschlag und wurde Zulieferer für die Dreier-Serie von BMW. Im Gegenzug erhielt L. Anteilsscheine an zwei Fonds im Gesamtwert von 85.000 Euro.

Eine Firma aus Amberg wollte die Kopfstützen liefern und bekam ebenfalls den Zuschlag. L. verdiente mit. Rund 130.000 Euro landeten auf einem Nummernkonto in der Schweiz. Mittelsmänner wurden eingeschaltet, außerdem Firmen in den USA, die Scheinrechnungen fabrizierten. L. gab den Takt vor.

Ein Manager erzählt, er habe für L. im Möbeltresor 78.870 Euro in einer Geldkassette aufbewahrt – "für Casino- und Barbesuche". Der Zocker und Genußmensch L. habe ihn aufgefordert, "zum Beispiel mit ihm nach Karlsbad, Marienbad und Prag zu fahren". L. war ein in Tschechien bekannter Spieler. Was die Croupiers nicht wußten: Der ihn begleitende Manager zahlte. Wenn L. in St. Moritz die Puppen tanzen ließ, mußte der Manager nachreisen und die Rechnungen in der Berghütte "Matthis" oder im "Draculaclub" übernehmen. Im Casino waren pro Abend sieben- bis achttausend Euro fällig. Man ging teuer essen. Da durfte die Flasche Wein mitunter tausend Euro kosten.

Auch in Bangkok war L. gern zu Gast, selbst die Golfkleidung ließ er sich schenken. Einer seiner Mitarbeiter wollte mit seiner Frau in den Golfclub – kein Problem. Die Jahresmitgliedschaft übernahm ein Zulieferer. Ein Manager, dessen Firma im Jahr 450 Millionen Euro Umsatz mit BMW machte, spielte mit L. eine Runde Golf. Der murmelte vor sich hin: "Du könntest etwas für mich tun." – "Was?" "Zweihunderttausend", sagte L. "Das geht nicht", erwiderte der Manager. L. habe "angefressen" gewirkt und sei grußlos weggegangen. Der Manager hatte eine schlaflose Nacht. Zwar konnte niemand bei BMW allein über Aufträge entscheiden, auch der gierige L. nicht: Es gab eine Initialphase, eine Konzeptphase, eine Lieferantenentscheidungsphase, Auftragsvergabe et cetera. Ein Wort von L. hätte allerdings die ganze Arbeit zunichtemachen können. Also zahlte der Manager fortan Hunderttausende über Scheinrechnungen an eine amerikanische Firma. Das Geld floß – mit einem kleinen Abschlag – L. zu.
Manche Akteure waren dummdreist und wollten ihre Bestechungssummen auch noch von der Steuer absetzen. So hatte ein mittelständischer Zulieferer aus Sachsen den Finanzämtern Betriebsausgaben für Projekte wie "Sitze 46/11" gemeldet und Rechnungen einer Frau L. aus der Nähe von Landshut eingereicht. Es handelte sich um L.s Ehefrau. Der Fiskus schaute in die Bücher, und der Rest war Formsache.

Einer der Geschäftsführer der sächsischen Firma kam in Untersuchungshaft und beichtete den Fahndern, seine Firma sei an einen Auftrag für Schalthebel durch einen Vermittler aus der Oberpfalz gekommen, der in den USA eine Firma gegründet habe. Der Mittelsmann, gegen den natürlich auch ein Verfahren eingeleitet wurde, erzählte von Geldtransfers über Konten im Ausland und schwarze Kassen. Bevor die Polizei kam, hatte er noch versucht, seine Festplatte zu löschen, und eine CD zerkratzt. Es war die falsche. Auf dieser waren Urlaubsbilder. Die andere mit den Geschäftsdaten haben die Fahnder entdeckt.

Der Nimmersatt Günther L. hat alles verloren. Das Landgericht München 1 verurteilte ihn wegen Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr in sieben Fällen zu drei Jahren Haft. BMW hat ihn entlassen. Das Haus der Familie mußte verkauft werden, und den ihm zustehenden Anteil am Verkaufserlös beschlagnahmte das Finanzamt. Die in den Skandal verwickelten Manager der anderen Firmen wurden ebenfalls entlassen; den meisten von ihnen wird der Prozeß gemacht. Der ehemalige französische Chefmanager Levi erhielt einen Strafbefehl: ein Jahr auf Bewährung mit Bewährungsauflage. Keine Geldstrafe. In den Zuliefererbetrieben sind einige Geschäftsführer ausgetauscht worden.

Manche haben dazugelernt. Der Zulieferer aus Amberg hat einen internen Kodex "für verantwortungsvolles Handeln" erarbeitet. Beschäftigte können sich seitdem bei Verdachtsfällen vertrauensvoll an ein Gremium wenden. Man darf auf Besserung hoffen. Ein bißchen zumindest.

Alles fürs Geschäft? Das System Siemens

Der Weltkonzern Siemens war wegen Schmiergeldzahlungen ins Gerede gekommen. Heinrich von Pierer ("Mister Siemens") stellte sich Reportern des Magazins Der Spiegel zum Gespräch:

Frage:    Herr von Pierer, gehören zur Geschäftspolitik Ihres Hauses Schmiergelder?

Pierer:    Natürlich nicht ... Wir bedauern diesen Vorgang außerordentlich. Unser Haus kann nicht zulassen, daß Geld gezahlt wird, damit Siemens einen Auftrag bekommt. Wir haben ja schon im Juni vergangenen Jahres Konsequenzen gezogen. Wir haben diese Vorgänge nicht nur mißbilligt und unsere Mitarbeiter nicht nur ermahnt, sondern auch erneut an die Konsequenzen erinnert, die ein solches Vorgehen hat, und zwar für das Unternehmen, aber auch für die Mitarbeiter.

Frage:    Sie unterhalten in der Schweiz eine Firma, die eigens dafür eingerichtet ist, Schmiergelder zu verteilen.

Pierer:    Das stimmt nicht.

Frage:    Welche Konsequenzen hat Siemens gezogen?

Pierer:    Sie können sicher sein, daß wir alles tun, damit sich Dinge, wie sie in München passiert sind, nicht wiederholen ... Es gibt einen Vorstandsbeschluß vom vergangenen Juni. In dem haben wir eigentlich nur Dinge bekräftigt, die immer schon für das Unternehmen galten. Wir haben die Führungskräfte des Hauses schriftlich darauf verpflichtet, sich strikt an die Grundsätze zu halten. Die Leute haben das nicht nur einseitig als Erklärung bekommen, sondern sie haben das gegengezeichnet zurückgeben müssen.

Frage:    Hat es Sie überrascht, daß diese peinlichen Enthüllungen hochkamen?

Pierer:    ... mich hat der Vorgang überrascht und betroffen gemacht.

Das Interview stammt aus dem Jahr 1992, jenem Jahr, in dem der promovierte Jurist den Vorstandsvorsitz des Konzerns übernahm. Die Reaktionen gleichen verblüffend denen, die der Siemens-Aufsichtsratsvorsitzende von Pierer vor seinem Rücktritt im Frühjahr 2007 an den Tag legte: Bestürzung, Fassungslosigkeit, Unverständnis.

Bei der Betrachtung von Korruptionsdelikten gilt dasselbe wie in anderen Bereichen des Lebens auch: Wer die Gegenwart verstehen will, muß die Vergangenheit kennen. Wer nach vorn will, muß zurückschauen. Es gibt viele Hinweise darauf, daß das breitangelegte Korruptionsnetz, das Siemens-Mitarbeiter über den Globus gespannt hatten und dessen Enttarnung 2006/2007 weltweit für Aufsehen sorgte, schon in den achtziger und neunziger Jahren geknüpft worden ist und niemals zerstört wurde. Die Konzernspitze, das zumindest steht fest, hat zu wenig unternommen, um saubere Verhältnisse zu schaffen.

1992, als von Pierer so "betroffen" war, ging es zwar nicht um Bestechungen im Ausland (die waren damals noch erlaubt und wurden sogar vom Fiskus belohnt), sondern um Schiebereien im Inland (die waren verboten), aber die Methoden – die schwarzen Kassen, das Gemauschel im Konzern vor der Aufdeckung durch staatliche Gewalten – weisen schon erstaunliche Parallelen auf.

Auch damals waren die Medien elektrisiert, die Reporter rieben sich die Augen. "Sitten wie in Palermo", kommentierte der Münchner Merkur, einen "Sumpf" entdeckte die Süddeutsche Zeitung, und die ermittelnde Oberstaatsanwältin Ursula Lewenton, eine energische Dame, machte "organisierte Wirtschaftskriminalität in Reinkultur" aus. Mehr als ein Dutzend Bedienstete des Elektrokonzerns, ein ehemaliger Mitarbeiter, kleine Unternehmer und ein untreuer Angestellter der Stadtverwaltung hatten vor Gericht erscheinen müssen.

Für die Vermittlung von Aufträgen beim Bau städtischer Klärwerke hatten Siemens-Mitarbeiter Schmiergelder in Millionenhöhe gezahlt. Das als "Provisionen" getarnte Geld nahm verschlungene Wege: Im Ausland wurden Namenskonten eingerichtet, Bargeld in Zürich konspirativ übergeben. Überhaupt führten viele Spuren in die Alpenrepublik. Man traf sich in Foyers vornehmer Hotels, hatte als Erkennungszeichen die Süddeutsche Zeitung oder den Spiegel dabei und flüsterte sich bei der Begegnung das Kennwort zu. Dann wurden die Scheine ausgehändigt.

Zu den Zürcher Geldempfängern zählte ein ehemaliger Siemens-Ingenieur aus der Niederlassung in München-Bogenhausen, der auch im Ruhestand noch sehr rüstig war. Unmittelbar gegenüber der Siemens-Filiale am Mittleren Ring hatte er ein "Büro Elektroplan" eröffnet. Der Rentner war einst ein "Reißer" in der Auftragsbeschaffung gewesen; selbst ein Vorsitzender Richter lobte ihn später als "sehr erfolgreichen Akquisiteur im Außendienst". Bei Siemens hatte seine Aufgabe darin bestanden, Kontakte zu den Großinstallateuren im Münchner Raum, zu Ingenieurbüros und Behörden zu knüpfen, Aufträge zu besorgen und Material an die Großinstallateure zu verkaufen.

Als Rentner arbeitete er eng mit einem Angestellten im Münchner Baureferat zusammen. Der untreue Beamte lieferte bei Großprojekten die vorliegenden Kostenangebote und verriet, welche Summen die Stadt für die ausgeschriebenen Bauaufträge auswerfen wollte. In der Regel waren drei Prozent der Netto-Auftragssumme als sogenannte Provision fällig. Zwei Prozent nahm der Mitarbeiter im Baureferat, ein Prozent kassierte der Rentner.

Nach Erkenntnissen der Kripo schanzten die beiden einer Münchner "Elektro-Mafia" aus über zwanzig Firmen auf diese Art Aufträge zu. Die Mitorganisation übernahmen Leute von Siemens. Der Weltkonzern zahlte umgerechnet mehr als 2,5 Millionen Euro an Bestechungsgeldern. Am Geldfluß beteiligt waren die Siemens-Standorte München, Erlangen und Karlsruhe. Erst als ein beteiligter Münchner Unternehmer auf die kuriose Idee kam, seine Schmiergeldzahlung als Werbekosten von der Steuer abzusetzen, flog das Bestechungskartell auf.

In der folgenden Prozeßserie saßen Siemens-Mitarbeiter bis hin zum Vertriebsleiter, Abteilungsleiter und Abteilungsdirektor auf der Anklagebank; sogar ein Technischer Vorstand mußte sich vor Gericht verantworten.

Der Rentner erzählte, wie er zum ersten Mal bei seinem früheren Arbeitgeber aufgetaucht sei und den Managern angeboten habe, dank seiner guten Beziehungen Aufträge zu besorgen. Drei Prozent Provision müßten allerdings drin sein. Kein Problem, lautete die Antwort. Die Siemensianer von der Münchner Niederlassung für Anlagentechnik schalteten die Kollegen in Karlsruhe ein, die das Schmiergeld als "Auslandsauftrag" über ein Schweizer Konto abbuchten. Auch die Kollegen in Erlangen waren behilflich. Sie verrechneten das Schwarzgeld wieder über die Schweiz. Die Gesetzesverstöße wurden arbeitsteilig arrangiert: Man verbuchte Zahlungen für einen Iran-Auftrag, der noch gar nicht zustande gekommen war. Manchmal reichte auch der Hinweis "Gasturbine Engineering". Die vielgerühmte Controlling-Abteilung von Siemens schaute auffällig weg.

Der Vorsitzende Richter Günter Bechert versuchte damals zu ergründen, inwieweit die Münchner Zustände mit den Praktiken in Bananenrepubliken vergleichbar seien. Immer wieder fragte er nach der sogenannten Firmenphilosophie des Konzerns und ließ Zweifel an der These der Siemens-Leute erkennen, daß die Klärwerksfälle bedauerliche Ausrutscher seien. Ob solche Schmiergeldzahlungen nicht vielleicht doch üblich seien? Überhaupt nicht üblich, lautete die stereotype Antwort der Angeklagten.
Ein Zeuge trat auf, der sich als "Kontrollinstanz" für die Barzahlung von Auslandsprovisionen bezeichnete, aber bekannte: "Ich habe keine Kontrolle ausgeübt." Der Richter war ratlos. Wie konnten beispielsweise hohe Beträge ohne große Probleme von einem Schweizer Siemens-Konto für Auslandsprovisionen abgerufen und als Zahlungen für Auslandsaufträge verbucht werden, die gar nicht existierten? Und warum war ein ebenfalls angeklagter Jurist des Siemens-Stammhauses für Anlagentechnik in Erlangen an einem Samstagmorgen – die Ermittlungen liefen schon – in die Münchner Filiale gefahren, hatte kistenweise für den Fall relevante Aktenordner eingepackt und dann in Erlangen in den ganz großen Reißwolf gesteckt? Er habe Schaden von der Firma abwenden wollen, aber nur Akten vernichtet, in denen sich Hinweise auf verjährte Kartellabsprachen finden ließen, behauptete der Mann. Das, so schrieb der ungläubige Richter Bechert ins Urteil, "widerspricht ... jeder Lebenserfahrung".

Auffallend in all diesen Verfahren, die erst in den späten neunziger Jahren abgeschlossen wurden, war die grenzenlose Firmenloyalität der Angeklagten. Keiner der aktiven Mitarbeiter hatte sich bereichert – alles geschah fürs Unternehmen, das dann wiederum auch alles für sie tat. Ungeachtet aller Betroffenheitserklärungen der Siemens-Zentrale zahlte der Konzern Kaution, um "seinen" Leuten die Untersuchungshaft zu ersparen, und übernahm die Anwaltskosten in Höhe von umgerechnet 250.000 Euro. Der Münchner Staatsanwalt Frank Zimmer schätzte, Siemens habe damals rund anderthalb Millionen Euro springen lassen. Er finde es "sehr nobel", bedankte sich ein Angeklagter vor Gericht, "daß man mich sogar als Pensionär unterstützt". Auch nach ihrer Verurteilung verlor keiner der Siemensianer seine Pension.

In den Urteilsbegründungen findet sich fast gleichlautend die Hoffnung des Gerichts, daß die Angeklagten sich die jeweilige Verurteilung eine Warnung sein ließen. Auch gehe das Gericht davon aus, daß sie keine Straftaten mehr begehen würden. Die Sozialprognose sei günstig. Die Siemensianer hätten ein tadelloses Leben geführt, arbeiteten seit vielen Jahren bei derselben Firma und hätten in erster Linie "im Interesse ihres Arbeitgebers" gehandelt.

Der Freiburger Strafrechtler Gerhard Hammerstein, der damals vom Siemens-Vorstand als Prozeßbeauftragter bestellt worden war, hatte sich im Gerichtssaal über die "dauernden Angriffe" gegen Siemens beschwert. Es sei nicht richtig, das Unternehmen als "alleinigen Bösewicht" darzustellen, da müsse man schon sehen, wie es in der Branche eben so zugehe. Mitfühlend erklärte er das mangelnde Rechtsbewußtsein der Angeklagten so: "Vielleicht waren viele zu lange im Auslandsgeschäft tätig."

Eine fast seherische Einschätzung: Die ganz große Siemens-Affäre unserer Tage spielte im Ausland, und die Ausmaße dieses Sumpfes lassen sich derzeit nur erahnen. Es geht um viele Hunderte Millionen Euro Schmiergeld, und wieder haben angeblich alle Kontrollen versagt.

Ein Brief mit Folgen

Seit Januar 2003 ist Christian Schmidt-Sommerfeld Leitender Oberstaatsanwalt der Strafverfolgungsbehörde München 1, und er bekommt schon von Amts wegen jeden Tag viel Post. Mitte September 2005 erhielt er wieder mal einen Brief ohne Absender, allerdings mit dem Poststempel München. Ein Anonymus teilte dem LOStA, wie Behördenchefs von Staatsanwaltschaften auch genannt werden, Geheimes aus der Siemens-Welt mit. Es ging um Korruption und Vertuschung in dem mit 475.000 Mitarbeitern größten deutschen Konzern, speziell in der Sparte Telekommunikation (Com).

Schmidt-Sommerfeld fand das Schreiben interessant und notierte auf dem Brief: "Frau AL XII". Oberstaatsanwältin Regina Sieh war seit drei Jahren die Leiterin der für Korruptionsbekämpfung zuständigen Abteilung XII der Strafverfolgungsbehörde; ihr unterstand damit das mit damals elf Staatsanwälten bundesweit größte Ermittlerteam in dieser Disziplin.

Der (oder die) Unbekannte hatte sich den Ärger von der Seele geschrieben. Neulich seien Beamte der Münchner Staatsanwaltschaft und Ermittler der Staatsanwaltschaft Bozen mit einem Durchsuchungsbeschluß bei Siemens aufgekreuzt, um Unterlagen sicherzustellen. Das war leicht nachprüfbar: Nicht Staatsanwälte von der Abteilung XII, sondern Kollegen von der Abteilung XI waren in einer Rechtshilfeangelegenheit tätig geworden. Der damalige Leiter der Abteilung XI, der viele Kontakte in aller Welt hatte und in der Behörde den Spitznamen "Handy-Staatsanwalt" trug (weil er so viel unterwegs war), hatte bei einer seiner Exkursionen einen Kollegen aus Bozen kennengelernt, und der war nun auf ihn zugekommen.

Die Bozener ermittelten seit Jahren gegen den früheren Generalinspektor für das italienische Post- und Fernmeldewesen, Giuseppe Parella, und gegen weitere seiner Landsleute wegen Verdachts der Bestechlichkeit und Geldwäsche. Siemens-Manager der Sparte Telekommunikation hatten die Italiener geschmiert, um beim staatlich kontrollierten Telefonausrüster Italtel zum Zuge zu kommen. Parella behauptete, er habe für angebliche Vermittlertätigkeiten fünf Millionen Euro von Siemens erhalten. Die Bozener Staatsanwaltschaft war der Spur des Geldes gefolgt, und die führte über die Alpen nach München.

Die Ermittler aus Italien und Deutschland, so teilte der Unbekannte dem Leitenden Oberstaatsanwalt in seinem Schreiben mit, seien bei ihrer Durchsuchung im Spätsommer 2005 hinters Licht geführt worden. Während die Fahnder – neben Beamten der Abteilung XI sowie einem Münchner Kriminalbeamten der Bozener Ermittler Cuno Tarfusser mit Gefolge – durch das Siemens-Gebäude geirrt seien, hätten Angestellte des Konzerns rasch Unterlagen beiseite und ins Archiv geschafft. Auch nannte der Anonymus die Namen verdächtiger Siemens-Mitarbeiter, von denen einige Ende 2006 in der großen Korruptionsaffäre tatsächlich ein Aktenzeichen bekommen sollten. Ein Insider also.

Ein Kollege der Abteilung XI erinnerte sich lebhaft, wie der Pförtner die Ermittler im Siemens-Labyrinth ins falsche Stockwerk geschickt hatte. Gezielt? Jedenfalls habe der Zerberus nur gegrinst, als sie nach der Odyssee durchs Haus wieder im Erdgeschoß ankamen.

Nicht mit jedem Detail dieser alles in allem nicht sehr erfolgreichen staatlichen Heimsuchung war der Unbekannte vertraut, aber seine Darstellung mündete in einen wichtigen Punkt: Unterlagen seien vor den Fahndern versteckt worden. Das war das Entscheidende. Am Ende des Briefes ließ der Anonymus sein Motiv erkennen: Wut. Bei Siemens fielen Tausende Arbeitsplätze weg, und einige "Herren" sackten unberechtigterweise Millionen Euro ein.

Der anonyme Brief, das war klar, durfte nicht in der Ablage landen. Bei dem Verfasser handelte es sich vermutlich um einen jener Whistleblower, die manchmal Ermittler oder auch Journalisten über dunkle Geschäfte informieren, ohne ihre Identität preiszugeben. Solchen mutigen Hinweisgebern galt die ganz besondere Fürsorge der Oberstaatsanwältin.

Im Jahr 2003 waren die Bozener schon einmal in derselben Angelegenheit in der bayerischen Hauptstadt gewesen. Sie hatten damals vom Ermittlungsrichter des Amtsgerichts einen Durchsuchungsbeschluß für die Com-Zentrale in der Münchner Hofmannstraße 51 sowie für acht weitere Siemens-Dependancen bekommen und waren dann auf der Suche nach Dokumenten durch endlose Keller geirrt.

Damals hatten sie vor allem Unterlagen über Geschäftsbeziehungen von Siemens zu einer Briefkastenfirma Tretre Inc. auf Puerto Rico gesucht. Gegenstand eines Vertrags, der aus den neunziger Jahren stammte, war ein angebliches Telekommunikationsprojekt in Nigeria. Nach Mutmaßung der Fahnder handelte es sich dabei um ein Luftgeschäft, um auf Umwegen fünf Millionen Euro nach Italien transferieren zu können. Tretre wer? Niemand bei Siemens konnte sich beim Besuch der Ermittler an die Firma erinnern, auch der damalige Leiter des Rechnungswesens für den Bereich Information and Communication Networks, Hans-Werner H., nicht. Jahre später sollte H. erneut ins Blickfeld der Fahnder geraten.

Oberstaatsanwältin Sieh besprach den Fall mit ihrer Gruppenleiterin Hildegard Bäumler-Hösl und einem erfahrenen Beamten des Bayerischen Landeskriminalamts (LKA), dem Kriminalhauptkommissar Andreas Teichmann. Siemens war im Laufe der Jahre immer wieder durch krumme Touren aufgefallen, besonders auf ausländischen Märkten: Bereits 1996 hatte der damalige Genfer Generalstaatsanwalt Bernard Bertossa den Verdacht gemeldet, Siemens habe bei einem großen öffentlichen Auftrag in Spanien mit Bestechungsgeldern operiert. Es gab keine nennenswerten Reaktionen. In Aserbaidschan war angeblich ein hochrangiger Politiker bei einem Geschäft von Siemens geschmiert worden, in Ungarn sollen Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums von Siemens Zuwendungen erhalten haben. In Ägypten, Singapur, Kamerun hatte es Unregelmäßigkeiten gegeben, in Indonesien und Vietnam ohnehin. In Korea hatte man nach einem Siemens-Manager gefahndet, dem Bestechung vorgeworfen wurde. Es hatte eine Reihe von Kartellverstößen durch Siemens gegeben, und Aufsehen hatte ein eher kleines Verfahren erregt, in dem es um große Politik ging und das immer noch nicht abgeschlossen ist: Gegen Siemens war, ebenso wie gegen 45 andere deutsche Unternehmen, ein Strafverfahren wegen illegaler Zahlungen an das System von Saddam Hussein im Zusammenhang mit dem Öl-für-Lebensmittel-Programm eingeleitet worden.

Seit Jahren ermittelt außerdem die Wuppertaler Staatsanwaltschaft gegen fünf Siemens-Mitarbeiter und zehn weitere Beschuldigte wegen Bestechungsverdachts bei einem Geschäft in Serbien. Siemens und ein Duisburger Anlagenbauer hatten als Konsortium den Zuschlag für die mindestens 49,8 Millionen Euro teure Modernisierung eines Kraftwerkblocks bei Belgrad bekommen. Angeblich flossen dabei 2,5 Prozent des Gesamtumsatzes (1,3 Millionen Euro) Schmiergeld.

In der Abteilung von Oberstaatsanwältin Sieh war auch ein Rechtshilfeersuchen aus Mailand gelandet. Die dortige Staatsanwaltschaft versuchte, die Hintergründe eines Geschäfts zwischen der Kraftwerksparte Siemens Power Generation und dem italienischen Energiekonzern Enel auszuleuchten. Es ging um Millionen, die angeblich eingesetzt worden waren, um den Zuschlag für Lieferungen von Industrieanlagen (Gasturbinen und Zubehör) zu bekommen. "Das bezahlt Siemens doch aus der Portokasse", sagte ein Insider. Eine Lappalie also. Die Münchner reichten den Fall an die Eingreifreserve des Hessischen Generalstaatsanwalts weiter, und die Behörde erhob 2006 gegen zwei ehemalige Siemens-Mitarbeiter in Darmstadt Klage.

Der frühere Siemens-Manager Rudolf Vogel hatte bereits im Spätherbst 2005 öffentlich behauptet, bei Siemens Power Generation sei Bestechung die Regel gewesen. Ein paar Monate zuvor hatte der ehemalige Siemens-Manager Peter Sipos seinem Ex-Arbeitgeber vorgeworfen, russische Auftraggeber geschmiert zu haben. Sipos demonstrierte tagelang vor der Münchner Firmenzentrale: "Hungerstreik gegen Betrug und Bestechung bei Siemens AG" stand auf seinem Schild.

"Gehören Schmiergelder zum Geschäftsinstrumentarium von Siemens?", hatte ein Redakteur der Süddeutschen Zeitung zwei hochrangige Siemens-Manager gefragt. "Das meinen Sie wohl selbst nicht im Ernst", hatten die geantwortet und abgewiegelt: "Oft gibt es Anschuldigungen aus zweifelhaften Quellen. Da muß man schon sehr vorsichtig damit umgehen. Sicher ist nur, daß Korruption für Siemens kein großes Problem bildet. Aber wie auch sonst im Leben kann ein Fehlverhalten Einzelner nicht ganz ausgeschlossen werden."

Kein großes Problem? Fehlverhalten Einzelner? Kriminalhauptkommissar Teichmann, dem Oberstaatsanwältin Sieh eine Kopie des Briefes gegeben hatte, sieht schon von Berufs wegen eine andere Wirklichkeit. Er stellte auf der polizeilichen Ebene Recherchen bei Kollegen in der Schweiz und in Liechtenstein an, denn fast jeder Wirtschaftskrimi von Format endet in dem kleinen Fürstentum am Rande der Alpen.

Die Staatsanwaltschaft in Liechtenstein hatte bereits im November 2004 gegen zwei Siemens-Angestellte, einen ehemaligen Mitarbeiter des Konzerns, einen Unternehmer aus der Schweiz und eine weitere Person ein Verfahren wegen Untreue, Geldwäsche und Bestechung eingeleitet. Die Fahnder waren auf merkwürdige Geldtransfers über Konten in ihrem Fürstentum gestoßen, die den Verdacht nahelegten, hier seien schwarze Kassen installiert worden, um Schmiergeldzahlungen vornehmen zu können. Im Frühjahr 2005 hatte der Liechtensteiner Anwalt Andreas Schurti dem Fürstlichen Landgericht zu Vaduz mitgeteilt, er vertrete die Siemens AG in dem Ermittlungsverfahren und könne versichern, keine der verdächtigen Personen habe sich bereichert. Als die Münchner Ermittler 2006 davon erfuhren, waren sie alarmiert.

Warum schützt ein Konzern illegal operierende Mitarbeiter? Warum lehnte das Unternehmen mehrmals die Bitte des Fürstlichen Landgerichts ab, ein Mitglied des Aufsichtsrats als Zeugen zur Verfügung zu stellen? Der Siemens-Anwalt hatte auf eine Anfrage geantwortet, für ihn und das Unternehmen sei nicht erkennbar, "zu welchen Fragen die einzuvernehmende Person befragt werden soll". Das Gericht solle die Fragen schriftlich schicken; man werde dann ebenfalls schriftlich antworten. Am besten sollten die Behörden des Zwergstaates mit den vielen Stiftungen, Trusts, Anstalten, Etablissements und Holdings die Ermittlungen einstellen.

Robert Wallner, der Leiter der Liechtensteinischen Staatsanwaltschaft, teilte dem Siemens-Anwalt etwas umständlich mit, daß "in der Tat dem Vorwurf der Untreue und der Geldwäsche der Boden entzogen" wäre, wenn dessen Behauptung stimme – und stellte das Verfahren nicht ein. Doch als die Vorermittlungen in München lebhafter anliefen, mochten die Liechtensteiner nicht mehr so förderlich wie zuvor mit den deutschen Kollegen zusammenarbeiten. Ein Rechtshilfeersuchen blieb unbeantwortet, und der sachbearbeitende Vaduzer Staatsanwalt wurde durch einen Kollegen ersetzt. So etwas passiert schon mal, aber mancher deutsche Ermittler machte sich so seine Gedanken. Siemens-Manager erzählten später, sie hätten fest auf die Verschwiegenheit der Liechtensteiner vertraut. In einem internen Siemens-Vermerk vom 26. April 2006 steht, daß es um fragwürdige Zahlungen von bis zu 25 Millionen Euro ging.

Die Bundesanwaltschaft im schweizerischen Bern dagegen arbeitete engagiert an dem Fall. Die Schweizer ermittelten seit dem Sommer 2005 ebenfalls gegen Siemens-Manager wegen des Verdachts der Geldwäsche und Korruption. Der Auslöser war hier ein Hinweis der Dresdner Bank gewesen. Den Finanzmanagern war aufgefallen, daß ein Siemens-Beauftragter, dessen Name dem Anonymus ein Begriff war, eine hohe Millionensumme auf zweifelhafte Art und Weise verschoben hatte.

Ende März 2006 hatten die Schweizer Ermittler in diesem Zusammenhang eine kleine Siemens-Tochter, die Intercom Telecommunications S.A., durchsucht, die zwei Monate später auf Beschluß einer außerordentlichen Gesellschafterversammtung aufgelöst wurde. Sie hatte offensichtlich als eine Art Geldwaschanlage für Schmiergeldtransfers fungiert. An Firmen, die nicht einmal Google im unendlichen Web finden kann, waren Millionenbeträge in bis zu zweistelliger Höhe geflossen. Allen Geschäften war gemeinsam, daß sich die Akteure nicht an die auch bei Siemens geltenden Regeln für solche Transaktionen gehalten hatten. Wenn Firmen "Everyloyal" heißen oder so ähnlich klingen wie die Namen von in Deutschland populären Sängern, horchen nicht nur Krimifreunde auf. Im Juli 2006 übermittelte die Berner Bundesanwaltschaft eine Spontanmeldung an die Münchner Justiz. Die Münchner Ermittler trafen sich mit den Schweizer Kollegen und diskutierten den Fall.

Bei Siemens war indessen seit der Durchsuchung durch die Bozener Staatsanwälte die Nervosität beträchtlich gestiegen. "Ich war fortan persona non grata im Unternehmen", sagt ein Mitarbeiter, bei dem die Bozener und die deutschen Strafverfolger daheim nach dem Rechten geschaut hatten. Er wurde freigestellt, bekam sein Geld weiter, doch die Kollegen mieden ihn. Er hatte sich erwischen lassen. Offenbar hatten ein paar Strategen die Parole ausgegeben: Mund halten, Zeit gewinnen und darauf hoffen, daß jemand von oben die Handbremse zieht. Handbremsen werden in solchen Fällen übrigens immer von oben gezogen.

Dafür aber war es zu spät. Die Münchner Ermittler, die dem Fall schon 2005 ein Aktenzeichen gegeben hatten, waren entschlossen, sich auf die Wucherungen der Affäre einzulassen. Sie hatten einen Tipp bekommen, mittlerweile ein stattliches Dossier in der Hand, sie recherchierten, sammelten weiter und hakten vielerorts nach. Das mußte reichen. Sie gingen strategisch vor, beschafften sich Luftaufnahmen der Siemens-Dependancen, damit die Ermittler bei der anstehenden Durchsuchung am richtigen Platz waren, und versuchten im Internet herauszufinden, welcher Verdächtige wo sein Büro hatte. Da das äußerst mühsam war, erschlossen sie sich andere Informationsquellen.
Eigentlich führte die Staatsanwaltschaft München 1 die Ermittlungen wie eine Art Geheimverfahren. Nur Schmidt-Sommerfeld und die beiden Strafverfolgerinnen kannten die Details der Vorrecherchen. Natürlich waren auch die Oberen bei der Generalstaatsanwaltschaft und im Justizministerium informiert worden, nachdem sich der Tatverdacht hinreichend konkretisiert hatte. Nur Siemens und die Medien durften nichts erfahren. Bei ihren Ermittlungen hatten die Münchner verblüfft festgestellt, daß über die von den Bozenern beantragte Durchsuchung im Jahr 2005 vorab in einer italienischen Zeitung berichtet worden war.

Die Aktion war politisch delikat, aber den Ermittlern kam zupaß, daß die Regierenden in diesen Tagen nicht gut auf Siemens zu sprechen waren. Der Verkauf der früheren Siemens-Handysparte an BenQ Mobile hatte zu einem Insolvenzverfahren geführt. Edmund Stoiber forderte nach der BenQ-Pleite im CSU-Parteiblatt Bayernkurier ein neues Wertegefühl in den Vorstandsetagen: "Manager, die zu ihrer Heimat keinen Bezug mehr haben, sind fehl am Platz." Globalisierung sei "auch ein Wettbewerb der Kulturen".

Der Artikel erschien etwa zu dem Zeitpunkt, als die Staatsanwältin Bäumler-Höst mit den Akten persönlich zum Haftrichter fuhr. In der Geschäftsstelle ließ sie in die Anträge auf Ausstellung von fünf Haftbefehlen keine Namen, sondern nur Geschäftszeichen eintragen. Der Haftrichter wiederum verwahrte die Akten nicht im Büro, sondern nahm sie mit nach Hause. Diesmal sollte die geplante Aktion die Siemens-Leute wirklich überraschen.

Ende Oktober 2006 stellte Amtsrichter Hans-Ulrich Steigenberger einen siebenseitigen Durchsuchungsbeschluß aus. Der erfahrene Richter, Jahrgang 1949, versuchte, das Firmengeflecht der Schiebereien bei Siemens Communications grob zu skizzieren.

Es habe verschiedene Ebenen gegeben: Die erste Ebene bildete Siemens. Von dort wurden Millionensummen an Firmen in Österreich und den USA (die zweite Ebene) überwiesen, die dann das Geld weiter an Briefkastenfirmen in Offshore-Gebieten (die dritte Ebene) lenkten. Die Gesellschaften der zweiten Ebene schlossen Beraterverträge mit der Siemens AG und Scheinverträge mit der dritten Ebene ab. Am Ende seien die Millionen in der Regel nach Liechtenstein oder in die Schweiz geflossen.

Als Termin für eine große Razzia setzten die Ermittler den 15. November an. Möglicherweise wurde auch der Unbekannte, der bis heute unsichtbar und anonym blieb, an diesem Tag von den Staatsanwälten überrascht. Vielleicht freut er (oder sie) sich wie ein zweites Rumpelstilzchen, daß in den Vorstandsbüros von Siemens später die Wände und auch der Boden wackelten. Aber vielleicht ist er sich auch selbst unheimlich geworden.

Chronologie einer Katastrophe

15. November 2006: In aller Herrgottsfrühe joggt der Siemens-Vorstandsvorsitzende Klaus Kleinfeld um den Starnberger See. Die vergangenen Tage sind nicht einfach gewesen. Die Journalisten und auch Politiker haben sich über die Pleite von BenQ Mobile und den Imageschaden für Siemens die Mäuler zerrissen. Doch die Zahlen im Konzern stimmen alles in allem, weshalb Kleinfeld das Gefühl hat, richtig schlecht sei es nicht gelaufen.

Erst vor ein paar Tagen hat er auf einer Bilanzpressekonferenz verkündet, der Gewinn sei im Geschäftsjahr 2006 um 38% auf mehr als drei Milliarden Euro gestiegen. "Wir waren noch nie so stark aufgestellt wie jetzt." Auch die Analysten waren zufrieden.

Der Bremer, Jahrgang 1957, hatte frühzeitig Erfolg. Nach dem Abitur am Gymnasium im Bremer Arbeiterviertel Woltershausen und einem Studium der Betriebswirtschaftslehre und der Wirtschaftspädagogik war Kleinfeld 1987 als Referent zu Siemens gekommen. Acht Jahre später gründete und leitete er bereits die hauseigene Unternehmensberatung. 2001 ging er in die USA, übernahm nach einem Jahr die dortige Siemens-Landesgesellschaft, die 17 Milliarden Dollar Jahresumsatz machte, und kam 2004 als Mitglied des Zentralvorstands nach München zurück. Im Jahr 2005 wurde der dynamische Macher Vorstandsvorsitzender und richtete den Weltkonzern seitdem noch stärker global aus.

Beim Laufen sinniert Kleinfeld gern – er nennt das "meditieren" –, doch an diesem Dienstagmorgen ist es mit der sportlichen Meditation bald vorbei. Ein Anrufer aus der Firma teilt mit, ein Großaufgebot von Staatsanwälten und Polizisten sei soeben bei Siemens mit Durchsuchungsbeschlüssen erschienen.

In der Regel beginnen in München Durchsuchungen in Unternehmen erst gegen neun Uhr, aber wegen der im Vorjahr gemachten Erfahrungen sind die Beamten diesmal schon vor sechs Uhr ausgerückt: 250 Polizeibeamte und Steuerfahnder, 23 Staatsanwälte aus München und Bozen sowie drei Schweizer Bundesanwälte sind in München und Umgebung, in Erlangen sowie in Österreich im Einsatz. Für die meisten Ermittler war es lange Zeit ein Geheimkommando – der Einsatzplan ist erst am Montagnachmittag bei einer Besprechung im Landeskriminalamt verteilt worden. Auch trifft es sich gut, daß die Siemens-Zentrale neben dem bayerischen Innenministerium liegt, auf dessen Gelände viele Polizeiautos parken. So fallen die Wagen, die für den Einsatz gebraucht werden, nicht auf.

Damit diesmal keine Unterlagen beiseitegeschafft werden können, bauen sich die Beamten vor den Büros auf und warten auf die Ankunft der Siemens-Mitarbeiter. Die Aufdeckung einer Affäre, die dem Ruf des Unternehmens, das 160 Jahre zuvor als "Telegraphen Bauanstalt von Siemens & Haiske" in Berlin gegründet wurde, schwer schaden wird, nimmt in relativer Ruhe ihren Anfang.

Kurz nach Beginn der Aktion werden fünf Siemens-Manager, darunter auch Ehemalige, festgenommen. Einige von ihnen sind erstaunlicherweise sofort bereit zu reden, zunächst sogar ohne Anwalt.

Bereits um 8:15 Uhr beginnt in den Räumen des Bayerischen Landeskriminalamts in der Münchner Orleansstraße die Vernehmung des Kaufmanns Reinhard Siekaczek, der bei den Geldverschiebungen in Liechtenstein und der Schweiz eine zentrale Rolle gespielt hat. Das Münchner Ermittlungsverfahren ist sogar nach ihm benannt worden: Es läuft "gegen Siekaczek u.a. wegen Verdachts der Untreue".

Der frühere kaufmännische Direktor des Geschäftsgebiets Transportnetworks im Bereich Information and Communication Networks (ICN) bittet zunächst um einen Schluck Wasser, dann um ein Blatt Papier, auf dem er erläuternd "die Abwicklung von diskreten Zahlungen" skizziert. Steigenbergers Durchsuchungsbeschluß hat er gelesen und keine wesentlichen Einwände erhoben.

Der Ermittlungsrichter ist in seinem Beschluß davon ausgegangen, daß mindestens 20 Millionen Euro bei der Siemens AG "abgezogen" worden seien. Siekaczek glaubt, es sei "ein bißchen mehr". Vorstandsleute hätten im Übrigen von dem Schmiergeld-System gewußt. Der 56-Jährige nennt viele Namen. Um 12:55 Uhr – sein Anwalt ist seit einer Weile an seiner Seite – bekommt er eine Butterbrezel gereicht. Vorher hat er das blutdrucksenkende Mittel Micardis und das altbewährte Diabetesmedikament Glucophage geschluckt. Dann legt er schon wieder los, und er ist nicht der Einzige, der auspackt.

Er werde auf jeden Fall kooperieren, möchte aber nicht nur die Kleinen, sondern auch die "Verantwortlichen in den höheren Ebenen benennen", sagt ein paar Zimmer weiter der ebenfalls inhaftierte Siemens-Manager Heinz J., der zunächst erkennungsdienstlich behandelt wurde.

Seit etwa 1994, erzählt er, habe er als Geldbote und Verwalter schwarzer Kassen bei Siemens fungiert. Die Gelder für "nützliche Aufwendungen" – er verwende nicht gern den Begriff Schmiergeld – seien viele Jahre lang über zwei Konten in Österreich gelaufen. Auf dem Innsbrucker Konto habe er pro Jahr umgerechnet zwölf Millionen Euro bewegt, über Salzburg seien umgerechnet 75 bis 100 Millionen Euro pro Jahr abgewickelt worden. Bei der Filiale einer Großbank am Münchner Promenadeplatz habe er regelmäßig große Summen Geld abgehoben, sei dann um die Ecke in die Kardinal-Faulhaber-Straße gegangen und habe die vielen Scheine dort bei einer Bank abgeliefert. Die Beträge seien dann den Geheimkonten der Raiffeisen-Landesbank Tirol gutgeschrieben worden.

Von Österreich aus seien, ohne Hinweis auf Siemens, Überweisungen in alle Welt getätigt worden. Manchmal habe er das Geld auch bar bewegt, mitunter sei er mit einer Million Mark im Kofferraum herumgefahren. Einmal sei er von einem Grenzbeamten kontrolliert worden. Der Grenzer habe nur gesagt, er habe noch nie so viel Geld auf einem Haufen gesehen. Als im Gefolge der Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA die Vorschriften und Kontrollen zur Geldwäsche verschärft wurden, sei er erleichtert gewesen, nicht mehr mit einem Koffer voller Geld durch die Straßen ziehen zu müssen. Die Kontrollen am Münchner Flughafen seien viel strenger geworden. Bei der UBS-Bank in Zürich habe er in einem Schließfach ebenfalls viel Bargeld verwahrt. Am Flugplatz in der Zwinglistadt sei nicht so penibel geprüft worden.

Beim Kampf um Klienten, so J., seien eben größere Summen geflossen, im Millionenbereich, versteht sich. Kaum hat er den Satz gesagt, fällt ihm ein, daß ein Siemens-Manager, der für Ägypten zuständig war, hohe Summen bekommen habe, um tüchtig schmieren zu können. Was es mit dem Projekt Telekonicasi Indonesia auf sich habe, wollen die Ermittler wissen. Da sei über angebliche Beratungsleistungen "Kapital generiert" worden, ist die Antwort. Projekt Vietnam Post und Telekommunikation? Lief genauso. Projekt Saudi Telephone Company? Genauso. Projekt Ministry of Communication of Kuwait? Genauso. Rußland? Klar. Drei für Rußland zuständige Kollegen hätten ihm von notwendigen Zahlungen an öffentliche Stellen und Geheimdienste berichtet.

Die Strafverfolger rechnen rasch mit. Allein bei diesen sechs Verträgen sind 20,55 Millionen Euro in dunkle Kanäle geflossen. Die Summe überrasche ihn nicht, erklärt der Manager. Das sei doch für Siemens-Verhältnisse ein kleiner bis mittlerer Betrag gewesen. Immerhin müsse man die Summe zum mehr als zehn Milliarden großen Gesamtumsatz des Bereichs Com in Beziehung setzen.

Haben die Beamten vielleicht eine andere Wirklichkeit im Kopf als die Manager, die in 190 Ländern Niederlassungen haben und in deren Imperium die Sonne nicht untergeht? J. gilt in seiner privaten Umgebung als redlicher Mann, als jemand, der dem anderen nicht die Krücken wegzieht, und das ist heutzutage schon etwas. Im großen Siemens-Kosmos war er ein Niemand mit einem Jahresverdienst von 85.000 Euro brutto, aber in der Com-Welt verließen sie sich auf ihn, für die Firma stand er stets parat – eigentlich ein Allerweltstyp.

Krude und etwas unbeholfen beschreibt der herzkranke J. seine Möglichkeiten: Bis zur zweiten Ebene, auf der Scheinfirmen ihre Scheinrechnungen stellten, sei er im Bilde gewesen. Die Offshore-Plätze mit den Briefkastenfirmen habe er nicht gekannt. Wer das Geld bekommen habe, wisse er ebenso wenig. Dafür sei er ein zu kleines Licht gewesen. In diesen Bereichen, belehrt er die Vernehmer, würden keine Fragen gestellt, sie würden auch nicht beantwortet. Das Prinzip des "only what you need to know" stammt eigentlich aus der Welt der Nachrichtendienste.

Abschottung, Hierarchie, Ebenen – die Ermittler haben noch nicht den Durchblick. Sie fühlen, daß dieser Fall weit komplizierter und größer ist, als sie vor der Aktion noch glaubten. Was da in Umrissen sichtbar wird, ist kein adretter Krimi, sondern ein unendlich verfilztes, unappetitliches Knäuel, in das möglicherweise Spitzenmanager des Weltkonzerns verwickelt sind.

Die schon am ersten Tag von Siemens-Managern kolportierte Geschichte von der Bande aus dem Souterrain des Konzerns, die mit raffinierten Methoden Millionen erbeutet habe, ist offenkundig eine Legende. Schon die Vorermittlungen deuteten darauf hin, daß es hier mindestens um ein System Com, wenn nicht gar um ein System Siemens geht. Langsam frißt sich die Affäre in den Vorstand durch.

Siekaczek packt am Nachmittag weiter aus. Seine Berichte aus der geheimen Siemens-Welt lassen erstmals die wahren Ausmaße der Affäre erahnen. In den neunziger Jahren, sagt er, seien umgerechnet 250 Millionen Euro allein im Bereich öffentliche Netze für nützliche Aufwendungen ausgegeben worden. "Jährlich!" Diese Zahlen müßten den Oberen eigentlich aufgefallen sein.

Im Jahr 2001, erzählt Siekaczek, sei ein Bereichsvorstand der Com, der Manager Michael Kutschenreuther, zu ihm gekommen: Wegen der Konten in Österreich gebe es Probleme. Die Genfer Generalstaatsanwaltschaft ermittle im Zusammenhang mit Bestechungen in Nigeria, und eine Spur führe in die Alpenrepublik. Ein Jahr später seien daraufhin er und vier weitere Siemens-Manager in der Gastwirtschaft "Alter Wirt" in Forstenried mittags zu einem Krisengespräch zusammengekommen. Kutschenreuther sei natürlich dabei gewesen, ein Mitarbeiter der internen Revision, der Leiter des Rechnungswesens und ein Mitarbeiter von Carrier Networks.

Man habe über eine Neuorganisation der schwarzen Kassen und die künftige Abwicklung sogenannter Provisionszahlungen diskutiert. "Alle guckten auf mich." Er habe sich schließlich bereiterklärt, die "Sonderaufgabe" zu übernehmen. Der Kollege von der Revision habe versprochen, ihm nicht in die Quere zu kommen, der vom Rechnungswesen habe ihm jede Unterstützung zugesichert, und der von Carrier Networks habe gesagt, "er werde mir ewig dankbar sein". Diese Siemens-Welt, so scheint es, hatte ihre ganz eigenen Regeln.

Skandalös aber ist nicht die individuelle Verfehlung, sondern ihre Einbettung ins Netzwerk. Siekaczek hat das System nach eigener Aussage gemeinsam mit einem Treuhänder in der Schweiz neu eingerichtet. Auch über drei Firmen in Dubai sei viel Geld geflossen. Ein Helfer, mit dem er übrigens am gestrigen Abend noch in München zusammengetroffen sei, habe Scheinrechnungen ausgestellt. Das Bargeld sei dann bei ihm gelandet. Im nicht verjährten Zeitraum, auf diese Feinheit kommt es Ermittlern immer an, sollen so mindestens weitere 40 Millionen Euro bei Siemens abgeflossen sein.

Als das System Anfang 2004 aufzufliegen drohte, so Siekaczek weiter, sei er zu Thomas Ganswindt gegangen, dem damaligen Vorstand und Chef der Netzwerksparte ICN, der spater in den Siemens-Zentralvorstand aufstieg. Der habe sofort eine Rauschanlage in seinem Zimmer angestellt, damit draußen keiner mitbekam, was drinnen besprochen wurde.

Es sei um Provisionszahlungen gegangen, also um Schmiergeld. Er habe Ganswindt davon in Kenntnis gesetzt, daß in nächster Zeit etwa 15 Millionen Euro nach Griechenland fließen sollten, zehn Millionen nach Nigeria und rund zehn Millionen Euro in Staaten der früheren Sowjetunion. Das sei zuviel. Der Einsatz von Schmiergeld müsse zurückgefahren werden, sonst bekomme man strafrechfliche Probleme. Ganswindt solle beim Vertrieb darauf hinwirken, daß die Kunden ihre Forderungen reduzierten. In Bozen werde schon ermittelt, und nichts sei mehr sicher.

Siekaczek, der etwa 200.000 Euro jährlich verdient hat, erzählt den Ermittlern, er habe sich damals geweigert, eine Compliance-Erklärung zu unterschreiben, und sei dann im Sommer 2004 ausgeschieden. Er wurde Berater bei Siemens und kassierte 35.000 Euro plus Aufwandsentschädigung von 10.000 Euro monatlich. Der Vertrag war auf drei Jahre Laufzeit angelegt, endete aber mit der Inhaftierung.

Rauschanlage hinter Vorstandstüren, ein Mitarbeiter, der sich weigert, interne Regeln ernst zu nehmen – wie ist das möglich? Stimmen Siekaczeks Behauptungen, oder versucht er nur den Sumpf zu vergrößern, damit am Ende alle darin versinken? Gegen Ganswindt wird anfangs noch nicht ermittelt.

Kleinfeld, der sich an diesem Tag im Internationalen Führungszentrum Feldafing der Siemens AG aufhält, liest den Namen Siekaczek auf dem Durchsuchungsbeschluß, doch der Ex-Mitarbeiter ist ihm nicht bekannt. Man kann als Chef eines so großen Unternehmens nicht alle aus dem Mittelbau kennen. Später wird nicht nur Kleinfeld der Name ein Begriff sein. Der Vorstandsvorsitzende wird sehr viel später in kleiner Runde sogar darüber spekulieren, ob Siekaczek der geheimnisvolle Anonymus gewesen sein könnte. Aber das ist äußerst unwahrscheinlich. Immerhin hat der Unbekannte, der den Fall 2005 ins Rollen brachte, in seinem Schreiben an Schmidt-Sommerfeld den Ex-Direktor Siekaczek stark belastet.

Kleinfeld, in dessen Vorstandsbüros die Ermittler ebenfalls nachgeschaut haben, bespricht den Fall mit dem Finanzvorstand Joe Kaeser. Gerhard Cromme, der dem Prüfungsausschuß des Aufsichtsrats vorsteht, wird ebenfalls telefonisch informiert. Der alte Fuchs aus dem Revier, der bis 1999 die Geschicke der Krupp AG und bis 2001 bei Thyssen-Krupp leitete, hat eine Witterung für Gefahren, aber auch er ahnt in diesem Augenblick noch nicht, was auf den Konzern (und auf ihn) zukommen wird.

In einem am 6. November 2006 abgelieferten Bericht der für die Einhaltung der Anti-Korruptionsvorschriften zuständigen Compliance-Abteilung an den Prüfungsausschuß des Aufsichtsrats war die Rede davon gewesen, es gebe in Italien Bestechungsvorwürfe mit einem "Vermögensvorteil von 338 Millionen Euro". Die Angaben waren jedoch sehr vage, und bei näherem Hinsehen handelte es sich nur um den Auftragswert eines Projekts. Kleinfeld mutmaßt daher, die Durchsuchung habe womöglich mit dem Fall der Intercom Telecommunications S.A. in der Schweiz zu tun, über den er Anfang des Jahres kurz informiert worden ist – also eigentlich eine überschaubare Angelegenheit.
Kaeser und Kleinfeld rufen Bekannte und Kollegen an, um zu fragen, was die denn in einer ähnlichen Situation gemacht haben. Kleinfeld nennt das "benchmarken". Das heißt: Externes Wissen wird rasch in das eigene Unternehmen eingebracht. So spricht er mit einem Spitzenmann der American International Group (AIG), des weltweit größten Versicherungskonzerns, der einmal wegen unsauberer Bilanzierungspraktiken große Probleme hatte, und bittet außerdem den DaimlerChrysler-Chef Dieter Zetsche um Rat.

Die Stuttgarter haben ihren eigenen Korruptionsskandal und seit Jahren die amerikanische Börsenaufsicht SEC im Haus. Selbst der einst so allmächtige Vorstandschef Jürgen Schrempp wurde von den Amerikanern vorgeladen und sehr ausführlich befragt. Das Strafmaß hat die SEC noch nicht festgelegt.

Als oberste Wertpapier- und Börsenbehörde überwacht die SEC mit rund 3100 Fahndern, Buchprüfern und Anwälten den gesamten US-Aktienmarkt. Auch Siemens, das ahnt Kleinfeld, wird Probleme mit der SEC bekommen. Die Münchner haben sich im Frühjahr 2001 an der US-Börse listen lassen und sich damit freiwilhg der amerikanischen Rechtsprechung unterworfen, die harte Regeln kennt. Die 1934 gegründete SEC konnte in den vergangenen Jahren ihre Kompetenzen erheblich ausweiten; sie darf Haftstrafen oder riesige Geldbußen verhängen und Firmen auf eine schwarze Liste setzen. Die sind damit für einen festzulegenden Zeitraum von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen. Und wie würden die großen amerikanischen Pensionsfonds reagieren, wenn Siemens Probleme mit der SEC bekäme? Kleinfeld beschließt, sich selbst um die Organisation der internen Aufklärung zu kümmern, und will amerikanische Spezialisten engagieren.

Von diesen internationalen Dimensionen ahnen die Fahnder nichts. An diesem Tag beschlagnahmen sie bei Siemens erst einmal routinemäßig Material: 36.000 Ordner Archivunterlagen, mehr als zweihundert Ordner über aktuelle Geschäftsvorgänge, außerdem umfangreiche Datensätze.

16. November 2006: "Großrazzia bei Siemens", schlagzeilt die Süddeutsche Zeitung. Das Landeskriminalamt hat eine Sonderkommission "Netzwerk" gegründet, deren elf Mitarbeiter den Fall gemeinsam mit Strafverfolgern und Steuerspezialisten bearbeiten. Sehr aktiv ist auch das Kommissariat 244 der Münchner Polizei, dessen Beamte ausschließlich in großen Korruptionsfällen ermitteln. Ungewöhnlich viele Beschuldigte packen weiterhin umfangreich aus. Verbitterung macht sich unter den Inhaftierten breit, weil sich das Spitzenpersonal des Konzerns gleich von ihnen distanziert und den Eindruck erweckt, eine ehrlose Bande ohne Rechtsgefühl habe Siemens hereingelegt und sich vielleicht sogar noch selbst bereichert. "Bei so was fällt immer was vom Wagen", hat ein Vorstandsmitglied einem Kollegen gesagt. Das spricht sich herum. Einige der Untersuchungshäftlinge hören davon und sind fassungslos.

17. November 2006: Eine Runde von Spitzenleuten des Konzerns sitzt zusammen und diskutiert einen Bericht der Wirtschaftsprüfüngsgesellschaft KPMG, der am Vortag bei Siemens eingegangen ist. "Strictly confidential" – streng vertraulich – ist das Papier. Die Prüfer beanstanden Beraterhonorare, die in Kleinfelds Amtszeit fallen, und schon deswegen ist der Bericht brisant. Sie listen für das jüngst abgelaufene Geschäftsjahr exakt 77.636.618,11 Euro auf, die außerhalb der bei Siemens für Beraterverträge festgelegten Regeln gezahlt wurden. Die KPMG-Prüfer, die auch die Bilanzen des Konzerns testieren, stießen auf viele Merkwürdigkeiten: Mal waren die Empfänger nicht eindeutig erkennbar, mal waren die Dienstleistungen nicht eindeutig festgelegt oder die Dauer der Kontrakte unbestimmt.

Die Beraterhonorare, hinter denen sich oft Schmiergeld verbirgt, gingen an vierzehn Firmen und Geschäftsleute in Europa, Asien und Afrika. Darüber hinaus bestanden zum Ende des am 30. September 2006 ausgelaufenen Geschäftsjahres noch Zahlungsverpflichtungen von mehr als 22 Millionen Euro für solche Beraterverträge. Auffällig ist, daß viel Geld an Adressen in Zypern geleitet wurde.

Auch die im Siemens-Fall ermittelnden Beamten erhalten das KPMG-Papier. Sie sind zunächst nur verblüfft, daß deutsche KPMG-Mitarbeiter andere deutsche KPMG-Mitarbeiter in schönstem Fachenglisch über die dubiosen Transfers unterrichten. Die Erklärung ist einfach: Sie korrespondieren auch deshalb miteinander auf Englisch, weil Siemens ein an der US-Börse notiertes Unternehmen ist und sich am Ende, wie bereits angedeutet, vermutlich die US-Börsenaufsicht für den Fall interessieren wird.

18. November 2006: Die Athener Staatsanwaltschaft geht inzwischen dem Verdacht nach, daß Siemens im Rahmen der Olympischen Spiele 2004 geschmiert hat. Das Unternehmen hatte für die Sommerspiele unter anderem eine riesige Sicherheitszentrale geliefert und für die Überwachung der Sportstätten 60.000 einzelne Geräte installiert. Siemens ist seit über hundert Jahren in Griechenland tätig. Auf Schweizer Konten, die karibischen Briefkastenfirmen zugeordnet werden und auf die der langjährige Chef der Sparte Telekommunikation in Athen Zugriff hatte, lagerten zeitweise 41 Millionen Euro. Etwa zehn Millionen Euro wurden abgehoben; davon gingen mindestens sechs Millionen nach Griechenland. Gegen den im Frühjahr 2006 bei Siemens ausgeschiedenen Manager hat auch die Münchner Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Von der Schweizer Bundesanwaltschaft wurde er Ende März 2006 vernommen.

Der frühere Direktor Siekaczek berichtet von einem Ordner "Olympische Spiele Athen", den er angelegt habe und der Protokolle sowie die Namen der Personen enthalte, die bei der Beschaffung eines Auftrags für die Sommerspiele 2004 mitgewirkt hätten. Es gebe ein Schriftstück, auf welchem stehe, daß von den Umsätzen der Telekommunikationsbranche in Griechenland acht Prozent für die Vertreter von Siemens Hellas abgezweigt wurden, "zu welchem Zweck auch immer". Finanziell nachzuhelfen sei "quasi allgemeines Gedankengut" gewesen.

Bei einer Siemens-Business-Konferenz in Berlin 2004 war das Projekt Olympic Games in Athen noch als sogenanntes Best Practice Example vorgestellt worden. Kutschenreuther sagt, er habe damals neben Kleinfeld gesessen und protestiert: Die Darstellung sei geschönt. Bei diesem Projekt gebe es 30 Millionen Euro überfällige Forderungen. Kleinfeld habe nach der Präsentation den griechischen Siemens-Manager angesprochen. Der wiederum nahm Kutschenreuther zur Seite und fragte erbost, warum der Kollege sich Kleinfeld gegenüber so geäußert habe. Nach Darstellung Kutschenreuthers soll der griechische Manager dann eingestanden haben, daß für dieses Projekt illegale Zahlungen geflossen seien. Für den Erhalt der überfälligen Forderungen werde man außerdem weitere Schmiergelder brauchen. Kleinfeld kann sich an eine solche Episode nicht erinnern.

22. November 2006: Die Staatsanwaltschaft München 1 zieht eine erste Zwischenbilanz: Der vermutete Schaden hat sich binnen weniger Tage verzehnfacht. Die Ermittler gehen jetzt von rund 200 Millionen Euro aus, haben aber zu diesem Zeitpunkt keine konkreten Erkenntnisse über den Verbleib dieser Gelder. Mittlerweile sitzen sechs Manager in Untersuchungshaft. Einige von ihnen sind weiterhin äußerst geständig. Nach ihrer Darstellung haben mehr als dreißig Siemens-Mitarbeiter von schwarzen Kassen gewußt. Die Auszahlung der Schmiergelder sei vor allem über leitende Angestellte im für die jeweiligen Regionen zuständigen Vertrieb gelaufen.

Außerdem seien mehrere Mitarbeiter der Anti-Korruptionsabteilung Compliance in den Skandal verwickelt. Bei Siemens haben Compliance-Mitarbeiter – wie in anderen Unternehmen auch – eigentlich die Aufgabe, Gesetzesverstöße zu verhindern oder zumindest abzustellen.

Siekaczek übergibt den Ermittlern an diesem Tag Unterlagen mit Kopien über von ihm unterzeichnete Generalvollmachten und Treuhandvereinbarungen, außerdem Dokumente über die Auflösung von Konten und den Rücktransfer von Geldern aus Liechtenstein. Der beleibte, gemütliche Mann, der seit Mitte der siebziger Jahre für Siemens arbeitete, entwickelt sich immer mehr zu einem Kronzeugen. Aus Sicht mancher Siemens-Manager ist er ein Verräter. Aber wie auch immer – er läßt sich nicht mehr aufhalten. Ein paar Tage zuvor hat er in der Mittagspause einer Vernehmung die Strafverfolgerinnen Sieh und Bäumler-Höst darüber informiert, er werde der Staatsanwaltschaft weiterhin bei der Aufklärung behilflich sein. Er besitze zwei Koffer mit Unterlagen über Provisionszahlungen. Die Koffer werden abgeholt.

Wenn jemand Schmiergeld brauchte, habe er, so Siekaczek, das Geld auf einem gelben "Post-it" angefordert. Das habe man sich bei Siemens so ausgedacht, um im Fall einer Durchsuchung die Zettel sofort verschwinden lassen zu können. Diese Verschleierungsmethode ist nicht so originell, wie er glaubt. Mit gelben Zetteln arbeiten nicht wenige Spitzenpolitiker in Berlin, die in heiklen Fällen Untersuchungsausschüsse oder rebellische Mitarbeiter fürchten und deshalb keine Spur in Akten hinterlassen wollen. Siekaczek, dessen Berufsweg bei Siemens begann, präsentiert den erstaunten Fahndern so viele Akten, Briefe, Belege, Vollmachten und Kontoauszüge aus der dunklen Siemens-Welt, daß ein Ermittler bei einer Vernehmung anerkennend pfeift.

Der Konzern bestellt die Kanzlei des Nürnberger Anwalts Hans-Otto Jordan als Ombudsmann. Jedem Hinweis werde nachgegangen, versichert ein Konzernsprecher – auch vertraulichen. Jordan hat die Kanzlei 1976 gemeinsam mit dem bayerischen Innenminister Günther Beckstein gegründet. Bleibt so einer unabhängig?, werden jetzt möglicherweise strenge Puristen fragen. Da gibt es bei Siemens ganz andere Untiefen.

23. November 2006: Was bei Siemens zu diesem Zeitpunkt niemand weiß: Die Staatsanwaltschaft Nürnberg leitet ein Strafverfahren unter anderem gegen den Unternehmensberater Wilhelm Schelsky sowie gegen "bisher unbekannte Verantwortliche der Firma Siemens AG oder ihrer Tochterfirmen" wegen Verdachts auf diverse Steuerdelikte und Untreue sowie Beihilfe zur Untreue ein. Angehörige der Steuerfahndung Nürnberg und des Dezernats 4 der dortigen Kriminaldirektion gründen eine Einsatzkommission mit dem Namen "Amigo". Was die Fahnder aufdecken werden, ist ein bislang tiefverborgenes Stück Unternehmensgeschichte des Konzerns: der drei Jahrzehnte währende Versuch, die paritätische Mitbestimmung auszuhebeln.

Angefangen hatte dieser Kriminalfall unauffällig am 18. Mai 2006 mit der Anordnung einer Betriebsprüfung bei Schelsky. Der 1948 Geborene ist der Sohn des berühmten Soziologen Helmut Schelsky (Die skeptische Generation), der sich in den sechziger Jahren mit seiner Theorie der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" deutlich von den damals modischen Klassentheorien abgesetzt hatte. Gewerkschaftsfünktionäre, so behauptete Schelsky senior Anfang der achtziger Jahre, seien lediglich "Kapitalisten neuen Stils". "Arbeiter, macht eure Funktionäre arbeitslos", endet daher eines seiner Manifeste. "Arbeiter in Ost und West, wehrt euch gegen eure Funktionäre!"

Der Prüfer interessierte sich indes nicht für die Theorien des Vaters, sondern für die Rechnungen des Sohnes aus den Jahren 2002 bis 2004. Schon bei einer ersten Durchsicht fiel dem Finanzbeamten auf, daß Schelsky, der mehrere Firmen dirigierte, vor allem mit Siemens Geschäfte gemacht hatte. Doch was hatte er dafür eigentlich geleistet? Nur bei einem ganz geringen Teil der Rechnungen – bei vier bis zehn Prozent des Jahresumsatzes von durchschnittlich mehr als fünf Millionen Euro – waren einzelne, konkretisierbare Schulungsleistungen und Seminare abgerechnet worden, und die Rechnungssummen waren nicht glatt, sondern "unrund", wie die Prüfer sagen. Das deutete darauf hin, daß sie echt waren.

22 Rechnungen über insgesamt 14,75 Millionen Euro weckten hingegen mit Standardformulierungen wie "Dienstleistungen/Beratungsleistungen wie vereinbart" oder "Für die erbrachten DL/BL stelle ich in Rechnung" und runden Summen zwischen 450.000 und 800.000 Euro sofort den Argwohn des Fiskalbeamten. Als er um Leistungsnachweise, Tätigkeitsbeschreibungen oder ähnliche Aufzeichnungen bat, wurde ihm nur ein sechzehn Jahre alter "Beratungs- und Schulungsvertrag" vorgelegt, dem zufolge Schelsky für ein monatliches Honorar von 52.000 Mark netto bei Personalentscheidungen und Fragen der betrieblichen Mitbestimmung beraten und Führungskräfte schulen sollte. Dieser Vertrag sei später immer wieder verlängert worden. Belege? Keine. Schelsky erklärte wortreich, Anpassungen an den Rahmenvertrag seien mündlich vereinbart worden. Ein Konzern, das war dem Betriebsprüfer rasch klar, arbeitet so nicht, wenn es nichts zu verbergen gibt. Es mußte sich um Scheinrechnungen handeln. Doch wofür und warum?
Pikanterweise fragt sich das seit einem Jahr auch die Revisionsabteilung von Siemens in München. Für eine verdächtige Rechnung über 928.000 Euro liegt kein anständiger und nachvollziehbarerVerwendungsnachweis vor. Schelsky, so die Revision, solle Unterlagen präsentieren. Was die Prüfer Ende 2006 in der Hand haben, reicht ihnen, wie sie dem Leiter des Rechnungswesens in Nürnberg mitteilen, nicht aus. Daß Schelsky sich bei diesem über die Münchner Kollegen lustig gemacht hat, können sie nicht wissen.

Schelskys Kontakte zu Siemens reichen viel weiter zurück als seine Beratertätigkeit, so viel wird den Staatsanwälten rasch deutlich. 1978 hatte er am Standort Erlangen beim Konzern angefangen. Damals war das Mitbestimmungsgesetz, das die Gleichstellung von Kapital und Arbeit in den Aufsichtsräten von allen Kapitalgesellschaften mit mehr als 2000 Beschäftigten vorsah, erst seit zwei Jahren in Kraft, und die zu dem Zeitpunkt in Teilen ziemlich links orientierte IG Metall bereitete so manchem Topmanager Magenschmerzen. Besonderen Ärger verursachte bei Siemens ein Zusammenschluß von Betriebsräten, der sich "Gruppe 72" nannte. In Erlangen, wo die Angestellten traditionell in der Mehrheit sind, hatten daher schon in den siebziger Jahren einige Manager den zarten Einfall, eine dem Vorstand wohlgesinnte, "unabhängige" Arbeitnehmervertretung AUB zu etablieren – "betriebsnah, ideologiefrei, zukunftsorientiert", wie deren Slogan lautete.

Dem stattlichen Schelsky mit dem runden, weichgepolsterten Gesicht, über dem der Segen guten Appetits ruhte, stand der Sinn nicht nach Klassenkampf. 1978, in seinem Eintrittsjahr bei Siemens, stellte die AUB in Erlangen bereits den Betriebsratsvorsitzenden. Nur sechs Jahre später wurde er selbst als AUB-Mann zum Betriebsratschef gewählt und stieg kurz darauf zum Bundesvorsitzenden der AUB auf. Ende 1990 verließ er im Rang eines Abteilungsbevollmächtigten den Konzern, um eine Beratungsfirma zu gründen – wie sich im Verlauf der Ermittlung zeigt, in Absprache mit zwei Siemens-Vorstandsmitgliedern und komfortabel ausgestattet mit der Zusage, im Falle des Scheiterns als Abteilungsdirektor in den Konzern zurückkehren zu dürfen. Wie weit die Absprachen zwischen Schelsky und den Siemens-Managern reichen, können sich allerdings im November 2006 auch die Ermittlungsbehörden noch nicht vorstellen.

24. November 2006: Bei Siemens wird ein Whistleblower-Fall heiß diskutiert, allerdings nicht der des großen Unbekannten, von dessen Brief nur ein paar Insider gehört haben, sondern der eines Ex-Mitarbeiters in Norwegen. Er hat nicht weggeschaut, sich nicht an krummen Touren beteiligt, sondern den aufrechten Gang vorgezogen. Das ist ihm schlecht bekommen.

Per Yngve Monsen war Finanzkontrolleur bei der Siemens Services Business (SBS) in Oslo, und zu seinen Aufgaben gehörte es, einen Großauftrag mit dem norwegischen Militär über ein neues Kommunikationssystem abzurechnen. Laut Vertrag durfte die Siemens-Tochter bei dem Geschäft höchstens acht Prozent Gewinn machen. Monsen hatte nachgerechnet und festgestellt, daß SBS dem Militär 6,1 Millionen Euro zu viel in Rechnung gestellt hatte. Das mußte ein Irrtum sein. Er informierte die Vorgesetzten. Die winkten ab.

Er beschloß, in Deutschland Alarm zu schlagen – streng nach Vorschrift. Siemens verpflichtet alle Mitarbeiter, sich an Recht und Gesetz zu halten. Anonyme Tippgeber, die Mißstände aufdecken, genießen offiziell besonderen Schutz. Sie sollen unerkannt bleiben, damit sie keine Racheakte der Vorgesetzten fürchten müssen.

Ein paar Tage nachdem er (ohne Absender) den Brief mit Unterlagen nach Deutschland geschickt hatte, bestellte sein Chef alle Führungskräfte des Unternehmens zu einem Meeting. Zu Monsens Verblüffung lagen seine Unterlagen auf dem Tisch. Der Chef sagte: "Wir haben einen Maulwurf, und wir werden ihn finden." Schon bald fiel der Verdacht auf Monsen, der tagelang befragt und unter Druck gesetzt wurde. Er mußte sich übergeben, bekam Durchfall, konnte nicht schlafen.

Einige Monate später wurde seine Abteilung aufgelöst. Für ihn fand sich kein Platz mehr. Er wandte sich an die Compliance-Abteilung von Siemens in Erlangen. Ein Jurist reiste an. Sie trafen sich in einem Osloer Hotel. Der Compliance-Mann war besorgt und versicherte, er nehme die Vorwürfe "sehr ernst". Bald darauf teilte er Monsen mit, es seien keine Unregelmäßigkeiten festgestellt worden.

Monsen ließ nicht locker, ging in Oslo vor Gericht und schaltete die Medien ein. Das Gericht bestätigte (ebenso wie eine Expertenkommission des Militärs) Monsens Vorwürfe. Der Richter am Stadtgericht Oslo erklärte: "Das Gericht hat festgestellt, daß Monsen sich an die internen Vorschriften gehalten hat. Er wurde von der norwegischen Leitung einer Vergeltungsaktion ausgesetzt." SBS mußte Monsen umgerechnet 181.000 Euro zahlen, Siemens erstattete dem norwegischen Verteidigungsministerium umgerechnet 4,4 Millionen Euro zurück. Dann stellte sich noch heraus, daß SBS an einige der Militärs, die für die Kontrolle des Auftrags verantwortlich waren, Geschenke verteilt hatte.

Und was macht Siemens in diesen Novembertagen 2006? Fährt ein Repräsentant aus der Konzernleitung nach Oslo und entschuldigt sich öffentlich bei Monsen? Wird der Compliance-Mitarbeiter, der das Offenkundige nicht offenkundig fand, zumindest intern gerügt? Hat derjenige, der den Kollegen in Oslo die Unterlagen geschickt hat, mit denen nach dem Whistleblower gesucht werden konnte, mit Konsequenzen zu rechnen? Mitnichten.

Siemens will das Kapitel "professionell" erledigen. Der Konzern sucht einen Käufer für sein IT-Geschäft in Norwegen. Weg, einfach nur weg.

29. November 2006: Im Berliner "Estrel"-Hotel, einem gewaltigen Betonklotz, in dem auch Liveshows und Musicals aufgeführt werden, treffen sich 600 Siemens-Betriebsräte zu ihrer Jahrestagung. Kleinfeld hat seine Beteiligung wegen anderer Verpflichtungen abgesagt. Hauptredner ist Arbeitsdirektor Jürgen Radomski, der auch der oberste Korruptionswächter im Vorstand ist. Er attackiert angebliche Nestbeschmutzer in den eigenen Reihen und mahnt die Arbeitnehmervertreter zur Solidarität gegen Angriffe von außen. "In Reue fest, die Reihen eng geschlossen?", fragt der Spiegel spöttisch.

Ende November 2006: Ende des Monats, der Tag läßt sich nicht zweifelsfrei klären, nimmt das US-Justizministerium Ermittlungen im Fall Siemens auf. Die Münchner erfahren davon zunächst nichts.

1. Dezember 2006: Siekaczek, gegen den mittlerweile wegen schwerer Untreue ermittelt wird, erscheint zur Vernehmung bei der Amtsrichterin Irmengard Weiß-Stadler. Er weiß, daß er nur bei einem überzeugenden Geständnis aus der Untersuchungshaft freikommen wird. Der 56-Jährige bekräftigt vieles, was er schon zu Protokoll gegeben hat, sagt aber auch Neues. In anderen Geschäftsfeldern von Siemens habe es ähnliche Provisionssysteme wie bei der Telekommunikation gegeben. Im Bereich der Sparte Verkehrstechnik sei er selbst im Jahr 2000 in einen derartigen Vorgang verwickelt gewesen. Er nennt die Namen der involvierten Firmen, die Helfer, die Drahtzieher. Wer das Geld am Ende in den diversen Ländern bekommen habe, sei ihm nicht bekannt. Siekaczek wird als Erster der Siemens-Leute gegen Auflagen aus der U-Haft entlassen.

4. Dezember 2006: Kleinfeld schlägt intern vor, die Kontrolle künftig direkt bei ihm und nicht mehr bei der Personalabteilung anzusiedeln. Er hat, wie er Vertrauten sagt, "das Gefühl, im falschen Film zu sein". Er verabscheue Korruption. Kleinfeld weilte in den USA oder betreute die hauseigene Unternehmensberatung, als die schwarzen Kassen angelegt wurden. Er hat sie weder gewollt noch geduldet.

Die Schwelphase des Skandals, wo Gerüchte und Verdächtigungen die öffentliche Meinung zu bestimmen schienen, ist vorbei: Der ganz große Skandal ist keine Erfindung mehr, sondern Realität geworden, und er entfaltet eine Sogwirkung. Cromme fährt immer häufiger nach München. Manche hochrangigen Siemens-Leute, das spürt er, ziehen beim Versuch der Aufklärung nicht mit. Dem Chef des Prüfungsausschusses wird offenkundig nicht die volle Wahrheit gesagt. Cromme glaubt nicht mehr an die im Unternehmen populäre Theorie von den einzelnen schwarzen Schafen.

Seit 2003 sitzt er im Siemens-Aufsichtsrat. Als er Anfang 2005 das Amt des Prüfungsausschußvorsitzenden übernahm, hatte er mit Kleinfeld verabredet, bei jeder Sitzung solle ein Mitglied der Compliance-Abteilung mit am Tisch sitzen und Bericht erstatten. Jetzt dämmert ihm, wie er einem engen Mitarbeiter sagt, "daß die Compliance versagt hat".

In Sitzungsvorlagen hatten die Compliance-Leute in den vergangenen Monaten mehrmals gewarnt, mit Durchsuchungen sei zu rechnen, doch aus Crommes Sicht waren die Hinweise reichlich unbestimmt geblieben. Cromme denkt darüber nach, die bei Com angelaufene interne Untersuchung auf alle Sparten des Unternehmens auszudehnen. Das will auch Kleinfeld.

7. Dezember 2006: Bei der Staatsanwaltschaft München 1 erscheint der frühere Siemens-Bereichsvorstand Michael Kutschenreuther, der seit Mitte November in Untersuchungshaft sitzt, zur Vernehmung. Er hat bislang geschwiegen und erklärt nun, er wolle mit der Staatsanwaltschaft kooperieren. Dafür habe er drei Beweggründe: Erstens halte er "dieses scheinheilige, gespielte Entsetzen" vor allem seitens der Konzernleitung nicht mehr aus. Kleinfeld sage, er wolle lückenlose Aufklärung, und engagiere dann einen Ombudsmann. Da könne er, Kutschenreuther, Kleinfeld besser helfen, und genau das, fährt er mit bitterem Spott fort, werde er jetzt "konsequent" tun. Zweitens habe er drei Kinder und eine "tolle Frau" und wolle nicht länger in der U-Haft zuwarten, sondern so schnell wie möglich zur Familie zurückkehren. Drittens seien lediglich Leute aus den kaufmännischen Abteilungen in Haft. Von denen aber sei seines Wissens keiner für die Ursprünge des Schmiergeld-Systems zuständig und verantwortlich. Mit den Kaufleuten sei man bei den Symptomen, aber nicht bei den Wurzeln des Problems angelangt. "Entsetzt" sei er darüber, daß der Leiter des Rechnungswesens und der Leiter der Revision inhaftiert worden seien. Beide seien in die Thematik nur hineingestolpert und gehörten nicht in Untersuchungshaft.

Der Industriekaufmann Kutschenreuther hatte 1974, gleich nach dem Abitur, bei Siemens mit einer "Stammhauslehre" – einem durch Praxiseinsätze ergänzten Betriebswirtschaftsstudium – angefangen. Der junge Mann, der schon früh Interesse für die arabische Kultur zeigte, ging für Siemens zunächst nach Algerien; für ihn war das die Erfüllung eines Schülertraums. Er blieb drei Jahre und wechselte später für Siemens in den Irak, wo der Konzern ein konventionelles Kraftwerk baute. Dann machte er in der Heimat Karriere, erst als Abteilungsleiter für die Projekt- und Auftragsfinanzierung von Kraftwerks- und anderen Power-Projekten, dann als kaufmännischer Leiter des Geschäftsbereichs Mobile Networks, bis er schließlich Bereichsvorstand der Sparte Telekommunikation wurde.

Einer wie er kennt das Naturgesetz der Verbindungen im Management. Ihm ist klar, daß solche Beziehungen am besten halten, wenn sie nicht binden, und daß sie ungültig werden, sobald ein Partner sich auf sie beruft. Auf Unterstützung von außen darf einer wie er nicht hoffen. Er kennt die Techniken, wenn die Angelegenheit heikel wird: das Ausweichen, das Nichtfragen, die rechtzeitige Erblindung und Ertaubung. Vor allem weiß er, daß am Ende nie einer für den Anfang verantwortlich gewesen sein will.
Kutschenreuther erklärt den Ermittlern einen Code, den Vertriebsmitarbeiter in den achtziger Jahren für Beraterverträge verwendeten. Die beiden Worte "Make profit" haben zehn Buchstaben, die jeweils den Zahlen eins bis zehn zugeordnet wurden: APP bedeutet demnach 2,55 Prozent. Die Zahlungen, sagt er, seien schon bei der Auftragskalkulation berücksichtigt worden. Aber kann es sein, daß die Saubermänner eines Unternehmens mit im Sumpf stecken? Bei ihren Vernehmungen haben Beschuldigte behauptet, Spezialisten der Compliance-Abteilung hätten sich mitunter wie Komplicen verhalten; Kutschenreuther kann das nur bestätigen.

Zum besseren Verständnis des Folgenden hilft vielleicht eine kleine Übertreibung mit einem Schuß Kolportage: Anfang der roaring twenties, der wilden zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, eskortierten in Chicago Polizisten auf Motorrädern die Lastzüge der Alkoholschmuggler, Polizeioffiziere traten im Rausch der Prohibition als Bordellbesitzer auf, während Spielhöllenchefs bei den Wahlen zu politischen Ämtern eigene Kandidaten unterstützten. Die Gesetze waren mit dem gesunden Erwerbssinn der Bürger nicht in Einklang zu bringen. Also mußte das Gesetz dazu gebracht werden, die Augen zuzudrücken.

Die vorgebliche wirtschaftliche Logik soll auch bei einigen Compliance-Leuten zu einer tiefgehenden Spaltung ihres sittlichen Bewußtseins geführt haben – zumal es lange Zeit angeblich im Unternehmensinteresse lag, dem Geschäftserfolg finanziell nachzuhelfen. Die Compliance-Leute sicherten also nur Geschäfte ab. Wer bei den Durchstechereien übertrieb, mußte gehen, aber er fiel nicht ins Bergfreie, wie die Kumpel an der Ruhr sagen. Er bekam wie Siekaczek einen Beratervertrag und blieb Teil der Siemens-Gemeinde.

Auch gibt es schwankende Kriterien, was denn nun ein Verbrechen, ein Angriff auf unsere Übereinkünfte ist. Unsere Übereinkünfte sind zufälliger und darum unverbindlicher, als wir uns das manchmal eingestehen. Die Grenze zwischen Kriminalität und Geschäftstüchtigkeit ist mitunter schmal. Dennoch ist der Sachverhalt eigentlich einfach. Seit 1999 wurden die Gesetze gegen Bestechung stetig verschärft. Siemens war schließlich 2001 in New York an die Börse gegangen und mußte wissen, daß fortan nach anderen Regeln gespielt werden würde. Spätestens zu diesem Zeitpunkt, als das Unternehmen amerikanische Geschäftsregeln zu den eigenen machte, war das Ende der verschwurbelten Deutschland AG gekommen. Bei den Compliance-Beauftragten der Siemens AG scheint diese Erkenntnis allerdings nicht durchgängig angekommen zu sein. Die hier geschilderten Operationen stehen nur beispielhaft für viele andere:

Ein Compliance-Mitarbeiter, so behauptet jedenfalls Kutschenreuther, habe ihn vor ein paar Jahren darüber informiert, daß die Schweizer Staatsanwaltschaft auf Schwarzgeldkonten in Innsbruck und Salzburg gestoßen sei. Er solle sich sofort mit Siekaczek und J. in Verbindung setzen. Die wüßten Bescheid. Er habe dann mit Siekaczek gesprochen, und der habe ihm erzählt, daß über diese Konten dreistellige Millionenbeträge als Bestechungszahlungen geflossen seien. Dann habe man nach Wegen gesucht, die Angelegenheit zu vertuschen, und zumindest ein Mitglied der Anti-Korruptionseinheit sei dabei behilflich gewesen. Konsequenzen für die Korrupten und die Korrumpierer hatte der Fall nicht.

Erstaunt sei er gewesen, sagt Kutschenreuther, daß an diesen krummen Touren auch ein Mitarbeiter beteiligt gewesen sei, der vorher schon auffällig geworden war und dessen Abfindungsvertrag ihm jede weitere Tätigkeit für den Konzern untersagt hatte. Ein anderer Bekannter, den er aufgefordert habe, "diese Themen einzustellen" (also damit aufzuhören), sei dann, "soweit ich mich erinnere", Compliance Officer geworden.

Kutschenreuther schildert den Fahndern eine weitere Episode. Nachdem italienische Ermittler Siemens ins Visier nahmen, habe er einen Compliance-Mitarbeiter zu den Ermittlungen befragt und von ihm die lapidare Antwort erhalten: Es sei besser, wenn er darüber nichts wisse, weil das bis ganz nach oben reiche. Erinnert sich Kutschenreuther richtig?

Dazu paßt eine Geschichte, die Siekaczek den Ermittlern nicht vorenthalten will. Im Leitungskreis des Unternehmens habe er jedes Jahr einmal mit Kollegen zusammengesessen, um zu erfahren, wie ungesetzlich Korruption sei. So ein Vortrag habe meist zwanzig Minuten gedauert, und besonders lustig sei es gewesen, als ein Compliance Officer auf Sauberkeit und Ethik pochte, der zu diesem Zeitpunkt fest in das illegale Provisionsgeschäft eingebunden gewesen sei. Der Redner, ein Moralprediger von Format, war von August 2002 bis Dezember 2004 bei Siemens für Sauberkeit zuständig. Siekaczek habe sich das laute Lachen regelrecht verbeißen müssen. Eine Schulklasse hätte nicht alberner sein können. Während der Vorträge, erzählt er, hätten ihn die anderen grinsend angeschaut. Er habe auf eine Vorlage geguckt, um nicht loszuprusten.

Noch ein Fall: 2003 erhielt die Compliance-Spitze von Siemens einen angeforderten Bericht der Rechtsabteilung über krumme Geschäfte bei der Erweiterung des nigerianischen Telefonnetzes. Der Auftragswert lag nur bei rund 20 Millionen Euro, aber die Provision war happig: 25 Prozent. Ein ehemaliger Compliance-Mann, der sich in der Altersteilzeit befand, hatte laut Kassenbelegen als "anerkennende Dienststelle" Barbeträge genehmigt, die später durch ausgewählte Mitarbeiter nach Nigeria gebracht wurden – laut Legende als "Auffüllung für die Baukasse".

"Aufgrund der Höhe der Provisionszahlungen (gemessen am Auftragswert) und der Art ihrer Abwicklung bestehen Anhaltspunkte für den Verdacht der Amtsträger- und Angestelltenbestechung im Ausland", hatte die Rechtsabteilung korrekt vermerkt. Gegen wichtige Vorgaben sei verstoßen worden. In das Nigeria-Geschäft verwickelt waren der Chef des Rechnungswesens H., der im November 2006 verhaftet wurde, der ebenfalls inhaftierte Kurier J. und natürlich Siekaczek.

Warum ist der damalige Compliance-Chef Albrecht Schäfer nicht zur Alarmglocke geeilt? Er habe das Papier, sagt er, dem damaligen Finanzvorstand Heinz-Joachim Neubürger gegeben, die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG habe sich ebenfalls damit befaßt. "Also: Übernahme durch die letztzuständigen Stellen." Er habe darauf vertrauen müssen, daß die erforderlichen Maßnahmen umgesetzt würden. Weitere Aktivitäten durch ihn wären "geradezu intrigant" gewesen. Eben jener Schäfer, Jurist und von Oktober 2004 bis Ende 2006 Chief Compliance Officer, leitete zunächst im November 2006 die Task Force, mit der Siemens gegen strafbare Geschäftspraktiken vorgehen wollte.

Nachdem ihn als Erster Siekaczek belastet hatte, leitete die Münchner Staatsanwaltschaft gegen Schäfer ein Ermittlungsverfahren ein, das bereits am 8. Dezember 2006 eingestellt wird. "Ich habe stets meine Aufgabe wahrgenommen, im Rahmen meiner Zuständigkeit für rechtmäßiges Verhalten im Unternehmen zu sorgen", sagt Schäfer im Brustton der Überzeugung. Doch darunter verstand offenkundig in der Compliance-Abteilung nicht jeder dasselbe. Ein Compliance Officer habe zu ihm im Zusammenhang mit den liechtensteinischen Ermittlungen gesagt: "Seien Sie loyal zur Firma", behauptet J. Falsch, sagt der Compliance-Mann. Er habe nur erklärt, J. solle sich "ordnungsgemäß verhalten". Selbstverständlich werde die Firma ihrer Fürsorgepflicht ihm gegenüber nachkommen.

Was da abläuft, entwickelt sich zu einem Drama von shakespearescher Wucht. Einer nach dem anderen gerät unter Generalverdacht. Kutschenreuther belastet an diesem Tag Thomas Ganswindt, einst ein Großer bei Siemens. Der Diplom-Ingenieur war 1989 im Alter von 29 Jahren vom Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik zum Konzern gekommen. Er arbeitete zunächst im Bereich Automatisierungstechnik, wechselte 1993 in die Verkehrstechnik und stieg in den Bereichsvorstand auf. Als einzigen Deutschen lud man ihn im Jahr 2000 als "Global Leader for Tomorrow" zum Weltwirtschaftsforum nach Davos ein. Ein Jahr später übernahm Ganswindt das Netzwerkgeschäft bei Siemens und strich 20.000 Stellen, um die angeschlagene Sparte wieder auf Vordermann zu bringen. 2004 zog er in den Zentralvorstand ein, wurde jedoch nicht, wie von vielen erwartet, der Nachfolger des scheidenden Vorstandsvorsitzenden von Pierer, sondern im Jahr 2005 der neue Com-Chef. Im Herbst 2006 hat er das Unternehmen verlassen.

Kutschenreuther behauptet nun, er habe Ganswindt über die Probleme mit den österreichischen Konten informiert, und dem sei es zunächst unangenehm gewesen, darüber zu reden. Ganswindt habe nicht gesagt, das Schmiergeldsystem müsse eingestellt werden, sondern er sei nach dem Motto vorgegangen: "Wasch mich, aber mach mich nicht naß."

Kutschenreuther berichtet auch über das schon erwähnte Treffen beim "Alten Wirt" in Forstenried, über das Siekaczek viel erzählt hat, erinnert sich jedoch nicht mehr an alle Einzelheiten, weil die Besprechung für ihn "nicht so wichtig" gewesen sei. Es sei um legale und illegale Beraterverträge gegangen, die von Siekaczek "kanalisiert" und deren Inhalte nicht entsprechend kontrolliert werden sollten. Der Kollege von der Revision, ein "sorgfältiger" Mann, habe versichert, er werde in diesen Fällen nicht so genau hinschauen.

Bei dem Frage- und Antwortspiel mit den Ermittlern schildert Kutschenreuther, was Kollegen von anderen Konzernen auf Dienstreisen und Kongressen über ihre Methoden erzählt hätten. So heuerten US-Unternehmen gern Vermittler mit dem Auftrag an, im jeweiligen Exportland Geschäfte anzubahnen. Die Exklusivverträge würden bewußt verletzt; die US-Firmen müßten dann hohe Strafen an die Vermittler zahlen, die derart Geld für Bestechungszahlungen sammelten. Auf diese Weise tarnten US-Firmen ihre Schmiergeldtransfers.

Außerdem, fährt Kutschenreuther fort, habe die amerikanische Konkurrenz den Vorteil, daß die US-Nachrichtendienste zunehmend für Wirtschaftsspionage eingesetzt würden. Geplante Angebote von Siemens für Großprojekte in Europa oder Südamerika seien immer in die Hände der Konkurrenz gelangt. Da seien wohl Telefonate abgehört oder E-Mails abgefangen worden. Kutschenreuther erwähnt einen ehemaligen schwedischen Nachrichtendienstler, der Siemens bei der Auftragsvergabe in China behilflich gewesen sei. Nach seiner Erinnerung seien bei dem Geschäft Gelder an Leute in Hongkong geflossen.

Das eine oder andere mag ja stimmen, aber die Geschichte vom angeblich unheimlichen Wirken der US-Geheimdienste erzählt man sich gern an den Stammtischen des deutschen Managements. Wahrscheinlicher ist eine andere von US-Unternehmen eingesetzte Methode: Die Regierung zahlt beispielsweise in Lateinamerika Subventionen und bereitet so das Feld für Angebote amerikanischer Unternehmen.

Kutschenreuther schildert in seiner ersten Vernehmung auffällige Geschäfte der 2006 geschlossenen Schweizer Intercom in Südafrika, bei denen Preisniveau und Verrechnungen nicht übereinstimmten. Dann schaut er auf einen Sprung in die GUS-Staaten hinüber, wo Bargeld eingesetzt wurde, macht eine kleine Spritztour den Nigerstrom hinunter, wo es sehr wüst zugegangen sei. Lauter krumme Geschäfte.

Ausführlich beschreibt Kutschenreuther den Besuch eines hochrangigen Siemens-Mitarbeiters aus Nigeria in seinem Büro. Der habe geklagt, die Schmiergelder aus Deutschland blieben aus, und der Kollege sei dann "sehr massiv" geworden. Genauso massiv habe er dem Mann aus Nigeria geantwortet: Er solle sich selbst um seinen Kram kümmern und Deutschland mit diesen Themen in Ruhe lassen.

Als dann wieder einmal ein Emissär wegen Gaben für Griechenland angefragt habe, sei er auch "grundsätzlich" geworden: Er habe dem Mann gesagt, daß er diese Themen in Deutschland nicht wolle, und daraufhin sei der Kundschafter zu Siekaczek gegangen. Der wiederum sei einige Tage später bei ihm aufgetaucht und habe gesagt, Kutschenreuther solle die Unterlagen gut aufbewahren. Vielleicht brauche er sie irgendwann als Lebensversicherung.

Das kommt den Fahndern bekannt vor. Ein paar Tage zuvor hatten sie in den Räumen des LKA einen früheren Siemens-Bereichsvorstand vernommen, gegen den auch ermittelt wird. Dem Manager war im Sommer 2005, am Vorabend seiner Hochzeit, mitgeteilt worden, die Firma wolle sich von ihm trennen. Der Beschuldigte hatte den Vernehmern erzählt, daß er nach einem Gespräch mit einem Zentralvorstand wütend zu Kutschenreuther ins Büro gegangen sei und seinen Fall geschildert habe. "Das sollen die mal mit mir machen, dann hole ich Sachen aus der Schublade", habe der nur gesagt.

8. Dezember 2006: Die Kutschenreuther-Vernehmung wird fortgesetzt. Der frühere Siemens-Bereichsvorstand, der – dieses Detail fehlte noch – bei Com natürlich auch für Compliance verantwortlich war, berichtet, daß er sich Ende 2004 oder Anfang 2005 mit einem weiteren Compliance-Beauftragten über illegale Zahlungen unterhalten habe. Der habe erzählt, ein Siemens-Mitarbeiter sei all die Jahre mit einem Koffer voller Bargeld um die Welt geflogen. Speziell in den Regionen Nordeuropa, GUS, Naher Osten und Afrika wurden Schmiergelder eingesetzt. Er sei daraufhin zu einem anderen Bereichsvorstand gegangen und habe ihn gefragt, ob dieser davon gehört habe: "Ja, sicher."
Kutschenreuther nennt Namen, Namen, Namen, sagt auch, daß sich Kollegen geweigert hätten, die Compliance-Erklärung zu unterschreiben, in der Mitarbeiter versichern, sich an die Gesetze zu halten. Bei Gesprächen mit Wirtschaftsprüfern über sogenannte Quartals- und Jahresabschlußdurchsprachen habe es außerdem in der Regel zwei Runden gegeben: einen offiziellen Teil in größerem Kreis mit den harmlosen Themen und einen inoffiziellen Teil in kleiner Besetzung, wo über auffällige Zahlungsvorgänge oder Geschäftsvorfälle gesprochen worden sei. Ein übereifriger junger Wirtschaftsprüfer, der sich über merkwürdige Zahlungsbelege gebeugt habe, sei von den älteren ausgebremst worden.

Dann schildert Kutschenreuther noch angebliche Gespräche in Sachen Liechtenstein/ Siekaczek. Ein führender Compliance-Manager habe die Bitte der Liechtensteiner Ermittler, den Fall mit einem hochrangigen Siemens-Mitarbeiter zu besprechen, mit einer wegwerfenden Handbewegung abgelehnt. Das sei "nicht zielführend", weil man am Ende nie wisse, was dabei herauskommc.

11. Dezember 2006: Die Schmiergeldaffäre erreicht die Konzernspitze. Der frühere Zentralvorstand Thomas Ganswindt, den Kutschenreuther, Siekaczek und ein Schweizer Treuhänder in ihren Vernehmungen belastet haben, wird festgenommen. Der Haftbefehl ist zwar acht Seiten dick, aber nur vierzehn Zeilen beschäftigen sich direkt mit dessen Tun oder, besser, Nichttun.

Der Manager, der seit September 2006 der Luxemburger Elster Group (ehemals Ruhrgas Industries) vorsteht, sei über die Strukturen des Schmiergeldsystems zwar nicht im Detail informiert gewesen, habe aber gewußt, daß Siekaczek die Sonderaufgabe zur Bildung schwarzer Kassen übernommen hatte. Ganswindt sei klar gewesen, daß er als Mitglied des Bereichs- und später des Zentralvorstands für das Gelingen des Tatplans "unumgänglich" gewesen sei. Er habe seine "schützende Hand" über die Mittäter gehalten und dadurch den Fall zur "Chefsache" gemacht. Nur so sei ein kriminelles Vorgehen dieses Ausmaßes möglich gewesen.

Es hat schon Haftbefehle mit massiveren Begründungen gegeben. Ganswindt war ein doppelgesichtiger Charakter. Dieser Typus ist übrigens häufiger in dieser Affäre anzutreffen. Er unterschied scharf zwischen nobel und schäbig, vornehm und vulgär, aber unscharf zwischen Recht und Unrecht. Kleinfeld sagt in kleiner Runde: "Das Versagen von Führungsleuten ist auch eine Charakterfrage", und er zielt mit dieser Bemerkung vor allem auf Ganswindt.

Cromme ist ebenfalls sauer auf Ganswindt. Dem Managerkollegen müsse klar gewesen sein, daß die Mitglieder des Kontrollgremiums "unzureichend oder falsch informiert wurden". Auch dem Prüfungsausschuß sei wichtiges Wissen vorenthalten worden.

Vor Wochen hatte Ganswindt auf Anfrage der Süddeutschen Zeitung erklärt, er werde "selbstverständlich" mit der Staatsanwaltschaft und den anderen Behörden kooperieren, sollte das erforderlich sein. Gilt die Zusage noch?

Als der Aufsichtsrat an diesem Montag tagt, sehen einige Kontrolteure sehr bleich aus. Die Nachricht von Ganswindts Festnahme ist zu diesem Zeitpunkt zwar nur ein Gerücht, aber einige der Aufsichtsräte halten inzwischen vieles für möglich.

Cromme, der seit 2001 die Corporate-Governance-Kommission leitet, die Verhaltensregeln für die Führung und Kontrolle börsennotierter Unternehmen in Deutschland erarbeitet, verlangt, daß alte Sparten überprüft werden. Einige Kontrolleure schreiben seine Ausführungen mit, echten Widerstand gibt es nicht. Es wird immer deutlicher, daß dem promovierten Juristen und Volkswirt zunehmend die Rolle zufällt, den skandalgeschüttelten Konzern wieder aufs richtige Gleis zu setzen.

Aufsichtsrat und Vorstand vereinbaren offiziell, die New Yorker Anwaltskanzlei Debevoise & Plimpton LLP einzuschalten. Die von Kleinfeld empfohlenen Spezialisten für das sogenannte Forensic-Accounting, eine Methode zur Aufdeckung von Wirtschaftsstraftaten, sollen die Vorfälle analysieren und die internen Kontrollsysteme durchleuchten. Um die Ermittlungen zu unterstützen, werde die Kanzlei eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft einschalten. Das ist ein üblicher Vorgang, wenn ein Konzern auf Unregelmäßigkeiten untersucht wird.

Als Berater des Siemens-Vorstands wird der frühere amerikanische Agent Michael Hershman engagiert. Seine Vita klingt imponierend, aber bei näherem Hinsehen können Zweifel aufkommen, ob er wirklich ein so Großer ist, wie er tut. Er hat sich zwar als leitendes Mitglied des Senatsausschusses zur Aufklärung der Watergate-Affäre einen Namen gemacht, aber das ist lange her. Seit 23 Jahren betreibt Hershman in Washington die Beraterfirma Fair-fax, die nach eigenen Angaben mehr als 2000 Kunden in achtzig Ländern betreut. Er ist außerdem Mitbegründer der Anti-Korruptionsorganisation Transparency International (TI) – allerdings nur einer von diversen weiteren –, seitdem Einzelmitglied von TI und sitzt im Vorstand von TI USA. Hershman "leitet seit Jahrzehnten eine Firma, die sich zunehmend auf Korruptionsbekämpfung spezialisiert hat. Sein Engagement bei Siemens ist also ein rein kornmerzielles", sagt dazu der Vorsitzende von Transparency Deutschland, Hansjörg Eishorst.

Auch wird im Aufsichtsrat eine neue Personalie bekanntgegeben. Die Compliance-Organisation soll Anfang des Jahres einen neuen Chef bekommen: den Stuttgarter Oberstaatsanwalt Daniel Noa, Jahrgang 1952. Der umstrittene alte Compliance-Chef Schäfer und Personalchef Radomski haben ihn empfohlen. Noa leitete Mitte der neunziger Jahre die Stabsstelle Recht der Treuhand, ehe er Staatsanwalt für Wirtschaftsstrafsachen wurde. Am Ende landete er in Stuttgart als Abteilungsleiter für Verkehrsdelikte mit Zuständigkeitsbereich von Stuttgart bis Waiblingen auf dem Abstellgleis.

1998 war er das erste Mal von einem Headhunter gefragt worden, ob er nicht zu Siemens kommen wolle, aber daraus war dann nichts geworden. In diesen Dezembertagen nun hat der Stuttgarter Ministerpräsident mit dem Siemens-Aufsichtsratsvorsitzenden Heinrich von Pierer vereinbart, daß Noa vom Staatsdienst freigestellt wird und zurückkehren kann. Noa will sich auf diese Art seine Unabhängigkeit bewahren. Er ist vor der Sitzung des Aufsichtsrats nicht interviewt worden. Kleinfeld und die anderen wissen daher nicht, daß Noas Englischkenntnisse sehr begrenzt sind. Das ist bei Siemens ein großes Handicap, ganz besonders, wenn amerikanische Anwälte im Anmarsch sind.

Noch-Compliance-Chef Schäfer verfaßt für den von Cromme geleiteten Prüfungsausschuß einen 40-Seiten-Bericht, der sich wie ein Rechtfertigungspapier liest. Schäfer, der viele Jahre Chefjurist des Hauses war und von Kollegen als Mann mit Stil beschrieben wird, hat aufgeschrieben, wann er den Prüfungsausschuß, dem neben Cromme der ehemalige Allianz-Chef Henning Schulte-Noelle, Aufsichtsratschef Heinrich von Pierer und zwei Arbeitnehmervertreter angehören, über welche Verdachtsfälle unterrichtet hat. Die meisten Teilnehmer der Runde finden seine Auflistung nicht überzeugend. "Selbst ein bösgläubiger Mensch", sagt Gromme, "hätte hinter dieser Darstellung nicht das vermuten können, was bei Siemens passiert ist."

12. Dezember 2006: Kleinfeld erklärt öffentlich, die Affäre sei finanziell weit gravierender als bislang angenommen. Siemens stuft mittlerweile Zahlungen von 420 Millionen Euro als zweifelhaft ein. In den vergangenen drei Wochen habe eine Arbeitsgruppe im Konzern die Geschäftsberichte der Jahre 1999 bis 2006 durchforstet, so Kleinfeld, und dabei fragwürdige Zahlungen von beinahe einer halben Milliarde Euro festgestellt. Meist gehe es um zweifelhafte Beraterverträge, ergänzt Finanzvorstand Kaeser. Der Konzern muß wegen voraussichtlich fälliger Steuernachzahlungen den Gewinn in den Büchern nachträglich um mindestens 168 Millionen Euro korrigieren. "Eine Gruppe von Mitarbeitern hat sich zusammengeschlossen, um alle Sicherungen außer Kraft zu setzen", sagt von Pierer. Die Führung des Unternehmens wolle "diesem Spuk ein Ende machen". Bis zur Großrazzia habe er von einem System schwarzer Kassen nichts gewußt. Was von Pierer sagt, übersetzt ein Journalist so: "Der erweckt den Eindruck, Außerirdische hätten Siemens überfallen."

15. Dezember 2006: Der Schmiergeldskandal hat Auswirkungen auf das geplante Gemeinschaftsunternehmen Nokia Siemens Networks. Auf Druck des Nokia-Managements wird der für Anfang Januar 2007 geplante Start verschoben. Das Unternehmen wolle zunächst "die Aufklärungsarbeit bei Siemens begleiten", erklären die Finnen offiziell. Das klingt harmlos. Die Realität ist weniger harmonisch. Der amerikanischen Börsenaufsicht SEC teilen die Finnen später mit, es sei nicht zu erkennen, ob die Justiz schon alle Rechtsbrüche bei Siemens aufgedeckt habe. Unklar sei auch, ob die Verstöße bei Siemens weitergegangen seien. "Die Aufklärung, Untersuchung und Lösung solcher Vorfälle könnten teuer werden und bedeutenden Zeitaufwand" für Unternehmen und Management nach sich ziehen. Der Mitteilung an die SEC zufolge droht der Schmiergeldfall die Chancen der neuen Gesellschaft zu beeinträchtigen, neue Kunden, Geschäftspartner und öffentliche Aufträge zu erhalten. Siemens erklärt sich vor der mehrheitlichen Übernahme seiner Mobil- und Festnetzsparte bereit, dem Partner "alle Schäden zu ersetzen, die durch Strafzahlungen und Forderungen aus Zivilprozessen als Folge des Schmiergeldskandals entstehen" könnten.

Seit 1998 ist Siemens korporatives Mitglied von TI Deutschland. Angesichts der ausufernden Affäre hält die Anti-Korruptionsorganisation eine weitere Mitgliedschaft der Münchner für inakzeptabel. Weil sich die Aufklärung eines anderen Korruptionsfalls stark verzögerte, ruht die Mitgliedschaft ohnehin schon seit zweieinhalb Jahren, aber jetzt will TI endgültig die Trennung. Der Vorstand hat am 24. November Siemens per E-Mail die Beendigung der Mitgliedschaft angekündigt. Allerdings sollen die Münchner die Möglichkeit haben, den Ausschluß durch eine geschmeidige Formel zu verbrämen. Und so wird an diesem Freitag die Mitgliedschaft "einvernehmlich beendet". Aufgenommen hatte TI den Konzern acht Jahre zuvor, weil sich dessen Führung für die Durchsetzung einer OEGD-Konvention engagiert hatte, in deren Folge Bestechung im Ausland in 34 Industrie- und Schwellenländern zu einem strafbaren Delikt wurde.

22. Dezember 2006: IG-Metall-Vizechef Berthold Huber, der bei Siemens im Aufsichtsrat sitzt, erklärt, die Siemens-Affäre mache ihn "wütend. So etwas hätte ich nicht für möglich gehalten. Erstaunlich ist für mich, wie weit die Affäre in die Führungsetage hineinreicht. Daß offenbar sogar ein ehemaliges Zentralvorstandsmitglied [Ganswindt; H.L.] involviert ist, ist schon ein starkes Stück." Hubert wirft dem Management gravierende Fehler im Kontrollsystem vor.

Alle Siemens-Manager kommen vor Weihnachten aus der Untersuchungshaft frei. Ganswindt, der Mann, der sich angeblich mit einer Rauschanlage vor unerwünschten Lauschern geschützt hat, hat bei einer Vernehmung eingeräumt, von illegalen Provisionszahlungen gewußt zu haben; die Details des Schwarzgeldsystems oder das Ausmaß der Geldschiebereien habe er jedoch nicht gekannt. Die Staatsanwaltschaft macht allen Freigelassenen Auflagen. Dazu gehört ein Kontaktverbot. Der Weihnachtsfriede legt sich über Siemens.

31. Dezember 2006: Kleinfeld appelliert zum Jahreswechsel an das Verantwortungsgefühl der Mitarbeiter: "Niemand darf Verhaltensweisen tolerieren, die nicht unseren internen Verhaltensregeln, den Business Conduct Guidelines, entsprechen ... Wir wollen in Zukunft vorbildlich sein in Transparenz und Verhalten und damit weltweit Standards setzen." Kleinfeld will "null Toleranz". Im Zweifel soll auf ein Geschäft verzichtet werden. Er weiß, wovon er redet. Schließlich hat er über den "engen Zusammenhang zwischen Image und Unternehmenserfolg" promoviert.

2. Januar 2007: Der Vorstandsvorsitzende teilt den Mitarbeitern mit, daß die US-Kanzlei Debevoise & Plimpton LLP mit der Aufarbeitung der Affäre betraut worden ist, und fordert alle Beschäftigten zur Kooperation mit den Prüfern auf. Ab sofort darf auf Computern keine Datei mehr gelöscht oder geändert werden, die mit Kontakten zu Staatsbediensteten oder offiziellen politischen Parteien in aller Welt zu tun hat. Denn einer der Beschuldigten hat den Ermittlern berichtet, in Griechenland seien sowohl die sozialdemokratische Pasok als auch die konservative Nea Dimokratia heimlich von Siemens ausstaffiert worden. Kutschenreuther hat den Vernehmern die angeblichen Aussagen eines griechischen Managers hinterbracht, der ihm lang und breit erklärt habe, man müsse den beiden großen Parteien im Wahlkampf helfen. Das sei dort so üblich. Siekaczek will gehört haben, politische Parteien in Griechenland seien über eine Firma in Monaco mit Siemens-Geld bedient worden. Siemens-Mitarbeiter wollen außerdem von Zahlungen an Politiker und Parteien in etlichen anderen Ländern wissen. Eine Spur führt in den Kreml.

11. Januar 2007: Die Staatsanwaltschaft leitet gegen ein weiteres Ex-Mitglied des Zentralvorstands, den früheren Finanzvorstand Heinz-Joachim Neubürger, ein Ermittlungsverfahren ein. Der früher in New York, Tokio und Frankfurt tätige Investmentbanker war 1989 zu Siemens gekommen, um dort die Abteilung Investor Relations aufzubauen. Neubürger machte Karriere. 1998 wurde er in den Zentralvorstand berufen, wo ihm als Finanzvorstand traditionell neben dem Konzernchef eine bestimmende Rolle zufiel. Zusammen mit von Pierer nahm er den Umbau des Konzerns in Angriff, und Investoren wie Analysten schätzten ihn wegen seiner klaren Aussagen. Daß Siemens 2001 erfolgreich an die Börse ging, ist sein Werk.

Doch jetzt haben Manager und Angestellte von Siemens ihn belastet. Angeblich sei er frühzeitig über schwarze Kassen informiert gewesen und habe auch versucht, fragwürdige Zahlungen zu vertuschen. Neubürger war wie Ganswindt einer der Kronprinzen für die Nachfolge von Pierers und hatte Ende Dezember 2005 als einer der Ersatzmänner für den Posten des Vorstandssprechers bei der Deutschen Bank bereitgestanden, sollte deren Chef Josef Ackermann über die Mannesmann-Affäre stolpern. Im Dezember 2006, da war er bereits seit neun Monaten bei Siemens ausgeschieden und als Berater einer Beteiligungsfirma tätig, hatte er der Süddeutschen Zeitung gegenüber noch beteuert, er habe von den Korruptionsfällen nichts gewußt: "Wir im Vorstand sind offenbar hinters Licht geführt worden." Daß jetzt sogar Neubürger ein Aktenzeichen bekommt, ist ein Fanal: Nicht nur bei Siemens hat sich in den Weihnachtstagen mancher gefragt, ob es jetzt genug sei, ob jetzt die Ermittler endlich innehielten und vor den ganz großen Namen zurückschreckten.

Bei Günther H. Oettinger, dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten, würde ein Konzern wie dieser "sicher sensibler behandelt", schimpfte der in dieser Sache tätige Anwalt Steffen Ufer einmal auf dem Gerichtsflur, worauf die Staatsanwältin Bäumler-Höst nur kühl entgegnete: "Bei mir hat der Stoiber noch nicht angerufen." Wer bayerische Justizgeschichte zu Zeiten des Herrschers Franz Josef Strauß kennengelernt hat, reibt sich die Augen: Keiner ist in diesem Verfahren im Freistaat gleicher als gleich, und der Fall sprengt in der deutschen Justizgeschichte längst alle Dimensionen.

20. Januar 2007: Ein Radioreporter des Bayerischen Rundfunks interviewt auf dem Marktplatz in Erlangen Passanten. "Wie ist Ihr Name?", fragt er einen älteren Herrn mit runder Brille. "Pierer, Heinrich." Der Bayern-Eins-Mann ist beglückt. Bei dieser Sendung kann man eine Reise nach Teneriffa oder Mauritius gewinnen, wenn man nur sagt: "Ich bin reif für die Insel", doch den Satz sagt der 65-Jährige verständlicherweise nicht. Er redet stattdessen über Tennismatches mit seiner Frau, übers Kochen, über neue Hemden und über die Vorbereitung der Siemens-Hauptversammlung, die nächsten Donnerstag stattfinden wird.

Heinrich von Pierer war viele Jahre lang der Inbegriff der Deutschland AG, ein Virtuose im Geflecht von Wirtschaft und Politik. Der Volkswirt und promovierte Jurist trat 1969 als Syndikus in die Rechtsabteilung von Siemens ein. Zwanzig Jahre später übernahm er im neugegliederten Konzern die Leitung des Bereichs Energieerzeugung (KWU) und rückte damit gleichzeitig in den Vorstand der Muttergesellschaft auf. Von Oktober 1992 bis Anfang 2005 stand er als Vorstandsvorsitzender an der Spitze der Siemens AG. Seitdem steht er dem Aufsichtsrat vor. Kritiker werfen ihm Zögerlichkeit bei wichtigen Entscheidungen und mangelnde Härte vor. Die Arbeitnehmer hatte er jedoch auf seiner Seite, und von Pierer, der achtzehn Jahre lang für die CSU im Erlanger Stadtrat saß, warb früh für eine menschliche Wirtschaft, in der Moral und Profit keine Gegensätze sein dürften – eine Botschaft, die im eigenen Haus offenkundig nicht bei allen ankam.

Pierer ist jedenfalls dünnhäutig geworden und braust leicht auf. Über seine Seelenlage verrät er dem Radiomann nichts. Er hört die Vorwürfe, die ihm allenthalben gemacht werden, und hört sie nicht. "Wir müssen doch den Laden zusammenhalten", sagt er. Wer außer von Pierer könnte das nach seiner Ansicht schaffen? Seine Kritiker argumentieren, entweder habe von Pierer von den systematischen Verfehlungen gewußt – dann müsse er gehen. Oder er habe weder etwas gewußt noch geahnt – dann müsse er auch gehen, weil er in diesem Fall als Vorstandsvorsitzender versagt habe. Zurücktreten werde er nicht, sagt von Pierer. "Das wäre ein Riesenfehler", weil es als Schuldeingeständnis ausgelegt würde.

24. Januar 2007: Die EU-Kommission verhängt gegen Siemens ein Bußgeld in Höhe von rund 420 Millionen Euro wegen illegaler Preisabsprachen bei Stromschaltanlagen. Die Nachricht geht bei all den Schreckensmeldungen fast unter.

25. Januar 2007: Auf der Siemens-Hauptversammlung rechnen die Aktionäre mit der Siemens-Führung ab. Pierer bekommt bei der Abstimmung über die Entlastung 34 Prozent Gegenstimmen, Kleinfeld 29 Prozent. Der Aufsichtsratschef sagt, der Begriff der politischen Verantwortung lasse sich nicht auf die Wirtschaft übertragen. Cromme läßt die Aktionäre wissen, daß die Mitglieder des Prüfungsausschusses wegen der Vorwürfe außerordentlich beunruhigt seien. Einem Freund sagt Cromme, er hoffe, daß von Pierer noch bis zur Hauptversammlung im nächsten Jahr an der Spitze des Aufsichtsrats bleiben könne, sei sich aber nicht mehr sicher. Er würdigt in dem Gespräch von Pierers Lebensleistung, und seine Ausführungen sind fast schon ein Nachruf. Die Affäre wächst weiter. In einem halben Dutzend anderer Geschäftsfelder soll es problematische Zahlungen in großer Höhe geben, von Milliarden-Schiebereien ist die Rede.

1. Februar 2007: Der Vorstand verhängt ein generelles Verbot vertriebsbezogener Beraterverträge. Ausnahmen sind nur durch eine Genehmigung des Chief Compliance Office möglich, dem seit Anfang Januar Noa vorsteht. Die Konzernspitze beschließt, externe Bankkonten stark zu reduzieren. Zahlungsempfänger sollen zentral registriert, die Abteilung der internen Bilanzprüfer in der Zentrale stark ausgebaut werden. Zusätzlich wird eine kriminaltechnische Abteilung eingerichtet. Geschäftspartner will man künftig ebenfalls auf Siemens-Regeln verpflichten.

14. Februar 2007: Die Staatsanwaltschaft Nürnberg durchsucht Siemens-Standorte in Nürnberg und Erlangen wegen des Verdachts dubioser Zahlungen an die Arbeitsgemeinschaft Unabhängiger Betriebsangehöriger (AUB). Denn bei einer Durchsuchung von Wilhelm Schelskys Haus im selben Monat ist ein Geheimvermerk ans Licht gekommen, der endlich erhellt, warum Schelsky 1990 in Absprache mit Vorstandsmitgliedern den Konzern verließ. In Auszügen liest sich das so:

1. Vorgeschichte: Das Ergebnis der Aufsichtsratswahl 1988 auf der Arbeitnehmerbank mit einer hundertprozentigen IG-Metall-Vertretung (ausgenommen der Vertreter der leitenden Angestellten) veranlaßte den damaligen Aufsichtsratsvorsitzenden sowie zwei Mitglieder des Vorstands, sich mit einem leitenden Angestellten Gedanken zu machen, wie man die Repräsentation der Belegschaft im Aufsichtsrat in Zukunft verändern könnte.

2. Auftrag: Zu diesem Zweck wurde im Jahr 1990 ein mit der Mitbestimmung erfahrener Mitarbeiter [Schelsky; H.L.] aufgefordert, die Firma zu verlassen und sich als Unternehmensberater selbständig zu machen. Von diesem – offiziell von Siemens unabhängigen – Unternehmensberater erhoffte man sich, daß er die Mitbestimmungsverhältnisse auf den Ebenen Betriebsrat und Aufsichtsrat nachhaltig verändere.

Es folgt ein dritter Teil über die Entwicklung der AUB zu einer bundesweiten Arbeitnehmervereinigung, die bei Siemens bald an hundert der rund 170 Standorte kandidieren soll.

Punkt 4 befaßt sich mit den Kosten: Die Kosten aus dieser Aktivität teilen sich in drei Blöcke: a) Gehaltspflege des Unternehmensberaters, b) fixe Kosten für Büroaufwendungen aus der Selbständigkeit des Unternehmensberaters, c) Kosten zur Unterstützung der Tätigkeit der AUB ...

Die Aufwendungen betrugen im Kalenderjahr 1994 rund 1,7 Millionen Mark. Die Schwerpunktkosten sind dabei mit 310.000 Mark die Druckkosten von Informationsblättern und betrieblichen Zeitungen sowie mit 850.000 Mark die Kosten für Seminare (Hotel, Referenten, Materialien). Einen größeren Kostenanteil macht mit 75.000 Mark der Aufwand für Werbematerial aus. Die anderen Kosten betreffen laufende Ausgaben zum Unterhalt der Aktivitäten der AUB. Die Gesamtausgaben lagen für das Jahr 1994 bei rund zwei Millionen Mark. Eine seriöse Planung hat ergeben, daß wir bereits für das Jahr 1995 eine weitere Steigerung um 200.000 bis 300.000 Mark haben werden und im Jahr 1996 und 1997, also in den Jahren der Aufsichtsratswahlen und dann folgenden Betriebsratswahlen, mit jährlich 2,7 Millionen Mark rechnen müssen ...

5. Nachsatz: Gemessen an den möglichen Kosten durch eine radikalisierte Monopol-Gewerkschaft IG Metall haben sich die bisher aufgewendeten Gelder sicherlich gelohnt. Die Mitbestimmungskosten liegen bei der Siemens AG vergleichsweise niedrig zu Unternehmen gleicher Größenordnung wie zum Beispiel Daimler Benz. Dieses bis heute moderate Verhalten der IG Metall im Hause Siemens hat seine Ursache nicht zuletzt aus dem internen Wettbewerb zweier konkurrierender Listen bei den Betriebsratswahlen und auch Aufsichtsratswahlen. ... Wichtig bleibt, daß in den Führungsebenen des Hauses zunehmend deutlich gemacht wird, daß die Mitbestimmung ein Produktionsfaktor geworden ist.

In den unter 4. genannten Kosten sind natürlich auch die Aufwendungen des Unternehmensberaters enthalten, die er verbraucht, um die Anbahnung politischer Kontakte zum Beispiel nach Brüssel oder Bonn oder zu den Verbänden zu betreiben.

Vermerkt war noch:

Dieses Papier ist aus Sicherheitsgründen zu vernichten.

Nach Abschluß der Durchsuchung stellten die ermittelnden Beamten in einem eigenen Vermerk nüchtern fest:

Die weiteren, im Tresor des Beschuldigten Schelsky sichergestellten Unterlagen zeigen, daß sich die Beteiligten auch entsprechend den im zitierten Bericht getroffenen Vereinbarungen verhalten haben.

Bei einer Anschubfinanzierung für die AUB war es also nicht geblieben.

3. März 2007: Ein amerikanischer Siemens-Aktionär verklagt Vorstand und Aufsichtsrat sowie ehemalige Organmitglieder vor dem Obersten Gerichtshof des Staates New York auf Schadenersatz. Sie sollen für alle im Zusammenhang, mit dem Schmiergeldskandal entstandenen Schäden geradestehen. Der Kläger wirft Aufsichtsrat und Vorstand vor, ihre Aufsichtspflichten verletzt und dem Unternehmen massiv geschadet zu haben. Führende Siemens-Mitarbeiter sorgen sich, daß sie bei Reisen in die Vereinigten Staaten von US-Behörden festgehalten werden könnten.

Die SEC verbreitet bei den meisten in München Schrecken. Für Außenstehende ist das System verzwickt. Die etwa siebzig Anwälte der Kanzlei Debevoise & Plimpton LPP, von denen jeder im Jahr etwa eine Million Euro kostet, liefern ihre Ergebnisse an Siemens, an die Staatsanwaltschaft und an die SEC. Die Strafe wird am Ende danach bemessen werden, wie konsequent Siemens die Verstöße aufgeklärt hat und welche personellen Konsequenzen gezogen wurden.

Als Anhaltspunkt für die Größenordnung mögen dabei folgende Beispiele dienen: Der US-Rüstungskonzern Titan einigte sich 2005 mit der SEC und Ermittlern der Bundesstaatsanwaltschaft in Washington auf 28,5 Millionen Dollar Strafe, weil Mitarbeiter des Unternehmens über zwei Millionen Dollar investiert hatten, um Präsidentschaftswahlen im afrikanischen Benin zu beeinflussen. Der Schweizer Anlagenkonzern ABB hatte 16,4 Millionen Dollar bezahlt, weil Tochterfirmen Staatsangestellte mit insgesamt 1,1 Millionen Dollar geschmiert hatten. "Investitionen" von mal zwei Millionen, mal rund einer Million Dollar – das ist alles kein Vergleich zu den Summen, die bei Siemens geflossen sind: Die US-Anwälte sprechen vom "schlimmsten Fall in der Geschichte der SEC".

Die Münchner Staatsanwälte, die weiterhin mit großem Engagement ihr Verfahren vorantreiben, beobachten das Treiben der US-Anwälte allerdings skeptisch und behalten ihr Material für sich. Was die Amerikaner machen, "ist Wirtschaftsimperialismus", sagt der Leitende Oberstaatsanwalt Schmidt-Sommerfeld in kleiner Runde.
Als hätten sie das drohende Unheil geahnt, drängten Siemens-Vorstände in den vergangenen Jahren zweimal darauf, sich von der New Yorker Börse wieder zu verabschieden, aber der Rückzug hätte wie eine Bankrotterklärung gewirkt. Zumindest Kleinfeld sah es so.

14. März 2007: Als Kompensation für den Schmiergeldskandal bringt Siemens in den Netzausrüster-Konzern Nokia Siemens Networks rund 700 Millionen Euro an Nettovermögenswerten mehr ein als ursprünglich geplant. Siemens steuert 2,4 Milliarden Euro bei, Nokia 1,7 Milliarden. Das Unternehmen soll nun zum 1. April starten.
In Norwegen, wo die Whistleblower-Affäre um den früheren Siemens-Mitarbeiter Per Yngve Monsen noch immer nicht ausgestanden ist, verkauft der Konzern sein IT-Geschäft an den skandinavischen IT-Dienstleister WM Data. Bisher hat Siemens rund 4,4 Millionen Euro an das norwegische Verteidigungsministerium zurückgezahlt, das mit überhöhten Rechnungen geprellt worden war.

27. März 2007: An diesem Dienstagmorgen ist Siemens-Zentralvorstand Professor Johannes Feldmayer im Haus, als sich Besucher beim Pförtner der Konzernzentrale am Wittelsbacherplatz melden. Beamte der Staatsanwaltschaft Nürnberg und des Dezernats 4 der dortigen Kriminaldirektion präsentieren einen Durchsuchungsbeschluß und wollen in Feldmayers Büro. Das kann unangenehm werden.

Der Münchner Anwalt Werner Leitner wird herbeigerufen. Der Anwalt Martin Reymann-Brauer, der Feldmayer normalerweise vertritt, ist verhindert.
In einem Besprechungsraum auf der Vorstandsetage warten die Ermittler auf Feldmayer; Compliance-Chef Noa ist auch herbeigeeilt. Feldmayer und der 48-jährige Leitner haben kurz miteinander gesprochen, und alle sehen ein bißchen ratlos aus. Sie möchten Feldmayer vernehmen, erklärt ein Beamter. Einer in der Runde schlägt vor, das Verhör nicht bei Siemens, sondern in den Räumen des Landeskriminalamts durchzuführen. Noa stimmt zu.

Anwalt Leitner hat auch unter Kollegen einen guten Ruf. Jedenfalls hat er schon in anderen Fällen eine Witterung für Fernes, Verstecktes bewiesen. Er ahnt, daß die Ermittler nicht nur wegen des Verhörs angereist sind. Auffällig ist, daß die Sachbearbeiterin des Falles nicht mitgekommen ist, und warum soll die Vernehmung in den Räumlichkeiten des LKA stattfinden? Im Besprechungsraum ist ausreichend Platz. Die Vorstandsetage ist sehr weitläufig.

Leitner berät sich erneut mit Feldmayer. Was die beiden besprechen, ist nicht bekannt. Kurz danach verblüfft Leitner die Beamten mit dem Vorschlag, er werde den Siemens-Vorstand in seinem Wagen zum LKA mitnehmen. Betretene Gesichter. Das sei nicht möglich, meint ein Fahnder. Er druckst: Sie hätten einen Haftbefehl dabei.
Erst verhören, dann am Ende der Vernehmung den Haftbefehl präsentieren, der schon lange vorher ausgestellt worden ist – das ist nicht die feine Art. Leitner sagt, unter diesen Umständen sei Feldmayer nicht zu einer Vernehmung bereit. Noa beteuert, er habe von der geplanten Festnahme nichts gewußt. Kurz darauf macht er den Vorschlag, den verhafteten Vorstand wenigstens über den Hinterausgang hinauszubringen, damit die Kollegen die Sistierung nicht mitbekommen.

Feldmayer wird dem Nürnberger Haftrichter vorgeführt – das ist jener Richter, der auch schon den Haftbefehl ausgestellt hat. Die Anhörung dauert nur knapp fünfzehn Minuten. Dann erklärt der Richter, wegen Feldmayers internationaler Verbindungen bestehe Fluchtgefahr. Ein Vorstand ist zwar daheim in der Welt, aber türmt so einer wegen eines Ermittlungsverfahrens?

Der Schmiergeldskandal bei Siemens hat schon in den Wochen zuvor viele unerwartete Wendungen genommen, Höhen erreicht, die vorher unvorstellbar schienen, aber Feldmayers Festnahme ist der Gipfel. Siemens-Chef Klaus Kleinfeld erhält die Nachricht in Essen. Ein Siemens-Mitarbeiter liest ihm am Telefon den Durchsuchungsbeschluß vor.

Kleinfeld ist überrascht und sauer. Wochen zuvor ist Feldmayer aus einer Sitzung des Zentralvorstands in München vor die Tür gebeten worden, weil ihn Nürnberger Ermittler als Zeugen in dem damals angelaufenen Verfahren gegen den langjährigen AUB-Chef Wilhelm Schelsky vernehmen wollten. Nach seiner Vernehmung hatte Feldmayer dem Siemens-Vorstandschef berichtet, die Sache mit der AUB sei finanziell aus dem Ruder gelaufen, als er sich nicht mehr um die Angelegenheit gekümmert habe. Aus dieser Zeit, es ging um einen Zeitraum von zwei Jahren, stünden 15,5 Millionen Euro im Feuer. Davor, als er noch zuständig gewesen sei, wären die Zahlungen von Siemens vergleichsweise zu vernachlässigen gewesen: ein paarmal eine halbe Million.

Kleinfeld hatte seinem Vorstandskollegen geglaubt. Aber Details des Durchsuchungsbeschlusses, der ihm vorgelesen wird, lassen erhebliche Zweifel an Feldmayers Darstellung aufkommen. Kleinfeld, der polterig sein kann, ist verärgert. Feldmayer wird von Siemens auf eigenen Wunsch beurlaubt, eine Rückkehr ist ausgeschlossen.
Der Manager, der in die Justizvollzugsanstalt Bamberg eingeliefert wird, war einer der Großen der Industrie, der, so schien es lange, noch Größeres werden konnte. Es war eine Karriere wie aus dem Lehrbuch: Nach dem Abitur hatte er bei Siemens eine kaufmännische Lehre absolviert. Feldmayer, Jahrgang 1956, besuchte im französischen Fontainebleau die Business-School Insead und wurde nach der Rückkehr Wirtschaftsplaner beim Konzern. Er wechselte nach Südafrika, dann in die USA, wurde Abteilungsleiter, Bereichsvorstand und rückte 2003 in den Zentralvorstand auf. Feldmayer erhielt die Zuständigkeit für die IT-Tochter SIS, war außerdem für die Geschäftsbereiche Gebäudetechnik und Immobilien verantwortlich und wurde Europa-Chef des Unternehmens. Bei der Europa-Holding von Exxon-Mobil sitzt er ebenso im Aufsichtsrat wie bei Infineon. An der Technischen Universität Berlin ist er seit Herbst 2006 Honorarprofessor für Strategisches Management.

Er gehörte zur Manager-Elite dieses Landes, ein ruhiger, eher bescheidener Mann, der nicht viel von sich her macht. Eine Zeit lang galt er als einer der aussichtsreichsten Kandidaten für die Nachfolge von Pierers; der damalige Aufsichtsratschef Karl-Hermann Baumann soll sich für ihn eingesetzt haben. Am Ende hatte Feldmayer seinem Konkurrenten Kleinfeld den Vortritt lassen müssen, aber was war diese Niederlage, verglichen mit der Schmach, in eine Zelle gesteckt zu werden?

Die Beträge, die seit den neunziger Jahren an Schelsky und die AUB geflossen sind, liegen – so viel wissen die Fahnder bereits – deutlich höher als die Summen, die Feldmayer Kleinfeld gegenüber eingeräumt hat. Insgesamt soll Siemens überschlägig 57,5 Millionen Euro überwiesen haben. Und nach der Jahrtausendwende nahmen die Zahlungen deutlich zu. Wie viele der Millionen am Ende bei der Gewerkschaft der Gewerkschaftsgegner landeten, die weder Tarifpartner ist noch Streik im Angebot hat, ist nicht ganz klar – Schelsky hat eine Menge Geld für sich gebraucht. Der vermutlich größte Teil gelangte jedoch wohl tatsächlich in die Kassen der "Unabhängigen".

Dutzende Mitarbeiter der AUB alimentierte Schelsky über eine seiner Firmen, indem er, wie aus einem Vermerk der Sonderkommission "Amigo" hervorgeht, Ausgaben "wie Mieten, Fahrzeugkosten, EDV-Ausstattung, Bücher/Literatur, Kinderferienlager für AUB-Mitglieder und Druckkosten für Werbeflyer ... als Betriebsausgaben" abrechnete.
Und der Einsatz zahlte sich für Schelsky aus: Nach einer Analyse des Instituts der Deutschen Wirtschaft haben AUB-Vertreter bei den Betriebsratswahlen 2006 im privaten Dienstleistungsgewerbe und im Einzelhandel, aber auch in Banken und Betrieben der Lufthansa recht erfolgreich abgeschnitten. Bei Siemens sitzt eine Vertreterin sogar stimmberechtigt im Aufsichtsrat. Als die Ausgliederung der Netzsparte in ein Joint Venture mit Nokia im Kontrollgremium auf heftigen Widerstand der IG Metall traf, stimmte die AUB-Vertreterin gemeinsam mit einem leitenden Angestellten und den Kapitalvertretern für das Geschäft. Aber das ist kein Beleg dafür, daß sie gekauft ist. Sie bestreitet, von den Siemens-Geldern für die AUB gewußt zu haben.

Dabei war es schon auffällig, daß sich die Arbeitnehmerorganisation mit konkurrenzlos niedrigen acht Euro Monatsbeitrag aufwendige Tagungen und Seminare, ein Netz aus Geschäftsstellen in guten Lagen deutscher Großstädte und eine üppige Zahl an hauptamtlichen Mitarbeitern leisten konnte. Andere kannten sich offenkundig besser aus. "Wer zahlt die Ausgaben der AUB? Von wem ist die AUB unabhängig?", fragte 2004 ein ehemaliges AUB-Mitglied. Der Mann verteilte Flugblätter, in denen er die undurchsichtige Finanzierung der Organisation anprangerte.

Die IG Metall hielt von Pierer und seinen Vorstandskollegen schon in einer Sitzung des Siemens-Aufsichtsrats vom 10. Dezember 1997 vor, Zahlungen an die AUB zu leisten. Unter Punkt 6 der Tagesordnung hatte sich ein Metaller zu Wort gemeldet und seinen Zweifel zu Protokoll gegeben, daß die Wahl der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat ordnungsgemäß abgelaufen sei. Die AUB sei bezuschußt worden. Der damalige Chef des Kontrollgremiums Hermann Franz, der von Pierer gefördert hatte, ließ keine Diskussion aufkommen. Er sehe "zu dieser Angelegenheit keinen weiteren Diskussionsbedarf", sagte er laut Niederschrift. Siemens zahlte heimlich weiter.
Dabei war der Versuch, sich Betriebsräte zu kaufen, aus Sicht der Siemens-Manager kompliziert und gefährlich. Die Beteiligten hätten beim Abschluß von Verträgen und Vereinbarungen "äußerst konspirativ" zusammengearbeitet, halten Ermittler im Frühjahr 2007 in einem Vermerk fest. Schelsky habe den Schriftverkehr mit den Siemens-Managern, darunter mit Vorstandsmitgliedern, über deren Privatanschriften geführt – die ausführlichen Verträge durften nicht in der normalen Siemens-Registratur auftauchen. Auf den Dokumenten finden die Ermittler Anmerkungen wie: "Dies darf man eigentlich nicht zu Papier bringen." Oder: "Außer der Rechnung bitte ich Sie, die anderen Blätter möglichst zu vernichten."

Feldmayer hat das System nicht erfunden, aber er ist der Letzte in einer langen Reihe von Entscheidungsträgern, die sich viele Jahre an einem krummen Geschäft versucht hatten. Daß Betriebsräte umgarnt werden, ist so selten nicht. Aber daß eine Arbeitnehmer-Organisation mit Firmengeldern ausgehalten und gefügig gemacht wird, um der Mitbestimmung die Spitze zu nehmen, ist – vermutlich – einzig in der Republik.

Schelskys Rechnungen wurden seit Mitte der neunziger Jahre an die Sparte Automation & Drives der Siemens AG in der Gleiwitzer Straße in Nürnberg geschickt. Der Geschäftsbereich gab sie zur Zahlung frei, verbuchte die Millionen allerdings nur als durchlaufende Posten und belastete dann die Zentrale in München. Zeitweise arbeiteten zehn Mitarbeiter einer Siemens-Tochter für die AUB mit. Zwischen 2003 und 2006 zahlte der Konzern insgesamt 26,21 Millionen Euro an Schelsky. Der Leiter des Rechnungswesens in Nürnberg sagte den Ermittlern, anfangs habe ihm Feldmayer, der damals Finanzvorstand des Bereichs war, die Rechnungen mit der Bitte um Zahlung überreicht. Nachdem Feldmayer nach München gewechselt sei, habe dieser ihm die Rechnungen dann geschickt. Später seien sie automatisch freigegeben worden.
Strafrechtlich kommt da einiges zusammen: In Feldmayers Haftbefehl steht, es könnte sich um den Verdacht der Untreue handeln. Womöglich kommen Steuerdelikte hinzu. Die Zahlungen sind von Siemens als Betriebsausgaben von der Steuer abgezogen worden, natürlich fiel auch Vorsteuer an. Bei Feldmayer summiert sich das zum Verdacht der Untreue in 23 Fällen und der Umsatzsteuerhinterziehung in fünf Fällen. Belastend ist für ihn außerdem die Tatsache, daß er 2001 einen Rahmenvertrag mit Schelsky unterschrieben hat.

Eingeschaltet in den Kreislauf waren mindestens elf Topmanager von Siemens. Vorstandsmitglieder sind darunter, Leute, die an Universitäten über Ethik dozieren und sich als Ehrenmänner feiern lassen. Sieben von ihnen haben das Glück, daß ihre Taten vermutlich verjährt sind.

Ermittelt wird jedoch auch gegen Feldmayers früheren Förderer, den ehemaligen Siemens-Aufsichtsratsvorsitzenden Karl-Hermann Baumann, der die ersten Vereinbarungen mit Schelsky gekannt haben und angeblich auch über die Folgevereinbarungen informiert gewesen sein soll. Ihm wird vorgeworfen, als Chef des Kontrollgremiums die Zahlungen nicht unterbunden zu haben. Auch gegen den Nürnberger Leiter des Rechnungswesens und einen ehemaligen Bereichsvorstand, der von 2001 bis 2005 die Rechnungen zur Zahlung freigegeben hat, läuft wegen Untreueverdachts und Verdachts der Steuerhinterziehung eine Untersuchung.

Da ist niemandem in der Topetage von Siemens etwas unterlaufen, da handelt es sich nicht um Mißverständnisse. Die beschlagnahmten Dokumente lassen an dem Vorsatz keinen Zweifel. Der AUB-Fall ist ein Beleg dafür, daß die Korruption in diesem Konzern systemimmanent war. Es muß sich einer nicht selbst etwas in die Tasche stecken, um korrupt zu sein. Korrupt sind alle, die sich auf Kosten des Gemeinwohls eigene Vorteile verschaffen; bestechlich ist auch derjenige, der sich zugunsten seines beruflichen Fortkommens nicht an die Gesetze hält. Ein Insider erklärt das gesetzeswidrige Taktieren der Topleute so:
Die glaubten, eine Mission zu haben. Sie schwankten zwischen Hybris und dem Glauben, sich für eine gute Sache einzusetzen. Vermutlich hielten sie sich für unangreifbar.
Fast erübrigt es sich zu sagen, daß die amerikanischen Anwälte von Debevoise & Plimpton LLP die Zahlungen an Schelsky für die AUB als Verstoß gegen die Anti-Korruptionsregeln in den USA betrachten.

28. März 2007: Zermürbender Druck liegt auf dem Konzern. Bereichsvorstände unter Verdacht – das war schlimm; zwei ehemalige Zentralvorstände unter Verdacht, davon einer zeitweise in U-Haft – das ist verheerend; aber ein amtierender Zentralvorstand zeitweise in Haft – das ist eine Katastrophe. Für die Nachfolge von Pierers als Vorstandschef gab es vor Jahren vier aussichtsreiche Kandidaten: Drei von ihnen – Neubürger, Ganswindt und Feldmayer – haben Aktenzeichen bekommen. Außerdem wird gegen mehr als ein Dutzend Manager ermittelt, und die amerikanischen Anwälte wollen bei ihren Überprüfüngen keinen Bereich im Weltkonzern auslassen. Es scheint keine Einzelfälle mehr zu geben, sondern nur noch die Regel.

In sechs weiteren Sparten sind die Prüfer auf Beraterhonorare von mehreren Milliarden Euro gestoßen. Es wird eine Weile dauern zu klären, welche legal und welche illegal waren, und in dieser Zeit werden die Gerüchte weiterwuchern.

17. April 2007: Von Pierer, der aus dem Osterurlaub im Engadin zurückgekommen ist, berät sich mit dem Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann, der seit ein paar Jahren im Siemens-Aufsichtsrat sitzt. Der mächtigste deutsche Banker hat lange solidarisch zu von Pierer gehalten, den er schätzt. Aber er verfolgt die Vorgänge bei Siemens mit immer größerem Unbehagen. Ein Topmanager wie Ackermann hat nicht die Zeit und die Möglichkeit, im Aufsichtsrat einen Koloß wie Siemens ausreichend zu kontrollieren, und was da abläuft, erinnert ihn an seinen eigenen Mannesmann-Fall. Als Mitglied der Aufsichtsratsspitze hatte Ackermann riesige Abfindungen für die Mannesmann-Führung nach der Übernahme durch Vodafone gebilligt und mußte sich deshalb zweimal vor Gericht verantworten. Der Mannesmann-Prozeß ist sein Trauma. Noch einmal will er sich nicht vorwerfen lassen, in einem Aufsichtsrat ungenügend aufgepaßt zu haben.

Eingebrannt in sein Gedächtnis hat sich der Satz des Bundesrichters Klaus Toiksdorf, dessen Senat Ende 2005 die Freisprüche des Düsseldorfer Landgerichts aufgehoben hatte: Vorstand und Aufsichtsrat seien "nicht Gutsherren, sondern Gutsverwalter" und als solche "zwingend einer Treuepflicht unterworfen". Ackermann kennt die Passage auswendig. Die Fälle Mannesmann und Siemens findet er nicht vergleichbar, und da hat er recht. Der eine handelt von struktureller Korruption, der andere spielte sich im Grenzbereich zur Untreue ab. "Wenn in der Deutschen Bank systematisch solche Dinge aufbrechen würden, würde ich morgen zurücktreten", vertraut Ackermann in diesen Tagen einem Freund an.

Im Gespräch mit von Pierer beschreibt Ackermann den Druck, den die US-Behörden auf Siemens ausüben, und empfiehlt den Rückzug. Pierer bespricht sich auch mit Cromme. Der ist schon eine Weile überzeugt, daß von Pierer nicht mehr bis zur Hauptversammlung 2008 bleiben kann, um dann in Ehren abzutreten. Andere Kontrolleure sind entsetzt. Daß der VW-Aufsichtsratschef Ferdinand Piech in der VW-Affäre "mit seiner Ich-weiß-von-nichts-Strategie durchgekommen ist und ein Ehrenmann wie Pierer gehen soll", empfindet ein Siemens-Kontrolleur als "schreiend ungerecht". Cromme erklärt sich bereit, von Pierers Posten zu übernehmen.

19. April 2007: Von Pierer nimmt in seiner Eigenschaft als VW-Aufsichtsrat an der Hauptversammlung der Wolfsburger in der Hamburger Kongreßhalle teil. Häufig verschwindet er hinter der Bühne, um zu telefonieren. Am Nachmittag fliegt er mit dem Firmenflugzeug zurück nach München und kündigt den Vorständen seinen Rücktritt an. "Alleiniger Anlaß und Beweggrund für meine heutige Entscheidung", schreibt von Pierer in einer Erklärung, "ist das Interesse von Siemens." Er wolle das Unternehmen "allmählich wieder aus den Schlagzeilen und in ruhigeres Fahrwasser bringen". "Ende einer Ära", werden viele Zeitungen titeln.

Kleinfeld schreibt dem dreiköpfigen Präsidium des Aufsichtsrats einen Brief. Der im Konzern heiß diskutierte Vorschlag, die Abfindung von Vorstandsmitgliedern künftig auf zwei Jahresgehälter zu begrenzen, solle für ihn schon jetzt gelten. Und falls im Zuge der Affäre etwas herauskomme, das seinen Rücktritt erforderlich mache, werde er auf jegliche Abfindung ebenso verzichten wie darauf, die Restlaufzeit seines Vertrags ausbezahlt zu bekommen. Er mache das, weil er "ein reines Gewissen" habe. Cromme erhält eine Kopie des Schreibens.

20. April 2007: Der Rücktritt von Pierers sei "überfällig" gewesen, erklärt IG-Metall-Vize Berthold Huber. Herbert Heckmann, Chef des Gesamtbetriebsrats, hat eine völlig andere Sicht: Hier werde "ein Idol zerstört". Von Pierer sei in der Belegschaft und bei den Betriebsräten sehr beliebt. "Jetzt bestimmen Amerikaner, was in unserem Unternehmen passiert, welche Vorstände wegmüssen." Mancher der Beteiligten hat Nerven aus Schießbaumwolle und kann, wie das Cellulosenitrat, leicht explodieren.
Aber längst schon geht es nicht mehr um von Pierer, sondern um Kleinfeld. Kann er bleiben, soll er gehen? Was hat er vor der Razzia getan, um das illegale System abzustellen? Gut, er sei mit dem Umbau des Konzerns beschäftigt gewesen, aber Compliance ist auch wichtig, und die habe er nicht ausreichend im Blick gehabt, sagt ein Kritiker, der nicht genannt werden möchte, aber ziemlich weit oben sitzt.

"Wenn ich geahnt hätte, was da lief, hätte ich doch ganz andere Fragen gestellt", sagt Kleinfeld in kleiner Runde. Doch er habe immer nur von "Einzelfällen" gehört, die gelöst würden, und er sei ein Mensch, der zunächst dem anderen glaube. Er verachte Zyniker (Kleinfeld, der lange in Amerika war, sagt gern "Zynisten") und habe den Compliance-Leuten, Schäfer vorneweg, vertraut. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erscheinen vorläufige Zahlen über den Geschäftsverlauf bei Siemens, und die sind sehr gut. "Kleinfeld am Ziel", schreibt die Zeitung. Cromme, aber auch andere Aufsichtsräte, reagieren verschnupft. Er lasse sich "nicht unter Druck setzen", sagt Cromme.
Die amerikanischen Anwälte warnen den Aufsichtsrat, Kleinfelds Vertrag, der zum 30. September ausläuft, bereits auf der Aufsichtsratssitzung Ende April zu verlängern. Zwar gebe es keinerlei Hinweise, daß sich Kleinfeld irgendwann gesetzeswidrig verhalten habe. Dennoch sei es ratsam, mit der Vertragsverlängerung so lange wie möglich zu warten. Das ist die Umkehr der Unschuldsvermutung, aber für die SEC, so scheint es manchmal, sind Beteiligte verdächtig bis zum Beweis des Gegenteils. Mehr als vier Monate lang haben sie Kleinfelds archivierte Post gesichtet, seine E-Mails gelesen und ihn immer wieder befragt, und sie haben nichts gegen ihn in der Hand.

Kleinfeld telefoniert in diesen Tagen häufiger als sonst mit Kanzlerin Angela Merkel. Die Regierungschefin interessiert sich für die Turbulenzen an der Siemens-Spitze. Beide verstehen eine Menge von Technik und der Umsetzung naturwissenschaftlichen Fortschritts in technische Lösungen. Sie sind Norddeutsche, und beide Familien sind, unterschiedlich stark, durch die DDR mitgeprägt. Frau Merkel hat in der DDR gelebt, Kleinfelds Eltern sind 1950 aus Wittenberg nach Bremen gezogen. Ratschläge soll sie ihm nicht gegeben haben; er hat wohl auch nicht darum gebeten. Dabei kennt sie viele Leute, ist auch häufige Gesprächspartnerin von Ackermann und Cromme. In die Gremienentscheidung des bedeutendsten Technologieunternehmens kann jedoch vermutlich auch sie nicht eingreifen.

21. April 2007: Ackermann und Cromme treffen bei einem Abendessen in Berlin den Linde-Chef Wolfgang Reitzle. Sie bieten ihm den Kleinfeld-Posten für den Fall an, daß Kleinfeld das Handtuch wirft.

22. April 2007: Ackermann und Cromme reden in München mit Kleinfeld. Sie berichten ihm über das Gespräch mit Reitzle, das rein vorsorglicher Art gewesen sei, und informieren ihn über die Bedenken der US-Anwaltskanzlei Debevoise & Plimpton LLP. Die Amerikaner hielten es für zu riskant, den Vertrag jetzt zu verlängern, und schlügen vor, die Entscheidung, die ursprünglich schon für Ende 2006 geplant war, noch einmal um drei Monate zu verschieben. "Habe ich noch eine faire Chance?", fragt Kleinfeld. "Ja", antworten die beiden Kontrolleure. Am Abend sickert halboffiziell durch, daß die amerikanischen Anwälte nichts Belastendes gegen Kleinfeld gefunden hätten, und das steht dann in der Zeitung. Einige Aufsichtsräte haben den Verdacht, Kleinfeld versuche indirekt Druck auf sie auszuüben. Die Lage wird immer unübersichtlicher.

24. April 2007: "Aufsichtsrat sucht neuen Chef", meldet die Financial Times Deutschland (FTD), und die Geschichte über die Unterredung mit Linde-Reitzle sorgt in allen Lagern für Verwirrung. Wer hat die Information der FTD gesteckt und warum? Kleinfeld ist brüskiert, Ackermann und Cromme sind es auch. Die Spin-Doktoren der beiden Lager verheddern sich in den eigenen Fäden, die sie scheinbar kunstvoll gezogen haben. Am Nachmittag informieren die amerikanischen Anwälte den Siemens-Prüfüngsausschuß in einem abhörsicheren Raum über ihre Erkenntnisse: Alles sei noch schlimmer als befürchtet. Führungskräfte unterhalb der Vorstandsebene seien an den Schmiergeldgeschichten beteiligt und versuchten sich gegenseitig zu decken. Auch sei der Prüfungsausschuß unvollständig informiert worden. "Bei Siemens gibt es eine solidarische Gemeinschaft von Alten, die sich gegenseitig schützen", klagt Cromme. Spätabends streckt Kleinfeld die Waffen. Über von Pierer sagt er nur noch öffentlich Nettes; das früher sehr gute Verhältnis zu Ackermann und Cromme ist ebenfalls angespannt. Aus Sicht Kleinfelds ist aus der Beziehung eine "Chemiesache geworden", und die Chemie stimmt nicht mehr.

25. April 2007: Die US-Anwälte schlagen vor, die in diesem Jahr auslaufenden Verträge mit Feldmayer und Radomski nicht zu verlängern. Der eine ist in die AUB-Geschichte verstrickt, der andere war auch für Compliance verantwortlich. Radomski habe zu wenig Elan bei der Aufklärung gezeigt, stimmt ein Aufsichtsrat zu. Belastete Manager sind ein hohes Risiko für ein Unternehmen, wenn amerikanische Behörden im Spiel sind. Kleinfeld und Kaeser tragen glänzende Unternehmenszahlen vor, aber der Geschäftserfolg zählt in diesen Tagen wenig. Cromme wird zum neuen Aufsichtsratschef gewählt. Im konzerneigenen Fernsehstudio gibt Kleinfeld eine Erklärung ab: "Ich habe mich entschieden, für die Verlängerung meines Vertrags nicht mehr zur Verfügung zu stehen. Ein Schwebezustand ist unakzeptabel." Reitzle sagt endgültig ab.

1. Mai 2007: Die Suche nach dem neuen Siemens-Chef gestaltet sich schwierig. Cromme wird heftig kritisiert. Als er 1988 das Stahlwerk Krupp Rheinhausen stillegen wollte, hatten Protestler einen Steckbrief ausgehängt: "Gesucht wird Dr. Gerhard Cromme. Tot oder lebendig wegen: Mord am Standort Rheinhausen und Betrug der Arbeitnehmer. Belohnung: Leben und Arbeit in Rheinhausen." 1997 war er dann wieder unter Druck geraten. Die geplante feindliche Übernahme des Thyssen-Konzerns durch Krupp sorgte für Aufruhr: Mit Schilden hatten Polizisten Cromme schützen müssen, als er den Stahlarbeitern seine Pläne erläutern wollte. Eier flogen. "Hängt ihn auf", war damals zu hören. "Wer das hinter sich hat", sagt Cromme, "hat vor nichts mehr Angst. Man muß seinen Weg gehen, darf nicht links und rechts gucken."

Die Headhunter von Spencer Stuart, die Siemens eingeschaltet hat, präsentieren eine Liste mit zehn Kandidaten, doch kein Name überzeugt. Cromme hat feste Vorstellungen: Eine Affinität zu Siemens-Produkten soll der Neue haben, er soll Weltgeist sein, aber aus dem deutschen Kulturraum stammen. Erfahrungen mit amerikanischen Börsen- und Justizbehörden wären von Vorteil. Gibt es so jemanden? An diesem Maifeiertag macht ihn Siemens-Aufsichtsrat Professor Walter Kröll – ein in aller Welt hochangesehener Forscher, Gründungsrektor und Vorstandsvorsitzender des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt – auf einen Manager aufmerksam, der womöglich passe: Peter Löscher, 49, Österreicher, Vorstandsmitglied des US-Pharmakonzerns Merck, ehemaliger Vorstand bei General Electric, dem Hauptwettbewerber von Siemens. Cromme liest Löschers Lebenslauf und ist begeistert. Er ruft den 49-jährigen gebürtigen Österreicher sofort in New Jersey an.

5. Mai 2007: Löscher und Cromme treffen sich am Frankfurter Flughafen. Die Chemie stimmt.

14. Mai 2007: Die Schmiergeldaffäre verdrängt wieder die Unternehmensnachrichten. Reporter der großen Blätter und der wichtigsten Sender, auch Journalisten amerikanischer Blätter, sind nach Darmstadt gereist. Die Wirtschaftsstrafkammer des dortigen Landgerichts verkündet das erste Urteil seit Aufdeckung der Siemens-Affäre. Es ist jener Fall, den die Münchner Oberstaatsanwältin Regina Sieh vor Jahren an die Einsatzreserve des Hessischen Generalstaatsanwalts abgegeben hat; es ging um Schmiergeschichten im Kraftwerksbereich.

Obwohl es keine erkennbare Verbindung zum Com-Netzwerk in München gibt, ist das Interesse der Medien groß, auch deshalb, weil es sich möglicherweise um eine Art Pilotverfahren für die Prozesse handelt, die in den nächsten Monaten und Jahren in der Causa Siemens stattfinden werden.

Die früheren Siemens-Manager Andreas Kley und Horst Vigener hatten wochenlang vor Gericht gestanden. Kley wird an diesem Montag wegen Bestechung und Untreue zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Außerdem muß er 400.000 Euro an gemeinnützige Organisationen zahlen. Vigener erhält eine Bewährungsstrafe von neun Monaten. Kley kündigt gleich an, daß er Revision einlegen werde.

Zumindest bei den Alten von Siemens kommen wehmütige Erinnerungen auf. Die Kleys sind eine Manager-Dynastie. Vater Gisbert war von 1964 bis 1973 Mitglied des Siemens-Vorstands. Bruder Karl-Ludwig saß im Lufthansa-Vorstand und wechselte 2006 in den des Darmstädter Pharmakonzerns Merck. Der andere Bruder, Max Dietrich, war stellvertretender Vorstandsvorsitzender des Ludwigshafener Chemiekonzerns BASF und ist heute Aufsichtsratschef bei Infineon. Außerdem steht er als Präsident dem Deutschen Aktieninstitut vor.

Weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit hatte Andreas, der Jüngste, seinen Weg bei Siemens gemacht. Der gelernte Bankkaufmann fing 1968 in der Finanzabteilung in München an, ging zu einem Zwischenspiel in die USA und stieg schließlich in den Bereichsvorstand der Sparte Energieerzeugung (Power Generation) auf, die beachtliche Gewinne machte. Zu seinen Bekannten gehörte der damalige Vorstandsvorsitzende Heinrich von Pierer. Kley war der klassische Siemens-Kaufmann. Das soll heißen: Er war jemand, der über die Welt der Techniker hinausblickte und Geschäfte anbahnte.

Zum 1. Juli 2004 hatte er den Konzern, wie eine Zeitung meldete, "altersbedingt" verlassen. Das war falsch. Er war erst 61 Jahre alt und mußte seinen Hut nehmen, weil er in eine Schmiergeldaffäre verwickelt war, die der breiten Öffentlichkeit damals verborgen blieb. Zum Abschied hatte ihm Uriel Sharef, Mitglied des Siemens-Zentralvorstands, eine Abfindung in Höhe von 1,7 Millionen Euro angewiesen, die in den Sommertagen des Jahres 2007 noch viel Ärger machen sollte. Der Weggang schmerzte ihn damals trotz der Abfindung. Die Firma war ein wichtiger Teil seines Lebens gewesen, und Kley hatte seine Arbeit gern erledigt.

Es gibt viele Überlegungen, warum es im weltumspannenden Siemens-Reich so ungewöhnlich viele "Landschaftsgärtner" gab, die den Boden reichlich düngten und immer mit Risiko den kürzesten Weg zum Ziel suchten. Die freundlichste Lehrmeinung geht so: Nach dem Krieg schwärmten junge Siemens-Manager in alle Welt aus, und sie lernten, daß nur der Erfolg hat, der tüchtig schmiert. Sie kamen zurück, wurden Bosse und lernten die nächste Generation an. Und all die Zeit mischten sich weder Politik noch Staatsanwaltschaften in die speziellen Geschäfte ein. Außerdem beherrschten die Siemens-Manager das elfte Gebot: Du sollst dich nicht erwischen lassen.

Allen Beteiligten, so geht die Theorie weiter, sei klar gewesen, daß auf vielen Märkten nur mit vollem Einsatz Geschäfte zu machen waren. Für nützliche Aufwendungen, die bei Bestechungen im Ausland sogar von der Steuer abgesetzt werden konnten, hätten die Siemens-Manager den Markt mit Schwarzgeldkonten oder Provisionen "beatmet".
Nun wird das Gedankengebäude der Abwiegler ein bißchen brüchig. Daß sich die Gesetze Ende der neunziger Jahre dramatisch änderten und Bestechung im Ausland auch daheim strafbar wurde, sagen sie, hätten manche Manager nicht gleich mitbekommen. Außerdem habe es "Übergänge" gegeben. Anders gesagt: Geben und Nehmen sei von manchen als so selbstverständlich empfunden worden, daß sie das Selbstverständliche nicht einfach ablegen konnten.

"Bestechung war bei Siemens gängige Praxis", erklärte Vigener in dem Darmstädter Prozeß. In anderen Regionen der Welt sei der Einsatz von Schmiergeld ebenfalls üblich gewesen. Vor allem in Ostasien hätten sich immer wieder Gruppen vorgestellt, die Verbindungen zu Firmen schaffen konnten und dafür Gegenleistungen erwarteten.

Der 73 Jahre alte Elektroingenieur, der sein Leben lang für die AEG und dann für Siemens in Griechenland gearbeitet hatte, war ein Veteran im Kraftwerksgeschäft. 1993 war er aus Gesundheitsgründen bei Siemens ausgeschieden. Fünf Jahre später bekam er einen Anruf. Kley bot ihm einen Beratervertrag an, weil man einen wie ihn brauche. Vigener bekam mit Wirkung vom 13. November 1998 einen freien Mitarbeitervertrag, der dann diverse Male verlängert wurde, bis er zum 31. Dezember 2001 endgültig auslief.

In Italien hatte er ein, wie es schien, lukratives Geschäft eingefädelt. In den Jahren 1999 und 2000 führten die Energiekonzerne Enel Produzione S.p.A. und Enelpower S.p.A. zwei Ausschreibungen über die Lieferung von Gasturbinen inklusive Zubehör durch. Verantwortlich für die Ausschreibung war der italienische Manager Luigi G., das Projekt als solches unterstand dem zuständigen Ingenieur Antonio C.

Vigener wußte den kürzesten Weg. Er traf mit G. und C. in der Lobby eines Mailänder Luxushotels zusammen. Vigener hat später oft erzählt, wie sehr er sich zunächst über die beiden geärgert habe. Die wollten vier Prozent der Auftragssumme kassieren. Üblich aber sei ein Prozent gewesen, und er habe die Manager heruntergehandelt: auf 5,637 Millionen Euro sowie 438.990 Dollar. Kley stimmte dem Deal zu.

Die beiden italienischen Manager sorgten dann dafür, daß ein von den Firmen Ansaldo und Siemens AG gegründetes Konsortium bei den Ausschreibungen den Zuschlag bekam. Der Tatplan war simpel. Ausschließlich Siemens erhielt von den beiden bestochenen Managern spezielle Informationen über geforderte Leistungsgarantien, die Verkürzung der Lieferfristen und weitere technische Spezifikationen. Der Wettbewerb wurde ausgeschaltet. Die Unternehmen Fiat Avio, General Electric, ABB Sadelmi/ABB Power Generation zogen ihre Bewerbungen entnervt zurück. Das Gesamtvolumen der von Vigener in Abstimmung mit Kley gekauften Aufträge lag bei 450.329.837,45 Euro, hinzu kamen lukrative Wartungsverträge. Auf Siemens entfiel dabei ein Anteil von mindestens 338.100.000 Euro.

Interessant waren die Wege der Schmiergeldzahlungen. Die beiden italienischen Manager hatten von Vigener verlangt, das Geld dürfe nicht gleich auf ihre Konten überwiesen werden. Kein Problem. Die Kraftwerksparte von Siemens verfügte – ähnlich wie die Sparte Com – über ein Firmengeflecht. Rund die Hälfte der Summe – exakt 2,65 Millionen Euro – wurde zunächst auf ein Konto der in Vaduz ansässigen Gesellschaft Eurocell überwiesen. Von dort floß das Geld weiter an eine ebenfalls in Liechtenstein eingerichtete Grenusso Anstalt bei der Neuen Bank in Vaduz, wo die Summe abgehoben und auf das Konto einer Gesellschaft namens Colford Investments Corporation überwiesen wurde. Von dort ging es weiter an die Gesellschaft Middle East & Industrial Service Llc. in Abu Dhabi und gelangte schließlich auf Konten in Monaco und Lugano.

Die andere Hälfte stammte ursprünglich aus einer von Kley verwalteten schwarzen Kasse, die ebenfalls in Liechtenstein eingerichtet worden und der Siemens-Buchhaltung unbekannt war. Kley hatte die Kasse mit zwölf Millionen Schweizer Franken 1998 von einem anderen Siemens-Mitarbeiter übernommen. Ähnlichkeiten zu dem Com-System mit den Geheimkonten in Österreich sind nicht zufällig. 1999 ließ Kley Vigener die Stiftung Gastelun in Liechtenstein gründen, auf deren Konten das Geld transferiert wurde, um, den Feststellungen der Ermittler zufolge, für "Consulting-Leistungen" und Beatmungsversuche verfügbar zu sein. Im Enel-Fall wanderten im August 2001 auf Veranlassung Vigeners mehr als drei Millionen Euro auf ein Konto der Firma Technical Consulting & Service Limited in Dubai, die verschiedentlich hin und her überwiesen wurden und schließlich in Monte Carlo und Lugano landeten.

All diese Details hatten deutsche und italienische Fahnder der Eingreifreserve des Hessischen Generalstaatsanwalts, des Wiesbadener Landeskriminalamts und der Staatsanwaltschaft Mailand in Zusammenarbeit ermittelt. Als der Fall schließlich in Darmstadt vor Gericht kam, konnten weder Staatsanwälte noch das Gericht nachvollziehen, warum die beiden Manager gegen sämtliche Ethikrichtlinien des Konzerns verstoßen hatten. In ihrer Anklage zitierten die Strafverfolger seitenweise aus den Regeln.

Der Frankfurter Oberstaatsanwalt Ulrich Busch fordert letztlich drei Jahre und sechs Monate Haft für Kley sowie für Vigener fünfzehn Monate auf Bewährung. Ein solches "Konzerngeflecht in Liechtenstein zur Verschleierung von Zahlungsströmen haben wir bisher eher mit Drogen- und Waffenhandel und der organisierten Kriminalität assoziiert", stellt Busch konsterniert fest.

Richter Rainer Buss schreibt den Angeklagten in seinem Urteil ins Stammbuch, Untreue liege immer vor, wenn Firmengeld in schwarzen Kassen lande. Ob korrupte Manager und deren Helfer, wie in diesem Fall, eine inoffizielle Nebenbuchführung anlegten, um den Abfluß des Geldes dokumentieren zu können, sei nebensächlich. Außerdem zeigt er sich sehr irritiert, daß Siemens die Millionen-Abfindung nicht zurückgefordert habe, obwohl Kleys Verstrickungen bekannt gewesen seien. Dem Staatsanwalt gibt er den Rat, die Abfindungsvereinbarung, die von Pierer und Sharef getroffen haben, unter strafrechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen. Busch stimmt zu.
Aus dem lukrativen Geschäft ist ein Schlag ins Kontor geworden. Ursprünglich hatte Siemens bei diesem Projekt einen Gewinn von 104 Millionen Euro gemacht. 113 Millionen Euro mußte der Konzern bereits als Ausgleich an Enel zahlen. Die Darmstädter Richter verfügen, Siemens müsse zusätzlich 38 Millionen Euro an den Staat abführen.

19. Mai2007: Bei einem Abendessen im Münchner Hotel "Vier Jahreszeiten" trifft das Präsidium des Aufsichtsrats den Kandidaten Löscher. Erst am Vortag hat Cromme die beiden anderen Mitglieder des Gremiums, Ackermann und Heckmann, in die Pläne eingeweiht.

20. Mai 2007: Löscher wird dem Aufsichtsrat vorgestellt und ohne Gegenstimmen zu Kleinfelds Nachfolger gewählt. Er will am 1. Juli bei Siemens anfangen. Cromme sagt, der Neue solle den Kollegen in den einzelnen Bereichen und Regionen erst einmal drei Monate "aktiv zuhören". Siemens müsse in ruhigeres Fahrwasser kommen. Das ist nicht so einfach. Aufsichtsratsmitglieder beschweren sich darüber, daß von Pierer das Kontrollgremium nicht über die 1,7 Millionen Euro Abfindung für Kley informiert habe. "Es kann nicht sein, daß verurteilte Manager mit einem goldenen Handschlag verabschiedet werden", sagt ein Kontrolleur. In der Abendausgabe der Süddeutschen Zeitung werden drei Gremienmitglieder mit kritischen Aussagen über von Pierer zitiert. Ein Aufsichtsrat bezeichnet von Pierers Verhalten als "Sauerei und Lumperei". Die drei Kritiker haben auf Anonymität bestanden.

22. Mai 2007: In einem Brief an den Aufsichtsrat zeigt sich von Pierer "tief betroffen" über die Vorwürfe. Kley habe von ihm "keinen goldenen Handschlag" bekommen, sondern es seien lediglich "vertragliche Ansprüche erfüllt" worden. Der Aufsichtsrat sei für finanzielle Angelegenheiten, die Spartenvorstände wie Kley beträfen, nicht zuständig. Deshalb werde "gemäß den internen Regularien dem Aufsichtsrat grundsätzlich nicht berichtet". Cromme teilt mit, Siemens habe ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, das klären soll, ob die Abfindungszahlung im Jahr 2004 korrekt war.

31. Mai 2007: Die Schmiergeldaffäre bei Siemens hat auch Folgen für die Deutsche Telekom. T-Systems-Chef Lothar Pauly, bis Herbst 2005 Vorstand der Kommunikationssparte von Siemens, tritt zurück. Frühere Mitarbeiter hatten ihn belastet. Ein ehemaliger Com-Finanzvorstand hatte behauptet, er habe Pauly auf einen Schmiergeldtransporteur angesprochen. Der habe angeblich geantwortet, er wisse das, und sinngemäß gefragt: Wollen wir Geschäfte machen oder nicht? Das sei völlig falsch, sagt Paulys Anwalt Kurt Kiethe. Sein Mandant habe von krummen Geschäften nichts gewußt.

Aber Pauly gerät auch durch interne Mails in Bedrängnis, die die Ermittler sichergestellt haben. In dieser elektronischen Post an und von Pauly ging es meist um Beraterhonorare, und da ist von "süßen Versprechungen", unbekannten Bankkonten und "Abschottung" die Rede. "Die Zahlung wurde bei uns vermasselt", heißt es in einer Notiz an Pauly. Das Übliche, so scheint es. Doch Pauly bestreitet, von Schmiergeldzahlungen "gleich welcher Art" gewußt zu haben. Das Gleiche gelte für schwarze Kassen. Er habe nie auf Anonymisierung gedrängt. Der Umstand, daß ein Berater, für den das Geld gedacht gewesen sei, "offenbar auf Anonymität Wert gelegt habe, müsse weder Siemens noch Pauly in irgendeiner Weise betreffen", sagt Kiethe.

Anfang Juni 2007: Die amerikanischen Anwälte fordern, der frühere Compliance-Chef Schäfer solle den Konzern verlassen. Deutsche und amerikanische Anwälte arbeiten an einem gemeinsamen Vorschlag für den Vorstand. Die Amerikaner sind mit dem deutschen Arbeitsrecht nicht vertraut. Kleinfeld und Cromme warnen jedoch vor übereilten Aktionen, da die Lösung auch vor einem Arbeitsgericht Bestand haben müsse.

18. Juni 2007: Die 12. Strafkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth weist in einem siebenseitigen Beschluß eine Haftbeschwerde des AUB-Gründers Schelsky zurück. Das Gericht kommt zu dem Ergebnis, es bestehe Fluchtgefahr, weil Schelsky, der seit Mitte Februar in Untersuchungshaft sitzt, mit einer empfindlichen Freiheitsstrafe rechnen müsse, die nicht zur Bewährung ausgesetzt werden könne. Es sei gegen "elementare Grundsätze des Mitbestimmungsrechts" verstoßen worden.

28. Juni 2007: Noch vor Ablauf der Probezeit muß Daniel Noa, der Chef der Anti-Korruptionsabteilung, sein Amt wieder aufgeben. Noa hat sich nichts zuschulden kommen lassen, aber der gelernte Staatsanwalt fand sich in der Siemens-Welt nicht nur wegen seiner mangelnden Englischkenntnisse nicht zurecht. Außerdem gab es Streit um Zuständigkeiten. Noa hatte intern kritisiert, daß seine Compliance-Abteilung der Rechtsabteilung zugeschlagen worden war. Bis ein Nachfolger – nach Wunsch des Unternehmens ein Compliance-Experte mit internationaler Erfahrung – in Abstimmung mit dem neuen Vorstandschef Löscher gefunden ist, übernimmt Chefsyndikus Paul Hobeck den Posten.

1. Juli 2007: Der ehemalige General-Electric-Manager Löscher nimmt den Dienst bei Siemens auf. Ackermann hat vor Wochen in einem Zeit-Interview gesagt, es gebe kein Geschäft, "das es wert ist, den eigenen Ruf zu ruinieren". So hat es Kieinfeld gesehen, so sieht es auch Löscher. Aber er hat gegenüber Kleinfeld den Vorteil, daß er weiß, worauf er sich einläßt. Für den Weltkonzern wäre viel gewonnen, wenn die Compliance künftig ähnlich gut funktionieren würde wie bei General Electric, aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg.

...

Im Namen des Volkes: Justitias Aussichten

Wann immer ein Thema gesellschaftspolitisch brisant wird, gibt es Forderungen nach neuen Gesetzen oder Gesetzesverschärfungen. Der Glaube, man könne die jeweiligen aktuellen Mißstände rasch beseitigen, wenn man nur über die passenden scharfen Gesetze und ausreichend verfolgende Staatsanwälte verfügte, hat sich allerdings häufig als Illusion erwiesen. Strafverfolgung kann längst nicht alles leisten, was von ihr erwartet wird. Auch wäre der Versuch, die ethische Sanierung der Wirtschaftsgesellschaft ausschließlich mit strafrechtlichen Mitteln zu betreiben, auf Dauer nicht durchzuhalten.

Deshalb gilt es unterschiedliche Wege zu finden, der Wirtschaft die Wirtschaftskriminalität zu erschweren. Da sind zunächst die Pfade abseits der Repression: Mitarbeiter dazu zu bringen, im eigenen Interesse so zu handeln, wie sie es im Interesse der Allgemeinheit tun sollten, ist ein Pfeiler guter Compliance. Dazu müssen die Rahmenbedingungen in den Betrieben so ausgestaltet werden, daß korrektes Vorgehen belohnt, unkorrektes bestraft wird.

Das Bemühen, Verhaltensänderungen mit den Mitteln des Rechts zu erreichen, sollte sich auf das Kartellrecht und den vernachlässigten Bereich des Vergaberechts konzentrieren; außerdem brauchen wir eine Diskussion darüber, wie sich in Deutschland ein Unternehmensstrafrecht etablieren läßt. So wie sich Manager nicht hinter dem Unternehmen verstecken können, darf das Unternehmen nicht hinter seine Manager zurücktreten können.

Das Gefecht der Staatsanwälte

Die Staatsanwaltschaft ist einst "die Kavallerie der Justiz" genannt worden. Heute sei sie "die Panzerdivision der Emotionen und des blinden Zorns", behauptet ein Unternehmenschef. Er bittet, seinen Namen "nicht zu schreiben. Manche Staatsanwälte geben sich doch so, als wären sie Vertreter der Anklage beim Jüngsten Gericht." Der frühere Flick-Manager Eberhard von Brauchitsch hätte Ermittler bei einer Hausdurchsuchung am liebsten rausgeschmissen. "Staatsanwälte können die komplizierten Unternehmensabläufe nicht verstehen", meinte er. "Bedenken Sie bitte, daß Entscheidungen in der Wirtschaft anders gefällt werden als Entscheidungen in der Verwaltung oder der Jurisdiktion", ließ der Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann im ersten Mannesmann-Prozeß seine Ankläger wissen. Nach dieser Bemerkung ging ein Raunen durch den Saal.

Die Heimsuchungen der Staatsmacht in den Vorstandsetagen der Deutschen und der Dresdner Bank, bei Infineon, VW, Siemens, EADS, der WestLB und Babcock-Borsig signalisieren einen justizpolitischen Wandel. Während man früher in Gerichtssälen eher karierten Kragen als weißen Hemden begegnete, sind plötzlich die Chefs der Deutschland AG nicht mehr sakrosankt; mancher von ihnen fühlt sich sogar schutzlos in Justitias Hand.

Wochenlang waren die Festnahmen der Bereichsvorstände von Siemens und die Berichte des Siemens-Zentralvorstands Johannes Feldmayer über seine acht Tage Untersuchungshaft Thema bei den Treffen der wichtigsten Konzernführer der Republik. Die besten Strafverteidiger wurden von großen Konzernen vorsorglich für den Fall bestellt, daß Ermittler auch bei ihnen vorbeikämen.

Es hat allerdings eine Weile gedauert, bis Staatsanwälte in der Lage waren, in kniffligen Wirtschaftsverfahren einigermaßen den Durchblick zu bekommen. Noch 1986 räumten die deutschen Strafverfolger Heinz-Bernd Wabnitz und Rudolf Müller im Vorwort zu ihrem Handbuch Wirtschaftskriminalität unverhohlen ein, daß den mit dieser Problematik Befaßten, von den Richtern über die Staatsanwälte bis zu den Kriminalisten, die Fragen der Wirtschaftskriminalität "oft ein Buch mit sieben Siegeln sind".
Nur selten sind junge Juristen ohne weiteres dazu bereit, als Beisitzer einer Wirtschaftsstrafkammer oder als Staatsanwälte einer Abteilung für Wirtschafts- und Steuersachen zu fungieren. Polizeibeamte beschäftigen sich lieber mit der Aufklärung eines Mordes, anderer Schwerkriminalität oder den üblichen Feld-Wald-und-Wiesen-Delikten als mit den scheinbar trockenen, am Anfang in ihrem Umfang nicht überschaubaren und in der Regel nur durch äußersten Einsatz nachweisbaren Tatbeständen der Wirtschafts- und Steuerkriminalität. Weitgehend trifft immer noch zu, was die Autoren des Handbuchs schon vor 21 Jahren feststellten:

Nach wie vor geht die Ausbildung der jungen Juristen an den Universitäten und im Vorbereitungsdienst an dem Gebiet der Wirtschaftskriminalität vorbei. Die strafrechtliche Schulung erstreckt sich im Wesentlichen auf die allgemeine Kriminalität. Dieser offensichtliche Mangel beruht auf der Kluft zwischen Praxis und Lehre. Erkennen und Bekämpfen wirtschaftsparasitärer Verhaltensweisen ist nur möglich, wenn Wirtschaftsabläufe und Zusammenhänge in der Praxis miterlebt, beobachtet und analysiert werden.

Mittlerweile ist die Aus- und Fortbildung der Beamten von Landeskriminalämtern in solchen Angelegenheiten viel besser und systematischer als die der Strafverfolger. Es gibt Fälle, in denen die Sonderkommissionen der Polizei den Takt vorgeben und sich auch von der Staatsanwaltschaft, die eigentlich die Herrin des Verfahrens ist, nicht bremsen lassen. Nur eine kleine Gruppe unter den rund fünftausend deutschen Strafverfolgern beschäftigt sich ausschließlich mit Wirtschaftskriminalität. Die Materie ist kompliziert, und die Verdienstmöglichkeiten sind übersichtlich (ein verheirateter Oberstaatsanwalt verdient etwa 5200 Euro brutto im Monat).

Ohnehin wird die Arbeitskraft der meisten Staatsanwälte "verschlissen von Ladendiebstählen, Beförderungserschleichungen und Verkehrsdelikten", wie Vertreter der Neuen Richtervereinigung und der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen 2003 bei einem Treffen in Sachsen feststellen. "Wir kommen nicht zu unserer eigentlichen Arbeit, weil wir uns im Massengeschäft erschöpfen", erklärte der Dresdner Staatsanwalt Christian Avenarius. Die "hier möglichen hohen Erledigungszahlen und Aufklärungsquoten" ließen "sich öffentlich als erfolgreiche Verbrechensbekämpfung verkaufen". Eine wirksame Strafverfolgung finde darüber hinaus nur bei schweren Gewalttaten statt. Die deutsche Staatsanwaltschaft laufe Gefahr, den Kampf gegen die Wirtschaftskriminalität auf Dauer zu verlieren.

Der frühere Augsburger Staatsanwalt Winfried Maier, der in jener berühmten Panzeraffäre ermittelte, die mit dem Namen des Waffenlobbyisten Karlheinz Schreiber verbunden ist, und der dann – resigniert – auf einen Posten beim Augsburger Landgericht wechselte, hat voll bitteren Humors folgende Grundregeln für den Alltag des "idealen Staatsanwalts" empfohlen: "Die Bestechung da oben, interessiert mich nicht; die Weisung des Vorgesetzten, stört mich nicht; die Einflußnahme von oben, irritiert mich nicht; der Ladendiebstaht ist strafbar – nicht?"

In Verfahren, auf die es ankommt, kann das von Maier erwähnte Weisungsrecht der Vorgesetzten durchaus ein Problem für den Strafverfolger sein: Jeder Justizminister oder Staatssekretär darf einen Staatsanwalt zum Rapport einbestellen und bei dieser Gelegenheit seine Sicht der Dinge kundtun. Wer traut sich schon, dann dagegenzuhalten? Edeka-Fall heißt das intern und meint: Ende der Karriere. Manche Vorgesetzte in den Ministerien wollen ein Krokodil, das den Wirtschaftsstraftäter das Fürchten lehrt, aber auch eines, das sich bei lebendigem Leibe die Nutzung seiner Haut in öffentlichem Interesse gefallen läßt. Und schließlich wünschen sie ein Krokodil, das nicht die Freunde der Politiker frißt. Praktischerweise untersagt Paragraph 353b des Strafgesetzbuches Strafverfolgern, Weisungen Dritten mitzuteilen.

In allen Verfahren, in denen die Politik eine Rolle spielt, kann die weisungsgebundene deutsche Staatsanwaltschaft gegängelt werden. Anders als ihre italienischen Kollegen beispielsweise sind deutsche Staatsanwälte oft kaum in der Lage, einen Konflikt mit der Politik durchzustehen. Durch das Grundgesetz ist die Staatsanwaltschaft der Exekutive zugeordnet. In einem Aufsatz plädierte 2003 Erardo Christoforo Rautenberg, Generalstaatsanwalt des Landes Brandenburg, für die Zuordnung zur Judikative – sein Appell ging im Tagesgeschäft unter.

Die Störung, Gefährdung und Bedrohung, die man Kriminalität nennt, ist ein hochsensibler Bereich. "Wie in einem Brennglas", schrieb der Rechtstheoretiker Rolf-Peter Callies, würden die "Schnittstellen zwischen der Freiheit und Sicherheit des einzelnen und der Macht der Mehrheit sichtbar". Durchs Brennglas betrachtet fällt auf, daß in Korruptionsverfahren von den Staatsanwaltschaften fast durchgängig versucht wird, gegen Beschuldigte Haftbefehle beim Gericht zu erwirken.

"Gerade in großen Korruptionskomplexen werden die Ermittlungen der Großstadt- und Schwerpunktstaatsanwaltschaften angesichts der Knappheit der Ressourcen geradezu kampagnenmäßig wie Ernteeinsätze betrieben", meinte der Frankfurter Rechtsanwalt Eberhard Kempf, einer der führenden Strafverteidiger der Republik, Anfang 2007 in der Süddeutschen Zeitung. Nach großangelegten Durchsuchungen, der Sicherstellung Hunderter Umzugskisten voller Akten und der Feststellung aller Bankkonten werde ein Hauptbeschuldigter "fest- und in Untersuchungshaft" genommen und erst nach tagelanger Aussage wieder freigelassen. Andere Beschuldigte, die von ihm belastet worden seien, würden ebenfalls festgenommen und dann auspacken.

Als Haftgrund wird häufig Verdunkelungsgefahr angenommen. Es gibt in Haftbefehlen eine Standardformulierung, der zufolge Korruptionsdelikte in Planung und Ausführung angeblich "grundsätzlich auf Verschleierung ausgelegt" sind. "Der Beschuldigte wird demzufolge nichts unversucht lassen, die weitere Sachverhaltsaufklärung zu verhindern oder zumindest zu erschweren." Zwar hat das Bundesverfassungsgericht immer wieder betont, allein aus der Art des Delikts ergebe sich ein solcher Verdacht nicht, die Annahme von Verdunkelungsgefahr müsse auf "bestimmten Tatsachen" beruhen, doch an der Praxis ändert das wenig.

Beschuldigte "haben das Recht zu schweigen, aber wenn sie Gebrauch davon machen, droht ihnen Haft", meint Kempf. In vielen Fällen handele es sich um eine "unzulässige Beugehaft", kritisiert auch die Frankfurter Verteidigerin Gina Greeve das Vorgehen der Ermittler. Der Haftgrund werde "häufig sehr weit ausgelegt". Aber sie sagt auch: "Ohne die Untersuchungshaft gäbe es sicherlich eine weitaus geringere Aufklärungsquote."

Daß die Strafjustiz und besonders die Wirtschaftsabteilungen der Staatsanwaltschaften am Rande ihrer Belastbarkeit arbeiten, ist bekannt und wird regelmäßig von Politikern beklagt. Die Überlastung hat dazu geführt, daß die Prozeßbeteiligten häufig – auch nach sehr umfangreichen, zähen Ermittlungen – den Ausgang des Strafprozesses schließlich aushandeln. Der Gerichtssaal wird zum Basar.

Der sogenannte Deal, bei dem Wahrheit ist, was Ankläger und Verteidiger dafür erklären, ist das Ergebnis der sogenannten Ökonomisierung der Strafverfahren. Der Tauschhandel funktioniert meist so: glaubhaftes Geständnis gegen vergleichsweise milde Strafe. Zwischen den Beteiligten werden die Obergrenzen für das Urteil vereinbart und der Ablauf des Prozesses besprochen. Das Ergebnis wird protokolliert. Alles Weitere ist dann nur noch Formsache. So geht man mittlerweile in der Mehrzahl der Wirtschaftsprozesse vor.

Auffällig ist auch, daß über den Strafrechtsanspruch des Staates oft die Postleitzahl entscheidet. Vergleichsweise drakonische Strafen müssen Wirtschaftsstraftäter beispielsweise in München fürchten, während sie in Bremen womöglich glimpflich davonkommen. Wie sieht die Lage bei Staatsanwaltschaften, Polizei und Verwaltung in den einzelnen Bundesländern konkret aus? Die folgende Zusammenstellung stützt sich auf Angaben von Transparency International aus dem Jahr 2006.

Baden-Württemberg: Für die Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität sind die Schwerpunktstaatsanwaltschaften in Stuttgart und Mannheim zuständig. Darüber hinaus existiert beim Landeskriminalamt als ständige Einrichtung eine "Koordinierungsgruppe Korruptionsbekämpfung" (KGK). Sie umfaßt etwa zwanzig Mitglieder, darunter Vertreter des LKA, der Oberfinanzdirektionen und des Rechnungshofs.

Bayern: Die größte Anti-Korruptionsabteilung der Republik wurde nach einem großen Korruptionsskandal in den neunziger Jahren bei der Staatsanwaltschaft München 1 eingerichtet. Die Abteilung umfaßt dreizehn Referate. Außerhalb der Landeshauptstadt sind die regionalen Staatsanwaltschaften zuständig. Beim LKA ist eine Gruppe von Ermittlern im Dezernat 62 auf Ermittlungen in Korruptionsfällen spezialisiert.

Berlin: Die Abteilung 23 bei der Staatsanwaltschaft ist schwerpunktmäßig mit Korruptionsbekämpfung befaßt. Die präventiv tätige "Zentralstelle für Korruptionsbekämpfung" ist bei der Generalstaatsanwaltschaft angesiedelt. Beim LKA sind drei Kommissariate für die Ermittlung zuständig.

Brandenburg: Die Staatsanwaltschaft Neuruppin ist die Schwerpunktstaatsanwaltschaft des Landes. Eine ressortübergreifende Ermittlungseinheit ("Gemeinsame Ermittlungsgruppe Korruption"), in der Staatsanwälte, Polizei und andere Fachleute unter einheitlicher Leitung zusammenarbeiten, existiert seit 2004. Zur Einheit gehört auch eine Ermittlungsgruppe des LKA.

Bremen: In Bremen gibt es, ebenso wie in den anderen Stadtstaaten, nur eine Schwerpunktstaatsanwaltschaft.

Hamburg: Hier ist die Abteilung 57 der örtlichen Strafverfolgungsbehörde zuständig. Dem Staatsrat der Innenbehörde ist das Dezernat für Interne Ermittlungen (DIE) unterstellt, in dem auch Mitarbeiter der Steuerverwaltung vertreten sind. Das DIE ist nur für Delikte im Zusammenhang mit Amtsträgern zuständig.

Hessen: Bei der Frankfurter Staatsanwaltschaft befassen sich neuerdings zwei Abteilungen mit der Aufklärung von Korruptionsdelikten. In den anderen hessischen Staatsanwaltschaften werden Korruptionsdelikte in den Abteilungen für Wirtschaftssachen bearbeitet. In der Regel beschäftigt sich ein Staatsanwalt nebenamtlich mit Korruptionsbekämpfung. Seit sieben Jahren gibt es bei der Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft eine "Schnelle Eingreifreserve" zur Unterstützung der Staatsanwaltschaften im Land. Präventivaufgaben werden von der bei der Generalstaatsanwaltschaft eingerichteten "Zentralstelle Korruptionsbekämpfung" wahrgenommen.

Mecklenburg-Vorpommern: Hier gibt es keine Schwerpunkt-Staatsanwaltschaft, keine zentrale Ermittlungsstelle. Die Wirtschaftsabteilungen der Staatsanwaltschaften sind zuständig.

Niedersachsen: Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften wurden in Hannover und Verden eingerichtet. In den übrigen Staatsanwaltschaften sind bestimmte Dezernate zuständig. Sechs Polizeidirektionen im Land haben jeweils eine "Zentrale Kriminalinspektion", die für strukturelle Korruptionsbekämpfung verantwortlich ist. Bei der Generalstaatsanwaltschaft in Celle besteht eine "Zentrale Stelle für organisierte Kriminalität und Korruption".

Nordrhein-Westfalen: Im größten Bundesland sind insgesamt vier Schwerpunktstaatsanwaltschaften (Bielefeld, Bochum, Köln, Wuppertal) für die Bekämpfung der Korruption zuständig. Beim LKA gibt es ein Fachdezernat "Korruptions- und Umweltkriminalität". Weitere Wirtschaftskriminalisten arbeiten bei den sechzehn Kriminalhauptstellen. Außerdem hat sich beim LKA ein "Arbeitskreis Korruptions- und Umweltkriminalität" konstituiert, in dem mehrere Ministerien und etliche Behörden vertreten sind.

Rheinland-Pfalz und Saarland: In beiden Ländern gibt es keine Schwerpunktstaatsanwaltschaften. Die jeweiligen Landeskriminalämter haben Sachgebiete für Korruptionsbekämpfung eingerichtet.

Sachsen: In Dresden wurde 2004 eine "Integrierte Ermittlungseinheit Sachsens" (INES) ins Leben gerufen, die sachsenweit zuständig ist und Fachpersonal für Wirtschaft, Vergabe, Bau und Steuern einschließt.

Sachsen-Anhalt: Über Schwerpunktstaatsanwaltschaften verfügen Halle und Magdeburg, bei den Polizeidirektionen und beim LKA sind Fachkommissariate eingerichtet.

Schleswig-Holstein: Schwerpunktstaatsanwaltschaften für Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität gibt es in Kiel und Lübeck. Für Korruptionsfälle ist ausschließlich Kiel zuständig. LKA und Staatsanwaltschaft Kiel stehen an der Spitze einer "Ständigen Ermittlungsgruppe Korruption", in der auch Finanzbeamte, Rechnungsprüfer, Ingenieure und Buchhalter arbeiten.

Thüringen: Bei der Staatsanwaltschaft Erfurt existiert eine landesweit zuständige Schwerpunktabteilung für Korruptionsdelikte.

Kundenservice: Kartelle unter Druck

Das Federal Prison Camp ist ein ungastlicher Ort im amerikanischen Bundesstaat West Virginia. Drogenhändler und sonstige Kriminelle sitzen dort ein, keine ganz schweren Jungs, aber immerhin. Im Sommer 1999 landete der Manager Kuno Sommer, kurz zuvor noch Vorstandsmitglied des schweizerischen Pharmakonzerns Hoffmann-La Roche, in diesem Gefängnis. Er war der erste Europäer, der wegen eines Wettbewerbsdelikts in den USA hinter Gitter mußte. Obwohl sich Sommer, der jahrelang in den USA für Roche gearbeitet hatte, bereits seit einem guten Jahr wieder in Basel aufhielt, verlangte die amerikanische Justiz seine Auslieferung, damit er wegen Teilnahme an einem Kartell seine viermonatige Haftstrafe abbüßte. In der Schweiz hätte er, wenn überhaupt, nur ein kleines Bußgeld zahlen müssen.

Das US-Justizministerium statuierte an dem damals 44 Jahre alten Manager ein Exempel, das in den europäischen Vorstandsetagen Irritationen auslöste. In Europa galten Absprachen damals als Kavaliersdelikte. Sommer, der bei Roche einst als Marketing-Direktor fürs Vitamingeschäft verantwortlich war, wurde nicht nur zu der Haftstrafe verurteilt, sondern mußte außerdem 100.000 Dollar Strafe zahlen und verlor, ebenso wie der Leiter der Abteilung Vitamine und Feinchemikalien, bei Roche seinen Job – ebenfalls auf Verlangen des amerikanischen Justizministeriums.

Die Schweizer hatten ein Preiskartell angeführt, dem neben Roche die Konzerne BASF, Rhone-Poulenc und Savoy angehörten. Jahrelang hatten die vier den lukrativen Milliardenmarkt für künstlich erzeugte Vitamine unter sich aufgeteilt, das Preisgefüge und die Länderquoten festgelegt. Gemeinsam hatten die Pharma-Manager die Preise für Vitamine wie A, B2, B5, C, E sowie für Beta-Carotin in die Höhe getrieben. Die regionalen Verkaufsleiter hatten nur noch kontrollieren müssen, ob Quoten und Preise eingehalten wurden.

Mit dem üblichen Pathos erklärte der damalige Chef der Antitrustbehörde im US-Justizministerium Jod Klein, es habe sich um "die schädlichste Verschwörung gegen den Wettbewerb gehandelt, die je entdeckt wurde". Das "kriminelle Verhalten" der Vitamin-Gang habe, so Ankläger Klein, buchstäblich "jeden Amerikaner belastet, der eine Vitamintablette geschluckt, ein Glas Milch getrunken oder eine Schüssel Cornflakes gegessen hat".

Die Manager hatten sich relativ sicher gefühlt, obwohl Roche bereits zwei Jahre zuvor vierzehn Millionen Dollar Strafe wegen Preisabsprachen auf dem amerikanischen Zitronensäure-Markt hatte zahlen müssen. In Seminaren für Führungskräfte wurden damals bei Roche Verhaltensregeln für den Fall diskutiert, daß Kartellwächter neugierige Fragen stellten. Dabei kreisten allerdings alle Überlegungen um die Spezialisten aus Brüssel; die US-Fahnder kamen in den Planspielen nicht vor.

Da es das Vitaminkartell auch in Europa gab, bekam der Konzern später mit den europäischen Wettbewerbshütern ebenfalls Ärger. Die Gesamtstrafen, einschließlich der Zahlungen an Kläger, beliefen sich für Roche auf über anderthalb Milliarden Euro. Der Konzern trennte sich von der Vitaminsparte.

In Deutschland löste der Fall Erstaunen aus. "Amerika bläst zur Attacke. Auf dem Weg zur endgültigen ökonomischen Hegemonie arbeiten Unternehmen und Justiz einträchtig zusammen", kritisierte das Manager Magazin im Juli 1999 die Entscheidung der amerikanischen Behörden: "Ihre wirksamste Waffe ist das in seinen Grundzügen archaische, für Europäer kaum nachvollziehbare amerikanische Rechtssystem."

In den USA gilt die Bildung eines Kartells als Verbrechen. Immer wieder werden deshalb Führungskräfte ins Gefängnis geschickt. 2005 beispielsweise mußten vier Manager des deutschen Halbleiter-Herstellers Infineon wegen illegaler Preisabsprachen mit den Konkurrenzunternehmen Micron, Samsung und Hynix Haftstrafen zwischen vier und sechs Monaten in den USA absitzen und Geldstrafen in Höhe von 250.000 Dollar (188.000 Euro) zahlen. Die Unternehmen hatten die Preise für Speicherchips verabredet.
Die vier Infineon-Manager (drei Deutsche und ein Amerikaner) waren in ganz unterschiedlichem Maße an den Absprachen beteiligt. Zwei von ihnen waren ernsthaft verstrickt, die beiden anderen hatten mit den Mauscheleien kaum etwas zu tun gehabt, waren von den amerikanischen Ermittlern in einem etwas unübersichtlichen Auswahlverfahren jedoch herausgegriffen worden. Auf insgesamt 22 Infineon-Mitarbeiter waren die Fahnder in beschlagnahmten Unterlagen und E-Mails gestoßen.
Die US-amerikanischen Kartellermittler werden vom FBI unterstützt, und sie dürfen sogar Lauschangriffe einsetzen. Wenn sie von Verabredungen erfahren, verwanzen sie mitunter Büros und Hotelsuiten – und am Ende der konspirativen Treffen klicken dann manchmal die Handschellen.

In Europa gelten – bei der Bewertung wie bei der Bekämpfung von Kartellen – andere Regeln. "Strafrechfliche Instrumente müssen in das System passen", hat der langjährige deutsche Kartellamtschef Ulf Böge kurz vor dem Wechsel in den Ruhestand im Frühjahr 2007 in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erklärt. Böge sprach sich dagegen aus, Kartellverfahren sofort an die Staatsanwaltschaft abzugeben: "Dort würden Kartelle mit Sicherheit weniger Aufmerksamkeit finden als Mörder und Räuber, obwohl der verursachte Schaden oft schwerer wiegt als ein Raub." Ab und zu leiten Staatsanwaltschaften wegen des Verdachts wettbewerbsbeschränkender Verabredungen Ermittlungsverfahren ein. Marktabsprachen werden in Deutschland mit Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren bedroht.

Oft werden allerdings Staatsanwaltschaften vom Kartellamt jedoch erst sehr spät oder gar nicht eingeschaltet. Es hat, jedenfalls in der Vergangenheit, Rivalitäten gegeben, wer die sogenannte Sachleitungsbefugnis des Verfahrens bekommt. Bereits unmittelbar nach Einführung des Paragraphen 298 des Strafgesetzbuches (Wettbewerbsbeschränkende Absprachen bei Aussprachen) im Jahr 1997 diskutierten Leiter der Schwerpunktstaatsanwaltschaften für Wirtschaftskriminalität auf einer Tagung, an der auch Vertreter des Bundeskartellamts teilnahmen, lebhaft darüber, wem in solchen Verfahren die Federführung zusteht. Der Gesetzgeber ordnet die Ordnungswidrigkeit der Straftat unter.

Es gibt eine Tradition in Europa, Verstöße gegen das Kartellrecht nicht als kriminelle Handlung einzustufen, sondern als zivilrechtlichen Schaden. Lediglich die EU-Mitglieder Großbritannien und Irland haben die Möglichkeit von Haftstrafen bei Kartellvergehen eingeführt.

Doch trotz aller Eifersüchteleien – allmählich nähern die Instrumente sich an. In den USA gab es bei Kartellverstößen früh eine Kronzeugenregelung, mit der auffällig gewordenen Unternehmen Straffreiheit zugesichert wurde. Roche und BASF beispielsweise gerieten in Schwierigkeiten, weil ihr Partner Rhone-Poulenc mit dem Hoechst-Konzern im Bereich Life Science fusionieren wollte. Der Zusammenschluß mußte auch von den amerikanischen Kartellbehörden genehmigt werden, und die hegten eben den Verdacht, daß es eine inoffizielle "Vitamins Incorporated" gebe. Rhone-Poulenc lieferte die Belege für das Vitaminkartell, kam mit einer sehr milden Strafe davon, und die Fusion wurde gebilligt.

Seit 2002 gilt in Europa ebenfalls eine Kronzeugenregelung, und die Sanktionen wurden verschärft, wenngleich es für Außenstehende nicht einfach ist, die diesbezügliche Arithmetik zu verstehen. Nach den Regeln der Brüsseler Wettbewerbshüter kann ein Unternehmen mit bis zu 30 Prozent des Wertes belastet werden, den seine "jährlichen Verkäufe" in jenem Marktsegment erbrachten, in dem der Wettbewerbsverstoß stattgefunden hat. Dieser Betrag wird dann mit der Zahl der Jahre multipliziert, in denen die Firma am Verstoß beteiligt war.

In manchen Jahren werden mittlerweile Kartellstrafen bis zu insgesamt knapp zwei Milliarden Euro fällig. Die Liste der höchsten von der EU-Kommission verhängten Einzelstrafen führt noch immer Hoffmann-La Roche mit 462 Millionen Euro Strafe an, gefolgt von Siemens in der Sparte Schaltsysteme mit 418.612.500 Euro Strafe. Im Mittelfeld liegen Konzerne wie BASF mit 236.845.000 oder Shell (Synthetikkautschuk) mit 16.875.000 Euro Strafe. Kartellabsprachen verjähren erst nach fünf Jahren. Gegen Kartellmitglieder können in verschiedenen Ländern wegen desselben Sachverhalts Bußgelder erhoben werden, wenn das Kartell auch dort die Preise abgesprochen oder den Markt aufgeteilt hat. Die Höhe der Strafen variiert von Land zu Land. Deshalb ist ein Unternehmen, das ein Kronzeugenprivileg bekommen möchte, gut beraten, sich auch gleich bei den Behörden in den anderen Ländern zu melden. Der langjährige Präsident des wichtigsten europäischen Wettbewerbsgerichts, Bo Vesterdorf, hält es für denkbar, die Unternehmen andernfalls nach dem Vorbild der USA zur Zahlung der doppelten oder dreifachen Schadenssumme zu verurteilen.

Auch das Bonner Bundeskartellamt geht bei der Verhängung von Bußgeldern nicht mehr so zimperlich vor wie früher. 1993 lag die Summe noch bei umgerechnet 7,1 Millionen Euro – die Unternehmen zahlten die Strafgelder, wenn überhaupt, aus der Portokasse. Im Jahr 2004 hatte sich der Bußgeldbetrag auf 717 Millionen Euro verhundertfacht. Auffällig sei, sagt Böge, daß auf Märkten wie denen für Beton und Zement oder im Pharmabereich dennoch immer wieder neue Kartelle entdeckt würden.
Seit kurzem haben Kartellmitglieder nicht mehr nur mit Bußgeldern zu rechnen; die Geschädigten können auch zivilrechtlich gegen die Wettbewerbsverhinderer vorgehen. Böge regte stets an, Vorstände zu entlassen, die in Kartelle verstrickt waren. Ein solcher Passus solle bereits in die Verträge aufgenommen werden, schlug er vor, traf in diesem Punkt aber auf wenig Unterstützung.

Bei Böges Amtsübernahme im Jahr 2000 stritten sich die Deutschen noch mit der Europäischen Union über die Regeln für die Kartellaufsicht. Mittlerweile hat sich die globale Zusammenarbeit der Kartellbehörden verbessert. Unter dem Dach des International Competition Network befinden sich mittlerweile 99 Kartellämter. Im Februar 2007 verhängte die EU gegen ein einziges Kartell die Rekordbuße von 992 Millionen Euro.

Daß das Funktionieren des Kapitalismus von den Lohnnebenkosten, den Rahmenbedingungen, den außenwirtschaftlichen Einflüssen, den Rohstoffpreisen, den Eckdaten, den langfristigen Aussichten für die Energieversorgung, der Steuerpolitik, der Finanzpolitik und sonstigen wirtschaftspolitischen Fragen abhänge, ist das Thema vieler Kongresse in diesem Land, die zumeist so unergiebig sind wie der Karneval zu Düsseldorf. Worüber aber kaum einmal auf solchen Tagungen gesprochen wird, das ist die Selbstverständlichkeit, mit der die Propagandisten der Wettbewerbsgesellschaft seit Jahrzehnten bemüht sind, den Wettbewerb mittels Kartellen und Submissionen auszuschalten. Die Marktmacht wird eingesetzt, um sich auf Kosten anderer Marktteilnehmer zu bereichern.

Dieses Verhalten ist nach den Regeln der Wirtschaftsordnung eigentlich ein Skandal, aber in der Rangliste der volkswirtschaftlichen Ärgernisse rangiert die Aussetzung des Wettbewerbs durch illegale Preisabsprachen bei vielen Beobachtern unter "ferner liefen". Stattdessen beschweren sich Unternehmen über angebliche Dauerverfolgung durch Kartellämter. Der Jammer trübt dem Jammernden den Blick.

Ein Ärgernis sind auch die Quasi-Kartelle. Einst galten die "sieben Schwestern" als mächtigstes Kartell der Welt: Nach der Implosion des Rockefeller-Imperiums hatten sieben Ölmultis den Markt für Erdöl und Benzin unter sich aufgeteilt. Heute sind Europas große Energieversorger die "sieben Brüder": Ein Jahrzehnt nach der vorgeblichen Liberalisierung des Marktes haben die Unternehmen zulasten der Verbraucher den Markt nach ihren Bedürfnissen "geordnet". Sie tauschen Kraftwerksbeteiligungen, während die nationalen Regierungen die heimischen Märkte abschotten. Marktwirtschaft und Wettbewerbswirtschaft sind oft nur hohle Worte.

Daß Kartelle verboten sind, ist den Unternehmen bekannt. Gleichwohl gilt der Verstoß trotz der teuren Strafzahlungen immer noch als läßliche Sünde. Das wird unter anderem daran deutlich, daß viele Kartellbrüder die belastenden Unterlagen in ihren Büros bunkern. Die Angst vor dem Betrug durch Partner, die sich nicht an die Vereinbarungen über Preise und Margen halten, ist offenbar immer noch größer als die Furcht vor dem Auftauchen der Kartellwächter. Vermutlich rechnen sich Kartellabsprachen trotz der Strafandrohungen weiterhin.

Durch die Kronzeugenregelung ist allerdings Unsicherheit eingezogen. Manche Unternehmen, die sich an Kartellen beteiligen, verhalten sich wie V-Leute. Sie sind bei den illegalen Kooperationen dabei und schlagen dann Alarm. So hat der deutsche Spezialchemiehersteller Degussa zweimal in den vergangenen Jahren bei großen Kartellen mitgemacht und zweimal die Wettbewerbsbehörde gerade noch rechtzeitig über die Kartelle informiert. Ansonsten hätte der Konzern insgesamt 394 Millionen Euro Strafe zahlen müssen. Oft ist es für die Beteiligten eines Kartells ein Wettlauf gegen die Zeit, um in den Genuß der Kronzeugenprivilegien zu kommen.

Das Bundeskartellamt verzichtet auf eine Geldbuße, wenn der Täter das Kartell anzeigt, bevor ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden ist oder der Täter davon erfährt oder damit rechnen muß. Er muß alle ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen und Beweismittel bereitstellen, uneingeschränkt mit der Behörde zusammenarbeiten und die Teilnahme am Kartell spätestens dann beendet haben, wenn das Kartellamt das erste Schreiben an einen der Beschuldigten auf den Weg gebracht hat. Erfüllt das Unternehmen nach Einleitung eines Ermittlungsverfahrens die sonstigen Voraussetzungen, wird die Geldbuße in der Regel halbiert.

Ob das Kartellrecht tatsächlich zu einer scharfen Waffe wird, hängt jedoch stets davon ab, ob der Schaden für das Unternehmen am Ende größer sein wird als der durch die Wettbewerbsverletzungen erzielte Profit. Im jüngsten Verfahren gegen ein Aufzugskartell könnte dies der Fall sein. Nach jahrelangen Ermittlungen hatte die Brüsseler Kommission im Februar 2007 gegen die Aufzughersteller ThyssenKrupp Elevator AG (TKE) aus Deutschland, Otis aus den USA, Kone aus Finnland und die Schweizer Schindler-Gruppe Strafgelder in Gesamthöhe von 992 Millionen Euro verhängt. Mit 479 Millionen muß ThyssenKrupp die höchste Einzelstrafe zahlen, weil der Konzern schon früher bei verbotenen Preisabsprachen erwischt worden war.

Die Kommission wirft den Unternehmen vor, von 1995 bis 2004 in Deutschland, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg Preise festgesetzt, vertrauliche Informationen ausgetauscht und Ausschreibungen manipuliert zu haben. Das Verfahren löste einen erbitterten Streit unter den Herstellern aus. Um zumindest vor den nationalen Kartellbehörden, die wegen der parallelen Zuständigkeiten von Kommission und einzelstaatlichen Wettbewerbsbehörden ebenfalls Strafen gegen das Kartell verhängen können, in den Genuß von Kronzeugenregelungen zu kommen, zeigten sich die Unternehmen gegenseitig an. Unabhängig davon leitete im Frühjahr 2007 die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen bislang acht Mitarbeiter aller Firmen ein, die sich an dem Aufzugskartell beteiligt hatten – darunter auch Manager der Schindler-Gruppe, die zuerst die EU-Kommission informiert hatten.

Die Kronzeugenregelung gilt nur für die Kartellbehörden, spielt aber für die Unternehmen dennoch eine wichtige Rolle. Bei der EU-Kommission waren die Schindler-Leute die Schnellsten, in Österreich war es die TKE. Im August 2006 hatten Manager der Österreichischen Dependance der TKE die Rechtsabteilung des Konzerns in Düsseldorf alarmiert. In Wien drohte durch die dortige Bundeswettbewerbsbehörde Gefahr. Die Rechtsabteilung sichtete rasch Akten, Kalendereinträge und Reisekostenabrechnungen, befragte Niederlassungsleiter und Key-Account-Manager. Bereits am 28. August 2006 reichte sie für die österreichischen ThyssenKrupp Aufzüge GmbH sowie die ThyssenKrupp Aufzugwerke Austria GmbH einen Antrag auf Amnestie bei der Wiener Behörde ein.

Das österreichische Amnestie-Programm "Leniency" – der Begriff kann mit "Nachsicht", "Milde" übersetzt werden – existiert noch nicht lange, und die Wiener Behörde schien erfreut zu sein, daß eine Firma den Kronzeugen gab. Bereits im Januar 2007 teilte sie mit, sie nehme von einer Geldbuße gegen die Aufzugsparte von ThyssenKrupp Abstand. Gegen die anderen Hersteller hingegen beantragte sie hohe Strafgelder.

Nach der Entscheidung der Behörde brachte die österreichische Immofinanz, die größte Immobiliengruppe der Alpenrepublik, eine Klage beim Wiener Kartellgericht auf den Weg. Denn durch eine Änderung im Kartellrecht können seit Juli 2005 geschädigte Kunden von den am Kartell beteiligten Unternehmen Schadenersatz verlangen. Die Kosten für die Fahrstuhlwartung beispielsweise sind vom Aufzugskartell stark beeinflußt worden. Kleinere, günstigere Anbieter kamen nicht zum Zuge. Insgesamt dürfte ein Milliardenschaden entstanden sein. Sogar die Europäische Union zählt zu den Opfern des internationalen Kartells, das bei Verträgen für Aufzüge und Rolltreppen in EU-Gebäuden in puncto Absprachen keine Ausnahmen machte. Warum gibt es keinen Aufschrei der Kunden? Massenhafte Klagen in Fällen von Fehlverhalten würden Abschreckung versprechen. Auch sind unter dem Aspekt des Täter-Opfer-Ausgleichs die Kartell-Firmen der richtige Adressat für Klagen, die Unternehmen teuer zu stehen kommen könnten – ob teuer genug, müßte sich noch erweisen.

Der unentdeckte Charme des Vergaberechts

Im Juni 2006 meldete sich ein Journalist bei der Pressestelle des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu Berlin. Welche Konsequenzen das von Wolfgang Tiefensee geleitete Ministerium aus einem Betrugsskandal beim Bau der A 72 ziehe, wollte der Anrufer wissen. Viel Material lag den Ministerialen nicht vor. Bekannt war lediglich, daß es bei der Erneuerung und der Grunderneuerung der Autobahn zwischen der Anschlussstelle Chemnitz-Süd und der Abfahrt Stollberg-West zu Unregelmäßigkeiten gekommen war. Ein offenkundig gewieftes Firmenkartell hatte Sozialkassen und Lieferanten hereingelegt – nichts Gewaltiges, so schien es. Das Ministerium gab sich gegenüber dem Fragesteller bedeckt.

Dennoch bat die Stabsstelle Innenprüfüng (IP) des Ministeriums die Chemnitzer Staatsanwaltschaft um nähere Auskunft und stattete gleichzeitig die sächsischen Strafverfolger mit Informationen über die 13,2 Kilometer lange Strecke aus, die in die Jahre gekommen war und beispielsweise keine Standstreifen hatte. Die Details hatte die Fachabteilung Straßenbau geliefert. "Ein weiteres aktives Eingreifen verbot sich aus ermittlungstaktischen Gründen", heißt es in einem internen Papier des Ministeriums.
Die Ministerialen wollten zwar den Strafverfolgern nicht in die Quere kommen, sondierten aber, ob die verwickelten Firmen bei künftigen staatlichen Aufträgen ausgesperrt werden müßten. Das Vergaberecht, ein zu wenig beachtetes Rechtsgebiet im Grenzbereich von Zivil- und Verwaltungsrecht, macht Vergabesperren auf Zeit möglich.
Die Öffentlichkeit interessiert sich mehr für das Strafrecht, und daß es sich um einen strafrechtlich bedeutsamen Kriminalfall handelt, war schon früh klar: Die Ermittlungen ausgelöst hatte ein Doppelmord in der Dominikanischen Republik. Ein Sachse und seine Lebensgefährtin waren im Streit über 135.000 Euro aus den Autobahngaunereien von Kumpeln aus der Heimat ermordet worden.

Die Recherchen führten dann kreuz und quer durch den Freistaat Sachsen und auch ins Rheinland zur Strabag AG, der deutschen Tochter der Wiener Strabag Societas Europaea (SE). Die österreichische Holding hat 53.000 Beschäftigte und setzt im Jahr mehr als zehn Milliarden Euro um. Die in Köln ansässige deutsche Tochter macht 40 Prozent des Umsatzes.

Ein Wirtschaftskrimi also mit insgesamt drei Toten (ein unter Verdacht geratener Beamter nahm sich das Leben) und etwa 65 Beschuldigten, die in verschiedenen Konstellationen und an unterschiedlichen Stellen in die Sache verwickelt sind: Ingenieure, Vermesser und Bautechniker, Bauaufseher und auch Behördenmitarbeiter. Die Schadenssumme beträgt mindestens 27 Millionen Euro – zum Nachteil der Volkswirtschaft durch nicht gezahlte Löhne und Rechnungen. Der Schaden für den Auftraggeber ist schwer zu ermessen, da das Angebot unter den zu erwartenden Kosten lag und der branchenübliche Gewinn durch Betrügereien eingefahren werden sollte.

Das System, mit dem der Staat bei der Ausbesserung und Erneuerung eines Betonbandes um diesen Millionenbetrag betrogen wurde, war sehr raffiniert und auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Projektleiter war der Strabag-Mitarbeiter Günter Ibler, ein etwas fülliger Spezialist, Jahrgang 1970. Als Chef der Baustelle auf der A 72 zog er für Tätigkeiten wie Erdbewegungen oder Pflasterarbeiten Subunternehmen hinzu, die wiederum merkwürdige Sub-Subunternehmen ins Geschäft brachten.

"Diesen Unternehmen ist nur eine kurze Lebenszeit zugedacht", heißt es in einem der vielen Durchsuchungsbeschlüsse. "Dies ergibt sich daraus, daß sie – aus verschiedenen Gründen – entweder gar nicht am Markt tätig werden, sondern nur als Rechnungsaussteller auftreten, oder über praktisch kein Anlagevermögen verfügen." Diese Firmen, die GBV, TSB oder KBC hießen, mußten an die Strabag oder an ein Subunternehmen für die Benutzung von Maschinen exorbitante Summen zahlen, und etwa dreißig Unternehmen gingen in Konkurs. Die Insolvenzstelle des Arbeitsamts zahlte die ausstehenden Löhne.

Arbeitsvorgänge spielten sich nach geheimnisvollen, rituellen Regeln ab. Verseuchtes Erdreich etwa, das von einer Deponie stammte, wurde immer wieder hin und her bewegt, und die Kosten stiegen und stiegen. Baurechnungen wurden künstlich gestreckt. Das Autobahnteilstück sollte ursprünglich 25 Millionen Euro kosten, am Ende waren es durch rund vierhundert Nachforderungen 40 Millionen Euro geworden. Prüfer und Beamte waren offenkundig mit Gaben milde gestimmt worden.

Im Frühjahr 2007 wurde der Strabag-Mann Ibler zu drei Jahren und zwei Monaten Haft verurteilt. Eine Serie von Prozessen steht noch aus. Aber in diesem Kapitel soll es nicht um die Charaktermasken in diesem unübersichtlichen Stück gehen, auch nicht – oder nur am Rande – um die zähen Kommissare, die tüchtigen Staatsanwälte und die strafrechtliche Aufarbeitung. In diesem Kapitel geht es vielmehr um das staubtrockene deutsche Vergaberecht und die Frage, welche Auswirkungen solche Gaunereien, theoretisch zumindest, auf Firmen haben können.

Der Strabag-Konzern reagierte, nach außen hin, hart. Dreizehn Mitarbeiter wurden entlassen, der gesamte Bereich Chemnitz mit neunzig Beschäftigten aufgelöst. Ein Regionaldirektor ging in Rente. Das für den Straßenbau zuständige Vorstandsmitglied der Kölner Strabag AG hatte das Unternehmen bereits verlassen. Hans Peter Haselsteiner, Chef der Wiener Strabag-Holding, versicherte, der Ex-Vorstand habe mit den Machenschaften in Sachsen zwar nichts zu tun gehabt, aber seinen Posten zur Verfügung gestellt, "um Schaden vom Unternehmen abzuwenden". Ein typischer Versuch einer Selbstreinigung, bei der normalerweise die Beteiligten entlassen werden, man die Sparte umorganisiert und eine Strafe zahlt.

Und der durch das Vergaberecht drohende Schaden könnte verheerendere Auswirkungen haben als jede von einem Gericht verhängte Strafe. Denn der Staat vergibt – von der kleinsten Gemeinde bis zum Bund – 1,2 Millionen Bauaufträge im Jahr, und für viele Unternehmen ist es lebensnotwendig, sich zumindest bewerben zu können. Firmen, die sich auf illegale Weise bei solchen Aufträgen Vorteile verschafft haben, können gesperrt werden.

Ein 1999 in Kraft getretenes Vergaberechtsänderungsgesetz wurde erst eingeführt, als das europäische Vergaberecht keine andere Wahl mehr ließ und Angleichungen erforderlich machte. Die europäischen Richtlinien enthalten Schwellenwerte. Bei Bauaufträgen beispielsweise liegt dieser Wert bei mindestens 5,278 Millionen Euro. Bei Aufträgen oberhalb dieser Schwellenwerte haben Mitbewerber beim Kampf um öffentliche Aufträge ein einklagbares Recht auf Einhaltung der Vergabebestimmungen. Das deutsche Vergaberecht gilt zwar auch unterhalb dieser Schwellenwerte, enthält dann aber beispielsweise kein Klagerecht für Mitbewerber.

Nach dem gültigen Vergaberecht könnte die Strabag AG, die in Sachsen im Jahr etwa 120 Millionen Euro Umsatz erzielt, wegen mangelnder Zuverlässigkeit für einige Zeit von der Vergabe solcher Aufträge ausgeschlossen werden. "Aufgrund der Ermittlungen gegen Mitarbeiter der Niederlassung Chemnitz bestanden auch Zweifel hinsichtlich der Zuverlässigkeit der Strabag Bau AG in Gänze", heißt es dazu in einem Vermerk des Bundesverkehrsministeriums aus dem Frühjahr 2007. "Zur Ausräumung dieser Zweifel" habe das Bundesministerium beim Vorstand der Strabag "dezidierte Auskünfte zu den Geschehnissen sowie zu daraus betriebsintern abgeleiteten Maßnahmen eingefordert. Nach derzeitigem Kenntnisstand kann eine strafrechtlich relevante Involvierung der Konzernzentrale nicht belegt werden, so daß die Firma Strabag bei laufenden Vergabeverfahren weiterhin als zuverlässig einzustufen ist."

"Wieso ist die Bundesregierung noch vor Abschluß der Untersuchung dieser Meinung?", fragte der Bundestagsabgeordnete der Bündnisgrünen, Peter Hettlich, im Frühjahr 2007 in einer nichtöffentlichen Sitzung des zuständigen Bundestagsausschusses. Der Grüne, der stellvertretender Ausschußvorsitzender ist, bekam nach eigener Auskunft "keine zufriedenstellende Antwort", aber Unterstützung. "Ich kann nicht glauben, daß ein börsennotiertes Unternehmen nicht weiß, was in einer rechtlich nicht selbständigen Einheit passiert", sagte der FDP-Abgeordnete Horst Friedrich. "Solange das nicht geklärt ist, glaube ich nicht, daß man von vornherein denen einen Passierschein geben darf." Die CDU-Abgeordnete Veronika Bellmann wandte ein, solange die Schuld nicht endgültig bewiesen sei, "muß man da sehr vorsichtig und sensibel" sein. Aber im Vergaberecht gibt es, anders als im Strafrecht, keine Unschuldsvermutung. "Man kann nicht die kriminelle Aktivität einer Niederlassung zum Anlaß nehmen, in der ganzen Republik eine Firma in die Insolvenz zu führen", sagte die zuständige Staatssekretärin Karin Roth. Es war eine muntere Sitzung. Mehrere Redner verlangten, die Zuverlässigkeit der Firma müsse unbedingt geprüft werden.

Die Zuverlässigkeit ist das zentrale Auswahlkriterium aus dem im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen geregelten Vergaberecht. Der zeitweilige Ausschluß von öffentlichen Aufträgen droht bei Straftaten wie Betrug, Subventionsbetrug, Untreue, Urkundenfälschung, wettbewerbsbeschränkenden Absprachen bei Vergabeverfahren, Bestechung oder Verstößen gegen das Gesetz gegen Schwarzarbeit. Allerdings ist es für die Behörden wie die Gerichte schwierig, die Zuverlässigkeit zu definieren. Müssen alle Mitarbeiter aller Niederlassungen zuverlässig sein oder nur der Vorstand des Mutterkonzerns? Das sind knifflige Fragen.

Nach der Theorie ist alles einfach: Geprüft werden muß nur, ob der in einem früheren Vergabeverfahren begangene Verstoß den öffentlichen Auftraggeber zu der Annahme berechtigt, der Bieter sei auch im nachfolgenden Vergabeverfahren unzuverlässig. Dafür ist, so die überwiegende Rechtsmeinung, kein rechtskräftiges Urteil nötig. Eine Anklageschrift oder ein Haftbefehl reicht, wenn gewichtige Indizien aus seriöser Quelle hinzukommen.

Die diversen sogenannten Verdingungsordnungen und auch die EU-Richtlinien zum Vergabewesen legen allerdings nicht genau fest, wie lange ein Unternehmen gesperrt werden darf. Theoretisch sind bis zu drei Jahren möglich. Ein innerhalb der Deutschen Bahn AG gebildeter spezieller Entscheiderkreis "Vergabesperre" beispielsweise, dem der Leiter der Konzernrevision, ein Vertreter der Rechtsabteilung und der Leiter Einkauf angehören, sperrt auffällig gewordene Bewerber, Bieter oder Unternehmer für einen Zeitraum von vier Monaten bis drei Jahren vom Wettbewerb aus.

In Fällen einer besonders schweren Verfehlung kann die Sperre bei der Bahn, die Sonderregelungen hat, auf bis zu sieben Jahre verlängert werden. Für Auftragssperren wurde beim Einkauf der Bahn eine Melde- und Informationsstelle eingerichtet. Vor Aufträgen mit einem Wert über 2500 Euro sind Bieter verpflichtet zu erklären, daß sie nicht von der Teilnahme am Wettbewerb ausgeschlossen sind und eine solche Erklärung auch von Subunternehmen verlangt haben.

Die Bahn führt ein eigenes Register, das sehr übersichtlich ist. Das gilt für die übrige Republik nicht. Bislang haben acht Bundesländer Korruptionsregister errichtet, die zumeist nur für die Landesverwaltung verbindlich sind. Die Einführung eines bundesweiten Korruptionsregisters ist 2002 am Widerstand der unionsgeführten Länder im Bundesrat gescheitert.

Nach einem "Runderlaß der Hessischen Landesregierung über Vergabesperren zur Korruptionsbekämpfung" ist eine Wiederzulassung nur dann möglich, wenn – "der Unternehmer durch geeignete organisatorische und personelle Maßnahmen Vorsorge gegen die Wiederholung der Verfehlungen getroffen hat (die weitere Zusammenarbeit mit den für die früheren Verfehlungen verantwortlichen Personen ist in aller Regel unzumutbar) und – der Schaden ersetzt wurde oder eine verbindliche Anerkennung der Schadenersatzverpflichtung dem Grunde und der Höhe nach, verbunden mit der Vereinbarung eines Zahlungsplans, vorliegt und eine angemessene Sperrfrist von wenigstens sechs Monaten verstrichen ist ..."

Der Kölner Fachanwalt für Verwaltungsrecht, Stefan Hertwig, der ein Buch über die Praxis der öffentlichen Auftragsvergabe geschrieben hat, weist darauf hin, daß ein Bieter, der "tatsächlich nachweislich eine schwere Verfehlung im Sinne der Verdingungsordnungen begangen" hat, "nur durch eine glaubwürdige Umorganisation des Betriebes den Vorwurf der Unzuverlässigkeit entkräften kann". Der Begriff "glaubwürdige Umorganisation" gehört zum Repertoire der Behörden. In der Literatur gibt es den Begriff der "Katharsis" – er meint die Läuterung der Seele von Leidenschaften als Wirkung des antiken Trauerspiels. Psychologen verstehen darunter das Sich-Befreien von seelischen Konflikten und inneren Spannungen durch eine emotionale Abreaktion. Im Vergaberecht gibt es den Begriff der Selbstreinigung.

Das Düsseldorfer Oberlandesgericht bestätigte in einem Beschluß vom 28. Juli 2005 den Ausschluß einer Firma durch eine Vergabestelle, weil die Selbstreinigung unzureichend gewesen sei. Das Unternehmen war wegen wettbewerbsbeschränkender Absprachen auffällig geworden. Der Geschäftsführer mußte sich vor Gericht verantworten. Er verließ das Unternehmen; es gab einen neuen Geschäftsführer, einen neuen Inhaber, aber der alte Geschäftsführer bekam einen Treuhandvertrag, und den hatte die Firma den Behörden verschwiegen.

Der Vertrag wurde gleich nach Bekanntwerden aufgelöst, doch das Gericht befand, die erst so spät erfolgte Offenlegung der Treuhandverhältnisse stelle die Zuverlässigkeit der neuen Geschäftsführung in Frage. Das Unternehmen durfte sich weiterhin nicht an Ausschreibungen öffentlicher Auftraggeber beteiligen.

Das Oberlandesgericht Celle kam in einem Urteil zu dem Ergebnis, die Verfehlungen eines Geschäftsführers, der sich mit Konkurrenten abgesprochen hatte, belasteten auch andere Unternehmen der Firmengruppe. Sie konnten ebenfalls unzuverlässig sein.

Da die im Vergaberecht geforderte Selbstreinigung auf jeden Fall personelle Konsequenzen und organisatorische Maßnahmen einschließt, die erneute Verstöße verhindern sollen, bastelte sich beispielsweise die deutsche Dependance des österreichischen Baukonzerns Alpine eine neue Organisation. Der deutsche Ableger der Firma war beim Bau der Münchner Allianz Arena durch die heimliche Zahlung von 3,2 Millionen Euro an den damaligen Geschäftsführer der Stadiongesellschaft aufgefallen. Der Geschäftsführer wurde zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt, ein Alpine-Manager erhielt zwei Jahre auf Bewährung und mußte 1,8 Millionen Euro Strafe zahlen. Die Stadion GmbH behielt bei der Bezahlung der Alpine-Rechnung das Millionenschmiergeld nebst Zinsen ein.

Schlimmer noch für den Konzern, der in den neunziger Jahren einen Verein mit dem schönen Namen "Ethik Management der Bauwirtschaft" mitgegründet hat, war das Verdikt der Regierung von Oberbayern, wegen der "schweren Verfehlung" beim Stadionbau bestünden grundsätzlich Zweifel an der erforderlichen Zuverlässigkeit. Als Alpine sich mit einem Konsortium bemühte, bei Bauarbeiten an der A 8 den Zuschlag zu bekommen, lehnte die Regierung ab und verlangte die Trennung von allen Mitarbeitern, die in den Skandal verstrickt waren. Auch der gesamte Vorstand müsse weg.

Da auf Autobahnen immer gebaut wird, befürchtete das Unternehmen größere Schäden für die Zukunft. Reinigung tat not. Die deutsche Tochterfirma, die das Münchner Stadion für 286 Millionen Euro errichtet hatte, wurde von einer GmbH in eine AG umgewandelt, die von einem Aufsichtsrat kontrolliert wird. In den Aufsichtsrat wurde der frühere Präsident des Bayerischen Obersten Landesgerichts Peter Gummer berufen, der ein Jahr zuvor in Pension gegangen war. Neue Chefs wurden eingesetzt, eine interne Revision eingerichtet, Ethik-Richtlinien übernommen. Der bisherige deutsche Konzernchef, der in München zu der Bewährungsstrafe verurteilt worden war, verließ das Unternehmen nicht, sondern wechselte in die Holding. Reicht das?

Hierzulande in der Regel ja. Das Instrument der Aussperrung wird von den Behörden oft zaghaft und unsystematisch angewendet. Häufig scheut die Verwaltung juristische Auseinandersetzungen. Die Wuppertaler Staatsanwaltschaft beispielsweise, die in Korruptionsangelegenheiten sehr konsequent ermittelt, protestierte vor Jahren dagegen, daß ein Unternehmen, das bei öffentlichen Aufträgen mit Schmiergeld hantiert hatte, sofort wieder Aufträge bekam – vergeblich. Die kennten sich bei solchen Projekten am besten aus, war die Begründung der Verwaltung.

Bundesweit gibt es keine ausreichende Überwachung und Kontrolle. Die Staatsanwaltschaften resignieren nicht selten. Der Münchner Anwalt Christoph Hauschka, der früher Chefsyndikus in der Bauwirtschaft und der Entsorgungsbranche war, weist darauf hin, "daß die Zahl der Kollegen, die etwas von Vergaberecht verstehen, vielleicht auf zwanzig oder dreißig begrenzt werden kann, und die werden in der Regel von den Unternehmen engagiert. Das macht es den Behörden beispielsweise schwer."

Im Fall Strabag sind Prüfgruppen im Bund und im Land Sachsen eingesetzt worden. Bei der Chemnitzer Strafverfolgungsbehörde sind mittlerweile zwei Dezernenten und ein Wirtschaftssachbearbeiter damit befaßt. Das Ermittlerteam bestand im Sommer 2007 aus zwanzig Beamten des Landeskriminalamts Sachsen, der Finanzkontrolle Schwarzarbeit und der Steuerfahndung. Den Beamten geht es nicht nur um die Aufklärung der üblichen Delikte wie Betrug, Untreue oder Steuerhinterziehung, sondern auch um die Enttarnung einer kriminellen Vereinigung. Mit dem einfachen, aber wirksamen Vergaberecht haben sie nur indirekt zu tun.

"Wir müssen von den Ländern verlangen, daß sie stärker darauf achten, was in diesen Projekten geschieht", beschloß Staatssekretärin Roth in der erwähnten Ausschußsitzung den Tagesordnungspunkt eins (Bericht zum Korruptionsverdacht beim Autobahnbau A 72). Na ja. Vergaberecht ist auch für Experten kein leichter Stoff. "Damit stehen noch einige Positionen an, die wir durch zukünftige Positionsbestimmungen dann sehr klar zur Kenntnis nehmen wollen", meinte der Ausschußvorsitzende, ein Sozialdemokrat, vieldeutig. "Ich bin aber trotzdem froh, daß wir uns endlich dem Tagesordnungspunkt zwei widmen können." Eigentlich sind die meisten in Politik und Verwaltung froh, wenn sie sich nicht mit den Feinheiten des Vergaberechts herumschlagen müssen. Es ist auch manchmal deshalb kompliziert, weil die Praxis, den Günstigsten zu nehmen, zwar Steuergelder spart, aber oft auch Manipulationen fördert. Mancher Manager entwickelt dann ein so verschachteltes und mafiöses System wie das beim Bau der A 72 aufgedeckte. Beliebt ist auch die Methode, durch frisierte Nachträge kräftig zuzulangen. "Es wird Sache der Politik sein, am Ende unsere Ermittlungen auszuwerten und eventuell gesetzgeberische Konsequenzen zu ziehen", sagt der Leiter der Chemnitzer Staatsanwaltschaft, Gerd Schmidt. Sehr hoffnungsfroh klingt das nicht.

Schuld und Sühne: Für ein Unternehmensstrafrecht

"Das perfekte Verbrechen hat heute die Eigenheit, ein Akt der Wirtschaftskriminalität zu sein", schrieb der Gerichtsreporter Gerhard Mauz in den neunziger Jahren im Spiegel über den Co-op-Prozeß in Frankfurt am Main. "Man muß es nur groß genug anlegen. Es muß das überwältigende Kaliber eines Weltuntergangs haben – und schon stellt sich die Frage, ob überhaupt von einem kriminellen Vorgang die Rede sein darf, ob’s nicht der Herr genommen hat, nachdem er’s gegeben hatte."

Das perfekte Verbrechen handele, so Mauz, von Fällen, in denen "sogar die Leiche verschwunden" ist. Was aber, wenn der Täter Teil eines Kollektivs war, für das er zu handeln glaubte? Der Handel über alle Grenzen hinweg ist fast ganz in der Hand von Unternehmen. Und es ist logisch, daß der, der den Profit hat, auch das strafrechtliche Risiko auf sich nehmen muß.

Das Strafrecht soll die Regeln für ein leidliches Zusammenleben festlegen und, wenn nötig, Verhaltensänderungen bewirken. In Deutschland konzentriert sich dieser Versuch auf Individuen; Organisationen bleiben außen vor. Das ist, wie die Entstehungsgeschichte des Siemens-Falles zeigt, im Zeitalter von Europäisierung und Globalisierung längst nicht mehr ausreichend.

In Deutschland gilt für den Bereich des Strafrechts nach wie vor der überlieferte Rechtssatz: "Societas delinquere non potest" – eine Gesellschaft (ein Verband) kann kein Unrecht (keine Straftat) begehen. Die herrschende Lehre lautet, daß Strafe Schuld voraussetzt, und schuldfähig seien nur natürliche und nicht juristische Personen oder Personenvereinigungen.

Otto von Gierke hat zwar 1902 in seiner Abhandlung über Das Wesen der menschlichen Verbände mit viel Verve betont, daß Verbände "keineswegs gespenstische Schatten, sondern lebendige Wesen sind", und unterstrichen, "daß das Recht, indem es die organisierten Gemeinschaften als Personen behandelt, durchaus nicht in einen Widerspruch zur Wirklichkeit tritt, sondern der Wirklichkeit adäquaten Ausdruck verleiht". Das ist in Deutschland jedoch eine Außenseitermeinung geblieben. Im Gegenteil: Hiesigen Rechtsdogmatikern gilt die strafrechtliche Verurteilung eines Unternehmens häufig als abenteuerliche Vorstellung. Lediglich im Gesetz über Ordnungswidrigkeiten gibt es – unter bestimmten Voraussetzungen – die Möglichkeit, gegen juristische Personen oder Personenvereinigungen mit einer Geldbuße vorzugehen (Paragraph 30 OWiG).

Die Höchststrafe bei Vorsatz liegt bei einer Million Euro. Läuterung durch vergleichsweise preiswerte Buße: Das ist Sophokles für Kleine. Überdies gilt der Paragraph nicht für Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten, die von Personen unterhalb der Leitungsebene begangen wurden. Oft aber werden solche operationalen Entscheidungen, die angeblich im Unternehmensinteresse erfolgen, von Mitarbeitern des unteren und mittleren Managements getroffen.

Nach der Vorschrift des Paragraphen 130 des OWiG können sich "natürliche Personen", also der Betriebs- oder Unternehmensinhaber, strafbar machen, wenn sie ihre Aufsichtspflichten verletzen. Die Logik des Gesetzgebers ist nicht leicht nachzuvollziehen: Eine strafrechtliche Sanktionierung von Unternehmen wird mit der Begründung abgelehnt, Strafe setze Schuld voraus, während das Ordnungswidrigkeitenrecht, bei dem es sich genauso verhält (nach Paragraph 10 ist Vorsatz oder Fahrlässigkeit erforderlich), die Sanktionierung von Unternehmen vorsieht.

Bei all der Inkonsequenz sind auch die Kriterien schwammig. Es ist "möglich, sich hinter einem Schutzschild der kollektiven organisierten Unverantwortlichkeit zu verstecken", haben der Passauer Volkswirtschaftler Johann Graf Lambsdorff und einer seiner wissenschaftlichen Mitarbeiter 2005 in einem Aufsatz festgestellt. Ein strafrechtlich bedeutsames Versagen eines Aufsichtsrats für möglich zu halten oder den Kontrolleur durch eine Haftungsklage in Regreß zu nehmen ist so tollkühn – und nach Ansicht des legendären Bankiers Hermann J. Abs auch so schwierig – wie der Versuch, "eine Sau am eingeseiften Schwanz festzuhalten".

In den Ländern des angloamerikanischen Rechtskreises (Großbritannien, Kanada, USA) hat die strafrechtliche Haftung von Unternehmen hingegen eine lange Tradition. Auch eine Vielzahl weiterer Staaten in Europa und Übersee verfügt über ein modernes Unternehmensstrafrecht.

Bereits 1988 hatte das Ministerkomitee des Europarats Empfehlungen "betreffend die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen mit Rechtspersönlichkeit für Delikte, die in Ausübung ihrer Tätigkeit begangen" wurden, angemahnt. Das Ergebnis fiel sehr unterschiedlich aus: In Spanien, Frankreich oder den Niederlanden können Unternehmensrechte suspendiert, in Portugal dürfen Unternehmen sogar geschlossen werden, wenn Mitarbeiter gravierende Rechtsbrüche begangen haben. In Deutschland hat "die Buße den Charakter einer Maßregelung" (Lambsdorff), in der Schweiz dagegen den einer Strafe.

In diesem schmalen Kapitel ist ein präziser Rechtsvergleich nicht möglich, aber die an anderer Stelle bereits angesprochene Amerikanisierung der Sanktionen gegen börsennotierte Unternehmen läßt ahnen, daß es sinnvoll sein kann, sich nicht nur auf die deutsche Dogmatik bei der Straftatlehre zu berufen. Die Realität läßt sich von der Rechtsdogmatik nicht stoppen.

Im Siemens-Skandal, der größten und folgenreichsten Korruptionsaffäre der Republik, haben die Beschuldigten, soweit bislang bekannt ist, kein Geld in die eigenen Taschen umgelenkt; sie haben keine Luftgeschäfte getätigt und keine Bilanz gefälscht, sondern zum vermeintlichen Wohl des Unternehmens (und womöglich ihrer eigenen Karriere) schwarze Kassen eingerichtet oder Mittelsmänner ausgestattet. Dahinter stand der Versuch, den Geschäftserfolg des Unternehmens mit Hilfe korrupter Praktiken zu fördern.
Die Bundesverfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff, eine der couragiertesten Juristinnen dieses Landes, hat schon früh empfohlen, die "Präventionsmöglichkeiten des Strafrechts gerade auch für das Verhalten der Unternehmen fruchtbar zu machen". In einem Buchbeitrag mit dem Titel Die Durchsetzung moralischer Standards begründet Frau Lübbe-Wolff ihr Votum so:

Die Bedingungen, unter denen der Einzelne handelt, werden ... auch durch die jeweiligen Unternehmen gesetzt. Um deren Wettbewerbsvorteile und -nachteile geht es ... Der Vorwurf, einen Straftatbestand verwirklicht zu haben, obwohl er zumutbar hätte vermieden werden können, kann ebenso sinnvoll einem Unternehmen wie einer natürlichen Person gegenüber erhoben werden. Niemand behauptet ernsthaft, daß Unternehmen prinzipiell nicht in der Lage wären, ihr Verhalten so zu steuern, daß die Verwirklichung von Straftatbeständen vermieden wird.

Wären sie es nicht, dann müßte man sie wie Unzurechnungsfähige behandeln und ihnen die Verfügung über Schädigungsmöglichkeiten, die sie prinzipiell nicht beherrschen, entziehen. Tatsächlich verhält es sich unstreitig anders. Unternehmen können die Wahrscheinlichkeit, daß in ihrem vermeintlichen Interesse Korruptionsdelikte, Umweltdelikte und andere Straftaten begangen werden, durchaus beeinflussen. Sie sind also auch in der Lage, auf strafrechtliche Präventionsanreize zu reagieren. Deshalb kann ihnen durchaus sinnvoll und gerechtfertigt ein Vorwurf gemacht und strafrechtliche Sanktionierung angedroht werden, falls sie das nicht tun und es deshalb zu Straftaten kommt.

Die Sanktionen müssen das betriebswirtschaftliche Kalkül der Firma treffen, sonst sind sie nicht heilsam. In Deutschland ist es immer noch normal, daß Firmen Mitarbeiter, die für das Unternehmen kriminell geworden sind, im Nachhinein klammheimlich oder offen für alle juristischen Unannehmlichkeiten entschädigen. Das ist nicht Fürsorge, sondern Mittäterschaft. Der von Unternehmensvertretern gern vorgebrachte Einwand, bereits jetzt könne nach deutschem Recht der gesamte Umsatz im Wege des Verfalls eingezogen werden – es gebe den erweiterten Verfall, die Mehrerlösabschöpfung und einiges andere mehr – und deshalb sei die Situation faktisch nicht mehr weit vom amerikanischen Unternehmensstrafrecht entfernt, trifft den Punkt nicht.

Seit dem Watergate-Skandal in den siebziger Jahren, bei dem sich herausstellte, daß amerikanische Unternehmen weltweit Bestechungsgelder an Politiker und Funktionäre gezahlt hatten, gehen die amerikanischen Gerichte immer härter gegen Korruption und andere Wettbewerbsverstöße vor. Der vor drei Jahrzehnten beschlossene Foreign Corrupt Practices Act (FCPA) verbietet es Unternehmen, für ihre internationalen Geschäfte Schmiergelder zu bezahlen. Seit 1998 ist der FCPA außerdem auf jene ausländischen Firmen anwendbar, die an einer US-Börse notiert sind oder aus den USA heraus operieren und somit von den US-Märkten profitieren können.

Bei verdächtigen Geschäften sind die amerikanische Börsenaufsicht SEC und das Washingtoner Justizministerium befugt, auch gegen ausländische Konzerne zu ermitteln. Die SEC interessiert sich vor allem dafür, wie sich die verdächtigen Transaktionen auf die Bilanzen auswirkten und ob die Investoren getäuscht wurden. Am Ende sehen sich die Unternehmen oft mit hohen Strafen konfrontiert – und die enden nicht beim Geld, sondern schließen Haftstrafen ein.

Die strafrechtliche Haftung von Unternehmen ist im amerikanischen Rechtssystem etwa seit Anfang des vorigen Jahrhunderts verankert. Im Jahr 1909 entschied der Oberste Gerichtshof, ein Unternehmen könne für Taten, die ein Mitarbeiter mit Handlungsvollmacht begangen habe, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Im anderen Falle sei es der Firma leicht möglich, aus einer Straftat ohne Furcht vor Sanktionen Nutzen zu ziehen.

Für eine strafrechtliche Haftung des Unternehmens müssen in den USA drei Bedingungen erfüllt sein: Der Mitarbeiter (siehe Siemens) muß eine Straftat mit der Absicht begehen, das Unternehmen zu begünstigen; er muß eine Handlungsvollmacht besitzen; er muß im Rahmen seines Dienstverhältnisses gehandelt haben. Natürlich kann ein Unternehmen nicht für jeden Fehler irgendeines Mitarbeiters haftbar gemacht werden, aber bei der Sichtung von Urteilen fällt auf, daß die amerikanischen Gerichte die Kriterien für die Strafbarkeit niedrig ansetzen. Einige Firmen sind sogar für die Taten des Verkaufspersonals strafrechtlich zur Verantwortung gezogen worden. Selbst Nachfolgeunternehmen können für die Taten der Vorgänger in Haftung genommen werden. Die Geldstrafen für Unternehmen betragen in einigen Fällen mittlerweile mehrere hundert Millionen Dollar.

Eine Selbstanzeige und volle Kooperation mit den Ermittlungsbehörden wirken meist strafmildernd. Der Richter hat im Falle einer Verurteilung große Spielräume: Er kann das Strafmaß für Unternehmen um ein Vielfaches herauf- oder herabsetzen. Die Formel für die Strafzumessungsvorschriften ist höchst kompliziert. Das Verhältnis für die geringste und die höchste Strafe liegt bei demselben Vergehen bei eins zu achtzig. Das Strafmaß ergibt sich aus der Schwere der Tat ("offence level"), den aus der Straftat erzielten Gewinnen, dem verursachten Schaden sowie dem Bemühen des Unternehmens, den Schaden wiedergutzumachen. Die strafrechtliche Vergangenheit des Unternehmens spielt beim Strafmaß ebenso eine Rolle wie die mögliche Mitwirkung von Mitgliedern der Unternehmensleitung.

Das Strafmaß kann herabgesetzt werden, falls das Unternehmen schon vor der Tat ein "wirksames Programm zur Verhinderung und Aufdeckung von Gesetzesverstößen" entwickelt und durchgeführt hat. Bei einem solchen Programm muß ein Unternehmen unter Anwendung der nötigen Sorgfalt ("due diligence") versucht haben, kriminelles Verhalten seiner Mitarbeiter zu entdecken und zu unterbinden. Erforderlich sind dafür mindestens sieben Maßnahmen:

  • Erlaß von Compliance-Richtlinien und -Maßnahmen sowie von Verfahren zur Verhinderung von Straftaten;
  • für die Beachtung der Compliance-Richtlinien sind Aufsichtsverantwortlichkeiten zu erteilen;
  • Personen, die zu ungesetzlichem Verhalten neigen, dürfen keine nennenswerten Befugnisse übertragen bekommen;
  • die Compliance-Richtlinien und -Verfahren müssen den Mitarbeitern effektiv vermittelt werden;
  • zur Beachtung der Compliance-Richtlinien und -Verfahren sind zum Beispiel Überwachungs- und Prüfsysteme zu entwickeln, die kriminelles Verhalten von Mitarbeitern verhindern und aufdecken helfen;
  • Mitarbeiter müssen auf speziellen Kommunikationswegen ohne Furcht vor Nachteilen über kriminelles Verhalten anderer Personen und/oder Unregelmäßigkeiten im Unternehmen berichten können;
  • Compliance-Richtlinien sind konsequent durchzusetzen, Verstöße mit disziplinarischen Sanktionen zu ahnden;
  • die Sanktionen für entdeckte Straftaten müssen geeignet sein, Wiederholungstaten zu unterbinden. Erforderlichenfalls sind die bisherigen Compliance-Richtlinien und -Verfahren zu ändern.

Wenn Vorschriften für die, die sie gemacht haben, nicht gegolten haben, fallen die Strafen auffallend hoch aus. Ein Programm, das nur auf dem Papier stand und nicht ernsthaft durchgesetzt wurde, kann nach dieser Logik nicht strafmindernd sein.

1991 wurden außerdem die Strafzumessungsrichtlinien ("Federal Sentencing Guidelines") reformiert, um die präventiven Anreize des Unternehmensstrafrechts zu erhöhen. Das System funktioniert nach einer einfachen Logik: Die Möglichkeit, die angedrohten sehr hohen Strafen zu mindern, soll für das Unternehmen ein Anreiz sein, die Unternehmenskultur künftig aktiv auf die Vermeidung von Straftaten auszurichten. Ethikkodizes dürfen keine PR-Aktion sein. Ethikschulungen, Kontrollsysteme und der Ausbau der Innenrevision sind keine Kostenfaktoren, sondern rechnen sich – der Abbau der Kontrollsysteme oder der Innenrevision rechnet sich nicht, sondern wird zum unkalkulierbaren Kostenfaktor.

Der bloße Appell an die Moral ist zu allen Zeiten in allen Ländern wirkungslos geblieben. Es muß für die Unternehmen im Eigeninteresse liegen, sich nicht um die Verschleierung von Korruption zu bemühen, sondern in ihre Bekämpfung zu investieren. Ein Unternehmensstrafrecht ist dafür eine unabdingbare Voraussetzung.

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