Auszüge aus Jürgen Nordmann's
"Der lange Marsch zum Neoliberalismus"

Vom Roten Wien zum freien Markt – Popper und Hayek im Diskurs

Wie konnte die lange Zeit randständige Gruppe neoliberaler Ökonomen um Hayek Mitte der 1970er Jahre als Gewinner aus der Krise des Keynesianismus (und des Sozialismus) hervorgehen? Nordmann entwickelt gegenüber verschwörungstheoretischen Erklärungen einen sehr viel differenzierteren Ansatz. Er untersucht liberale Denkbewegungen bis zum Vorabend der Wende Ende der 1960er Jahre und beschreibt die Formierung neuer, um politischen Einfluß ringender Intellektuellenlager. Im Zentrum stehen die Beziehung zwischen Hayek und Popper, die gemeinsame Herkunft aus dem "Roten Wien" der 1920er Jahre, die Formierung im Exil und die Kontroverse zwischen "Frankfurter Schule" und "Kritischem Rationalismus". Diese Philosophie war schon im keynesianischen Zeitalter erfolgreich und mithin ein Türöffner des radikalen Neoliberalismus. Der Ertrag von Nordmanns Studie besteht im Nachweis einer Verengung und Vereinseitigung innerliberaler Diskurse. Insbesondere in der Frage des Staatsinterventionismus gelang es, den Keynesianismus weitestgehend von der liberalen Landkarte zu verbannen und als "sozialistisch" zu stigmatisieren. Die Radikalisierung des Liberalismus zum Neoliberalismus schoß damit jegliche Dritte Wege des bürgerlichen Lagers aus.

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Einleitung

"Tschüß Neoliberalismus!" 25 Jahre nach Margaret Thatchers Regierungsbildung in Großbritannien bröckelt die Front. Der totgesagte Keynesianismus steht vor der Rückkehr. Eine neue Ökonomengeneration verdrängt die Neoklassik aus der Politikberatung und den angestammten Positionen in den einschlägigen Wissensinstituten. Dieses Szenario entwarfen die Wirtschaftsjournalisten Hannes Koch und Michaela Krause. Ob sich der Trend tatsächlich an der Wirtschaftspolitik der westlichen Demokratien schon belegen läßt, ist zwar fraglich, solange selbst sozialdemokratische Regierungen in klassich neoliberaler Manier den Wohlfahrts- und Sozialstaat bekämpfen. Aber an einer großen Wende in der aktuellen Wirtschaftspolitik machen Koch und Krause das bevorstehende Ende des Neoliberalismus ohnehin nicht fest. Sie befinden, daß Neo-Keynesianismus nicht bedeute, daß man zu der dirigistischen Makroökonomie der Nachkriegszeit zurückkehre, sondern daß die neoklassischen Theorien mit keynesianischem Interventionismus verbunden würden. Der Neoliberalismus ist also nicht am Ende, weil ein externer Gegenspieler aufgetaucht ist. Vielmehr beginnen sich innerhalb des liberalen Lagers die Gewichte zu verschieben. Die reinen neoliberalen Lehren der marktradikalen Ökonomen Friedrich August von Hayek und Milton Friedman werden laut dieser Prognose wieder aus dem Zentrum der herrschenden wirtschaftspolitischen Paradigmen verschwinden. Sie sind auf dem Weg dahin, woher sie kamen: zum Rand des liberalen Spektrums.

Die große Frage, die die kritische Politikwissenschaft seit zwei Jahrzehnten beschäftigt, ist, wie es ehedem randständigen neoliberalen Fraktionen gelingen konnte, in den 1970er Jahren das keynesianische Zeitalter in den westlichen Demokratien relativ abrupt zu beenden und in der Folgezeit die Paradigmen der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik weltweit zu dominieren. Einigkeit herrscht zumindest über den Ablauf des Prozesses: Die größte Ausdehnungsphase des keynesianischen Wohlfahrtsstaates unter primär sozialdemokratischer Ägide korrelierte 1973 mit der ersten einschneidenden Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit. Die Krise und die wenig überzeugenden Versuche, die Krise zu beheben, mündeten 1979 in Großbritannien in einen spektakulären Paradigmenwechsel der Wirtschaftspolitik. Die Vereinigten Staaten folgten ein Jahr später. Die konservativen Parteien unter Thatcher und Reagan waren in ihrem Kampf gegen den Wohlfahrtsstaat eine programmatische Liaison mit radikalen Formen des Neoliberalismus eingegangen. Dieses Bündnis erwies sich in den gesellschaftlichen Kämpfen Anfang der 1980er Jahre als schlagkräftig. Die Schwarz-Weiß-Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts – Markt oder Plan, Marktwirtschaft oder Wohlfahrtsstaat, Freiheit oder Diktatur und Liberalismus oder Sozialismus – hatten plötzlich im Westen, bezogen auf die Ideologie der herrschenden Eliten, einen eindeutigen Gewinner: den mit entschiedenen, radikalen Antworten arbeitenden Neoliberalismus. Und dem internen Sieg im Westen folgte 1989 der große Sieg des nun zumeist neoliberalen Westens in der Jahrhundertauseinandersetzung des Kalten Krieges. Der Verlierer dieser beiden großen historischen Transformationen war im Westen die korporativistische alte Sozialdemokratie mit ihrer wohlfahrtsstaatlichen Programmatik. Sie geriet unrettbar in die Defensive, wobei ihr von den neoliberalen Gegnern vor allem jedes progressive Element erfolgreich abgesprochen wurde.

Warum der Neoliberalismus im Westen flächendeckend das Rennen machte und die Linke eine Kette von historischen Niederlagen erlitt, ist häufig und ausführlich diskutiert worden. Dennoch liegen wesentliche Teile der Genese des Neoliberalismus im Dunkeln. Der Neoliberalismus scheint immer noch ein schwer faßbares Phänomen zu sein, das sich durch seinen indirekten Zugang zur Macht und seine unübersichtliche globale Struktur der klaren Analyse oft entzieht. Die vorliegende Studie nähert sich der Genese des Neoliberalismus von einer bisher kaum beachteten Seite. Sie nimmt den Befund der beiden oben zitierten Wirtschaftsjournalisten ernst, daß die internen Verschiebungen im liberalen Lager die epochenbestimmenden Formationen erzeugten. Voraussetzung des weltweiten Sieges des Neoliberalismus war insofern die Durchsetzung seiner Paradigmen im eigenen Lager. Die übergeordnete Frage, auf die eine Antwort gefunden werden soll, ist demnach, wie es vor der großen Wende dem Neoliberalismus gelang, innerhalb des liberalen Lagers ins Zentrum zu gelangen. Warum war der Neoliberalismus die einzig auf den Plan tretende liberale Alternative, als der Wohlfahrtsstaat in die Krise geriet? Wie gelang es konservativ-rechtsliberalen Theoretikern, deren Schriften vorzugsweise antimoderne Elemente enthielten, den Neoliberalismus zu einer zumindest in der Außenwirkung modernen, dynamischen Ideologie umzuformen?

Der Blick wird also auf die Entwicklung des liberalen Denkens bis zum Vorabend der Wende in den 1970er Jahren gerichtet. Der Liberalismus im Westen bestand in der Phase vor dem neoliberalen Durchbruch aus vielen heterogenen Gruppen, die in kontroversen Diskussionen um Positionen und Vorrang stritten. Diese Pluralität zeigt sich sogar in der neoliberalen Fraktion selbst. Der Prozeß des sich neu formierenden liberalen Denkens wird in diesem Buch somit naheliegend nicht als stringente, lineare Entwicklung beschrieben, sondern als eine oft unübersichtliche, sich verschiebende Landkarte, die über die Jahrzehnte verschiedenste Strömungen und Auslegungen des Liberalismus verzeichnet. Die auf dieser Karte zu entdeckenden, hier ausgewählten Diskurse zwischen österreichisch-englischem Neoliberalismus und Kritischem Rationalismus sollen mit einer Soziologie der intellektuellen Akteure und den jeweils wirksamen politischen Koordinaten soweit kurzgeschlossen werden, daß – um einen Begriff von Ludwig Wittgenstein zu verwenden – die Denkbewegungen des (neo)liberalen Komplexes sichtbar werden.

Dieser Ansatz soll das Spektrum der kritischen Darstellung der Genese des Neoliberalismus erweitern. Keinesfalls soll eine weitere Geschichte des Neoliberalismus geschrieben werden. Die Studie hat nicht den auf das Totale gehenden Anspruch, den Neoliberalismus in seiner Vielfältigkeit lückenlos abzubilden. Schon allein die Darstellung und Abstufung seiner ökonomischen Modelle würde den hier vorgegebenen Rahmen sprengen. Gleiches gilt zwar auch für den Kritischen Rationalismus. Weil aber der Kritische Rationalismus keine abweichenden, konkurrierenden Ansätze unter seinem Dach vereinigte, sind die in Kauf zu nehmenden Leerstellen nicht ausgeprägt. Beide Theorien oder Denkstile werden primär in Bewegung dargestellt. Der Interaktion der Theorien sowie der theoretischen Auseinandersetzung mit den sich verändernden politischen Konstellationen wird, wann immer es geht, der Vorzug gegenüber der statischen Abbildung idealtypischer Texte eingeräumt. Weil der Kritische Rationalismus aus naheliegenden Gründen mit dem Neoliberalismus zum Großteil über die Hayek-Fraktion interagierte, wird der österreichisch-englischen Ausprägung des Neoliberalismus in der Darstellung Priorität eingeräumt. Das soll natürlich weder den Ordoliberalismus noch den amerikanischen Neoliberalismus abwerten. Aber die Dynamik des Diskurses zwischen Erkenntnistheorie, politischem Liberalismus und Neoliberalismus läßt sich an eingegrenzten Analysegegenständen klarer herausarbeiten. Exemplarisch soll der hier gewählte Ausschnitt den Prozeß der Verschiebung des liberalen Denkens zur Hegemonie des marktradikalen Neoliberalismus verdeutlichen.

Die bisher maßgebliche kritische Darstellung der Geschichte des Neoliberalismus, Richard Cocketts Thinking the Unthinkable, legt den Fokus auf die strategische Entwicklung der Intellektuellengruppe um Hayek, die sich in den 1930er Jahren formierte, in der Nachkriegszeit unter keynesianischer Dominanz mit einer Langzeitstrategie überwinterte und über ein Netz neuartiger Wissensinstitute, den Think Tanks, in den 1970er Jahren in die beratende Nähe der Macht gelangte. Diese Beschreibung ist natürlich nicht falsch. Sie nimmt aber andere liberale Strömungen und Einflüsse nur begrenzt wahr.

Genau dieser Leerstelle der Wechselwirkungen verschiedener liberaler und neoliberaler Strömungen im 20. Jahrhundert widmet sich dieses Buch. Eine Hypothese ist, daß die Vorgeschichte des Neoliberalismus ein diskursiver, oft unwahrscheinlicher Prozeß war, in dem die in den 1930er und 1950er Jahren nicht im liberalen Zentrum stehende Hayek-Fraktion immer mit anderen liberalen und konservativen Strömungen verbunden war. Der marktradikale Neoliberalismus war zumindest innerhalb des liberalen Lagers keinesfalls so marginalisiert, wie es eigene Legenden und auch Cockett suggerieren. In der Zeit keynesianischer Dominanz modernisierte und formierte sich das liberale Denken.

In diesem Prozeß gewann der radikale Neoliberalismus innerhalb des liberalen Lagers sowohl auf der Ebene der organisierten Intellektuellengruppen als auch auf der Ebene der theoretischen Entwicklung an Boden – wobei Modernisierung und Entwicklung weniger das Verrücken von Positionen als das Erschließen von neuen Wissensfeldern bedeutete. Auf der Intellektuellenebene ragte die neoliberale Mont-Pèlerin-Society (1947 gegründet, im folgenden MPS) heraus. Der Hayeksche Neoliberalismus hatte auf dem Feld der organisierten Intellektuellenpolitik eine Vorrangstellung im liberalen Lager. Auf der theoretischen Ebene fällt über die Jahrzehnte der Versuch der Aneignung wissenschaftstheoretischer Positionen auf. Zudem ergänzte der ökonomische Neoliberalismus die reine Marktphilosophie mit politischen Positionen, die dem liberalen Diskurs um die Demokratie und dem modernen politischen Liberalismus entstammten.

Liberale Wissenschaftstheorie und liberale politische Philosophie sind im 20. Jahrhundert in West- und Mitteleuropa herausgehoben mit dem Namen Karl Popper und seiner Theorie des Kritischen Rationalismus zu verbinden. Die wissenschaftstheoretischen und politischen Positionen des Neoliberalismus entwickelten sich auch oft im internen Diskurs mit Popper. Schon deshalb ist es gerechtfertigt, dem Kritischen Rationalismus bei der Betrachtung der Konstellationen des Liberalismus, die den Neoliberalismus beförderten, eine Hauptrolle einzuräumen. Er ist eine hervorzuhebende liberale Schule, weil er in der Zeit der Marginalisierung der Hayek-Fraktion ein erfolgreiches liberales Theorie- und Ideologieangebot mit einem hochmodernen Image darstellte. Poppers Erfolgsgeschichte relativiert doch beträchtlich die Vorstellung, der Liberalismus sei nach dem Weltkrieg von der Bildfläche verschwunden und in den 1970er Jahren in Gestalt des Neoliberalismus wie ein Phönix aus der Asche auferstanden. Zu nah war der erfolgreiche Kritische Rationalismus in den keynesianischen Jahrzehnten mit dem Neoliberalismus verbunden. Popper war Gründungsmitglied der neoliberalen MPS, und Hayek zählte zu den wenigen Intellektuellen, die Popper nie ernsthaft kritisierte. Er verdankte Hayek im Wesentlichen seine Karriere. Hayek unterstützte Popper und billigte ihm eine Sonderposition zu. So war der Kritische Rationalismus die einzige, dem Anspruch nach eigenständige Großtheorie, die erfolgreich in der MPS neben dem Neoliberalismus existierte.

Einige entscheidende Punkte bestimmten den Diskurs zwischen österreichisch-englischem Neoliberalismus und Kritischem Rationalismus. Beide Theorien waren eng an eine Person gebunden. Hayek und Popper dominierten die Diskurse ihres theoretischen Umfelds – wenn auch der österreichische Neoliberalismus heterogener war und in Hayeks Lehrer, Ludwig von Mises, einen zweiten anerkannten Großtheoretiker hervorgebracht hatte. Beide Theorien entstanden im Wien der ersten österreichischen Republik. Die Debatten zwischen Popper und Hayek beziehen ihre Besonderheit und die ungewollt kontroverse Qualität daraus, daß die Protagonisten von sehr unterschiedlichen, sehr österreichischen politischen Lagern aus zu einem neuen Liberalismusverständnis gelangten. Hayek kam von der rechtsliberalen Mises-Schule und griff von Beginn an Marxismus, Sozialismus, Sozialdemokratie und Interventionismus an. Sein Vokabular orientierte sich dabei an den Begriffen der neoklassischen Wirtschaftstheorie und des klassischen alten Liberalismus. Popper kam aus der österreichischen Sozialdemokratie, deren Vokabular er in seinen politischen Texten übernahm. Popper entkernte sozusagen von innen heraus den österreichischen Sozialismus. Entkernung hieß zunächst Anti-Marxismus und schließlich – bezogen auf die gemischte Wirtschaft – die zunehmende Einschränkung des Interventionismus. Popper gilt manchem Exegeten wegen seines Vokabulars immer noch als Verfechter des Wohlfahrtsstaates. Aber gerade die Debatten mit Hayek zeigen deutlich, daß Popper sich bereits Anfang der 1940er Jahre den zentralen Positionen Hayeks annäherte. Nichtsdestotrotz blieb Popper im großen Diskurs um Wohlfahrtsstaat, gemischte Wirtschaft und Sozialismus anschlußfähiger an einen Liberalismus der Mitte und rechte sozialdemokratische Positionen. Im internen liberalen Diskurs war für ihn jedoch Hayek das selbstverständliche Maß der Dinge.

Poppers Kritischer Rationalismus ist mehr eine Methode als eine ausformulierte Theorie. Sein Ideenfundus ist schmal und seine Kernaussage einfach. Der Kritische Rationalismus sieht sich als wissenschaftliche Methodenlehre. Er propagiert eine reduktive Methode, die ausschließt und abgrenzt: den Historizismus von der Stückwerktechnik, die Falsifikation von der Induktion, die Wissenschaft von der Pseudowissenschaft. Popper wiederholte ein Leben lang wenige Kernthesen:

  • Die Wissenschaft schreitet durch Falsifikation von Theorien voran;
  • die Fehlerkorrektur im politischen Bereich ist nur in der Demokratie möglich;
  • Abwählbarkeit der Regierung und die Verpflichtung der Politik auf Stückwerktechnik sind die Bedingungen der Demokratie.

Poppers Kritischer Rationalismus ist im Kern eine Aufforderung zu solider Wissenschaft und repräsentativer Demokratie. An seinen politischen Positionen – Antimarxismus, Ablehnung der Planwirtschaft, Methodendemokratie und ideengeschichtliche Auffassung der Politik – hielt Popper prinzipientreu fest. Seine Popularität beruhte zum Schluß auf seinem "dezidierten Kulturoptimismus", den der ältere Popper in kurzen, einfachen Slogans wie "Alles Leben ist Problemlösen", "Die Welt ist offen" oder "Optimismus ist Pflicht" ausdrückte. Diese Slogans koppelte Popper an allgemeine Forderungen nach Bescheidenheit und Redlichkeit in Politik und Wissenschaft.

Dieser alte Popper verstellt in der Rückschau den Blick auf die Erfolgsbedingungen und das anfangs moderne Image des Kritischen Rationalismus. Ungemein modern war der Kritische Rationalismus in den Diskursen der 1940er und 1950er Jahre. Sein radikaler Funktionalismus und seine Beschränkung auf die Methodenlehre waren seinerzeit noch nicht zu lebenspraktischen Faustregeln und Ratschlägen kondensiert, sondern Kampfbegriffe gegen linke Gesellschaftstheorien. Das radikale Ausschlußverfahren der Falsifikation war dabei ein unschlagbares Argumentationsverfahren, das kompromißlos beanspruchte, die einzig wahre Methode der Wissenschaft zu sein. Die Stoßrichtung gegen den Marxismus und das Falsifikationsverfahren waren natürlich die inhaltlichen Verbindungsstücke zum Neoliberalismus. Sie wirkten wie ein innerer Motor des Liberalismus im Kampf gegen linke Theorien. Der Kritische Rationalismus war eine ideale Methoden- und Ergänzungslehre des marktradikalen Neoliberalismus. Ein beträchtlicher Teil der neoliberalen Intellektuellen übernahm im Kern die dynamische Methodenlehre Poppers. Der Neoliberalismus verdankte ihr theoretisch zu einem nicht geringen Teil die im 20. Jahrhundert allein diskursfähig machende Qualität der Wissenschaftlichkeit, auch wenn innerhalb der MPS mit Michael Polanyi und Louis Rougier, dem Organisator des legendären Walter-Lippmann-Kolloquiums im Jahr 1938, weitere einflußreiche Wissenschaftstheoretiker diskutierten. Allerdings kam deren öffentliche Reichweite und Anerkennung nicht annähernd an Popper heran. Schulen, die sich in der Wirkung mit dem Kritischen Rationalismus messen konnten, begründeten sie nicht. Der Kritische Rationalismus war die zentrale liberale Wissenschaftstheorie des Jahrhunderts.

Hayek behielt aber bei diesem Aneignungsprozeß kritisch-rationaler Kernthesen die Fäden in der Hand. Auch der marginalisierte Neoliberalismus stand nicht in der Gefahr, im erfolgreichen Kritischen Rationalismus aufzugehen. Bei der Adaption von Popper-Positionen gab die Hayek-Gruppe ihre ursprünglichen Positionen nicht auf.
Popper konnte sich in kontroversen Punkten gegen Hayek nie durchsetzen. In Diskussionen mit Hayek ruderte Popper immer wieder zurück. Sein Weg führte ihn damit nach rechts, und während der rechtsliberale Neoliberalismus sich mit dem Appendix einer erfolgreichen Wissenschaftstheorie modernisierte, verfiel der Kritische Rationalismus, um Paul Feyerabend zu zitieren, seinerseits in Stagnation und die "schwärzeste Reaktion".

Bis zum neoliberalen Paradigmenwechsel in den 1970er Jahren war also der Kritische Rationalismus eine zentrale Adresse auf der liberalen Landkarte. Seine Wissenschaftstheorie zählte im liberalen Spektrum, gemessen an der Wirkung in der Öffentlichkeit, lange zu den erfolgreichsten Ansätzen. Wer sich aus dem liberalen Lager mit Wissenschaft beschäftigte, kam an Popper schwer vorbei. Und selbst die westlichen Sozialdemokratien entdeckten in ihrem Kampf gegen links die Vorzüge von Poppers Ausschlußverfahren. Aber obwohl Popper ein herausragender intellektueller Repräsentant des Liberalismus war, berief sich die federführende Politik bei der neoliberalen Wende letztlich vor allem auf Hayeks Marktideologie und Friedmans Monetarismus. Für Poppers Kritischen Rationalismus blieb nur die Rolle eines Juniorpartners, der allenfalls in der politischen Auseinandersetzung des Kalten Kriegs als Stichwortgeber gegen den real existierenden Sozialismus von Bedeutung war. Die Gewichte und Konstellationen hatten sich im liberalen Lager verschoben. Dieser langwierige Prozeß der Dynamisierung, Verschiebung und Modernisierung innerhalb des Lagers der liberalen Intellektuellen wird im Folgenden anhand der Darstellung dreier exemplarischer Diskurse beschrieben:

1. Der erste Diskurs widmet sich Hayeks und Poppers Initiierung im Kampf gegen linke Theorien. Der frühe marktradikale Neoliberalismus und der Kritische Rationalismus entstanden in den 1920er Jahren im speziellen intellektuellen und politischen Klima des roten Wiens. In einer politisch durch Weltkrieg und Revolution aufgeladenen Drucksituation bekehrten sich Hayek und Popper zum radikalen Liberalismus respektive zum Antimarxismus. Im Kampf gegen linke Theorien agitierte Hayek generell gegen alles Sozialistische, und Popper opponierte gegen den Marxismus in der Sozialdemokratie. Neoliberalismus und Kritischer Rationalismus gingen aus Auseinandersetzungen und Diskussionen mit den einschlägigen Zirkeln und Kreisen, in denen die führenden Wiener Intellektuellen organisiert waren, hervor. Hayeks Bezugspunkt war das in der Tradition der einflußreichen österreichischen Schule der Nationalökonomie argumentierende Mises-Seminar unter der Leitung des strikt antisozialistischen, rechtsliberalen Ludwig von Mises. Der Kern der späteren MPS-Ökonomen durchlief das Mises-Seminar. Inhaltlich wurde bei Mises die Grenznutzentheorie radikalisiert, der Sozialismus ökonomisch kritisiert und über die Kritik jeder Form von Planwirtschaft die sozialdemokratische Vorstellung eines "dritten Weges" ins Visier genommen. Die für Popper bedeutsamste Intellektuellengruppe in Wien war der Wiener Kreis, der die Lehren von Ernst Mach weiterentwickelte und in das Fahrwasser von Ludwig Wittgenstein geriet. Popper, der nie Mitglied des Kreises war, adaptierte einen Großteil seiner wissenschaftstheoretischen Themen aus dem Orbit des Wiener Kreises. Sein zentrales Argument des Fallibilismus entstand in direkter Auseinandersetzung mit Positionen von Otto Neurath und Rudolf Carnap, zwei führenden Intellektuellen des Kreises. Auch die Verbindung von Wissenschaftstheorie, Ökonomie und Naturwissenschaft mit Sozialwissenschaft und aktueller Politik, die Popper ab Mitte der 1930er Jahre in einem liberalen Kontext propagierte, war gängige theoretische Praxis des Wiener Kreises. Poppers wissenschaftstheoretisches Resultat der Debatten veröffentlichte er 1934 unter dem Titel Logik der Forschung. Darin verwarf und reformulierte er die Ansätze des Wiener Kreises.

2. Die eigentliche Ausformulierung der Theorien fand im Londoner respektive neuseeländischen Exil statt. Die Theoreme aus der Wiener Zeit wurden verallgemeinert und zum Teil radikalisiert. Orientierungspunkt war dabei zunächst die englische Debatte um den richtigen Weg aus der Wirtschaftskrise, wobei Keynes’ General Theory der Kristallisationspunkt der Lagerbildung war. Hayek emigrierte bereits 1931 und lehrte an der von den Fabiern gegründeten London School of Economics (LSE). Zusammen mit Lionel Robbins bildete er in der wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung eine neoliberale Gruppe, die sich gleichermaßen gegen sozialistisch ausgerichtete LSE-Fachbereiche wie die Gruppe um Keynes in Cambridge richtete. Zu diesem Lager stieß 1936 auch Popper, der mit Hayeks Hilfe zwar nicht zu der erhofften Position an der LSE, aber zu einer sicheren Anstellung in Christchurch/Neuseeland gelangte. Als nach 1942 in England die grundsätzliche Debatte um die Nachkriegsordnung begann und die alten Diskurse um die Wirtschaftsordnung wieder aufgenommen wurden, verfaßten Popper und Hayek ihre Hauptwerke. Der einschlägige gesellschaftsphilosophische Diskurs mündete bei Popper in Die offene Gesellschaft und ihre Feinde und den sozialwissenschaftlichen Grundlagenaufsatz Das Elend des Historizismus. Hayek verfaßte Der Weg zur Knechtschaft, worin er rigoros gegen alle planwirtschaftlichen Konzepte agitierte und einen Großteil der britischen Intellektuellen unter Sozialismusverdacht stellte. Bei der Abfassung der Werke standen Popper und Hayek in einem intensiven Briefkontakt, der sich neben der Wissensfrage um die grundsätzliche Frage der staatlichen Intervention drehte. Hayek hatte sich zuvor verstärkt mit den Grundlagen des Wissens auseinandergesetzt, um seine These, die Planwirtschaft würde zwangsläufig scheitern, weil sie zentralisiertes, absolutes Wissen in einem Kopf erfordere, zu untermauern. Der Kritische Rationalismus und der marktradikale Neoliberalismus näherten sich in dieser Phase weitgehend an. Poppers politische Philosophie argumentierte nach den gleichen Mustern und mit den gleichen Grundpositionen wie der auf die Ökonomie und die Intellektuellen fokussierte Hayek. Die beiden analogen Werke, die aus den britischen Grundsatzdebatten hervorgingen, wurden zu den zentralen Werken des Nachkriegsliberalismus.

3. Der dritte Diskurs widmet sich der Ausdifferenzierung der formierten Gruppe Hayek/Popper in der Nachkriegszeit. Die Organisationsformen und die Intellektuellenstrategie des Nachkriegs-Neoliberalismus sowie der Aufstieg des Kritischen Rationalismus und die Marginalisierung des radikalen Neoliberalismus werden anhand ihrer Positionen zum Nachkriegskonsens im Westen analysiert. In den 1960er Jahren brach der Nachkriegskonsens auf. Exemplarisch läßt sich dieser, das Ende des Wohlfahrtsstaates befördernde Prozeß am Positivismusstreit verdeutlichen. Darin trat der Kritische Rationalismus gegen den Neomarxismus in Gestalt der Kritischen Theorie an. Die Lager und die Theorien begannen sich erneut auszudifferenzieren. Wissenschaftliche Schulen wurden spätestens mit dem Epochenjahr 1968 zu politischen Lagern und radikalisierten ihre Position. Hayekscher Neoliberalismus und Kritischer Rationalismus fanden in dieser Phase über den Begriff der Evolution theoretisch wieder eng zusammen. Während sich allerdings der in den 1950er Jahren erfolgreiche Kritische Rationalismus in statischen Modellen erschöpfte, popularisierte und dynamisierte der Neoliberalismus mit Hayeks Konzepten des "Marktes als Entdeckungsverfahren" und der "Spontanen Ordnung" sein theoretisches und ideologisches Arsenal. Der Neoliberalismus rückte innerhalb des liberalen Spektrums ins Zentrum. Nach der Ausdifferenzierung der Lager und der Verschärfung des Diskurses bot er die einzige nach außen kohärente, liberale Theorie gegen den Wohlfahrtsstaat. Damit war die intellektuelle Grundkonstellation vor dem Epochenbruch in den 1970er Jahren hergestellt.

Mein Dank gilt: Professor Frank Deppe für die Betreuung, der Forschungsgruppe Buena Vista Neoliberal?, respektive Dieter Plehwe für Motivation und Diskussion sowie Bernhard Walpen für kritische Lektüre und Diskussion, Leo Bieling für die Zweitkorrektur, Christoph Lieber für das Lektorat, Werner Krämer für Anregungen und der Rosa-Luxemburg-Stiftung für die Finanzierung.

Für die Ablenkung danke ich meinen Kindern Clara und Walter. Für die große Unterstützung danke ich meiner Frau Silke Steinbach-Nordmann, meiner Schwester Ute Nordmann-Wilke, meiner Mutter Elfriede Nordmann und noch einmal ganz besonders meinem verstorbenen Vater Heinz Nordmann.

Ideen – Epochen – Intellektuelle

Definitionsproblem und vergleichende Analyse

Neoliberalismus ist augenscheinlich ein Begriff, über den in wissenschaftlicher Diskussion kaum Einigung erzielt werden kann. Immer wieder läßt sich auf die Pluralität des Neoliberalismus verweisen. Bernhard Walpen gibt in seinem neoliberalismuskritischen Standardwerk Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft einen Eindruck von der heterogenen Gemengelage. Unklar ist, ob es sich beim Neoliberalismus um eine Ideologie, einen Denkstil, eine Theorie, eine wirtschaftswissenschaftliche Schule, einen Regierungsstil oder eine Gesellschaftsphilosophie handelt. Wahrscheinlich alles in einem! Trotz dieser universalen Bedeutung soll im Folgenden kurz versucht werden, eine Eingrenzung vorzunehmen. Der Oberbegriff Neoliberalismus soll zielgerichtet problematisiert werden, und es werden diejenigen neoliberalen Ansätze angezeigt, die das Verständnis dieser Studie erleichtern. Grundsätzlich ergibt sich die jeweilige Antwort auf die Frage, wie sich in welcher Situation der Neoliberalismus definierte, von Kapitel zu Kapitel aus dem verwendeten Material. Die ausgewählten Diskurse drehen sich nicht zuletzt um das (neo)liberale Selbstverständnis.

Der Neoliberalismus ist unbestreitbar ein epochemachender Begriff, der für die Kennzeichnung der westlichen Politik ab 1979 naheliegend ist. Unter Neoliberalismus im engeren, administrativ-wirtschaftspolitischen Sinn wird weithin das verstanden, was zunächst als antisozialstaatliche, antikeynesianische Marktpolitik in den USA unter Reagan, in Chile unter Augusto Pinochet und in Großbritannien unter Thatcher praktiziert wurde und in der Folgezeit einen beispiellosen Erfolg als globale wirtschaftspolitische Strategie des Westens feierte. Neoliberalismus ist in diesem Sinn die gängige wirtschaftspolitische Ideologie und Praxis, die einseitig auf den Mechanismus eines selbstregulierenden Marktes setzt, und möglichst viele Produktions-, Reproduktions- und Sozialprozesse über den Markt abwickeln will. Dieser Markt wird im Neoliberalismus als ein einzigartiger Freiheitsraum gedacht, in dem Wissens- und Entdeckungsprozesse stattfinden. Er ist laut Hayek ein von spontaner Ordnung geleitetes Entdeckungsverfahren, ein Geschicklichkeits- und Glücksspiel.

Der Neoliberalismus fordert durchgehend, das als ökonomisch optimal angesehene Marktprinzip über die Wirtschaft hinaus auszudehnen. Das erfordert allerdings eine Erweiterung der Theorie, die in der Lage sein muß, auch nichtwirtschaftliche Felder zu behandeln. Sie muß begründen, wieso weite gesellschaftliche und staatliche Bereiche dem ökonomischen Marktprinzip unterworfen werden sollen. Quasi wegen der Zielbestimmung, den vermarkteten Bereich einer Gesellschaft zu maximieren, ist die neoliberale Theorie gezwungen, für Politik, Wissenschaft, Medien etc. Konzepte zu entwickeln. Die Paradigmen des Neoliberalismus gehen somit über die Formulierung der Richtlinien der Wirtschaftspolitik hinaus, und in fast allen gesellschaftlichen Diskursen finden sich inzwischen an den zentralen Stellen Bruchstücke neoliberaler Ideologie.
Dennoch hat der Neoliberalismus – hierin dem Keynesianismus ähnlich – nie eine politische Massenbewegung zur Durchsetzung seiner Ziele hervorgebracht. Der Neoliberalismus erzeugte keine neoliberalen Großparteien, die in den westlichen Demokratien verfassungsgemäß mit anderen Parteien in einen demokratischen Wettstreit um die Macht traten. Selbst die Parteien Reagans und Thatchers definierten sich nicht als genuin neoliberale Parteien. Der strategische Ansatzpunkt des Neoliberalismus war zunächst allein die intellektuelle Beeinflussung bestehender liberaler und konservativer Eliten in den westlichen Gesellschaften. Bei den Tories in Großbritannien und den Republikanern in den USA war diese Strategie am erfolgreichsten. Über Berater und neoliberale Programme entwerfende Think-Tanks gelangte dieser Neoliberalismus in Washington und London in die Machtzentren. Die Macht wurde nicht direkt von den neoliberalen Ökonomen und Programmatikern ausgeübt. Der Neoliberalismus ist am ehesten über einen Gürtel von Hofsoziologen und wirtschaftswissenschaftlichen Beratern sichtbar zu machen. Dieser Beratungsspeckgürtel ist wiederum mit einem Think-Tank-Netzwerk verbunden, in dem Programme entworfen und Kampagnen lanciert werden. Der indirekte Zugang zur Macht darf in der Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus nicht übersehen werden. Der Neoliberalismus ist sicher die Ideologie, die am besten auf die zunehmende Dezentralisierung der Macht in den westlichen Demokratien reagiert hat. Diese Schwierigkeit der Lokalisierung im Machtgefüge hat zur Folge, daß man mit der klassischen Fokussierung auf politische Bewegungen und Massenparteien, die zur Analyse des alten Liberalismus, des modernen Konservativismus und des Sozialismus unerläßlich ist, zu dem Befund käme, daß es den Neoliberalismus gar nicht gibt.

Hieraus geht auch ein weiteres grundlegend gewordenes Problem der Kennzeichnung des Neoliberalismus hervor. Weil sich höchstens eine Handvoll Wirtschaftswissenschaftler und konvertierter Philosophen und Literaten, aber so gut wie nirgends Politiker öffentlich zum Begriff Neoliberalismus bekennen, ist nach der Durchsetzung marktradikaler Wirtschaftspolitik der Begriff Neoliberalismus kaum noch positiv besetzt. Die Gegner des selbstregulierenden Marktes haben den Begriff adaptiert und verwenden ihn, um mit einem Schlagwort die Fehlentwicklungen zu kritisieren, die seit Reagan und Thatcher zu sozialen Verwerfungen geführt haben. Im Wesentlichen definieren inzwischen die Neoliberalismus-Kritiker, was unter Neoliberalismus zu verstehen ist. Im Zentrum dieser Neoliberalismusdefinitionen steht die Kritik am universellen Marktprinzip, der "Erhebung des Ökonomischen zum Maßstab allen menschlichen Verhaltens". Der "heilige Markt" ist hiernach eine ideologisch verschleierte Neuauflage des Laissez-Faire und die Rehabilitierung des Sozialdarwinismus.

Die Neoliberalismuskritik machte auf den grundsätzlichen Widerspruch des Neoliberalismus aufmerksam. Einerseits basiert der Neoliberalismus im Kern auf einer Ablehnung der Makroökonomie, die in den planwirtschaftlichen Ansätzen des Sozialismus und des Wohlfahrtsstaates Priorität beansprucht. Die Mikroökonomie des Marktes soll wieder Basis des menschlichen Zusammenlebens werden. Jegliche übergeordnete Utopie wird abgelehnt. Um allerdings den Markt universal durchzusetzen, muß sich der neoliberale Gelehrte doch auf das Gebiet der Utopie, der Makroökonomie und der politischen Ideologie begeben. Der Markt selbst wird Utopie.

In diesem Zwittercharakter liegt für Pierre Bourdieu das Wesen des Neoliberalismus. In der neoliberalen Ideologie würde im Kern Utopie mit Wirklichkeit, Abstraktion mit politischem Programm verwechselt.

Die Utopie ist die allgemeine Gleichgewichtstheorie der neoklassischen Wirtschaftslehre, eine mathematische Fiktion, gegründet auf eine "kolossale Abstraktion", die unter dem Begriff der individuellen Rationalität von aller gesellschaftlichen und strukturellen Bedingtheit der Anwendung menschlicher Vernunft radikal absieht. Als politisches Programm befördert Neoliberalismus die Loslösung des Wirtschaftlichen von gesellschaftlicher Realität, damit letztendlich die Verwirklichung eines globalen Wirtschaftssystems, das der Fiktion entspricht und das die Wirkung einer Maschine hat, deren Bewegungslogik die Wirtschaftssubjekte überrollt, sie gleich "einer Kette von Zwängen mit sich reißt", so Herbert Schui und Stephanie Blankenberg.

Historisch hat der Begriff Neoliberalismus unzählige Wandlungen erfahren. Die wirtschaftspolitischen Anwendungen, die seit 1979 im Vordergrund stehen, spielten in der Frühphase eine untergeordnete Rolle. Der Begriff zirkulierte in der Begründungsphase in Intellektuellenkreisen – meist noch dazu in dem engen Rahmen der Wirtschaftswissenschaften. Fast vergessen ist, daß er anfangs eine mehr sozialliberale Gegenwelt zu totalitären Gesellschaftssystemen beschreiben sollte. Auch hatten sich ganz unterschiedliche politische Gruppierungen und Intellektuelle den Begriff Neoliberalismus angeeignet. So ist immer wieder darauf zu verweisen, daß die wirtschaftspolitischen Strategien von Keynes in den 1920er und noch in den 1930er Jahren nicht selten unter dem Begriff Neoliberalismus diskutiert wurden.
Im Kontext dieser Arbeit ist die österreichische Schule der Nationalökonomie – mithin die Wirtschaftswissenschaftler Carl Menger, Eugen von Böhm-Bawerk und Friedrich von Wieser – die wichtigste Ursprungslinie des Neoliberalismus. Diese Schule erneuerte und radikalisierte bereits vor der Jahrhundertwende den klassischen Marktliberalismus von Adam Smith und David Ricardo mit Ansätzen wie der einflußreichen Grenznutzenlehre. Die österreichische Schule der Nationalökonomie ist in Bezug auf den Preismechanismus und das Knappheitsprinzip eine originäre Quelle des radikalen Neoliberalismus. Ludwig von Mises war der herausragende Ökonom der zweiten Generation der Schule. Er erweiterte den Theoriebestand und die Ideologieproduktion durch einen genuin antisozialistischen Einschlag, der sich erst nach dem Ersten Weltkrieg und der Oktoberrevolution voll ausprägen konnte. Das Mises-Seminar war in den 1920er Jahren die entscheidende Durchlaufstation einer ganzen Reihe der späteren MPS-Intellektuellen – allen voran natürlich Hayek. Wobei angemerkt werden muß, daß Mises dann auch ein Gründungsmitglied der MPS war. Radikale Marktideologie und radikaler Antisozialismus waren die Kennzeichen des Liberalismus, wie er im Mises-Seminar vermittelt und diskutiert wurde. Mises selbst wies 1927 in seiner Schrift Liberalismus darauf hin, daß es notwendig sei, diesen Liberalismus von einem Liberalismus, der Vergesellschaftung und sozialliberale Interventionen in das Eigentums- und Marktsystem zuläßt, abzugrenzen. Er benutzte allerdings den Terminus Neoliberalismus nicht. Nicht die Namen seien entscheidend, sondern die Sache.
Mises und Hayek diskutierten 1938 mit einem erlauchten Kreis marktorientierter, antisozialistischer Intellektueller auf dem "Colloque Walter Lippmann" in Paris. Die Konferenz und ihr Name gingen auf das ein Jahr zuvor erschienene Buch The Good Society von Walter Lippmann zurück. Der amerikanische Publizist formulierte darin eine populärwissenschaftlich aufgemachte Klage über den Trend zum Kollektivismus, den Hang zu Bürokratie und Planwirtschaft im New Deal sowie den allgemeinen Verlust der guten Liberalität des 18. und 19. Jahrhunderts. Auf dem Lippmann-Kolloquium wurde mit dem Ziel diskutiert, ein Programm für die aktive Rettung eines entschieden marktorientierten, antisozialistischen Liberalismus zu entwerfen. Es kursierte der Vorschlag, den von der Gruppe vertretenen Liberalismus Neoliberalismus zu nennen. 1945 schrieb Wilhelm Röpke in seinem Vorwort zur deutschen Übersetzung der Good Society:

Als eines der wichtigsten und frühesten Bücher, die diesen geistigen Reifeprozeß einem breiteren Publikum darlegten, erschien im Jahre 1937 in Boston Walter Lippmanns An Inquiry into the Principles of the Good Society ... Es rief eine gewaltige, durch Übersetzungen verstärkte Wirkung jenseits und diesseits des Ozeans hervor und gab der Diskussion über die Möglichkeiten und Formen des "Neoliberalismus" die mannigfaltigsten und fruchtbarsten Anregungen. Im August 1938 versammelten sich Vertreter des Neoliberalismus aus verschiedenen Ländern in Paris, um im "Institut Internationale de Coopération Intellectuelle" in Paris mit dem Verfasser des berühmt gewordenen Buches die von ihm aufgeworfenen Fragen zu erörtern und sich über weitere Arbeit schlüssig zu werden.

Die Gruppe gewann die Deutungshoheit über den Begriff. Die Agenda des Lippmann-Kolloquiums und später der MPS wurde zunehmend zu dem, was in aller Unschärfe und Breite unter Neoliberalismus verstanden wurde. Allerdings ist die Auffassung, daß Lippmanns Buch und das anschließende Kolloquium die Geburtsstunde des Neoliberalismus sei, eine späte, rückdatierende Geschichtsschreibung, die in erster Linie auf Teilnehmer des Kolloquiums wie Röpke zurückgeht – eine Geschichtsschreibung, der dann aber auch Autoren wie Cockett folgen. Die Gruppe, die in Paris diskutierte, ist auch nicht als Einheit aufzufassen. Allein die drei überragenden Kreise und ihre dazugehörigen Ansätze waren in Paris vertreten. Neben dem amerikanischen Neoliberalismus mit Lippmann waren Theoretiker der ordoliberalen Freiburger Schule sowie mit Hayek und Mises die Köpfe des österreichischen – nunmehr exilösterreichischen – Neoliberalismus vertreten.

Was bei Lippmanns initiierendem Buch noch nicht ausgeprägt war, ist die zentrale Kritik am Keynesianismus und am Wohlfahrtsstaat, die vor allem durch Hayek und die Chicago School zum Kristallisationspunkt des Neoliberalismus wurde. Überhaupt unterscheiden sich die drei Ausprägungen vielleicht am deutlichsten durch den Grad ihrer Kompromißbereitschaft mit interventionistischen Maßnahmen im Besonderen und in ihrem abstrakten Staatskonzept im Allgemeinen. Dabei ist immer zu berücksichtigen, daß der Neoliberalismus intern einen fortwährenden Diskurs über die Bewertung des Laissez-Faire-Staates führte. Die überall anzutreffende Ablehnung des Nachtwächterstaates war der symbolische Akt, der den neuen Liberalismus vom alten Liberalismus trennte. Dennoch ist das Staatsverständnis des Neoliberalismus eine der ambivalentesten Fragen der Neoliberalismusforschung geblieben. Die Forderung nach einem starken Staat, der den Wettbewerb nicht nur wie der alte liberale Staat schützte, sondern ihn gar initiierte und forcierte, wobei die gesetzlichen Regeln dem jeweiligen Niveau des Wettbewerbs anzupassen waren, wurde zumindest in Teilen des amerikanischen Neoliberalismus sowie bei Mises und Hayek durch eine Staatsphobie konterkariert. Hayek formulierte diese Staatsphobie, wie im Laufe der Studie noch gezeigt wird, anfangs durchaus vorsichtiger als sein in dieser Hinsicht kategorischer Lehrer Mises, und Hayek blieb zwiespältig. Seine Phobie bezog sich auch auf ein neues Staatsverständnis. Denn nie gab er eine Demarkationslinie an, hinter der Staatsintervention gefahrlos möglich ist. Wenn allerdings – wie Pinochets Militärjunta in Chile – diktatorische Staaten und Regimes sozialistische Regierungen beseitigten und deren Klientel verfolgten, zeigte Hayek Verständnis.

Der Ordoliberalismus trat in seinen Konzepten konsequenter für einen starken, neuen Staat ein, der nicht mehr mit den liberalen Staaten des 19. Jahrhunderts zu verwechseln war. Die führenden Theoretiker waren bereit, Kompromisse mit dem aufkommenden Wohlfahrtsstaat einzugehen. Schon die Bezeichnung "soziale Marktwirtschaft" stand – einmal unabhängig von der Umsetzung des Inhaltes – für einen gewissen Kompromiß in der Interventionsfrage. Aber auch in der ordoliberalen Konzeption ist der starke Staat letztlich eine ambivalente Konstruktion. Er ist ein reiner Wettbewerbsstaat. Der Staat wird quasi für die Marktwirtschaft entworfen. Ein solcher Staat war kein Antipode des Wettbewerbs. Wenn er stark war, gefährdete er nicht, wie noch die alten Machtstaaten, den Wettbewerb. Im Gegenteil: Erst ein starker Staat garantierte und begleitete die weitest ausgedehnte Wettbewerbswirtschaft. Michel Foucault bringt das Staatsverständnis der Ordoliberalen auf den Punkt:

Anders ausgedrückt: Es soll sich vielmehr um einen Staat unter der Aufsicht des Marktes handeln als um einen Markt unter der Aufsicht des Staats.

Im Rahmen dieses Buches spielen der Ordoliberalismus und der amerikanische Neoliberalismus eine untergeordnete Rolle. Der Ordoliberalismus ist originell und enthält Elemente, die besonders dem Liberalismusverständnis von Hayek und Mises kritisch gegenüberstehen. Ordoliberale Konzepte sind auch sicher in den 1950er Jahren kompatibler mit dem Kritischen Rationalismus als der österreichische Neoliberalismus. Ihnen fehlt vor allem die kompromißlose Pose gegen den dritten Weg, die die Hayekschen Schriften in der Nachkriegszeit so radikal erscheinen lassen. Der Ordoliberalismus ist, wenn man die politische Position bestimmen will, wie Popper mehr an der bürgerlichen Mitte orientiert. Trotz dieser augenfälligen Affinität ist der österreichische Neoliberalismus mit Hayek als zentralem Theoretiker in dieser Arbeit die neoliberale Adresse, die es zu beachten gilt. Popper setzte sich eben vornehmlich mit Hayek auseinander. Hayek und Popper verfügten über den gleichen Wiener Begründungszusammenhang. Zudem entfachten eher die Unterschiede in den Positionen die hier interessierende Dynamik des liberalen Diskurses.

Es soll zudem die Auffassung gestärkt werden, daß bei aller Pluralität der neoliberalen Ansätze Hayek der wichtigste Theoretiker des Neoliberalismus ist. Diese Auffassung stützt sich erstens darauf, daß Hayek die antikeynesianische Stoßrichtung des Neoliberalismus, die die entscheidende Komponente bei der Beerbung des Wohlfahrtsstaates war, am wirkungsvollsten und noch dazu als einer der ersten öffentlich vertrat. Zweitens bestimmte er als Initiator und immer herausgehobene Persönlichkeit der MPS die Strategie und Organisation des intellektuellen Neoliberalismus; die Initiierung neoliberaler Think-Tank-Netze ging ebenfalls auf ihn zurück. Drittens ist er der Theoretiker, der als einziger über einen signifikanten Zeitraum an allen Orten, an denen sich der Neoliberalismus konstituierte und entwickelte, lehrte und Netzwerke aufbaute. Hayek begann in Wien bei Mises, ging nach London zur antikeynesianischen Fraktion an die LSE, lehrte in der Nachkriegszeit in Chicago im Mekka des amerikanischen Neoliberalismus und beendete schließlich "als Ordoliberaler" in Freiburg seine akademische Karriere. Nicht zu vergessen ist, daß – was Cockett überzeugend beschreibt – Hayek den intellektuellen Background des Thatcherismus in Großbritannien konstituierte. Dies alles bestärkt die Auffassung, daß anhand der Interaktion der Hayek-Gruppe mit der einflußreichsten europäischen Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhunderts Richtung und Dynamik des liberalen Denkens explizit gemacht werden können.

Inwieweit handelt es sich bei dem Kritischen Rationalismus um eine eigenständige und klar zu fassende Theorie? Tatsächlich ist mit dem Kritischen Rationalismus verhältnismäßig leicht umzugehen. Er vereinigte keine konkurrierenden Ansätze unter seinem Dach, und seine Kernaussagen sind übersichtlich: Zum einen beschreibt der Terminus die Methode der Falsifikation, die den Mechanismus und den Fortschritt der modernen Wissenschaften erklären soll. Im zweiten Schritt wird die Methode konservativ modifiziert und zu einem Modell für Lebensform und Politik verallgemeinert. Trotz des Erfolges von Poppers politischer Philosophie ist das, was unter Kritischer Rationalismus verstanden wird, primär an seine Leistung als Wissenschaftstheorie gebunden.

Er ist somit zunächst in der Reichweite begrenzter und einheitlich zu definieren – schon deshalb, weil er an den Namen und das Werk Poppers gekoppelt ist. Jeder, der sich dem Kritischen Rationalismus verschrieb, schloß sich Poppers Lehren an. Alle Kritischen Rationalisten blieben im Schatten von Popper. Selbst herausragenden Persönlichkeiten wie Hans Albert gelang es nicht, eine analoge, als eigenständig wahrgenommene Theorie zu begründen.

Der Kritische Rationalismus veränderte seinen theoretischen Bestand über die Jahrzehnte kaum. Poppers wissenschaftstheoretisches und gesellschaftspolitisches Programm war im Wesentlichen mit Logik der Forschung (1934) und Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (engl. 1945, dt. Übers. 1957) abgeschlossen. Seine Schüler erweiterten zwar das kritisch-rationale Themenspektrum, aber eine grundlegende Weiterentwicklung oder "Falsifikation" der Ideen der Frühwerke fand nicht statt. Eine Ausdifferenzierung der Popper-Schule gab es im Kritischen Rationalismus zunächst nicht. Die dann doch noch stattfindende Ausdifferenzierung war zugleich die wissenschaftstheoretische Überwindung des Kritischen Rationalismus. Poppers Schüler Thomas Kuhn, Paul Feyerabend und später Imre Lakatos gingen nicht nur über Popper hinaus. Sie verwarfen ihn und gaben ihren früheren Meister nicht selten der Lächerlichkeit preis.

Mit den Definitionen ist noch nicht geklärt, wie sich der Nachweis erbringen läßt, daß sich zwei intellektuelle Strömungen oder Denkstile nachhaltig beeinflussen und begünstigen. Für diesen Nachweis ist eine vergleichende Studie notwendig. Eine vergleichende Studie hat immer mit dem Mangel zu kämpfen, im Detail hinter den jeweiligen Monographien der Spezialisten zurückzubleiben. Dafür ist sie in der Lage, über den Tellerrand zu schauen und nicht nur das Umfeld einer Theorie zu beschreiben, sondern auch die übergreifende Interaktion ähnlicher Systeme kenntlich zu machen. Vergleichende Analysen nehmen damit oft eine Vogelperspektive ein, wodurch aber langwierige historische Prozesse kenntlich gemacht werden können.

Die groben Raster, vor allem die Übereinstimmung der Themenfelder, sind zu berücksichtigen. Man kann sich in zwei unterschiedlichen Sprachfeldern bewegen und von der gleichen Sache sprechen. Die gemeinsamen Bezugssysteme sind von Interesse. Welche Theorien oder Vorläufer werden zur Stützung der eigenen Position ins Feld geführt? Eine gemeinsame Wurzel kann Aufschluß über eine ähnliche politische Position im zeitgeschichtlichen Kontext geben. So ist die neoliberale Wende unter Berufung auf Adam Smith begründet worden. Der Neoliberalismus baute keinesfalls auf neue Grundsätze, sondern bedeutete theoretisch eine spezifische Renaissance des klassisch-liberalen Gedankenguts. (Hayek verweist gern auf John Locke, die schottische Aufklärung, Bernard Mandeville und Edmund Burke. Popper führt vorzugsweise antike Philosophen ins Feld. Eine Schnittmenge ist der Bezug auf John Stuart Mill, Alexis de Tocqueville und Charles Darwin.)

Im Zentrum dieser vergleichenden Studie steht jedoch die Darstellung des Prozeßcharakters und der Modernisierungsdynamik des liberalen Denkens. Die Analyse der beiden Denkstile und ihrer Wechselwirkungen soll deshalb wie erwähnt auf einer zentralen Methode basieren. Die theoriegeschichtlichen Entwicklungen sollen unablässig mit der Entwicklung der dazugehörigen Intellektuellengruppen verbunden werden. Es wird eine "Methodik der Politischen Soziologie" angewandt, die stets versucht, die theoretischen Diskussionen an das sie bestimmende Umfeld und die jeweiligen politischen Koordinaten anzubinden. Mit dieser Betrachtungsweise soll kenntlich gemacht werden, wie die Denkbewegungen des modernen Liberalismus eine Hegemonie des ökonomischen Neoliberalismus begünstigten, und wie der Denkstil, der schließlich als Neoliberalismus gesellschaftspolitischer Mainstream wurde, aus historischen Windungen, Zufällen und chaotischen Deformationen hervorging.

Die Studie soll auch so etwas wie eine integrierte Diskursgeschichte des Kritischen Rationalismus und zentraler Ansätze des Neoliberalismus bieten. Neben den abstrakten Denkbewegungen soll sie zeigen, daß der Erfolg des Neoliberalismus ohne die flankierende theoretische Unterstützung des Kritischen Rationalismus schwerer zu realisieren gewesen wäre. Sie soll zeigen, wie Popper und Hayek in Wien einen ähnlichen Denkstil entwickelten, wie sie sich im Exil gegen gemeinsame Gegner formierten, wie sie im fast kontroversen Diskurs an den (neo)liberalen Hauptwerken des 20. Jahrhunderts arbeiteten, wie sich der Kritische Rationalismus einen festen Platz im Wissenschaftsbetrieb der westlichen Demokratien eroberte, wie Hayek in der gleichen Zeit eine Wagenburg baute, wie Popper gegen den Neomarxismus kämpfte und wie er mit seinen Schülern der neoliberalen Ideologie an den europäischen Universitäten Türen öffnete.

Eine Diskursgeschichte, die sich an der Geschichte von Theorien, Ideen und Ideologien orientiert, steht natürlich ständig in der Gefahr, die historischen Brüche außer Acht zu lassen. Die Folie des Diskurses zwischen Kritischem Rationalismus und Neoliberalismus ist der wirtschaftspolitische Paradigmenwechsel Ende der 1970er Jahre. Zu diesem Epochenbruch sind einige für das Verständnis grundlegende Bemerkungen notwendig.

Epocheneinteilung: Keynesianismus-Neoliberalismus

In der Politik- und neueren Geschichtswissenschaft hat sich allgemein eine Epocheneinteilung durchgesetzt, in der die Nachkriegszeit als "Golden Age" (Goldenes Zeitalter) bezeichnet wird. Die Wirtschaftspolitik hat sich demnach in den Jahrzehnten nach dem großen Krieg in den westlichen Demokratien an der "General Theory" von Keynes orientiert. Der Beginn dieser Epoche wird auf die Währungskonferenz von Bretton Woods 1944 datiert. Bei den dort festgelegten Rahmenbedingungen der westlichen Nachkriegswirtschaft vollzog sich, so die These, die endgültige Abkehr vom Liberalismus alter Prägung. Die westlichen Demokratien wurden in Anbetracht des Schreckens der Weltwirtschaftskrise und des Weltkrieges zu Interventionsstaaten:

Nach 1945 waren sie effektiv alle Staaten, die bewußt und aktiv die Oberhoheit des freien Marktes ablehnten und an ein aktives Management und eine staatliche Wirtschaftsplanung glaubten. So schwierig es auch sein mag, sich im Zeitalter der neoliberalen Wirtschaftstheologie daran zu erinnern: aber zwischen den frühen 1940ern und den 1970er Jahren mußten sich die berühmtesten und einst einflußreichsten Verfechter der freien Marktwirtschaft (beispielsweise Friedrich von Hayek) wie Propheten in der Wüste fühlen, die den unbesonnenen westlichen Kapitalismus vergeblich davor zu warnen versuchten, daß er sich auf dem "Weg zur Knechtschaft" befinde (Hayek 1944).

Für die Nachkriegszeit wird ein Wirtschaftsboom in den westlichen Demokratien konstatiert. Die sonst nach Kriegen obligatorische Überproduktionskrise blieb aus. Konstante Wachstumsraten und stetige Steigerung von Löhnen und Konsum in weiten Teilen der Arbeiterschaft bestätigten die neuen wirtschaftspolitischen Paradigmen.
Der keynesianische Interventionsstaat versprach ewiges wirtschaftliches Wachstum und Vermeidung der sozialen Kosten durch dauerhafte Installierung eines leistungsfähigen Wohlfahrtsstaates. Die Gefahr einer Wiederholung der Weltwirtschaftskrise und der darauf folgenden sozialen Erosion schien endgültig von der Tagesordnung verbannt. Fast alle westlichen Staaten führten vorher nie gekannte soziale Netze ein. Die kapitalistischen Demokratien intervenierten in die Wirtschaft und erhöhten die Staatsquote. Viele Dirigismen, die in der Kriegswirtschaft eingeführt worden waren, hatten auch in Friedenszeiten Konjunktur. Das Deficit-Spending und die staatlichen Interventionen in das Preissystem waren probate wirtschaftspolitische Optionen – sowohl der konservativen als auch der sozialdemokratischen Regierungen. Besonders Konzerne und große Aktiengesellschaften erkannten die Vorteile von erhöhtem staatlichen Interventionismus und öffentlicher Investitionstätigkeit. In zentral- und nordeuropäischen Staaten setzte sich auf dieser Basis ein korporativistisches Kapitalismusmodell durch.

In dem Koordinatensystem der diesen Prozeß begleitenden wirtschaftspolitischen Diskurse spielte Keynes’ Wirtschaftstheorie eine herausragende Rolle. Sie stellte allen sozialen Gruppen einen faireren Anteil an dem, was kapitalistisch erwirtschaftet wird, in Aussicht. Abhängig Arbeitende sind in Keynes’ Theorie unverzichtbarer Teil der kapitalistischen Akkumulation. Ihre Wohlfahrt nutzt dem ganzen System. Weil keine Partei nach 1945 auf die Rhetorik der Massenwohlfahrt verzichtete, stieg die Relevanz der "General Theory" scheinbar unaufhaltsam. Öffentlich galt die Politik des steigenden Wohlstands, der Staatsintervention und des auszubauenden Sozialstaates in den westlichen Demokratien bis in die 1970er Jahre als erfolgreich und alternativlos.

In der Geschichtsschreibung, die dieser Epocheneinteilung folgt, endet das "goldene Zeitalter" des Wohlfahrtsstaates bezeichnenderweise mit der Ölkrise 1973 und dem damit einhergehenden Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems. Hobsbawm spricht von "Erdrutsch" und "Krisenjahrzehnten". In der Rückschau wirkt die Wirtschaftskrise Anfang der 1970er Jahre zwar gar nicht so gravierend – wuchs doch die Wirtschaft in den meisten kapitalistischen Staaten weiterhin; nur die Wachstumsraten gingen zurück oder stagnierten. Aber offensichtlich war der Mythos des keynesianischen Interventionsstaates gebrochen. In dieser Situation griffen in Großbritannien und den USA die konservativen Parteien auf die eigentlich in den Diskussionen um die Ordnung der Nachkriegswirtschaft unterlegene neoliberale Ideologie zurück: "Die einzige Alternative, die sich bot, war die, die eine Minderheit von ultraliberalen Wirtschaftstheologen propagierte." Und die hieß: unbegrenzt freie Marktwirtschaft, radikaler Abbau des Wohlfahrtsstaates und das Ende des Interventionsstaates. Mag es sich tatsächlich nur um eine "kleine Gemeinde von Glaubenskämpfern", um "Evangelisten des Marktes", gehandelt haben – die Grundlagen der propagierten Wirtschaftspolitik des Westens veränderten sich rasant.

Paradigmatisch vollzog ab 1979 Thatcher in Großbritannien die wirtschaftspolitische Wende. Vormals verstaatlichte Industriesektoren wurden privatisiert, Steuern für Reiche stark gesenkt. Mehr noch zeigte sich allerdings, daß im Kern einer neoliberalen Politik der Kampf um eine Senkung des Lohnniveaus, mithin ein Kampf gegen die Gewerkschaften steht. Damit einhergehend wurden in Großbritannien die Fürsorgesysteme ausgedünnt und privatisiert. Ein deutlicher Anstieg von Armut sowie eine Verteilung zugunsten privilegierter Gesellschaftsschichten war die Folge. Die "Thatcher-Revolution" mag sich nicht in anderen europäischen Ländern identisch wiederholt haben. Aber sie setzte den Trend. Abbau des Sozialstaates und Fokussierung der Wirtschaftsprozesse auf einen abstrakten Markt wurden selbst in den korporativistischen Staaten zu Maximen der Wirtschaftspolitik.

Ob es gerechtfertigt ist, von einer neoliberalen Epoche zu sprechen, ist strittig. Übereinstimmung herrscht aber bezüglich des Befundes, daß ein Bruch in der Nachkriegspolitik der westlichen Welt in den 1970er Jahren zu konstatieren ist. Die wirtschaftspolitischen Veränderungen in nachkeynesianischer Zeit firmieren je nach Lager unter den Oberbegriffen transnationaler Kapitalismus, flexibler Kapitalismus, Globalisierung, Turbokapitalismus, freie Marktwirtschaft oder eben Neoliberalismus.

In den Hintergrund treten bei der historischen Epocheneinteilung Keynesianismus-Neoliberalismus, daß neoliberale Ansätze vor dem "goldenen Zeitalter" in den Diskursen um den richtigen Weg aus der "tiefsten Wirtschaftskrise des Kapitalismus" in Großbritannien und den USA öffentlich höchst präsent waren und die Grundkonstellation, die in den 1970er Jahren zum Ende des Keynesianismus führte, in den 1930er und 1940er Jahren intellektuell schon angelegt war. Die radikalen Neoliberalen wehrten sich in dieser Phase vor allem dagegen, den Zusammenbruch der Marktwirtschaft nach 1929 dem "an sich guten" Liberalismus anzulasten. Die daraus folgenden Forderungen nach einer vom Staat weiterhin nur moderierten, weitgehend unangetasteten Marktwirtschaft und nach Erhalt bestehender Klassen- und Eigentumsordnungen waren in den Debatten um den Weg aus der Wirtschaftskrise und nach der Diskussionspause in den ersten Kriegsjahren in der Auseinandersetzung um die wirtschaftliche Nachkriegsordnung keine ungehörten Randpositionen. Nicht nur, daß Lippmanns und Hayeks populärwissenschaftliche Schriften hohe Auflagen in den angelsächsischen Ländern erreichten. Konservative Politiker wie Winston Churchill interessierten sich in ihrem Kampf gegen Labour für die radikalen Hayek-Thesen, die in Schwarz-Weiß-Manier jedes Antasten der kapitalistischen Ordnung zu einem Untergangsszenario stilisierten. Hayek war somit zumindest in England in der Debatte um die Nachkriegsordnung noch kein "Prophet in der Wüste", sondern ein bedenkenswerter Ideengeber für konservative Eliten.

Vergessen wird gern, daß Hayek, Mises und Lippmann mit dem Neoliberalismus Ende der 1930er Jahre an eine Wirtschaftspolitik anknüpften, die in den angelsächsischen Ländern noch bis in die 1930er Jahre hinein grundsätzlich praktiziert wurde. Der Liberalismus hatte zwar durch die Weltwirtschaftskrise einen herben Rückschlag erlitten und war tendenziell auf dem Rückzug. Aber er fand natürlich bei den konservativen Eliten in den USA und Großbritannien weiter Anklang. In den Debatten um die Nachkriegsordnung war der Neoliberalismus wohl schon deshalb bei den Konservativen beliebt, weil er im Wesentlichen den klassischen Liberalismus und die Klassengesellschaft der Vorkriegszeit positiv bewertete.

Keynes’ makroökonomischer Ansatz war in dieser Zeit das eigentlich Neue im liberalen Lager. Keynes war der erste namhafte liberale Ökonom, der auf die Krise reagierte und dem Laissez-Faire-Liberalismus des 19. Jahrhunderts die Schuld an der größten Wirtschaftskrise aller Zeiten gab. Die Resonanz von Keynes war enorm. Erstmals wurde der liberale Kapitalismus auch von Teilen der ihn tragenden liberal-konservativen Eliten in Frage gestellt. Das bürgerliche Lager schien sich in den 1930er Jahren zu entzweien. Teile der bürgerlich dominierten Öffentlichkeit Großbritanniens schwenkten um und agitierten gegen den alten liberalen Kapitalismus. Der nach London emigrierte Ökonom Joseph A. Schumpeter schildert sehr plastisch das in England um sich greifende Negativimage des überkommenen Kapitalismus:

Die Atmosphäre der Feindschaft gegenüber dem Kapitalismus ... macht es viel schwieriger als es sonst wäre, sich eine vernünftige Ansicht über seine wirtschaftlichen und kulturellen Leistungen zu bilden. Die öffentliche Meinung ist allgemach so gründlich über ihn verstimmt, daß die Verurteilung des Kapitalismus und aller seiner Werke eine ausgemachte Sache ist – beinahe eine Erfordernis der Etikette der Diskussion. Was auch die politische Vorliebe des jeweiligen Autors oder Redners sein mag, ein jeder beeilt sich, sich diesem Kodex anzupassen und seine kritische Einschätzung zu betonen, sein Freisein von jeglichem "sich zufrieden geben", seinen Glauben an die Unzulänglichkeit der kapitalistischen Leistungen, seine Abneigung gegen die kapitalistischen und seine Sympathie für die antikapitalistischen Interessen.

Trotz dieser Grundstimmung gegen den herkömmlichen Liberalismus vollzog sich die Trendwende in den Diskursen vergleichsweise langsam. Die konkreten Veränderungen der Wirtschaftspolitik entfalteten eine größere Dynamik als die grundlegenden Diskurse um die Wirtschaftsordnung. Fast alle Staaten reagierten auf die Wirtschaftskrise mit einem Mittel, das man aus der Kriegswirtschaft kannte: Der Staat wurde Wirtschaftssubjekt. Dieser Lösung wurde fast gleichzeitig im faschistischen, aufrüstenden Deutschland, im Frankreich der Volksfront und in den Vereinigten Staaten des New Deals Präferenz eingeräumt. Der endgültige Durchbruch des staatlich organisierten Kapitalismus erfolgte in den westlichen Demokratien aber erst im Zweiten Weltkrieg. Als Keynes’ General Theory noch in der Debatte um die Nachkriegsordnung kräftig kritisiert wurde und das bürgerliche Lager die Frage der Wirtschaftsordnung noch so diskutierte, als sei sie offen, waren zentrale Paradigmen der General Theory durch den Krieg längst wirtschaftspolitische Wirklichkeit geworden.

Obwohl die westlichen Staaten schon vor 1945 im keynesianischen Sinn interveniert hatten und in der Nachkriegszeit kein Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik auf dem Programm stand, hinterließen die begleitenden und nachholenden Debatten um den Keynesianismus weitreichende Spuren. Nicht zuletzt die starke Resonanz des Neoliberalismus in den Debatten um die britische Nachkriegsordnung sorgte dafür, daß dem Keynesianismus auch noch nach 1945 einige falsche Stigmata anhafteten. In den Hintergrund trat bleibend, daß die General Theory vom Ansatz her eine liberal-kapitalistische Wirtschaftstheorie war. Keynes stellte streng genommen nur Instrumente zur Überwindung der kapitalistischen Krise zur Verfügung. Das wurde in der Rezeption ebenso nachrangig wie der Sachverhalt, daß sein sozialliberales Konzept sich gleichermaßen von Faschismus und Sozialismus distanzierte. Von der Planwirtschaft sah sich auch Keynes bedroht. Keynes verstand sich in der prekären Situation der 1930er Jahre als Retter des kapitalistischen Systems und strebte mit Vollbeschäftigung und Wohlfahrt eine Befriedung der Widersprüche des Kapitalismus an. Nichts beabsichtigte er weniger, als die Marktwirtschaft abzuschaffen:

Ich denke mir daher, daß eine ziemlich umfassende Verstaatlichung der Investition sich als das einzige Mittel zur Erreichung einer Annäherung an Vollbeschäftigung erweisen wird; obschon dies nicht alle Arten von Zwischenlösungen und Verfahren ausschließen muß, durch welche die öffentliche Behörde mit der privaten Initiative zusammenarbeiten wird. Aber darüber hinaus wird keine offensichtliche Begründung für ein System des Staatssozialismus vorgebracht, das den größten Teil des wirtschaftlichen Lebens des Gemeinwesens umfassen würde. ... Unsere Kritik der akzeptierten klassischen Theorie der Wirtschaftslehre bestand nicht so sehr darin, logische Fehler in ihrer Analyse zu finden, als hervorzuheben, daß ihre stillschweigenden Voraussetzungen selten oder nie erfüllt sind, mit der Folge, daß sie die wirtschaftlichen Probleme der Welt nicht lösen kann. Wenn es aber unseren zentralen Leitungen gelingt, eine Gesamtmenge der Erzeugung festzusetzen, die mit Vollbeschäftigung so nah als durchführbar übereinstimmt, wird die klassische Theorie von diesem Punkt an wieder zu ihrem Recht kommen.

Die ideale Staatsintervention war zeitlich begrenzt, und Ziel der "General Theory" war die Wiedereinsetzung der "klassischen Theorie". Nach der Krise sollte zum selbstregulierenden Markt zurückgekehrt werden. Das Ziel war also bei Keynes und den Neoliberalen identisch. Dieses klassisch liberale Ziel der General Theory wurde nicht nur von den Neoliberalen aus dem Blickfeld genommen. Die Keynesianer selbst wandten Keynes in der Nachkriegszeit kaum als Instrumentarium der Krise an, sondern durchweg zur Intensivierung eines Booms. In der ersten ernsthaften Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit 1973 blieb dann paradoxerweise die ökonomische Krisentheorie von Keynes auf der Strecke.

Obwohl sich Keynes’ Theorie nach 1945 langsam durchsetzte, hatte die neoliberale Kritik Keynes erfolgreich aus dem liberalen Spektrum heraus kritisiert. Der Ansatzpunkt der Kritik war, daß Keynes auch für die begrenzte staatliche Intervention "zentrale Leitungen", die "eine Gesamtmenge der Erzeugung festzusetzen" hatten, einforderte. Diese Empfehlung zentraler Planung wurde bleibend der Aufhänger für die rechten Keynes-Gegner. Keynes geriet schon Anfang der 1940er Jahre zwischen die Fronten. In Anbetracht dessen, daß der totale Staat mit seiner Ausweitung der Bürokratie auf alle Lebensbereiche ein Schreckgespenst der Zeit war, bot eine liberale Theorie, die Staatsintervention empfahl, hinreichend Angriffsflächen. Die zentrale Planung initiiere, so das Szenario der Neoliberalen, einen apokalyptischen Bürokratisierungsprozeß. Die Ausweitung des staatlichen Wirtschaftsmanagements, das mehr oder minder alle Interventionsstaaten der 1930er Jahre hervorgebracht hatten, mußte in diesem Gedankengebäude zwangsläufig in ein "Gehäuse der Hörigkeit" münden. Wie man sich diesen Prozeß konkret vorzustellen hatte, verdeutlichte James Burnham in seinem Bestseller Das Regime der Manager (1941). Darin steigerte der Soziologe die Tendenzen der neuen Bürokratisierung durch staatliches Management zu einem futuristischen Gesellschaftsentwurf:

Dieser Übergang vollzieht sich von dem Gesellschaftstyp, den wir kapitalistisch oder bürgerlich genannt haben, zu einem Typ, den wir manageriell nennen. Dieses Übergangsstadium wird vermutlich im Vergleich zum Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus von kurzer Dauer sein. Es begann etwa mit dem Ersten Weltkrieg; enden wird es ungefähr 50 Jahre später mit der Konsolidierung der neuen Gesellschaft. ... Am Ende der Übergangszeit werden die Manager die gesellschaftliche Führung errungen haben und die herrschende Gesellschaftsklasse sein. Zudem ist es ein weltweites Ringen, das in allen Ländern in vollem Gange ist, wenngleich die Entwicklung in den verschiedenen Ländern verschieden weit gediehen ist. Das Wirtschaftssystem, welches die gesellschaftliche Führung der Manager gewährleisten wird, gründet sich auf das staatliche Eigentum an Produktionsmitteln. Innerhalb dieses Systems wird es ein Privateigentum an den wichtigeren Produktionsmitteln nicht geben. ... Die Kontrolle der Manager über den Staat wird durch angemessene politische Einrichtungen hinlänglich gesichert werden, ebenso wie die Herrschaft des Bürgertums unter dem Kapitalismus durch bürgerlich-politische Institutionen gesichert wurde. Die Ideologien, welche die gesellschaftlichen Aufgaben, Interessen und Bestrebungen der Manager widerspiegeln ..., sind bisher noch nicht fertig ausgearbeitet; ... Man nähert sich ihnen jedoch schon aus verschiedenen, wenn auch verwandten Richtungen, so z.B. durch den Leninismus und Stalinismus, den Faschismus und Nazismus und – auf einer primitiveren Ebene – durch die Lehre des New Deal und weniger einflußreiche amerikanische Ideologien, wie die Technokratie.

Der wichtigste Punkt in Burnhams Zukunftsszenario ist, daß ein allgemeiner Trend zur technokratischen Herrschaft von Managern konstatiert wird. Diese manifestiere sich sowohl im Faschismus und Sozialismus als auch in den intervenierenden liberalen Demokratien. Manager seien nicht mehr Angestellte von Unternehmen und Macher der Privatwirtschaft, sondern staatliche Technokraten, die Gesellschaft und Wirtschaft planten und leiteten. Der Keynesianismus konnte in diesem Szenario kein dritter Weg mehr sein, der Staatsintervention zeitlich beschränkt befürwortete, um den Liberalismus zu retten. Er war vielmehr eine weitere Spielart der totalen Bürokratisierung. Marktradikale Ökonomen wie Mises und Hayek formulierten diesen vermeintlichen Trend zum totalen Staat dann noch schärfer, indem sie Bürokratisierungstendenz, staatliche Lenkung und Sozialismusdrohung in der Gefahr der Planung zusammenfaßten. Sie differenzierten bei den Systemen und Theorien noch weniger. Der Faschismus wurde bei Hayek eine Abart des Sozialismus. Allem wohne der gleiche Zug zur sozialistischen Planwirtschaft inne. Jede Art der Planung führe in die totale Planung und sei somit totalitär:

Die meisten Planwirtschaftler, die sich ernsthaft mit der praktischen Seite ihrer Aufgabe beschäftigt haben, geben sich keinen Illusionen darüber hin, daß eine Planwirtschaft mehr oder weniger nach den Prinzipien der Diktatur betrieben werden muß. Das komplexe System der ineinandergreifenden Wirtschaftsakte muß, wenn überhaupt von einer bewußten Lenkung die Rede sein soll, von einem einzigen Stab von Fachleuten gesteuert werden, und die letzte Verantwortung und die ganze Macht müssen in der Hand eines Oberbefehlshabers liegen, dessen Handlungsfreiheit nicht durch das demokratische Verfahren eingeengt werden darf, – dies ergibt sich so klar aus dem Prinzip zentraler Planwirtschaft, daß kaum jemand widersprechen wird. Die Planwirtschaftler versuchen uns damit zu trösten, daß diese autoritäre Lenkung "nur" auf wirtschaftliche Fragen Anwendung finden wird. Einer der führenden amerikanischen Planwirtschaftler, Stuart Chase, versichert uns z.B., daß in einer kollektivistischen Gesellschaft "die politische Demokratie bestehenbleiben kann, wenn sie sich auf nichtökonomische Dinge beschränkt". Im gleichen Atemzug möchte man uns gewöhnlich den Gedanken suggerieren, daß wir durch den Verzicht auf die Freiheit in Fragen, die für unser Leben von untergeordneter Bedeutung sind oder sein sollten, mehr Freiheit für die Verfolgung höherer Ziele erlangen werden. Daher rufen Leute, denen der Gedanke einer politischen Diktatur verhaßt ist, oft nach einem Diktator auf wirtschaftlichem Gebiet.

Damit war die Frontlinie abgesteckt. Der Keynesianismus konnte keine diskutable, liberale Variante kapitalistischer Wirtschaftspolitik, sondern nur Planwirtschaft sein. Eine differenzierende Abstufung der Modelle mußte entfallen, denn Demarkationslinien, hinter denen Intervention noch gefahrlos möglich war, gab es bei Hayek nicht. Wirtschaftliche Lenkung führte in diesem Denkstil immer zur Planwirtschaft. Es standen nur die Alternativen totaler Markt oder totale Planung zur Auswahl. Diese fundamentale Verengung des liberalen Spektrums übernahm auch grundsätzlich der moderatere Popper. Schon im Elend des Historizismus befürwortete er eine
... Kritik der utopischen Idee der Planung und der Planwirtschaft – nicht vom wirtschaftlichen Standpunkt der Produktivität aus, sondern vom logischen Gesichtspunkt ihrer Durchführbarkeit, und vom Gesichtspunkt der menschlichen Folgen des Versuches, das Unmögliche möglich zu machen. Wie andere vor mir, so gelangte auch ich zu dem Resultat, daß die Idee einer utopischen sozialen Planung großen Stils ein Irrlicht ist, das uns in einen Sumpf lockt. Die Hybris, die uns versuchen läßt, das Himmelreich auf Erden zu verwirklichen, verführt uns dazu, unsere gute Erde in eine Hölle zu verwandeln – eine Hölle, wie sie nur Menschen für ihre Mitmenschen verwirklichen können.
Der Wohlfahrtsstaat keynesianischer Prägung stand schon vor seiner bewußten Installierung in der Nachkriegszeit in gewichtigen Teilen des liberalen Lagers für Bevormundung, Bürokratie und freiheitsbedrohende Staatsmacht. Diese Argumentationsfigur zählte ebenso zum Inventar des zur Mitte tendierenden Popper. Als liberales Konzept wurde der Keynesianismus von der neoliberalen Phalanx einschließlich Popper demnach schon vor dem Aufbau des Wohlfahrtsstaates für nichtig erklärt. Drei Jahrzehnte später konnte der in die Krise geratene Keynesianismus auf keine Unterstützung aus dem liberalen Lager zählen. Denn hier hatte sich intellektuell die Richtung durchgesetzt, die Keynes schon Anfang der 1940er Jahre als planwirtschaftlich aus dem Spektrum des Liberalismus ausgeschieden hatte. Er war in der Krise der 1970er Jahre in den bürgerlichen Schichten und Parteien nicht mehr vermittelbar. Die marktliberalen Intellektuellen hatten – dieses Mal erfolgreich – das intellektuelle Gefecht der 1930er und 1940er Jahre wiederholt.

Ein zweiter Punkt, der die scharfe Epocheneinteilung Neoliberalismus-Keynesianismus etwas gleitender erscheinen läßt, ist die konkrete Wirtschaftspolitik nach 1945. Makroökonomische Staatsintervention war zwar durch den Krieg die Regel geworden. Der Monismus der Kriegswirtschaften löste sich im Westen allerdings langsam auf. Alte Interessenkonstellationen schimmerten wieder durch. Die herrschenden wirtschaftlichen Eliten in Westeuropa und Nordamerika waren relativ unangetastet aus dem Weltkrieg hervorgegangen. Die im Vergleich zum Laissez-Faire-Staat stärkere Position von Institutionen und Gewerkschaften gegenüber Unternehmen und Konzernen bedeutete nicht die Eliminierung der Macht der herrschenden Wirtschaftseliten. Und ein beträchtlicher Teil der Wirtschaftenden und Wirtschaftspolitiker sah in einem, von sozialen Zwängen enthebenden freien Markt nach wie vor die ideale Rahmenordnung für kapitalistisches Wirtschaften. Nur schien es bei wachsender Systemkonkurrenz geboten, die sozialen Widersprüche und Auseinandersetzungen, die der Laissez-Faire-Liberalismus produziert hatte, durch staatliche Eingriffe zu institutionalisieren und durch wachsenden Korporativismus zu befrieden. Zudem hatte das Argument, daß gerade der Wohlfahrtsstaat eben neue Märkte durch Massenkonsum schafft, durchaus schlagende Wirkung auf Teile der Privatwirtschaft. Besonders leicht wird es den an Massenproduktion gekoppelten Großkonzernen gefallen sein, auf Makroökonomie, Wohlfahrtsstaat und Massenkonsum zu setzen.

Die westlichen Demokratien bildeten in der Wirtschaftspolitik zunächst keinen homogenen Block. Hobsbawm spottet, daß populäre Wachstumstheorien nach 1945 eher simplen Kochrezepten glichen und in der Mehrzahl triviale ökonomistische Entwicklungsmodelle kursierten. Ein Blick auf die konkrete Wirtschaftspolitik in den westlichen Demokratien zeigt tatsächlich eine Vielzahl von praktischen Ansätzen und Programmen, die das Bild eines stetigen Aufstiegs keynesianisch orientierter Wirtschaftskonzepte unterlaufen: Die 1945 gewählte britische Labour-Regierung diskutierte Sozialisierungsfragen nicht primär keynesianisch, sondern in Rückgriff auf fabianische und sozialistische Modelle, die über Keynes hinausgehende planwirtschaftliche Elemente enthielten. Durch Verstaatlichung der Schlüsselindustrien und technokratische Organisation der Wirtschaft sollte die Effizienz der Produktion gesteigert und der Massenwohlstand angehoben werden. Die Labour-Politik wurde zwar auch von ihren Gegnern als keynesianisch interpretiert, weil ein Interventionsstaat für die dirigistische Steigerung der Produktion notwendig war, aber mit der klassischen keynesianischen Wirtschaftspolitik – Deficit-Spending und Ankurbelung des Massenkonsums durch staatliche Investitionen – hatte die Labour-Politik Ende 1940er Jahre nicht viel zu tun. 1945/46 erzeugten die vorsichtigen Versuche der Vergesellschaftung einen immensen Widerstand konservativer und liberaler Eliten. Zudem erregten die vermeintlich sozialistischen Staatsinterventionen der Labour-Regierung beim amerikanischen Bündnispartner höchstes Mißtrauen. Vor allem aber frustrierten die halbherzigen, die Verteilung des Reichtums nicht antastenden Reformen und die wieder eingeführte Rationierungswirtschaft die Arbeiterschaft, die sich nach den Entbehrungen des Krieges und dem Sieg über den Faschismus goldene Zeiten erhofft hatte. Nach der Abwahl der Labour-Regierung war das fabianische Wirtschaftskonzept definitiv gescheitert.

In Westdeutschland war Keynes in der direkten Nachkriegszeit höchstens in progressiven Insiderkreisen ein Thema. Praktisch setzte sich Erhard mit einer Wirtschaftspolitik durch, die er sowohl als "Soziale Marktwirtschaft" als auch als neoliberal bezeichnete. Bezüglich Eigenverantwortung, Wettbewerbspolitik und Ausrichtung auf den Welthandel orientierte sich Erhards Politik an der marktorientierten, ordoliberalen Freiburger Schule. Allerdings konnte er sich in seiner eigenen Partei zunehmend nicht durchsetzen. Das Pendel neigte sich ab Mitte der 1950er Jahre in der CDU deutlich in Richtung Wohlfahrtsstaat.

Eine bewußte keynesianische Wirtschaftspolitik setzte sich erst spät flächendeckend durch. Auf Keynes bezogen sich wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen in den USA der 1960er Jahre, die von Kennedy und Johnson auf den Weg gebracht und von Nixon intensiviert wurden. Die Hochzeit der systematischen Anwendung der General Theory waren jedoch trotz Ölkrise und "Tendenzwende" erst die 1970er Jahre. Gerald Ford und besonders Jimmy Carter in den USA, Willy Brandt und Helmut Schmidt in der Bundesrepublik sowie Edward Heath und Harold Wilson in Großbritannien bedienten sich des Deficit-Spendings, der Preisregulation und der Lohnerhöhung zur Ankurbelung des Massenkonsums und Niederhaltung der Arbeitslosigkeit. Dabei ging es – gemessen an späteren Krisen – nicht vornehmlich um die Bekämpfung einer Wirtschaftskrise, sondern um die Fortsetzung und Intensivierung eines Booms. Festzuhalten bleibt, daß der Bruch mitten in die Zeit fiel, in der keynesianische Wirtschaftspolitik erstmals überhaupt flächendeckend in der westlichen Welt angewandt wurde.

Primat der Ideen

Das liberale Denken des 20. Jahrhunderts stellte gegen Marx die Ideen als Gelenkstelle der Weltgeschichte dar. Die eigentliche Entscheidung, welche Politik sich durchsetze, fällt auch laut Hayek in der vorgelagerten intellektuellen Auseinandersetzung:

Und am wichtigsten ist, daß die Argumente, die die Freiheit untergraben haben, vorwiegend im intellektuellen Bereich liegen und wir diesen daher auch mit intellektuellen Argumenten entgegentreten müssen.

Die von Hayek immer wieder ins Feld geführte Vorstellung, daß der Kampf um die Macht in einer "Battle of Ideas" entschieden werde, hat eine lange Tradition und ist nach wie vor Kernpunkt ideengeschichtlicher Betrachtungen. Bezüglich des Primats der Ideen ist Max Weber der prominente liberale Vorläufer Hayeks. Bei Weber ist der Ansatz jedoch noch komplexer und der Zukunftshorizont in jedem Fall negativ. Anders als im radikalen Neoliberalismus sind bei Weber die Weltanschauungen von einer im Prinzip wertfreien, empirischen Wissenschaft getrennt. Die wissenschaftliche Rhetorik ist zumindest in der idealen Theorie nicht einsetzbar für den darwinistischen Kampf der Weltanschauungen. Umgekehrt heißt das aber, daß Weltanschauungen außerhalb der Wissenschaft um Hegemonie kämpfen. Die Wissenschaft kann den Kampf der Ideologien nicht beeinflussen. Wissenschaftliche Ideologiekritik ist quasi nicht möglich:

Das Schicksal einer Kulturepoche, die vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, ist es, wissen zu müssen, daß wir den Sinn des Weltgeschehens nicht aus dem noch so sehr vervollkommneten Ergebnis seiner Durchforschung ablesen können, sondern ihn selbst zu schaffen imstande sein müssen, daß "Weltanschauungen" niemals Produkt fortschreitenden Erfahrungswissens sein können, und daß also die höchsten Ideale, die uns am mächtigsten bewegen, für alle Zeit nur im Kampf mit anderen Idealen sich auswirken, die anderen ebenso heilig sind, wie uns die unseren.

Eine große Neuerung im Liberalismus des 20. Jahrhunderts ist, daß die ohnehin künstliche Trennung von Wissenschaft und Weltanschauung entfällt. Die intellektuellen, weltanschaulichen Diskurse bedürfen der wissenschaftlichen Absicherung, um einen Anspruch auf Wahrheit erheben zu können. Intellektuelle müssen Wissenschaftler sein oder zumindest eine Beziehung zur Wissenschaft knüpfen, um in den Grundlagendebatten wirksam zu sein. Ohne wissenschaftliche Legitimation ist der Kampf um die Deutungshoheit gesellschaftlicher Prozesse nicht mehr zu gewinnen. Für Popper ist folgerichtig die Wissenschaft die Drehachse des intellektuellen Kampfes. Aus dem Kampf um politisch-intellektuelle Hegemonie wird tendenziell ein Kampf um die Oberhoheit in der Wissenschaft. Als einer der einflußreichsten Wissenschaftstheoretiker der Nachkriegszeit hat Popper eine zentrale Bedeutung im liberalen Diskurs. Popper setzte die "modernen" wissenschaftlichen Standards, die übergreifend in natur- und geisteswissenschaftlichen Grundlagendebatten diskutiert wurden. Poppers Abgrenzung Wissenschaft-Pseudowissenschaft formuliert klar, wer am wissenschaftlichen Diskurs über die Zukunft der Gesellschaft teilnehmen darf und wer ausgeschlossen wird. Wissenschaftstheorie – und besonders der Kritische Rationalismus im liberalen Spektrum – war nicht nur folgerichtig die Fortsetzung der Philosophie im Jahrhundert der Wissenschaft, sondern fungierte in den Debatten als unverzichtbares formales Scharnier wissenschaftlicher Seriosität.

Mit der Verwissenschaftlichung des Weltanschauungskampfes gewann die liberale Lehre vom Vorrang der Ideen auch im linken Lager Anhänger. Die Beurteilung, daß es sich bei einem Epochenkampf wie der Auseinandersetzung Neoliberalismus-Keynesianismus um einen vornehmlich ideologischen Kampf gehandelt habe, ist die allgemeine Lesart geworden. Hobsbawm bezeichnet die Kontroversen zwischen Keynesianismus und Neoliberalismus als "Krieg zwischen unverträglichen Ideologien". Sie alle können sich darauf berufen, daß sowohl Hayek als auch Keynes den Vorrang der Ideen behaupteten. Wie sehr diese Prädestinationslehre der Ideen und Intellektuellen Mainstream geworden ist, zeigt Cockett in Thinking the Unthinkable: Der Kampf um intellektuelle Hegemonie ist hier nicht nur das Grundprinzip bei der politischen Machterringung des Neoliberalismus. Cockett fordert sogar die politische Linke auf, den Kampf vornehmlich auf dem intellektuellen Feld zu führen. In die gleiche Richtung zielte zwar auch der prominenteste Kritiker des Neoliberalismus, Pierre Bourdieu, aber er artikulierte immerhin Zweifel an der Reichweite intellektueller Beeinflussung.

Die Auffassung, daß politische Entwicklungen – Reformen, Revolutionen, progressive Entwicklungen, Stagnationen und Regressionen – in einer vorgelagerten intellektuellen Auseinandersetzung entschieden werden, unterminiert die klassischen "juristisch-institutionellen Legitimationsmodelle". Michel Foucault ist der einflußreichste Theoretiker, der genau diese klassischen Definitionen von Souveränität und die Theorien des Staates zur Begründung der Machtfrage in der Politik nicht anerkennt und verwirft. Er erwähnte in den späten Vorlesungen und Aufsätzen zwei Felder der modernen Konstituierung von Macht, die an die Stelle der alten Legitimationsmodelle getreten seien: Biopolitik und Diskurse. Letztere bilden das übergeordnete Kriterium. Auch der Aufstieg der Biopolitik läßt sich bei Foucault durch die Beschreibung des entsprechenden Diskurses verifizieren. Der Diskurs ist machttheoretisch übergeordnet:

... und der Diskurs – dies lehrt uns immer wieder die Geschichte – ist auch nicht bloß das, was Kämpfe oder die Systeme der Beherrschung in Sprache übersetzt: er ist dasjenige, worum und womit man kämpft; er ist die Macht, der man sich zu bemächtigen sucht.

Diskurstheoretiker kommen kaum um das Foucaultsche Diktum herum, daß in Umkehrung des Clausewitz-Zitates und in Paraphrasierung des Weber-Paradigmas vom Kampf der Weltanschauungen die Politik Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln ist.76 Foucaults politischer Krieg im Diskurs ähnelt bis in die Wortwahl hinein Hayeks Vorstellung der "Battle of Ideas".

Die Vorstellung der konstitutiven, kontroversen Diskurse läßt sich ebenso auf die theoretischen und intellektuellen Formationen selbst beziehen. Auch innerhalb des Liberalismus haben Diskurse stattgefunden und sind Positionen durchgesetzt worden oder auf der Strecke geblieben. Die Legende des Neoliberalismus blendet die internen Kämpfe weitgehend aus. Hier arbeiteten, so das Selbstbild, antisozialistische Intellektuelle, die sich zu einen Gemeinschaft der Aufrechten verschworen hatten, stringent an der langfristigen Durchsetzung ihnen Position. Popper und Hayek konservierten in ihren autobiographischen Schriften das geradezu klassische Bild, daß sie anfangs gegen den herrschenden Mainstream eine Theorie entwarfen. Sie inszenierten sich als intellektuelle Außenseiter, die ausharren, Schulen bilden, Debatten dominieren und sich nie vom vorbestimmten Weg zu Anerkennung und Macht abbringen lassen. Diese Legende ist aber letztlich zu simpel und zu linear. Die Wandlungen der Politik und des Systems, in dem sich dieser Aufstieg vollzieht, kommen in diesen, auf die intellektuellen Repräsentanten fokussierten Geschichten nicht vor.

Der Weg der Theorien in die Praxis verläuft in der Regel wenig linear. Dennoch ist bei dem Übertragungsweg ein ungefähres Muster erkennbar. Die grundsätzlichen Großideologien setzen zunächst meist nur Wertmaßstäbe, die von der Empirie abgekoppelt sind. (Der Markt kann zum Beispiel in einer Ideologie der Marktwirtschaft auch durch eine Rezession nicht insgesamt negativ beurteilt werden.) Die Großideologien treffen neue Vorentscheidungen, die gegen die herrschenden Verhältnisse und vor allem gegen die herrschende Ideologie gerichtet sind. Großideologien durchdringen dann, wenn sie über die Mittel verfügen, strategische Kampagnen zu lancieren und auf Krisen zu reagieren, über Präsenz in den Medien, Hegemonie in Wissenschaftszweigen, Lobbyarbeit in den Parteien und Elitenbeeinflussung osmotisch die Gesellschaft und ihre Elemente gelangen in abgeänderter, verwässerter Form in Gesetzblätter und Parteiprogramme. Die Großideologien erobern im Erfolgsfall die Mikroebene, wo sie sich zu Kleinideologien ausdifferenzieren. Als Kleinideologien werden sie Ratgeber für das praktische Leben. Groß-und Kleinideologien schaffen im Verbund eine hegemoniale Situation, in der die herrschende Ideologie zur Kultur des gesunden Menschenverstandes wird.

Es stellt sich immer wieder die grundlegende Frage, wie solche hermetischen intellektuellen Großgebilde, die sich als Kleinideologien ausdifferenzieren, in ihrer Entwicklung faßbar gemacht und kritisiert werden können. Ein probates Mittel der Kritik beim Neoliberalismus ist mit Sicherheit, die jeweiligen liberalen Methodenlehren und Axiome der Gesellschaftsphilosophie immer wieder auf die liberalen Theorien selbst anzuwenden. Inwieweit genügten sie selber den Standards einer freien Gesellschaft oder der Falsifikation? Die relative Unveränderbarkeit der Argumente des Neoliberalismus und des Kritischen Rationalismus über mehrere Jahrzehnte sagt viel über die schwach ausgeprägte Bereitschaft zur grundsätzlichen Selbstreflexion aus. Das wird in den internen Diskursen überdeutlich. Stößt man in diese Lücke vor und bezieht die Theorien auf sich selbst, werden zwangsläufig Widersprüche und Paradoxien des liberalen Diskurses sichtbar. Ist zum Beispiel der Kritische Rationalismus nicht ein unwissenschaftlicher Dogmatismus, wenn er nicht falsifizierbar ist?

Die Theorien blieben meist starr und dogmatisch. Die politischen Konstellationen änderten sich hingegen drastisch, wodurch die Entfernung, die neoliberale Theorieansätze zu überwinden hatten, um Wirkung zu erzielen, stark differierte. Deshalb ist das zweite probate Mittel der Kritik, das die Brüche, Ungereimtheiten und Zufälligkeiten des Aufstiegs des Neoliberalismus und des vorgelagerten Erfolges des Kritischen Rationalismus offenbart, die Positionen im internen liberalen Diskurs an den jeweiligen politischen Konstellationen zu messen.

Im engen Zusammenhang dazu ist ein besonderes Feld des Neoliberalismus im Auge zu behalten: die Diskussion um die Strategie. Keine andere intellektuelle Gruppe beschäftigte sich so intensiv mit der Frage, wie die eigene Ideologie hegemonial werden kann. Auch bei der Strategiediskussion ist die jeweilige Entfernung zu den tatsächlichen politischen Konstellationen zu bestimmen. Gemessen an den Verhältnissen der späten 1940er Jahre wirkt zum Beispiel Hayeks Langzeitperspektive hybrid, esoterisch und ohne jede empirische Basis. Überprüft man Mitte der 1960er Jahre, was aus den Plänen geworden ist, fällt das Ergebnis ebenfalls negativ aus. Der schlagartige Erfolg in den 1970er Jahren macht dann plötzlich die Langzeitperspektive Hayeks zu einem Erfolgsmodell. Dabei profitierte der Neoliberalismus von einer nicht voraussehbaren Veränderung der politischen Konstellationen und der Implosion des theoretischen Gegners. Solche Diskontinuitäten können mit einem Blick auf die politischen Konstellationen verdeutlicht werden.

Obwohl inzwischen mit der Publikation von Foucaults Vorlesungsreihe über Gouvernementalität eine der frühesten, profunden Gesamtdarstellungen des modernen neoliberalen Diskurses vorliegt, wird mit Foucault in dieser Studie nur am Rande operiert. Das liegt zum einen daran, daß Foucaults Geschichte des Neoliberalismus den deutschen Ordoliberalismus ins Zentrum der Betrachtung setzt. Aus Gründen der Stringenz spielt der sicher interessante und wirkmächtige Neoliberalismus der Freiburger Schule hier nur eine Nebenrolle. Wichtiger aber ist bei der Analyse zu Macht, Politik und Intellektuellen in Foucaults Schriften die methodische Seite. Die Reichweite von Foucaults Diskursansatz für die Analyse der Entwicklung des liberalen Denkens ist im hier verhandelten Kontext nicht befriedigend. Sicher ist der Diskuns ein brauchbarer Oberbegriff für die Geschichte der rechtsliberalen Intellektuellen, wird doch gerade mit Foucault der Blick auf die Herrschaftstechniken, "die kulturelle Kontrolle der Diskursthemen", "die wissenschaftliche Bearbeitung der Diskursinhalte" und die "soziale Regulierung, also Inklusion oder Exklusion, der Diskursteilhabe" möglich. Zwei entscheidende Felder können jedoch mit Foucaults Ansatz kaum untersucht werden. Zum einen ist aus der Diskurstheorie nicht zu entnehmen, wie sich die Diskurse in konkrete Herrschaftsverhältnisse, ausgestattet mit dauerhafter Autorität, mit Zwang, Gewalt und Legitimität der Macht verfestigen. Der zweite Punkt ist die schwache Position, die Foucaults Akteure im Diskurs (der Autor wird von Foucault geradezu manisch zum Verschwinden gebracht) einnehmen. Für die Analyse der Intellektuellengruppe um Popper und Hayek ist diese Entpersonalisierung zu ambivalent. Zwar spiegeln die Inhalte und Positionen der Kritischen Rationalisten und der Neoliberalen eine kollektive Zeitströmung wider, aber gerade der Kritische Rationalismus und der radikale Neoliberalismus sind Denkstile, die eng an ihre herausragenden Theoretiker gekoppelt sind.

In der modernen, ideengeschichtlichen Forschung nehmen nach wie vor die Arbeiten von Weber eine Schlüsselstellung ein. Er hat nicht nur, in der Wirkung ähnlich wie Foucault, das politisch-historische Analysefeld durch Formulierung sozial- und kulturwissenschaftlicher Methodiken erweitert. In seinen Analysen sind philosophische, soziologisch-historische, politische und ökonomische Motive grundsätzlich verflochten.82 Schon weil es in diesem Buch um die Verflechtung eines ökonomischen Ansatzes mit politischen und wissenschaftstheoretischen Theoriefeldern geht, liegt ein Rückgriff auf Weber nahe. Weber ist auch wegen seiner Bedeutung für die hier verhandelten liberalen Theorien sehr brauchbar. Methodisch und inhaltlich ist der "Nationalliberale" Max Weber ein überkomplexer Vorläufer Poppers und Hayeks. Für die liberale Sozialwissenschaft, den Kritischen Rationalismus und auch die neoliberale österreichische Nationalökonomie war neben der Weberschen Weltbild-Lehre die Beschäftigung mit der Methode der "Idealtypen" obligatorisch. Albert verweist in seiner Verteidigung des Kritischen Rationalismus auf den konstituierenden Charakter der Weber-Methodik. Hayek hielt sein Hauptwerk Die Verfassung der Freiheit in gewissem Sinn für einen Idealtypus.

Nicht nur wegen dieser offensichtlichen Affinität ist Webers Lehre von den "Idealtypen" von Nutzen. Weber nutzt die wissenschaftliche Darstellung eines "Idealtypus" – zumindest theoretisch – zur Entzauberung des Gegenstandes und nicht zur Darstellung eines gesellschaftlichen Ideals. Bei Weber werden Philosophie, Politik, Wissenschaft und Nationalökonomie konsequent aufeinander bezogen und ihr Verhältnis über die Methode der Idealtypen permanent problematisiert. Das Ergebnis, zum Beispiel Webers Werturteilsforderung zur Erhaltung einer reinen Wissenschaft, mag nicht immer überzeugen. Aber bei Weber ist stärker als bei seinen liberalen Nachfolgern eine umfassende Auseinandersetzung mit den Grundbedingungen des kapitalistischen Modernisierungsprozesses erkennbar. Weber setzt bei der Darstellung dieses Prozesses in bewußter Abgrenzung zu Marx auf den ideen- und kulturgeschichtlichen Ansatz. Den Zusammenhang zwischen Ideen, Weltbildern und politischer Wirkung fächert Weber allerdings im Gegensatz zu dem neoliberalen Ansatz und den Vorstellungen von Keynes sehr weit auf. Die von Hayek und Keynes behauptete Wirkung der Ideen als Triebkraft von Politik und Geschichte wird nicht nur postuliert, sondern auch gleichzeitig problematisiert. Paradigmatisch ist hierfür der immer wieder zitierte Satz aus der Einleitung der Religionssoziologie:

Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die "Weltbilder", die durch "Ideen" geschaffen werden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte.

Zum einen werden Ideen und Weltbilder getrennt. Die Weltbilder bestimmen als quasi unsichtbare Weichensteller den Raum oder eben die "Bahnen", in denen sich die Dynamik der Interessen entfaltet. Erst nach einem weiteren Katalysator, der "Dynamik der Interessen", ist das praktische Handeln angesiedelt. Die Ideen oder die intellektuelle Begründung der Macht wird durch das Diktum der Weltbilder als Weichensteller erhalten, aber die allzu direkte und lineare Verbindung zur praktischen Politik ist gekappt. Ideengeschichte ist nur über den Weg der Interessenpolitik wirksam. Ein Weltbild entsteht und entfaltet sich bei Weber in einem komplexeren Prozeß als im Foucaultschen Diskurs oder in der Hayekschen Intellektuellentheorie. Mit Weber läßt sich immer ein Blick auf die gesamte Anordnung werfen. Das intellektuelle Primat ist hier nur durch die Vermittlung der tatsächlichen Interessenpolitik aufrecht zu erhalten.

Die These, daß intellektuelle Weltbilder die Weichensteller sind, richtet sich zwar direkt gegen die Marxsche These, daß die abstrakten Theorien und Kategorien Produkt der historischen Verhältnisse sind. Weil Weber aber die Bedeutung der materiellen Interessen anerkennt, ist eine Verbindung der antagonistischen Positionen nicht ausgeschlossen. Selbst der konservative Ökonom Joseph A. Schumpeter urteilte, daß Webers protestantische Ethik sehr gut in das Marxsche System paßt und kein Gegenentwurf ist. Die Ansätze erscheinen durchaus vereinbar. Aus der Frage, ob die historisch-materiellen Verhältnisse die Ideen bedingen oder umgekehrt die Ideen die politische Wirklichkeit konstituieren, wird folglich in dieser Studie kein Dogmatismus gemacht. Weltbilder oder Ideologien werden immer sowohl als Vorläufer als auch als Nachläufer geschichtlicher Entwicklungen eingestuft. Sie erlangen dann Wirksamkeit, wenn sie mit den Interessen der politisch Handelnden in einer spezifischen gesellschaftlichen Problemlage kompatibel erscheinen.90 In diesem Kontext kann die Hayek-These, daß allein jahrzehntelange intellektuelle Wühlarbeit eine Epochen-Wende bewirkt, wenig überzeugen. Vielmehr wird deutlich, daß in Krisen – wie Anfang der 1930er und Anfang der 1970er Jahre – neue Weltbilder als Weichensteller geradezu gesucht werden. Der intellektuelle Aufstieg des Neoliberalismus ist gleichermaßen als Produkt aktiver Intervention (durch Think-Tanks) wie auch als relativ überraschender, passiver Rückgriff von wirtschaftlich-politischen Eliten auf ein altes Weltbild zu werten. Intellektuelle sind als klassische Ideenträgen in diesen Transformationsprozessen gleichzeitig opportunistische Agenten von bestehenden Interessengruppen und Weichensteller der kommenden herrschenden Verhältnisse.

Ideologisches Weltbild und konkrete Politik gehen nicht immer Hand in Hand. So wie das ökonomische Handeln meist von Zielen bestimmt wird, die außerhalb der reinen Ökonomie liegen, können gesellschaftliche Veränderungen durch Denkweisen initiiert werden, die etwas anderes intendiert hatten. Die politische und ökonomische Praxis muß nicht mit den Leitbildern der Handelnden übereinstimmen. Karl Polanyi urteilte über den industriellen Take-Off in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, daß die Zeitgenossen nicht begriffen hätten, welcher Ordnung sie den Weg gebahnt hätten. Lakonisch faßt er diesen Befund in dem Satz "Der Kapitalismus kam unangekündigt" zusammen. Trotzdem brauchte auch die erste Durchsetzung eines selbstregulierenden Marktes intellektuelle und wissenschaftliche Leitbilder:

Die Form, in der diese neue Realität in unser Bewußtsein trat, war die Nationalökonomie. Ihre verblüffenden Regelmäßigkeiten und verblüffenden Widersprüche mußten in das Schema der Philosophie und der Theologie eingeordnet werden, damit sie mit menschlicher Sinngebung vereinbar wurden.

Die herrschenden Eliten modifizieren in Krisen- und Umbruchzeiten ihre Weltbilder und passen sie den traditionellen Sinnangeboten an. Der Aufstieg des Neoliberalismus zeigt, daß selbst wissenschaftliche Denksysteme in diesem Transformations- und Integrationsprozeß nicht rational erklärbar oder widerspruchsfrei sein müssen. Sie benötigen primär eine Anschlußfähigkeit an die Interessen und Traditionen spezifischer Eliten. Die Vereinigung von neuem Weltbild und herrschenden Eliten ist in der Terminologie Foucaults eine Frage der Taktik in übergeordneten und lokalen Diskursen sowie der Kriegsstrategie in einem Ensemble von konkurrierenden Interessengruppen. Der tatsächliche Inhalt des Weltbildes erscheint gegenüber Strategie und Taktik sekundär.

Jede politische Grundsatzdiskussion, jede öffentliche Auseinandersetzung – sei es unter Politikern, Funktionären oder Wissenschaftlern – thematisiert direkt oder indirekt Weltbilder – zumeist die falschen des Gegners. Weltbilder stehen am Anfang eines politischen Prozesses als Impuls und am Ende als Legitimation. Die erneute Fixierung auf ein selbstregulierendes Marktsystem konnte wie der vorherige keynesianische Mainstream nicht ohne vorlaufende und nicht ohne nachbetrachtende, legitimierende Theoriebildung auskommen.

Denkstil und Wissenssoziologie

Wenn der Streit um Weltbilder auch ein gewichtiger Punkt ist, so ist es doch zu kurz gegriffen, den Aufstieg des Neoliberalismus mit der Durchsetzung eines spezifischen Weltbildes und der dazugehörigen Ideologie im Kampf von Weltanschauungen gleichzusetzen. Die Besonderheit des Neoliberalismus wie auch des flankierenden Kritischen Rationalismus liegt schließlich darin, daß gerade gegen die Weltanschauungen an sich argumentiert und polemisiert wird. Die Ideologien haben dabei den negativen, holistischen Horizont, der die an sich gute, realistische Funktionsweise des kapitalistischen Marktes unterminiert. Auf dem Feld der Nationalökonomie spielt der Neoliberalismus die Mikroökonomie gegen die Makroökonomie aus. Zu ersterer soll zurückgekehrt werden. Analog verbannt Popper auf dem Feld der Erkenntnistheorie jede politische Zielsetzung, jedes Gesamtsystem aus dem Bereich der Wissenschaft und will zur Mikroebene von Versuch und Irrtum zurückkehren. Auch hier werden a priori die Weltanschauungen diskreditiert.

Es ist zwar ein leichtes, Popper und Hayek nachzuweisen, daß der Kampf gegen die Ideologien unter den liberal-kapitalistischen Prämissen, die sie setzen, ebenfalls weltanschaulichen Charakter hat. Aber um das Besondere an der neoliberalen Ideologieproduktion nicht vorab außer Acht zu lassen, ist es unablässig, selbst eine methodische Ebene zur Verfügung zu stellen, die unterhalb der Weltbilder, Großideologien und Weltanschauungen anzusiedeln ist. Das ist besonders wichtig, weil sich der Neoliberalismus im betriebswirtschaftlichen Bereich und der Kritische Rationalismus auf der Mikroebene der "normalen Wissenschaft" zu dominierenden Paradigmen aufgeschwungen haben. Auf dieser Mikroebene bestimmen zweckrationales Marktdenken und funktionales Problemlösen den Ablauf der Handlungen und Diskussionen.

Für die Analyse der Veränderungen auf der Mikroebene bietet sich die Begrifflichkeit der Wissenschaftstheorie von Ludwik Fleck (1896-1961) an. Fleck war Mediziner und Wissenschaftstheoretiker aus dem polnischen Lwow. Seine wissenschaftstheoretischen Schriften entstanden an der dortigen Universität, an der er in dem Kreis um Kasimierz Twardowski, einem Schüler des Wiener Philosophen Franz Brentano, philosophisch diskutierte. Die Schüler Twardowskis wiederum begründeten die Lwow-Warszawa-Schule, einen vom Wiener Kreis stark beeinflußten, neopositivistischen Forscherverbund: Sein spät anerkanntes Werk Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache wurde ein Jahr nach Poppers epochemachender Logik der Forschung veröffentlicht. Die Gefangenschaft Flecks unter dem faschistischem Besatzungsregime und seine spätere Fokussierung auf medizinische Forschung verhinderte eine breite Rezeption. Erst Thomas Kuhn bezog sich in den 1960er Jahren im Vorwort von Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen ausdrücklich auf Ludwik Fleck. Kuhn griff mit Fleck Poppers dogmatisches Wissenschaftsverständnis an.

Flecks Analysen stellen die Arbeit kleiner Forschergemeinschaften in den Vordergrund. Er verfolgte den wissenschaftlichen Alltagsprozeß. Diese Mikroebene ist sein Ausgangspunkt. Seine beiden Schlüsselbegriffe "Denkstil" und "Denkkollektiv" ermöglichen eine umfassende, konstruktivistische Darstellung der Forschungsarbeit. Der wissenschaftliche Funktionsprozeß, den Popper in Logik der Forschung auf eine Handvoll allgemeiner Faustregeln reduzierte, wird hier quasi sozial geerdet. Fleck brachte die eigentlich offenen Fragen der Wissenschaftstheorie bereits Mitte der 1930er Jahre auf den Nenner: Wissenschaftsgeschichte mit soziologischer Basis oder Logik der Forschung, formale Konstruktion von Sätzen und Theorien oder eine – wie er es ausdrücken könnte – von Denkkollektiven ausgeübte, vergesellschaftete und denkstilgebundene Tätigkeit:

Deshalb ist das Erkennen kein individueller Prozeß eines theoretischen "Bewußtseins überhaupt"; es ist Ergebnis sozialer Tätigkeit, da der jeweilige Erkenntnisbestand die einem Individuum gezogenen Grenzen überschreitet.

Der Denkstil bestimmt die Ergebnisse der wissenschaftlichen Experimente. Er ist vorgelagert und konstituiert sich einerseits aus wissenschaftlichen Lehrbuchmeinungen und Traditionen sowie andererseits aus vollkommen wissenschaftsfremden Prämissen. Die Wertigkeit eines Denkstils ist dann auch nicht an Ziele wie Wahrheit gekoppelt. Fleck will verschiedene Erkenntnistheorien vergleichen, um so zu höherwertigen Lösungsansätzen zu kommen. Seine Methodik ist relativistisch. Träger des Denkstils in der wissenschaftlichen Praxis sind nicht einzelne Individuen, wie es bei Popper und liberalen Wissenschaftsphilosophen von Bacon über Mill bis Wittgenstein der Fall ist. Ein Denkstil ist an die Gruppe und an die Kommunikation in der Forschergemeinde gebunden. Diese Gruppe heißt bei Fleck Denkkollektiv. Das Denkkollektiv initiiert den neuen, in den Forscherkreis aufgenommenen Wissenschaftler über das gedankliche Koordinatensystem der Forschergruppe.

Definieren wir "Denkkollektiv" als Gemeinschaft der Menschen, die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen, so besitzen wir in ihm den Träger geschichtlicher Entwicklung eines Denkgebietes, eines bestimmten Wissensbestandes und Kulturstandes, also eines besonderen Denkstiles.

Der Denkstil ist im Vorhinein durch einen Wissensbestand und Kulturstand bestimmt. Er konstituiert, nachdem speziell ausgewählte Problemanordnungen durch Experimente in einem bestimmten Denkstil gelaufen sind, eine neue Wirklichkeit:

Aber nicht nur das Erkennen ist an dessen kulturelle und soziale Voraussetzungen gebunden, umgekehrt wirkt es auch auf die soziale Wirklichkeit zurück: Ist es das Produkt einer an langlebende Gruppen gebundenen Tätigkeit, folgt es wie die soziale Organisation seinen eigenen Gesetzlichkeiten, setzt dadurch den an ihm beteiligten Menschen Grenzen ihrer weiteren Erkenntnistätigkeit,

schreiben Lothar Schäfer und Thomas Schnelle zu Flecks Ansatz. Wenn Erkenntnis fortschreitet, formt sie also auch die Wirklichkeit um. Im Fortschritt ist die Möglichkeit enthalten, daß ein bestimmter Denkstil eine rückschrittliche Wirklichkeit formt. Denn wissenschaftliche Denkstile führen zuallererst nicht zu einem Zugewinn an Wahrheit, der man sich ähnlich wie beim Kritischen Rationalismus höchstens annähern kann. Denkkollektive und ihre Denkstile bilden Meinungssysteme aus, die als eine Art "Harmonie der Täuschungen", als beharrende starre Gebilde der Weiterentwicklung eher im Wege stehen. Dieses ausgebaute, geschlossene Meinungssystem, das aus vielen Einzelheiten und Beziehungen besteht, verharrt beständig gegenüber allem Widersprechenden, weil:

1. Ein Widerspruch gegen das System erscheint undenkbar.

2. Was in das System nicht hineinpaßt, bleibt ungesehen, oder

3. es wird verschwiegen, auch wenn es bekannt ist, oder

4. es wird mittels großer Kraftanstrengung dem Systeme nicht widersprechend erklärt.

5. Man sieht, beschreibt und bildet sogar Sachverhalte ab, die den herrschenden Anschauungen entsprechen, d.h. die sozusagen ihre Realisierung sind – trotz aller Rechte widersprechender Anschauungen.

Zwischen den Auffassungen und ihren Beweisen besteht in der Wissensgeschichte kein formallogisches Verhältnis: die Beweise richten sich ebenso oft nach den Auffassungen, wie umgekehrt die Auffassungen nach den Beweisen. Die Auffassungen sind eben keine logischen Systeme – so sehr sie es jederzeit sein wollen, – sondern stilgemäße Einheiten, die sich nur als solche entwickeln und verkümmern oder in andere mit ihren Beweisen übergehen.

Fleck formulierte im Prinzip das Gegenprogramm zur Falsifikation. Eine rationale Diskussion, die die wissenschaftlichen Theorien prüft und nach reiflicher Abwägung verwirft, findet allenfalls zufällig statt – das heißt, wenn ein Denkstil ein solches Verfahren vorsieht. Die Beharrungstendenz der Meinungssysteme wird dann Kuhn soziologisch verfeinern, indem er die Arbeitsweise der paradigmentreuen, innovationsfeindlichen normalen Wissenschaft beschreibt.

Mit Fleck lassen sich erstens die Schwachstellen und offenen Fragen des Kritischen Rationalismus formulieren: Wie wird im wissenschaftlichen Alltag falsifiziert? Wo ist die rationale Diskussion? Und wer testet den Kritischen Rationalismus? Das mikrologisch-soziologische Bild der Wissenschaft, das Fleck und später Kuhn entwarfen, legt nahe, daß Poppers Wissenschaftstheorie mit dem Wissenschaftsbetrieb eher im Widerspruch steht. Zweitens macht Flecks Theorie den Blick dafür frei, daß das Prinzip von Versuch und Irrtum keinesfalls flächendeckend im westlichen, nichtmarxistischen Wissenschaftsbetrieb angewandt wurde. Selbst bei naturwissenschaftlichen Revolutionen hat es nicht immer zu bahnbrechenden Ergebnissen geführt. Bezüglich seiner eigenen Versuchsreihen im Bereich der Infektionsforschung muß Fleck Poppers Grundprinzip negieren:

Aus falschen Voraussetzungen und unreproduzierbaren ersten Versuchen ist nach vielen Irrungen und Umwegen eine wichtige Entdeckung entstanden. Die Heroen der Handlung können uns nicht unterrichten, wie dies geschah, sie rationalisieren, idealisieren den Weg.

Das ist im Kern die Kritik am Kritischen Rationalismus, die Feyerabend aufgreifen und ins Zentrum seiner Popper-Polemik stellen wird.

Drittens erlauben die Begriffe Denkstil, Denkkollektiv und beharrendes Meinungssystem einen nüchternen Blick auf die Geschichte der neoliberalen Intellektuellengruppe und der Gruppe um Popper. Ein mikrologischer Blick auf die Anti-Makrologen Popper und Hayek wird möglich. Der Wissenschaftsbetrieb wird mikrologisch analysiert. Auf der Mikroebene zeigen sich die Wirkungen von Denkstilen. Es wird klar, daß rein sachliches Handeln, wie es neoliberale Ökonomie und Kritischer Rationalismus idealisieren, in der Wissenschaft eine Fiktion ist. Nicht die Ideen sind im Wettbewerb. Der Wissenschaftsbetrieb ist ein inhaltlich abgekoppelter Lagerkampf:

Dieses soziale Gepräge des wissenschaftlichen Betriebes bleibt nicht ohne inhaltliche Folgen. Worte, früher schlichte Benennungen, werden Schlagworte; Sätze, früher schlichte Feststellungen, werden Kampfrufe. Dies ändert vollständig ihren denksozialen Wert: Sie erwerben magische Kraft, denn sie wirken geistig nicht mehr durch ihren logischen Sinn – ja, oft gegen ihn – sondern durch bloße Gegenwart. ... Findet sich so ein Wort (z.B. Materialismus, Atheismus, Vitalismus, "Spezifität" in der Biologie, Anm. J.N.), so wird es nicht logisch geprüft, es macht sofort Freunde oder Feinde.

Zu den wissenschaftlichen Problemanalysen müssen sich die soziologischen Analysen der Denkkollektive hinzugesellen, um Handlungen einordnen zu können:
... erst die Untersuchung der Denkgemeinschaft verleiht der Erkenntnistheorie festen Halt. Man erlaube einen etwas trivialen Vergleich: Das Individuum ist dem einzelnen Fußballspieler vergleichbar, das Denkkollektiv der auf Zusammenarbeit eingedrillten Fußballmannschaft, das Erkennen dem Spielverlaufe. Vermag und darf man diesen Verlauf nur vom Standpunkt einzelner Fußstöße aus untersuchen? Man verlöre allen Sinn des Spieles.

Mit der Analyse von Denkkollektiven ist Fleck natürlich bei Karl Mannheims Wissenssoziologie angekommen. Mannheim hatte ja schon vor Fleck die Intellektuellen und Politiker mit der sozialen und weltanschaulichen Gebundenheit ihrer Aussagen konfrontiert. Mannheim hält es ebenso wie Fleck für notwendig, eine "Lehre von der sogenannten ›Seinsverbundenheit‹" aufzustellen, "um durch ein vorbehaltloses, radikales Zu-Ende-Denken dieses Problems eine der heutigen Situation angemessene Theorie über die Bedeutung der außertheoretischen Bedingungen des Wissens auszubauen." Mannheim hoffte mit der Wissenssoziologie eine Methode zu finden, die der allgegenwärtigen Zersetzung der intellektuellen Positionen durch Ideologien den Spiegel vorhält und im besten Sinne als Aufklärung wirksam ist.

Es ist hier nicht der Ort, Mannheims komplizierte Abstufungen von partikularer und totaler Ideologie nachzuerzählen. Die Verbindung der Wissenssoziologie mit ontologischen und existenziellen Begriffen wie eben "Seinsverbundenheit" wirkt etwas esoterisch und trägt nicht zur Klarheit seines wissenssoziologischen Ansatzes bei. Seine einschlägigen Texte bleiben abstrakt. Mannheim stellt zwar fest, daß Denkpositionen von Intellektuellen und Wissenschaftlern kollektiv bedingt sind und deshalb der wissenssoziologischen Untermauerung bedürfen. Aber er unterzieht nur einen Teil der Intellektuellen, eben die, die sich in den weltanschaulichen Fanatismus hineinbegeben haben, einem konsequenten wissenssoziologischen Relativismus. Mannheim hält es für möglich, die wissenssoziologische Gebundenheit des Intellektuellen, die er anfangs betonte, reflexiv zu überwinden. Er stellt einen Intellektuellentypus in Aussicht, der keiner Klasse, sondern einer "sozial freischwebenden Intelligenz" angehört. Durch Bildung ist es diesen Individuen möglich, eine "klassenmäßige Mitte" zu bilden, die neutral und gesinnungslos eine Distanz zu den politischen Vorgängen hält, obwohl sie gesellschaftliche Funktionen wahrnimmt. In den Parteien und Institutionen sind diese idealen Intellektuellen "Wächter ... in einer sonst allzu finsteren Nacht". Sie bewegen sich zwischen den Diskurssystemen:

Man darf sich nicht in den Bannkreis, in die Terminologie und das Lebensgefühl der rein extremen politischen Gruppen hineinziehen lassen.

Mannheims "freischwebende Intelligenz" zollt dem Typus des nonkonformistischen Intellektuellen, den vor ihm Zola und Benda ins Leben gerufen haben, und der später noch in der "kritischen Theorie" zum Ideal erkoren wird, unübersehbar Tribut.108 In das Mannheimsche Intellektuellenraster passen weder Popper noch Hayek. Über Flecks Begriffe "Denkstil" und "Denkkollektiv" lassen sich die kritisch-rationale und neoliberale Intellektuellenwelt wissenssoziologisch besser beschreiben.

Intellektuelle und "Pressure Groups"

Die neoliberalen Theoretiker und die Kritischen Rationalisten lehnten in ihren Schriften den Gruppengedanken ab. Wahre Wissenschaft beschrieben Popper und Hayek als antikollektiven Prozeß, der von unabhängigen Individuen getragen wird. Zweimal habe Hayek ihm das Leben gerettet, berichtet Popper emphatisch in seiner Autobiographie. Erst besorgte Hayek einen Verlag für Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde, dann eine Stelle an der LSE. Poppers Karriere war gesichert. Auffällig ist bei Popper, daß er diese Hilfe als reinen Freundschaftsdienst schilderte, der mit Inhalten und Strategien nichts zu tun hat. Die gleichgesinnten Ökonomen und Wissenschaftler werden nicht als Interessengruppe gefaßt und thematisiert. Schon gar nicht werden sie als Intellektuelle bezeichnet. Die Beziehungen sind immer, wie im Falle Hayeks und Poppers, Einzelbeziehungen. Die inhaltliche Zusammenarbeit ist auf die Lösung konkreter Probleme im Wissenschaftsbetrieb beschränkt. Das Bild des originellen, individuellen Denkers durchzieht die Selbstdarstellungen Poppers und Hayeks. Dankadressen und die Aufzählung von Kollegen, von denen man gelernt habe, sind in diesem Kontext die größte Annäherung an den Gruppengedanken. Strategische Partnerschaften und die MPS als "Pressure Group" treten in den Selbstdarstellungen nicht in den Vordergrund.

Die Negierung der eigenen Intellektuellenrolle steht im Widerspruch zu Hayeks Befund, daß nur der langfristige Wandel des intellektuellen Klimas zu der gewünschten politischen Veränderung führen werde. Popper und Hayek betonten zwar durchgängig den Einfluß der Intellektuellen auf die Politik. Aber der ist zunächst eindeutig negativ besetzt. Fabier, Marxisten, Kollektivisten, Sozialisten – es sind die in der Hegel-Tradition stehenden Intellektuellen, die die Entwicklung zum Totalitarismus zu verantworten haben. Dazu Popper paradigmatisch in der "Offenen Gesellschaft":

Ich habe die Identität des Hegelschen Historizismus mit der Philosophie der modernen totalitären Lehren zu zeigen versucht. Diese Identität wird selten klar genug gesehen. Der Hegelsche Historizismus ist die Sprache weiter Kreise von Intellektuellen und sogar der offenen "Antifaschisten" und "Linken" geworden. Er ist so sehr Teil ihrer intellektuellen Atmosphäre, daß er und seine erschreckende Unredlichkeit von vielen ebenso wenig bemerkt wird wie die Luft, die sie atmen.

Die Offene Gesellschaft befaßt sich mit den kollektivistischen Intellektuellen und ihren Lehren, die sie von Platon, Aristoteles, dem aufs schärfste verdammten "Horden"-Philosophen Hegel und eben Marx adaptieren. Marx war für Popper der intellektuelle Kristallisationspunkt:

Aber ihren größten Erfolg erreichte diese Methode der Durchdringung, Spaltung und Verwirrung des humanitären Lagers – die Methode des Aufbaus einer zum Großteil unwissenden und daher doppelt erfolgreichen intellektuellen fünften Kolonne – erst, nachdem aus der Hegelschen Schule eine wahrhaft humanitäre Bewegung hervorgegangen war: der Marxismus, die bis jetzt reinste, am weitesten entwickelte und gefährlichste Form des Historizismus.

Der Einfluß des Marxismus auf die Intellektuellen sei überragend. Niemand könne sich ihm entziehen.

Die Schizophrenie, ein politisches Buch einseitig über den verwerflichen Einfluß von Intellektuellen zu schreiben und die eigene intellektuelle Rolle höchstens indirekt zu thematisieren, ist analog auch in Hayeks Weg zur Knechtschaft augenfällig. Der Sozialismusbefund, den er für die englische Gesellschaft der 1930er und 1940er Jahre diagnostizierte, wird ausschließlich an den Intellektuellen festgemacht. Die Totalitären verortete Hayek verschwörungstheoretisch "mitten unter uns". Das vermeintlich "sozialismustrunkene" Klima unter den Intellektuellen rechnete Hayek auf die Gesamtgesellschaft hoch. Negativ-Beispiele waren ihm vor allem das Ehepaar Webb, George Bernhard Shaw und H.G. Wells – allesamt Mitglieder der Fabian Society. Deren Eintreten für Sozialismus und Sowjetunion war für Hayek der politisch wirkungsmächtigste Zug der Zeit. In seiner radikalen Antiintellektuellenkampfschrift vermied er Differenzierungen. Die schwankende Stimmung der Intellektuellen gegenüber der Sowjetunion nach den Schauprozessen und dem Nichtangriffspakt mit Hitler thematisierte Hayek nicht.

Popper und Hayek zeigen, wie sehr das 20. Jahrhundert das "Jahrhundert der Intellektuellen" ist. Selbst die politischen Akteure des Faschismus, des Sozialismus und des Wohlfahrtsstaates treten bei Popper und Hayek bis zur Unsichtbarkeit in den Hintergrund: Intellektuelle (meist tote) wie Hegel, Marx, Keynes, Toynbee oder Spengler wurden gemäß dem Primat der Ideen als bestimmende Geister auf den Schild gehoben. Daß zwei der einflußreichsten Schriften der politischen Philosophie der Intellektuellenproblematik verhaftet bleiben, obwohl sie einen antiintellektuellen Standpunkt einnehmen, erscheint im Rückblick bemerkenswert.

Die Fixierung auf die Intellektuellen übernahmen die liberalen Denker des 20. Jahrhunderts weniger vom alten Liberalismus als vom sozialistischen Gegner. Der Glaube an die Bedeutung der intellektuellen Auseinandersetzung einte dann auch die Protagonisten des Kritischen Rationalismus und Neoliberalismus mit den konkurrierenden Gruppen der Fabier und später der Frankfurter Schule. Ob diese Vorannahme haltbar ist, und ob eine intellektuelle Auseinandersetzung über den eigenen Mikrokosmos hinaus Relevanz hat, ist nur zu klären, wenn Theorie und Praxis der Intellektuellen als eine Einheit gesehen werden, wenn die Darstellung der theoretischen Entwicklung auch eine Soziologie der Theorieproduzenten bietet.

Die Untersuchungen der Praxis der Intellektuellen kommen ohne die theoretischen Arbeiten von Antonio Gramsci nicht aus. In seinem Entwurf der "Zivilgesellschaft" spielen Intellektuelle und Intellektuellengruppen eine dominante Rolle. Gramsci teilt die Intellektuellen in große und kleine Intellektuelle ein. Die Zivilgesellschaft ist durchdrungen von Intellektuellen, die um Hegemonie kämpfen. Gramsci ist grundlegend, weil seine Intellektuellensoziologie unabhängig von der politischen Position des Intellektuellen angewandt werden kann. Der Intellektuelle, gleich welcher Ausrichtung, ist auf "das Element der Hegemonie und des Konsenses als notwendiger Form des geschichtlichen Blocks" ausgerichtet. Nonkonformistisches Engagement in der Zola-Tradition ist keine Voraussetzung einer intellektuellen Tätigkeit.

Für die intellektuellenspezifische Analyse des Themenkomplexes Popper/Hayek ist Gramsci zudem von Bedeutung, weil seine Soziologie auch Intellektuellengruppen in den Blick nimmt. Die Philosophie einer Epoche prägt sich demnach durch die Interaktion von Individuen und Gruppen im Kampf um Hegemonie aus. Das Ergebnis ist ein Mix verschiedenster Elemente:

Die Philosophie einer Epoche ist nicht die Philosophie des einen oder anderen Philosophen, der einen oder anderen Gruppe von Intellektuellen, des einen oder anderen Segments der Volksmassen: Sie ist eine Kombination all dieser Elemente, die in einer bestimmten Richtung kulminiert, in der ihr Kulminieren zur kollektiven Handlungsnorm, das heißt zur konkreten, vollständigen (integralen) Geschichte wird.

Die Hegemonie einer Gruppe oder eines Blocks ist letztlich eine "bizarre Kombination".

Der Begriff der Intellektuellengruppe ermöglicht weiterführend, eine Brücke zur Netzwerkanalyse zu schlagen. Netzwerke gehen über reine Gruppierungen von Intellektuellen hinaus, weil sie eine starke politische und mehr noch strategische Ausrichtung implizieren. Gerade bezüglich der wissenspolitischen Aktivitäten Hayeks läßt sich diese strategische Arbeit an Mikro- und Makronetzwerken nachweisen. Im Fokus dieses "Networking" steht erst spät die Gründung der MPS. Hayeks Netzwerkarbeit beginnt bereits bei der Organisation der österreichischen Wissenschaftsemigration in den 1930er Jahren. Als einer der wenigen in England etablierten Gelehrten nutzte er in enger Zusammenarbeit mit Hilfskomitees seine Funktion als "Gate-Keeper" für Wissenschaftler, die vor dem Faschismus nach Großbritannien flüchteten. Die intellektuelle Verbindung zwischen Popper und Hayek basierte organisatorisch auf einer Verknüpfung von Emigration und Netzwerkaufbau.

...

Parallele Entstehungsgeschichten – Wien

Die Ursprünge des Neoliberalismus und des Kritischen Rationalismus sind im politisch-ideologisch aufgeheizten Klima der ersten österreichischen Republik zu suchen. Die beiden weltweit einflußreichen Theorien waren zwei Nachzügler des berühmten Wiener Produktivklimas um die Jahrhundertwende, das in Wissenschaft, Philosophie, Kunst und Literatur als Wiege der europäischen Moderne gilt. In der Endphase des Habsburgerreiches entstanden in Wien auf engstem Raum innerhalb kürzester Zeit so einflußreiche Theorien und Werke wie die Psychoanalyse Sigmund Freuds, die fast ornamentfreie Architektur Adolf Loos’, der physikalische Positivismus Ernst Machs, die neoklassische Nationalökonomie Carl Mengers, die Zwölftonmusik Arnold Schönbergs und die Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins. Nach dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns bildete sich in dieser politisch wie intellektuell revolutionären Gemengelage eine zweite Generation von Wissenschaftlern und Künstlern heraus, die in Intellektuellenkreisen und Privatseminaren wissenschaftstheoretische und wirtschaftswissenschaftliche Ideen entwickelte. Einige der in den Wiener Zirkeln und deren Umfeld entstandenen Theorien wurden fester Bestandteil des modernen liberalen Denkens. Obwohl es in dieser Frühphase selten Überschneidungen von liberaler Erkenntnistheorie und neuer radikalliberaler Nationalökonomie gab, waren die Grundkonstellationen des späteren neoliberalen Intellektuellenlagers bereits im Wien der ersten Republik angelegt.

Die zentralen Theoretiker des Neoliberalismus und des Kritischen Rationalismus, Hayek und Popper, hatten das gleiche Diskursspektrum und das gleiche politisch-ideologische Koordinatensystem vor Augen, als sie erstmals eigene Ideen entwarfen. Noch unabhängig voneinander opponierten sie in ihrer Wiener Zeit gegen identische Schulen und Intellektuellenkreise. Gegner waren die Austromarxisten und der Wiener Kreis.

Koordinaten der Herkunft

Die Intellektuellen der Wiener Moderne gingen fast vollständig aus den Familien der "Gründerväter", die die späte industrielle Revolution auch in der halbfeudalen, rückständigen Habsburgermonarchie in einigen wenigen Zentren bewerkstelligt hatten, hervor. Soziologisch betrachtet sind diese engen Herkunftsgrenzen auffällig. Ludwig Wittgenstein, Karl Popper, Sigmund Freud, Adolf Loos, Karl Kraus, Robert Musil und vor allem die Intellektuellen des Austromarxismus Karl Renner, Otto Bauer, Victor Adler, Max Adler, Rudolf Hilferding und Karl Kautsky stammten aus der im rasanten Aufstieg begriffenen neuen Bürgerschicht. In den Städten rekrutierte sich diese Schicht zu einem beträchtlichen Teil aus der gesellschaftlich mobileren jüdischen Minderheit. Die jüdische Herkunft und die damit einhergehenden Benachteiligungen sollten offensichtlich durch den persönlichen und allgemeinen Fortschritt abgestreift werden. In der erfolgreichen jüdischen Bürgerschicht wurde über dem Durchschnitt konvertiert. Allerdings suchten die Konvertiten selten in dem vorherrschenden Katholizismus eine neue Heimat. Der österreichische Katholizismus wurde zu stark mit dem fortschrittsfeindlichen Habsburg in Verbindung gebracht. Dem neuen Bürgertum ging es nicht nur um Integration und Assimilation in einer rückständigen, jahrzehntelang mit dem Untergang kämpfenden Monarchie. Die neuen bürgerlichen Eliten sahen sich bewußt als Erneuerer, die eine Moderne installieren und einen Weg aus der ewigen Krise des Habsburgerreiches weisen wollten.120 Die konvertierende jüdische Elite suchte sich deshalb vornehmlich den vom Image her aufgeklärteren Protestantismus als geeignete Form christlicher Praxis. Das galt für Karl Wittgenstein, den Vater Ludwig Wittgensteins, ebenso wie für Karl Poppers Vater.

Die zweite, manchmal die dritte Generation aus dieser aufsteigenden bürgerlichen Schicht stellte das Personal für die künstlerischen, philosophischen, wissenschaftlichen, literarischen und politischen Revolutionen zwischen 1895 und 1933. Verspätete industrielle Revolution und verspätete philosophische Aufklärung, begleitet von einer schmalen politisch-liberalen Bewegung, brachten eine einzigartige zeitliche Komprimierung verschiedener politischer, ästhetischer und wissenschaftlicher Fragestellungen hervor. Die komprimierten Innovationen scheinen dem verspäteten und deshalb von der intellektuellen Elite schneller und revolutionärer vollzogenen Sprung in die Moderne geschuldet. Die paradoxe KuK-Monarchie, in der sich überkommener Feudalismus mit zukunftsweisender Übernationalität paarte, war das ideale Feld für ein gleichermaßen pluralistisches wie spannungsgeladenes Nebeneinander von Lebensformen und Anschauungen. Die produktive Gleichzeitigkeit von alten Anschauungen und radikalen Ansprüchen der Moderne ist im Umfeld fast jeder revolutionären Großtheorie der Wiener Moderne anzutreffen. In diesem intellektuellen Reizklima entstand eine schon quantitativ beindruckende Zahl ganzheitlich argumentierender Konzepte und Theorien in äußerst kurzer Zeit auf einer Fläche von gerade mal einem Quadratkilometer rund um die Wiener Ringstraße.

Die intellektuelle Avantgarde Österreichs war in einem überschaubaren Zentrum ansässig, das noch dazu vom öffentlichen und kulturellen Leben nicht isoliert war. Die Gelehrten und Wissenschaftler waren integraler Bestandteil der hauptstädtischen Öffentlichkeit. Anders als in abgeschotteten Eliteuniversitäten wie Cambridge oder Oxford waren interdisziplinäre Diskurse unter Intellektuellen nicht Produkt einer konzeptionellen Wissens- und Lernkultur, die nach straffen Regeln organisiert und begrenzt war. Interdisziplinarität war in Wien notwendige Normalität, weil der gegenseitige Bezug an sich getrennter Wissenszweige öffentliche Kultur war. Großunternehmer, Künstler, Schriftsteller, Kritiker, Schauspieler, Journalisten, Politiker, Musiker und Wissenschaftler kannten sich und begegneten sich zwangsläufig. Das lag nicht nur in der sogenannten Kaffeehauskultur begründet, die neben Literaten und Künstlern gleichermaßen Wissenschaftlern ein informelles Gesprächsforum bot. Auch der private Kontakt in Salons und eine rege Vortragstätigkeit von Wissens- und Kulturgesellschaften war für die neue bildungsbürgerliche Elite obligatorisch.

Popper

Wer Poppers Herkunft, Kindheit und Jugend auf die Spur kommen will, tut sich schwer. Poppers autobiographische Texte sind problematisch, weil Popper offensichtlich darin sein Ansinnen, eine kritisch-rationale Lebensgeschichte aus einem Guß zu erzählen, über manche Fakten stellte. In seiner Autobiographie machte Popper seine Jugend zu einem sehr unwahrscheinlichen Vorlauf des Kritischen Rationalismus. In dem zentralen Kapitel über seine Kindheit handelte er die Probleme des Essentialismus ab. Die Wiener Geisteswelt kam nicht vor. Der Rückblick vermittelte Kindheit und Jugend als Start einer Entwicklungsgeschichte zum repräsentativen liberalen Philosophen und Wissenschaftstheoretiker mit Weltgeltung. Popper datierte gerade in Bezug auf das im folgenden Abschnitt zu erörternde Bekehrungserlebnis Einsichten zurück und Brüche erwähnte er nur, wenn sie in den theoretischen Kontext der Entwicklung des Kritischen Rationalismus paßten. Der Verdacht der strategischen Klitterung der Biographie ist schon auf den ersten Seiten nur schwer von der Hand zu weisen.

Seine Biographen Malachi Hacohen, Martin Morgenstern/Robert Zimmer und Manfred Geier betten den blutjungen Popper ob der ambivalenten Quellenlage in die Zeitumstände und umfassende Familienaufstellungen ein. Hacohen, der die Wiener Wurzeln in den Vordergrund seiner Beschäftigung mit Poppers Philosophie stellt, rekonstruierte – ohne sonderlich auf die Autobiographie einzugehen – akribisch die intellektuelle Geschichte Wiens in der Endphase der Doppelmonarchie und der ersten Republik, um Poppers Außenwelt darzustellen. Aber auch bei diesem Vorgehen ergeben sich Probleme. Popper wuchs zwar im Wien der Jahrhundertwende auf. Zum Produktivklima der Ringstraße entwickelte Poppers Familie aber eine meist ignorante Beziehung. Später fiel Popper in erster Linie als Gegner der Wiener Moderne ins Gewicht. Die innovativen Leistungen von Mach, Wittgenstein, Wiener Kreis, Austromarxismus, Schönberg und Freud spielten nur insofern eine Rolle, als er sie grundsätzlich ablehnte und ihnen gerade ihre innovative Qualität absprach. Es darf bei der Beschäftigung mit dem jungen Popper eben nicht vergessen werden, daß die Autobiographie und ein paar nicht minder interpretationsbedürftige Interviews, die oft eine Distanz von über sechzig Jahren überbrücken, die einzigen Ausführungen Poppers über seine Herkunft sind. Wenn man Poppers intellektuelle Entwicklung nachvollziehen will, ist es leider oft unumgänglich, die autobiographischen Texte kritisch als Quelle zu nutzen.
Durch die verschleierte Biographie des jungen Popper hindurch sind einige Koordinaten der Herkunft erkennbar. Poppers Herkunft begünstigte eine Laufbahn als Akademiker und Intellektueller. Poppers Familie zählte im Habsburgerreich zu einer Minderheit, die ihren Aufstieg der kurzen Phase des politischen Liberalismus in Österreich-Ungarn Ende des 19. Jahrhunderts verdankte. Vom jüdischen Glauben zum Protestantismus konvertiert, prägten Kosmopolitismus und protestantisches Leistungsstreben Poppers Erziehung. Der erkämpfte gesellschaftliche Status sollte in der zweiten Generation durch Bildung gefestigt werden. Die Familie zählte zu Poppers Kindheitszeiten zum städtischen Bildungsbürgertum.

Poppers Vater, ein Rechtsanwalt, verfügte über eine die Wohnung ausfüllende Bibliothek. Buchrücken der Werke Kants, Fichtes, Mills oder Hegels waren für den jungen Popper Alltagsansichten. Die Schule und die heimischen autodidaktischen Studien zielten auf eine generalistische, humanistische Bildung ab. In seiner Autobiographie kokettierte Popper mit frühkindlichen philosophischen Lektüren. Aber schon als Kind schob er die großen Theoretiker letztlich beiseite. Er setzte Selma Lagerlöfs Nils Holgerssons Reise mit den Wildgänsen an die erste Stelle prägender Bildungserlebnisse.

Hayek

Hayeks Kindheit liegt ebenso im Dunklen. Wie bei Popper sind Hayeks autobiographische Äußerungen problematisch, weil sie allzu sehr die Perspektive der späteren Karriere durchscheinen lassen. Wenig läßt sich mit Bestimmtheit über Hayeks Herkunft sagen.

Die Familie von Hayek war eine klassische deutsch-österreichische Beamtenfamilie. Der Urahn Josef Hayek war als erfolgreicher Geschäftsmann aus Mähren von Joseph II. geadelt worden. Trotz des Adelstitels zählte die Familie eher zum mittleren Bürgertum in Wien. Denn die Söhne Josef von Hayeks verloren einen Großteil des Vermögens und wurden oft Beamte, meist Lehrer. Hayeks Mutter war mit der Familie Wittgenstein verwandt. Ihr Vater Franz Juraschek war Universitätsprofessor und mit dem neoklassischen Wirtschaftswissenschaftler und Finanzminister Eugen von Böhm-Bawerk befreundet. Böhm-Bawerks Witwe vermachte Hayek die wirtschaftswissenschaftliche Bibliothek ihres Mannes. Hayeks Vater studierte Medizin, hatte aber vor allem Interesse an Biologie, Evolution und Botanik. Er initiierte einen Botanikerkreis, an dem unter anderem auch Erwin Schrödinger teilnahm. Die Familie soll streng nationalistisch und antisemitisch gewesen sein. Mit 18 Jahren wurde Hayek Soldat. Durch die Detonation einer Granate war er dauerhaft hörgeschädigt.

Politische Bekehrungen

Was Neoliberale oder moderne Liberale der Zwischenkriegszeit von Altliberalen in der Regel unterschied, war, daß die neue liberale Generation nicht in den Liberalismus der Väter hineinwuchs. Die Selbstverständlichkeit, mit der Nachkommen des klassischen Wirtschafts- und Bildungsbürgertums das liberale Gedankengebäude reproduzierten und ihre entsprechende Stellung im bürgerlichen Leben durch bruchlosen Aufstieg einnahmen, hatte spätestens mit dem Ersten Weltkrieg ein Ende. Zum Liberalismus mußte nach den politischen Katastrophen und der meist unausweichlichen Bekanntschaft mit modernen kollektivistischen Theorien explizit zurückgefunden werden.

Daß das Bürgertum durch die Erosionen von Krieg und Revolution in eine fundamentale Krise geraten war, diagnostizieren übereinstimmend die großen Universalgeschichten über das 20. Jahrhundert. Dabei war die Krise des Bürgertums vor allem ideeller Natur, wenn man sich das Paradox vor Augen führt, daß die bürgerliche Demokratie 1918 eigentlich ihren größten Sieg errungen hatte. Selbst das zuvor in Mitteleuropa spätfeudalistisch gegängelte Bürgertum war machtpolitisch nach der Niederschlagung der sozialen Revolutionen an das Ziel aller Wünsche gelangt. Aber das galt genau genommen allenfalls für das Groß- und Wirtschaftsbürgertum. Namentlich das Bildungsbürgertum, das zu den tragenden Säulen der mitteleuropäischen Kaiserreiche gezählt hatte, sah sich – nachhaltig geschädigt durch die Gewalt- und Pauperisierungserfahrungen des Krieges – als Verlierer des politischen Erdrutsches. Aufschlußreich beschreibt Hans-Ulrich Wehler die ideelle Gefühlslage des Bürgertums in denjenigen Staaten, die nach der Kriegsniederlage und der gescheiterten Linksrevolution einen Weg in die bürgerliche Demokratie suchten:

Der Eindruck, von "ungebildeten" Konkurrenten an die Peripherie gedrängt zu werden, wurde zudem durch die Fundamentalkritik am Bürgertum nachhaltig unterstützt, die ungleich mehr Zustimmung fand, als sie in den "halkyonischen" Jahren vor 1914 je hatte auslösen können. Bei vielen dominierte die Gewißheit, daß die "Bürgerliche Gesellschaft" mit all ihren Leitzielen im Ersten Weltkrieg gescheitert sei. Zu tief hatte seine blindwütige Zerstörungskraft die dünne Zivilisationsschicht aufgerissen, die namentlich vom Bürgertum über die abgründige Natur des Menschen gelegt worden war. Nicht mehr der Utopie einer endlich vollständig zu realisierenden "Bürgerlichen Gesellschaft" sollte daher alle Anstrengung gelten. Vielmehr rivalisierten jetzt Entwürfe eines sozialistischen Umbaus von Gesellschaft und Politik mit dem linkstotalitären Anspruch des Kommunismus und der gegen die Antagonismen der bürgerlichen Klassengesellschaft gerichteten sozialromantischen Chimäre der "Volksgemeinschaft", die der Nationalsozialismus aus guten Gründen frühzeitig in sein Propagandareservoir aufnahm. Ihnen allen ging es um eine fatale "Ganzheitsplanung", die mit Hilfe einer "Utopischen Sozialtechnik" zum radikalen "Umbau der Gesellschaft" führen sollte (K. R. Popper). Unter den Protagonisten dieser Konkurrenzutopien galt der "bürgerliche Wertehimmel" als absolut diskreditiert, der bürgerliche Führungsanspruch als fader, von der Geschichte dementierter Anachronismus, der bürgerliche Gestaltungswille als erschöpft. Nicht nur als Folge dieser prinzipiellen Opposition, sondern auch als Ergebnis eigener Erfahrungen und Selbstzweifel griff die Skepsis gegenüber der Überlegenheit des eigenen Projekts im Bürgertum weit um sich. Nicht selten stammten die schärfsten Kritiker aus den eigenen Reihen.

Diese Beschreibung ist nicht nur erhellend, weil sie mit Hilfe von Poppers Terminologie die Situation zu klären sucht. Sie verdeutlicht, daß trotz einer ungebrochenen Dominanz bürgerlicher Gruppen in Wirtschaft und Politik die bürgerliche Gesellschaft der Nachkriegszeit zumindest in Mitteleuropa in die Defensive geraten war. Daraus ergaben sich eine Reihe von Konsequenzen, die das Koordinatensystem antisozialistischer Bekehrungserlebnisse konstituierten und die Wege in einen neuen Liberalismus vorzeichneten:

1. Das Bürgertum verfügte trotz seines unaufhaltsamen Aufstiegs in den mitteleuropäischen Feudalstaaten über keine massenwirksame Ideologie. Nach dem Wegfall der feudalen Herrschaftsschranken, an deren Bekämpfung sich der alte politische Liberalismus abgearbeitet hatte, entwarfen die bürgerlichen Intellektuellen keine progressiven, positiven Zielvorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft. Spätestens nach der Oktoberrevolution und den niedergeschlagenen sozialen Revolutionen in Mitteleuropa fixierte sich das bürgerlich-liberale Denken auf die Bekämpfung des sozialistischen Gegners. Das Denken war rein negativ an Verhinderung orientiert. Es wandte sich nicht nur gegen sozialistische Utopien. Das utopische Denken wurde an sich angegriffen. Diese negative Theoriebildung, die sich einseitig an der Ideologie des Gegners abarbeitete, zersetzte wesentliche Teile des alten Liberalismus, insbesondere seine Fähigkeit, ein auf Gleichheit und Freiheit beruhendes, emanzipatorisches Gesamtbild der Gesellschaft zu entwerfen.

2. Politische Kontroversen hatten eindeutig ideologischen Charakter. Weil eine Vielzahl der antibürgerlichen Theoretiker Dissenter des Bürgertums waren, war die Auseinandersetzung zwischen bürgerlichen und sozialistischen Intellektuellen im Kern ein intellektueller Bürgerkrieg, der nach den Gewaltorgien 1918/19 erbitterter denn je geführt wurde. Die Konventionen gelehrter Diskussionen waren nicht mehr auszumachen. Der intellektuelle Gegner war per se ein Verräter. Popper, Hayek oder Mises warnten ständig vor dem Abdriften des bürgerlichen Denkens in den Kollektivismus. Diese Warnung nahm indirekt auf den Sachverhalt Bezug, daß eine Vielzahl der mitteleuropäischen Liberalen für eine gewisse Zeit mit kollektivistischen Ideologien geliebäugelt hatte. Das Engagement für den Liberalismus basierte eben in der Regel auf einem zweiten Bekehrungserlebnis, das einer direkten Enttäuschung über Marxismus und Sozialismus auf den Fuß folgte.

Popper war ein Musterbeispiel des in Punkt zwei beschriebenen Bekehrungsmusters – zumindest in seiner eigenen Darstellung. Die Rückwendung zum Liberalismus erfolgte bei Popper laut Autobiographie plötzlich und fiel vollständig aus. Auslöser war eine eskalierte Demonstration im Wien der Revolutionszeit. Am 15. Juni 1919 demonstrierte der 17-jährige Marxist Popper gegen die Inhaftierung einiger namhafter Kommunisten. Nach Kriegsende waren die Machtverhältnisse in Restösterreich ungeklärt. Auf den Straßen tobte ein gewalttätiger Kampf um die Macht zwischen regierenden Sozialisten und revolutionären Kommunisten. Am besagten Tag initiierte die kommunistische Partei eine Demonstration mit dem Ziel, die auf der Polizeistation in der Hörlgasse festgesetzten Kampfgenossen zu befreien.

Wie fast alle Demonstrationen in dieser Zeit endete die Aktion mit einer Gewaltorgie der Ordnungsmacht. Allein zwölf Demonstranten wurden von der Polizei erschossen. Popper schilderte die Demonstration als Schlüsselerlebnis. Die Erfahrung in der Hörlgasse sei für die definitive Abkehr vom Marxismus verantwortlich gewesen:

Die Tatsache, daß bei diesem Zusammenstoß in der Hörlgasse eine Anzahl von jungen Leuten getötet wurde, hat mich dazu gebracht, über den Kommunismus kritisch nachzudenken. Natürlich habe ich gewußt, daß der Kommunismus dieser jungen Leute ziemlich unreif war, wie mein eigener Kommunismus. Aber was ich damals zum erstenmal ganz klar gesehen habe, war: Der Marxismus in der damaligen Fassung behauptete, der Kapitalismus verlange jeden Tag mehr Opfer, mehr Menschenopfer, als die ganze soziale Revolution verlangen wird. Das war eine Behauptung, die auf sehr schwachen Füßen stand. Ich erkannte, daß man aus diesem Grund mit Menschenopfern sehr, sehr sparsam und vorsichtig umgehen muß; insbesondere, wenn die Opfer von anderen verlangt werden oder wenn man andere in die Situation führt, in der sie ihr Leben aufs Spiel setzen.

Popper abstrahierte hier sofort von dem konkreten Ereignis. Nicht etwa die Zahlen der Opfer auf den beiden Seiten – Polizei und Demonstranten – bildeten den empirischen Ausgangspunkt eines Vergleichs von Opferzahlen. Popper machte gleich eine große Rechnung zwischen Kapitalismus und Kommunismus auf. Spätere Aufrechnungen wie das "Schwarzbuch Kommunismus" und das Äquivalent, das "Schwarzbuch Kapitalismus", scheint er hier vorwegzunehmen. Weil selten nachvollziehbar und überzeugend geklärt werden konnte, wer alles zu den Opfern des Kommunismus und des Kapitalismus zu zählen ist, und darüber hinaus beide Systeme so exorbitante Opferzahlen produzierten, daß ein Vergleich unter dem moralischen Blickwinkel, den Popper einnahm, auf schwachen Füßen steht, ist dem Popper-Argument a priori kritisch zu begegnen.

Popper kannte zwei Jahre nach der Oktoberrevolution mit Sicherheit keine Zahlen über die Opfer des Kommunismus. Noch dazu war das Phänomen des Stalinismus nicht erkennbar. Es wird hier deutlich, daß Popper nicht aus der Perspektive des Jahres 1919 urteilte.

Dem moralischen Einwand Poppers, es stehe niemandem zu, andere zu nötigen, ihr Leben zu riskieren, ist natürlich zuzustimmen. Nur stellt sich die Frage, ob die Kommandostruktur ein Phänomen des Marxismus war. Popper verallgemeinerte hier den Kadergedanken der Bolschewiki auf den gesamten Marxismus. Aber selbst die Kaderstruktur der Bolschewiki war der herkömmlichen hierarchischen Armeestruktur nachgebildet. Jede Armee erklärte unbedingten Gehorsam zur Voraussetzung effektiven Handelns und setzte voraus, daß andere als die Befehlsgeber ihr Leben riskierten. Weil gerade zur Abwehr sozialer Revolutionen auf Armee und Polizei zurückgegriffen wurde, ist nicht überzeugend, daß Popper den Marxismus moralisch mit dem Argument abwertete, es sei verwerflich, andere ins Feuer zu schicken.

Was Popper nicht thematisierte, was aber 1919 den Maßstab aller Opferaufrechnungen setzte, war die Erfahrung des Massenschlachtens im Ersten Weltkrieg. Die Kriegsopfer schlugen die sozialistischen Revolutionäre dem Kapitalismus zu. Das machte die marxistische Position stark. Nicht die marxistischen Arbeiterbewegungen hatten millionenfach Unschuldige auf die Schlachtbank gezwungen, sondern die Regierungen der durch die Bank weg kapitalistisch wirtschaftenden Nationalstaaten. Popper fand keinen ähnlich nachvollziehbaren Maßstab für die Zurechnung von Opfern. Popper schlug selbst die erschossenen Demonstranten nicht dem Kapitalismus zu. Wenn sich der liberal-kapitalistische Staat wehrte, trug er keine Schuld an den von ihm konkret produzierten Opfern. Der Kapitalismus konnte in Poppers Logik im Bürgerkrieg mit dem Marxismus überhaupt keine Opfer produzieren. Durch ihren Angriff auf die Staatsgewalt waren die Kommunisten an der Erschießung der Demonstranten schuld. Solche Opfer delegitimierten in Poppers Argumentation die soziale Revolution an sich. Den Kapitalismus stellte Popper hingegen nicht mit moralischen Argumenten in Frage.
Wichtig ist also im Zusammenhang mit Poppers späterem politischen Verständnis die einseitig marxismuskritische Interpretation des biographischen Ereignisses. Sie wird sich wie ein roter Faden durch alle biographischen Äußerungen ziehen: Er machte nicht die schießende Staatsgewalt für Gewalt und Eskalation verantwortlich; die Polizei reagierte nur. Die Schuld an der Eskalation der Gewalt trügen die Marxisten, die einer holistischen Geschichtsphilosophie anhingen und damit eine Strategie verträten, die Opfer in Kauf nehme. Popper lagerte den historischen Ereignissen eine alles bestimmende Ideologie vor. Er verwarf den Marxismus als zynische Ideologie, die den Tod ihrer Parteigänger einkalkuliere. Nur diese falsche Ideologie sei für die Katastrophe in der Hörlgasse verantwortlich. Die schießende Polizei war in Poppers Geschichte eine ideologiefreie Kraft. Die Ideologieproduzenten waren einseitig auf der angreifenden, revolutionären Seite zu suchen. Ideologie führte in dieser Logik zwangsläufig zu Gewalt. Er gelangte zu der Auffassung, daß eine gewalttätige Staatsmacht nicht provoziert werden dürfe.

Popper betrieb hier bis zu einem gewissen Punkt klassische Ideologiekritik. Wie später beim wissenschaftstheoretischen Fallibilismus deklinierte er auch politisch die Formenreihe Lüge, Irrtum, Ideologie durch. Ließ sich der Lüge und dem Irrtum noch relativ einfach beikommen, indem der Intellektuelle eine logische oder sinnliche Täuschung ohne viel Federlesen korrigierte, war der Ideologie schwerer beizukommen. Sie war bei Popper das falsche Bewußtsein, das ganze Lebenszusammenhänge und -entwürfe dominieren konnte. Popper entwarf im Rückblick auf sein biographisches Ereignis das klassische Bild des hochideologisierten 20. Jahrhunderts, in dem jede politische Kritik zwangsläufig Ideologiekritik werden mußte. Das politische Geschehen konnte nur entschlüsselt werden, wenn die dahinterstehenden ideologischen Kräfte demaskiert wurden. Es war bei jedem politischen Ereignis umfassender Betrug am Werk, weil die eigentlichen Interessen nicht offen zutage traten. Die Betrüger waren diejenigen, die Ideologien und damit falsches Bewußtsein produzierten. Sie agierten im Kern zynisch, weil sie andere Menschen zu ihren Zwecken einsetzten und im Extremfall über Leichen gingen.

Poppers Betrugstheorie war nicht mehr diejenige der alten Aufklärungs- und Emanzipationstheorie, die – wie im Vorfeld der Französischen Revolution – den Machthabern oder dem Klerus Machtmißbrauch und die Usurpation von Macht vorwarf. Seine Betrugstheorie war zwar einfach gestrickt, ging aber erheblich weiter. Er erweiterte den Verdacht der Täuschung. Hinter jedem politischen Ereignis lauerten verborgene Drahtzieher. Dabei handelte es sich nicht um Präsidenten, Fürsten, Militärs, Unternehmer, Spione oder Putschisten, sondern um Intellektuelle, die Ideologie produzierten, und um Funktionäre, die im Auftrag dieser Ideologen agierten.

Hatten die Intellektuellen einstmals die Machthaber kritisiert, war im neuen ideologischen Zeitalter die Kategorie der Machthaber merkwürdig außen vor. Die Exekutive vermittelte sich nur noch über Ideologie, also über Ideologen und Intellektuelle. Die Regierung oder der Polizeipräsident, der das Massaker in der Hörlgasse zu verantworten hatte, war bei Popper eine Leerstelle. Wer zum Kern des Problems vordringen wollte, mußte sich nach Poppers Interpretation gerade mit den Intellektuellen und nicht mit den Machthabern auseinandersetzen. Das war die logische Konsequenz der so betriebenen Ideologiekritik. Das wertete den Intellektuellen ungeheuer auf. Intellektuelle waren diejenigen, die umfassende Ideologien ersannen, und gleichzeitig die einzigen, die falsche Ideologien entlarven konnten. Sie mußten nicht mehr das alte Spiel der Aufklärung betreiben, Geist und Macht auseinander zu dividieren, wobei sie als Aufklärer immer auf der Seite des machtlosen Geistes standen. Der politisierte Intellektuelle kritisierte von gleich zu gleich und war dem Gegner ebenbürtig. Nur noch Intellektuellengruppen lagen im Clinch, die sich gegenseitig Verblendung und falsches Bewußtsein vorwarfen. Intellektuelle waren die eigentlichen Souveräne der Geschichte.

Aber sie hatten einen Zwittercharakter. Sie waren sowohl für die ideologische Verführung und den politischen Betrug als auch für die Aufdeckung des Betrugs der Ideologien verantwortlich. Diese Doppelfunktion als Ideologe und Ideologiekritiker bürdete dem einzelnen Intellektuellen eine ungeheure Aufgabe auf. Er mußte immer analysieren und hinter die Dinge schauen. Denn im Kampf der Ideologien, in dem jeder Intellektuelle stand, operierte jede Ideologie mit Strategie und Kalkül. Nie lagen die Karten offen auf dem Tisch. Zu dekodierende Ideologien mußten deshalb unter den Verdacht gestellt werden, zynische Betrugstheorien zu sein. Der Gegner operierte, so der logische Schluß, wie das eigene Lager mit hintersinniger, intellektuell ausgefeilter Strategie und Kalkül. Der Generalverdacht bewirkte dann zwangsläufig die totale Politisierung. Jeder kleine Winkelzug konnte eine ganze Ideologie enttarnen. Mißtrauen gegen das Selbstverständliche war eine Grundvoraussetzung dieser intellektuellen Arbeit. Kein Intellektueller konnte sicher bestimmen, welche Rolle er selbst in welchem Kalkül spielte, und er hatte gleichzeitig – vor allem als Ideologiekritiker – die Verantwortung für das Ganze:

Was mich vom Kommunismus abbrachte ... Es war kurz vor meinem siebzehnten Geburtstag. Mehrere junge sozialistische und kommunistische Arbeiter wurden erschossen. Ich war erschüttert: entsetzt über das Vorgehen der Polizei, aber auch empört über mich selbst. Denn es wurde mir Idar, daß ich als Marxist einen Teil der Verantwortung für die Tragödie trug.

Popper bot hier ein schönes Beispiel für die Aufwertung der Intellektuellen. Er war eigentlich nur passiver Teil einer niedergeschossenen Demonstration. Trotzdem schrieb er sich einen Teil der Verantwortung für die Eskalation zu. Das Schuldbekenntnis erscheint auf den ersten Blick wie eine durch nichts gedeckte Aufwertung der eigenen Person. Nach seiner Logik waren ja die Demonstranten keine souveränen Individuen, die demokratisch für das politische Anliegen ihrer Interessengruppe demonstrierten. Es handelte sich laut Popper vielmehr um eine verblendete, fehlgeleitete, naive Masse. Popper wehrte sich aber dagegen, Teil dieser nicht schuldfähigen Masse zu sein. Er war als Intellektueller auf der Demonstration. Er analysierte, welche Interessen wirklich dahinterstanden, und welche Strategien für Massen richtig oder falsch waren. Er zählte sich im Grunde zu der intellektuellen Elite, die den Lauf der politischen Ereignisse bestimmte. Somit nahm er auch die Schuld auf sich, als das Unternehmen schiefging.

Popper erweiterte das Spektrum der Ideologiekritik zusätzlich durch die Ausdehnung des Betrugsverdachtes auf die eigentlich für Emanzipation kämpfende politische Gruppe. Das explizite Ziel der Marxisten war, die falschen Verhältnisse abzuschaffen und das falsche Bewußtsein zu beseitigen. Daß man den Aufklärern vorwarf, sie hätten falsche Motive und die ganze Befreiung laufe auf Terror hinaus, war seit der Französischen Revolution die typische Argumentation der Gegenaufklärung, die vor allem in Edmund Burke, Alexis de Tocqueville und Lord Acton ihre Theoretiker fand. Dieser Gegenaufklärung schloß sich Popper mit seiner Interpretation der Geschehnisse im Juni 1919 an. Er betrieb Aufklärung über die Aufklärer und scheinbaren Befreier. Er erklärte sie zu verbrecherischen Elementen, die für Gewalt und Mord verantwortlich seien. Mit seiner Fixierung auf die Ideologie fügte Popper allerdings der klassisch gegenaufklärerischen Argumentation einen neuen Aspekt hinzu. Rechneten Tocqueville und Burke der Französischen Revolution ihre Massenhinrichtungen und direkten Terrorakte vor, verlagerte Popper den Schwerpunkt der Argumentation auf das ideologische Bewußtsein. Nur so war überhaupt das paradoxe Urteil möglich, daß Popper die schießende Polizei freisprach.

Seine ihm in der Mehrzahl gewogenen Biographen übernehmen weitgehend Poppers rückblickende Einschätzung der Ereignisse. Seine Schilderung der Konversion und die Schlüssigkeit seiner Begründung werden nicht in Frage gestellt. Geier und Jürgen August Alt behandeln die Episode kurz und referieren den Abschnitt aus Poppers Autobiographie. Popper ist hier passiver Beobachter, der seine Schlüsse zieht. In der aktuellsten Monographie von Morgenstern / Zimmer wird Popper als aktiver Demonstrant dargestellt.

Hacohen lotet das Feld eines konkreten Putsches aus. Er stützt die grundlegende Popper-These, es habe sich nur vordergründig um eine Demonstration und eigentlich um einen konspirativen Putschversuch der österreichischen Kommunisten gehandelt. Er kommt aber nicht wie Popper zu dem Ergebnis, daß russischer Einfluß verantwortlich für den Putschversuch war. Sein Verdacht fällt auf die ungarische Räterepublik. Hacohen versucht, Poppers Beurteilung zusätzlich plausibel zu machen, indem er den 17-jährigen Popper als ernstzunehmenden politischen Akteur beschreibt. Nicht nur, daß er Popper zu einem vollwertigen Mitglied der kommunistischen Partei aufwertet. Er platziert ihn auch in Kontakt mit dem "Head quarter". Somit suggeriert er, daß Popper über Informationen der konspirativen Tätigkeiten verfügte und auf der Basis fundierter Kenntnisse seine Beurteilung über das wahre Gesicht des Marxismus ableitete. Auch das Baracken- und Straßenleben Poppers zwischen 1919 und 1920 beschreibt Hacohen als eine Zeit, in der Popper quasi im Zentrum an den intellektuellen Diskursen über das politische System der Zukunft teilnehmen konnte. Hacohen erwähnt ausführlich, wer alles in den Baracken, in denen Popper wohnte, ein- und ausging. In Hacohens Darstellung ist der junge Popper ein ernstzunehmender und geradezu klassischer Dissenter des Kommunismus. Spürbar ist das Bemühen, das Ereignis in der Hörlgasse mit historischer Bedeutung aufzuladen und Poppers persönlichen Wendepunkt mit dem allgemeinen Wendepunkt der österreichischen Geschichte kurzzuschließen.

Hacohen führt akribisch aus, wie der Putschversuch von langer Hand in typisch bolschewistischer Geheimmanier geplant worden sei. Hacohen setzt Poppers innere politische Einstellung so weit es geht vom Kommunismus ab. Seine Abkehr vom Kommunismus habe ohnehin schon vor der Demonstration stattgefunden. Es sei in dieser Hinsicht kein plötzlicher Bruch gewesen. Das Ereignis in der Hörlgasse habe vielmehr das Faß zum Überlaufen gebracht. Nur in Bezug auf die Hintermänner, die er anführe, habe Popper falsch gelegen. Sie stimmten nicht mit den historischen Protagonisten überein. So habe es eben nicht, wie Popper behaupte, eine Situation gegeben, die von Rußland gesteuert worden sei. Vielmehr sei der Einfluß aus Ungarn viel stärker gewesen. Die Hinwendung der österreichischen Kommunisten zu der Sowjetunion sei erst 1920 voll zum Tragen gekommen, als die Revolutionen in Bayern und Ungarn blutig niedergeschlagen worden waren.

Friedrich Stadler, einer der besten Kenner der Intellektuellenszene der ersten Republik, trifft seine Einschätzung über die Biographie des jungen Popper abwägend und vorsichtig. So spricht er davon, daß sich Popper als Kommunist gefühlt habe, und bringt damit zum Ausdruck, daß es tatsächlich keine gesicherten Belege über eine Mitgliedschaft Poppers in der kommunistischen Partei gibt. Schon gar nicht läßt sich gesichert behaupten, Popper habe, wie Hacohen mutmaßt, in der Zentrale der Kommunisten agiert. Was sich klar über Poppers Konversion sagen läßt, ist, daß er an der Demonstration teilgenommen hat und daß das Ereignis eines von vielen war, das zu Poppers Abkehr vom Marxismus beigetragen hat:

Folgt man Karl Poppers Autobiographie, so lassen sich folgende markante Stationen zeichnen: Im Jahre 1902 in Wien geboren, entwickelte er sich unter dem Einfluß des Mach-Anhängers, Marxisten und Monisten Arthur Arndt und der österreichischen Sozialdemokratie um 1915/16 zum Pazifisten. Doch unter dem Eindruck der revolutionären Nachkriegsereignisse und der anschließenden Militarisierung in der ersten Republik vollzog Popper einen weltanschaulichen Richtungswechsel, nachdem er als Mitglied der sozialistischen Studentenbewegung – sich um 1919 für kurze Zeit als Kommunist fühlend – durch einen persönlich erlebten Zwischenfall in seinem Glauben an den Marxismus desillusioniert worden war. Denn im Jahre 1919 wurden bei einer Demonstration unbewaffneter Sozialisten und Kommunisten in Wien einige junge Arbeiter von der Polizei erschossen, was in Popper ein Bekehrungserlebnis auslöste: ... Nach diesem Erlebnis begann der jugendliche Popper an der Wissenschaftlichkeit der marxistischen Theorie, besonders ihrer Behauptung eines determinierten geschichtlichen Ablaufs, zu zweifeln, obwohl er sich nach eigenen Angaben bis in die frühen dreißiger Jahre als Sozialist fühlte.

Eine Konversion im Sinne einer plötzlichen Umkehr erscheint zweifelhaft. Popper verabschiedete sich nach der Demonstration keineswegs aus den einschlägigen sozialistischen Diskussionskreisen. Die Abkehr vom Marxismus und vom Sozialismus sollte als Prozeß begriffen werden, der erst Mitte der 1930er Jahre nach dem faktischen Scheitern des roten Wiens zum Abschluß kam.

Für diese Interpretation, daß die Demonstrationserfahrung nicht als Bekehrung, sondern als Anstoß eines Denkprozesses zu begreifen ist, spricht auch, daß sich für Popper aus der Abkehr vom Marxismus einige schwer zu lösende Probleme ergaben. Denn gleichgültig, ob man die von Popper und von seinen Biographen übernommene Interpretation der Ereignisse in der Hörlgasse nachvollziehbar findet oder auch bei Popper ideologische Vorentscheidungen diagnostiziert: Der angehende Lehrerstudent war in einer theoretischen Zwickmühle. Er verteidigte letztlich die Staatsgewalt, gegen die er als Demonstrant angetreten war. Er wollte politische Veränderungen, sah aber in der Agitation gegen die Herrschenden nur einen unrechtmäßigen Weg in die Gewalt.

Wie löste Popper sein theoretisches Dilemma, sich zugleich von der Staatsmacht und der marxistischen Opposition zu distanzieren? Poppers Schlußfolgerungen aus seinem Erweckungserlebnis hatten nach außen einen betont antiintellektuellen Zug. Er ideologisierte den Marxismus vollständig. Den besonderen Aspekt des roten Wiens, die Verbindung von Marxismus und Pragmatismus, verwarf er. Auf Kosten des Marxismus wertete er den pragmatischen Aspekt der Gesellschaftsveränderung auf. Bei dieser Wendung spielten Poppers Vorprägungen sicher eine Rolle. Popper hatte schon als Jugendlicher sein moralisch-politisches Engagement als lebensweltliche Praxis aufgefaßt. Pfadfinderische Aktivitäten wie Bergsteigen, Campen und Lagerfeuergespräche, die Popper rückblickend hervorhob, sprechen für die übliche sozialromantische Moral, die mit tiefem Ernst die Verwerflichkeit der Verhältnisse erkennt und an die Veränderbarkeit der Welt durch moralisch-praktisches Engagement glaubt. Nachdem Popper vorzeitig die Schule verlassen hatte, lebte er in einer kleinen Containersiedlung, in der Outcasts, politische Flüchtlinge und zurückströmende Soldaten in den Revolutionsjahren Unterschlupf fanden. Auch hier hatte Poppers politische Aktivität einen praktischen Zug. Er übernahm die Aufgaben eines Hausmeisters. Er arbeitete kurze Zeit auch im Straßenbau. Später war er Sozialarbeiter und betreute behinderte Kinder. Manuelle Arbeit sollte das "Elend der Theorie" überwinden helfen. Er träumte davon, ein Landeserziehungsheim zu errichten. Popper war voll von der Schulreformbewegung der Wiener Sozialdemokraten.

Seine praktischen Erfahrungen führte Popper dann an, wenn es darum ging, seine Ablehnung der sozialistischen Intellektuellen zu begründen:

Das, was mich zu der Zeit, von der ich jetzt spreche (es muß 1919 oder 1920 gewesen sein), am meisten abstieß, war die intellektuelle Anmaßung mancher marxistischer Freunde. Sie nahmen es als fast selbstverständlich an, daß sie die zukünftigen Führer der Arbeiterklasse sein würden. Ich wußte aber, daß sie keine speziellen Qualifikationen hatten, die sie zu dieser Annahme berechtigten. Alles was sie beanspruchen konnten, war, daß sie einige marxistische Bücher gelesen hatten – und auch das nicht gründlich und bestimmt nicht kritisch.

Vom Leben der Arbeiter wußten die meisten von ihnen noch weniger als ich. (Während des Krieges hatte ich einige Monate in einer Fabrik gearbeitet.) So reagierte ich scharf auf diese Einstellung. Ich fühlte, daß es ein großes Privileg war, studieren zu können – ein unverdientes Privileg; und ich entschloß mich, Arbeiter zu werden. Gleichzeitig entschloß ich mich, niemals zu versuchen, Einfluß auf die Parteipolitik zu gewinnen.

Interessant ist, daß der Typus, den Popper so harsch kritisierte – ohne Arbeit und Lebenserfahrung, aus gut situierten bürgerlichen Verhältnissen, ohne Qualifikation außer der unkritischen Lektüre –, auf den Popper der Jahre 1919/20 ziemlich genau zutrifft. Was Popper in der Autobiographie verschwieg, war, daß die Intellektuellen, die er angriff, in der Regel der Kriegsgeneration angehörten und primär wegen der Erfahrungen im Schützengraben den Weg zur sozialen Revolution gefunden hatten. Der von Popper beschriebene Intellektuellentypus, der keine Kriegs- und Gewalterfahrungen hatte, traf nur auf Popper selbst und ein paar seiner Altersgenossen zu, die zu jung für den Krieg waren.

Dennoch leitete Popper rückblickend aus der Begegnung mit dem von ihm entworfenen, speziellen Typus des marxistischen Intellektuellen alles spätere ab:

Meine Begegnung mit dem Marxismus war eines der wichtigsten Ereignisse meiner intellektuellen Entwicklung. Sie lehrte mich Dinge, die ich nie vergessen habe; sie lehrte mich die Weisheit der sokratischen Bemerkung "Ich weiß, daß ich nichts weiß"; sie machte mich zu einem Fallibilisten, und sie lehrte mich, wie wichtig intellektuelle Bescheidenheit ist. Und durch sie wurde mir der Gegensatz zwischen dem dogmatischen und dem kritischen Denken bewußt.

Die Haltung des Nichtwissens und der Bescheidenheit war im Kern das Gegenprogramm zum verantwortungslosen, hybriden Marxisten. Popper negierte den kritischen Aspekt des Marxismus. Popper arbeitete sich in der Folgezeit an einer Art Vulgärmarxismus mit groben, chiliastischen Rastern ab, der von persönlich nicht integren Intellektuellen vertreten wurde.

Daß dieser Marxismus wenig mit Wissenschaft zu tun hatte, und daß dessen Voraussagen einer wissenschaftlichen Analyse nicht standhalten würden, überraschte nicht. Popper baute schon in Wien an einem Marxismus, dessen Gesellschaftskritik zweifelhaft war. Allenfalls Karl Marx konnte laut Popper noch als redlicher Intellektueller gelten, der dem Kapitalismus seiner Zeit den Spiegel vorgehalten hatte. Diejenigen jedoch, die in seinem Namen eine Bewegung gegründet hatten, waren für Popper anmaßende Intellektuelle, denen jeder kritische Impuls abzusprechen war.

Aber Popper ging bei seinem Absetzungsprozeß vom Marxismus einen Schritt weiter. Er machte, wie obiges Zitat verdeutlicht, seinen spezifischen Anti-Marxismus auch zum Ausgangspunkt seiner späteren wissenschaftstheoretischen Arbeiten. Er erklärte den Anti-Marxismus zur Quelle des Fallibilismus. Das Demonstrationserlebnis wurde im Nachhinein mit der gesamten Theorie des Kritischen Rationalismus überwölbt: Anti-Marxismus, Fallibilismus, die Fixierung auf Kant und Sokrates und die Erleuchtung zum kritischen Denken gingen ohne weitere Begründung aus dem Demonstrationserlebnis hervor. Selbst hier folgte ihm ein Großteil seiner Exegeten kritiklos. Ingo Pies’ Schilderung ist die gängige Sichtweise auf die Entstehung des Kritischen Rationalismus geworden:

Poppers Reaktion auf den tragischen Tod politisierter Jugendlicher im Wien des Jahres 1919 bestand in einer jähen Wende vom Marxismus zum Anti-Marxismus, denn er machte den Marxismus politischer Führer dafür verantwortlich, daß hier Menschenleben einer Ideologie geopfert worden waren, die den historischen Sieg sicher auf ihrer Seite wußte. Fortan wollte Popper – aus Gewissensgründen – dem marxistischen Anspruch entgegentreten können, eine marxistische Sozialwissenschaft könne in ähnlicher Weise ein Geschichtsgesetz aufstellen wie die Naturwissenschaft ein Naturgesetz. Wie läßt sich der "wissenschaftliche Sozialismus" als Pseudowissenschaft überführen? Es ist exakt diese Frage, durch die Popper zur Formulierung des Abgrenzungsproblems geführt wurde.

Mag der Marxismus für Popper durch die Hörlgassendemonstration auch ein Kernproblem geworden sein, das die Antworten auf die Frage, was Wissenschaft ist und was nicht, vorbestimmen würde. Eine verläßliche Grundlage für die Formulierung einer kritisch-rationalen Wissenschaftstheorie, die die Naturwissenschaft ins Zentrum der Betrachtung stellt, bot der Anti-Marxismus nicht. Selbst Popper sah sich rückblickend genötigt, die Aussage, daß sein Anti-Marxismus im Kern zur Entwicklung des Fallibilismus geführt habe, zu relativieren. Er führte ein zweites, den Kritischen Rationalismus initiierendes Ereignis an: den Kontakt mit der Relativitätstheorie Albert Einsteins. Popper zog Schlüsse, die den Kritischen Rationalismus vorwegnahmen:

Was mich am meisten beeindruckte, war Einsteins klare Feststellung, daß er eine Theorie als unhaltbar aufgeben würde, falls sie gewissen Überprüfungen nicht standhielte. ... Das war eine Einstellung, die sich von der dogmatischen Einstellung von Marx, Freud und Adler grundsätzlich unterschied ... So kam ich, gegen Ende des Jahres 1919, zu dem Schluß, daß die wissenschaftliche Haltung die "kritische" war; eine Haltung, die nicht auf "Verifikation" ausging, sondern kritische Überprüfungen suchte: Überprüfungen, die die Theorie "widerlegen" konnten, aber nicht "verifizieren". Denn sie konnten die Theorie nie als wahr erweisen.

Wieder folgt sein Exeget Pies kritiklos:

... Poppers politische Stellungnahmen beruhen auf einer Anwendung seiner sozialwissenschaftlichen Methodologie; diese ist ihrerseits eine Anwendung seiner Wissenschaftstheorie; Poppers Wissenschaftstheorie wiederum ist eine Anwendung seines konzeptionellen Denkansatzes, des kritischen Rationalismus; diese Hintergrundkonzeption ist ihrerseits das Produkt einer systematisch integrierten Lösung der beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie; und jedes dieser beiden Grundprobleme steht in einem unmittelbaren Zusammenhang zu den beiden prägenden Ereignissen des Jahres 1919.

Diese gängige Sichtweise thematisiert nicht die Problematik der Autobiographie. An dieser Stelle sind aber Poppers Klitterungen zu eklatant, um sie zu übergehen. Der alte Popper warf persönliche Entwicklungen und historische Ereignisse aus verschiedenen Zeitabschnitten zusammen. Seine wissenschaftstheoretischen Thesen entwickelte er nachweislich erst in der Auseinandersetzung mit dem Wiener Kreis. Der Wiener Kreis hatte das Verifikationsproblem, das zu Poppers Ausgangspunkt wurde, formuliert. Der Wiener Kreis beschäftigte sich aber frühestens Mitte der zwanziger Jahre mit der Verifikation in den exakten Wissenschaften. Zum Zeitpunkt, als Popper das Verifikationsproblem gelöst haben will, existierte der Wiener Kreis noch gar nicht.

Es ist also höchst problematisch, das Jahr 1919 zur Geburtsstunde des Kritischen Rationalismus zu stilisieren. Wer in dieser Richtung argumentiert, folgt Poppers zweifelhafter Darstellung, daß der Kritische Rationalismus sein Potential allein aus den individuellen Erfahrungen Poppers bezog. Poppers biographische Berichte haben erkennbar das Ansinnen, die direkten Vorläufer des Kritischen Rationalismus zu negieren. Die subtile, diskursive Entstehungsgeschichte des Kritischen Rationalismus im roten Wien unterzog Popper keiner kritischen Selbstreflexion. Die Demonstration rückte Popper ohnehin erst nach der Etablierung des Kritischen Rationalismus in den Vordergrund. Der Kritische Rationalismus brauchte offensichtlich eine Geschichte, die ihn von der positivistischen Schule und dem Sozialismus der ersten Republik abgrenzte. Der Verzicht der Autobiographie auf alles Strukturelle, Ideengeschichtliche und Kollektive erklärt sich aus diesem Blickwinkel von selbst.

Poppers straffendes Verfahren läßt auch Lesarten zu, die die Komik dieser Auto-Personalisierung von Geschichte anzeigen. Die Demonstration in der Hörlgasse hatte Popper bei aller Sprödigkeit der Darstellung zu einem überragenden Erweckungserlebnis stilisiert. Sie war die Geburtsstunde einer ganzen Philosophie geworden, die allein Popper aus reiner Anschauung entwickelt hatte. Diese Engführung politischer Ereignisse mit autobiographischen Deutungen, die dann in einem weiteren Schritt zur Geburtsstunde einer ultimativen Philosophie erhoben wird, erinnert an Poppers Widerpart Hegel, der ja mit dem Einzug Napoleons in Jena den Weltgeist ankommen sah und die Geschichte für beendet erklärte. Ganz so weit ging Popper nicht, aber der 15. Juni 1919 war in seiner Darstellung nicht mehr und nicht weniger als der Anfang vom Ende der Geschichtsphilosophie und die Geburt der einzig wahren Wissenschaftstheorie.

Das Verfahren, die Entstehung einer theoretischen Schule und eines intellektuellen Lagers zu personalisieren, und die zeithistorischen Widersprüche aus rückblickenden Darstellungen zu entfernen, ist keine Besonderheit Poppers. Ähnlich verfuhr Hayek in den achtziger Jahren nach seinem späten Durchbruch zum Guru des Neoliberalismus. In Interviews und biographischen Bemerkungen produzierte er durchgehend das Selbstbild eines seit dem Ende des Ersten Weltkriegs politisch sich treu bleibenden, gefestigten, elitären Gelehrten, der nie an seiner Mission zweifelte. Er garnierte dieses Bild mit Anekdoten, die suggerieren, daß persönliche Erfahrung das Hauptkriterium für Wissen ist. Unpassendes, das Anknüpfungspunkte zu anderen politischen und gesellschaftlichen Strömungen verriet, ließ auch Hayek in seiner Rückschau aus. Die Überinterpretation der verbleibenden biographischen Ereignisse war wie bei Popper zwangsläufig.

Selbst Hayek fand erst nach einem Ausflug ins gegnerische Lager zum Liberalismus zurück. Klar ist auch bei ihm, daß die Abkehr vom Falschen und der Kampf für die richtige Theorie aus dem Blickwinkel der strategischen Stilisierung möglichst früh geschehen mußte. Ansonsten lief man Gefahr, primär nicht als originärer Neoliberaler, sondern als Häretiker des Sozialismus wahrgenommen zu werden. Hayeks Biographie der Kriegs- und Revolutionszeit ist ebenso lückenhaft wie die Poppers. Sein Biograph Hans Jörg Hennecke setzt das entscheidende Erlebnis, das seinem Protagonisten die Augen über den Sozialismus geöffnet habe, schon mitten im Krieg an. Die Ermordung des österreichischen Ministerpräsidenten Karl Graf Stürgkh durch den Sozialisten Friedrich Adler im Jahr 1916 habe ihn vom sozialistischen Pfad abgebracht. Daß es sich bei dieser Geschichte um eine nachträgliche Stilisierung handelte, räumt Hennecke ein, wenn er berichtet, daß Hayek sich während seiner Militärzeit 1917/18 mit sozialistischen Schriften beschäftigt habe. Vor der Matura habe er die sozialreformerischen Schriften von Walther Rathenau und Karl Renner bevorzugt und sei unangenehm "aufgefallen, weil er im Religionsunterricht solche sozialistischen Pamphlete liest". Die Lektüre wirkte auch durchaus nach. Hayek selbst sagte in einem Interview, in der direkten Nachkriegszeit "Planwirtschaftler und den schrittweisen Fortschritt zu einer planwirtschaftlichen Leitung der Wirtschaft" befürwortet zu haben.

Von Erfahrungen, die ihn bereits vor der Oktoberrevolution und den Revolutionen 1918/19 den Sozialismus verdammen ließen, kann also nicht die Rede sein. Hayek begann nach der deprimierenden Rückkehr von der Front sein Jurastudium. Marxismus und Psychoanalyse waren unter den Studenten die vorherrschenden Diskussionsthemen. Die revolutionären Ereignisse in Wien und der Bürgerkrieg in der Sowjetunion bestimmten die politischen Tagesdebatten. Wie viele seiner bürgerlichen Zeitgenossen schloß sich Hayek letztlich der Gegenrevolution an. Großen Einfluß übte Max Weber auf ihn aus, der ein Semester lang in Wien lehrte. Hayek wollte nach München gehen, um bei Weber zu studieren. Webers Tod machte das Vorhaben obsolet.

Seine langsame Abkehr vom Sozialismus schilderte Hayek 1983 in einem ORF-Interview mit Franz Kreuzer:

Das ging alles nicht so plötzlich. Bei mir ging es über die Nationalökonomie, zuerst bei Wieser, der mein Hauptlehrer war, und ab 1921 bei dem mir damals noch unbekannten Mises, der sechs Monate später dann seine berühmte Gemeinwirtschaft veröffentlichte, die mich völlig überzeugte. Ich war vollkommen vorbereitet darauf. Ich war bereits sehr skeptisch geworden. Aber der systematische Versuch einer Widerlegung kam von Mises, als ich schon völlig vorbereitet darauf war. Aber ich würde damals noch nicht – wie ich das heute tue – gesagt haben, daß der Sozialismus nicht halb richtig, sondern ganz falsch ist. Damals würde ich noch gesagt haben: Sozialismus ist nur halb richtig.

Hayek gab hier im Gegensatz zu Popper zu, daß seine Entscheidung gegen den Sozialismus durch Lehre, Lektüre bestimmter Texte und die Nähe zu einschlägigen Intellektuellengruppen zustandekam.

Auch den Lehren Ernst Machs und des Wiener Kreises stand Hayek anfangs affirmativ gegenüber. Er betonte in seinen Rückblicken immer wieder, daß er von Anfang an über die modernen wissenschaftstheoretischen Diskussionen informiert war. Er hörte regelmäßig die Vorlesungen von Moritz Schlick. Ansonsten las er Wilhelm Wundt und William James. Später distanzierte sich Hayek von Schlick, weil er dessen Unterwerfung unter die ihm unverständlich gewordenen Lehren Wittgensteins nicht nachvollziehbar fand.

Es läßt sich zusammenfassend sagen, daß die Konversionsgeschichte Poppers kaum einer kritischen Prüfung standhält und Hayeks Abkehr vom Kollektivismus viele Leerstellen aufweist. Die Geschichten sind in die extrem explosive politische Situation der Endphase des Krieges und der revolutionären Nachkriegszeit eingebettet. Die Anekdoten, die beide als alte Männer zu ihren offiziellen Biographien erklären, verschleiern diese hysterischen Drucksituationen, die die Ursprünge des Kritischen Rationalismus und des Neoliberalismus dominiert haben müssen. Unwahrscheinlich ist, daß eine Situation vorherrschte, in der ein 17- beziehungsweise ein 20-Jähriger eine ruhige souveräne Abwägung und Beurteilung der Lage nebst definitiver Einschätzung ihrer theoriegeschichtlichen Bedeutung vornehmen konnten. Was sich definitiv sagen läßt, ist, daß Poppers recht sorglose, behütete Kindheit in der Revolutionszeit mit einem Schlag endete. Der politische Zusammenbruch und die persönliche Lebenskrise fielen zeitlich zusammen. Sie bedingten sich gegenseitig. Eine Politisierung war unvermeidlich. An den Konversionsgeschichten wird zudem deutlich, wie der Druck ein Ventil nach außen suchte und bestimmte Intellektuelle ins Fadenkreuz gerieten.

Nimmt man von den Konversionsgeschichten Abstand und vermutet sowohl bei der Entwicklung neoliberaler Positionen als auch des Kritischen Rationalismus eine langjährige Entwicklung, kommt eine Epoche ins Blickfeld, die in den autobiographischen Schriften von Hayek und Popper ein Schattendasein fristet: das rote Wien. Aber eine Vielzahl der Grundgedanken Hayeks und mehr noch des in der Entwicklungsphase nicht unbedingt liberalen Kritischen Rationalismus gingen aus den Diskursen und den politischen Auseinandersetzungen um das rote Wien hervor.

Rotes Wien und Stückwerktechnik

Eric Hobsbawm berichtet in seiner Autobiographie, daß in der ersten Republik eine extreme Politisierung um sich griff. Man gehörte einem Lager an. Entweder stand man auf der Seite der konservativen, latent antisemitischen Christlich-Sozialen, die sich auf eine Mehrheit bei der Landbevölkerung stützten, oder man war Anhänger der Sozialdemokraten, die in Wien dominierten. Popper war dazu prädestiniert, ein Sozialdemokrat zu werden. Schon der Antisemitismus der Seipel-Anhänger ließ ihm keine Wahl. So bezeichnete er sich auch lange als Sozialist. Jedes Lager verfügte über paramilitärische Einheiten. Obwohl es bis 1927 und dann wieder bis zur entscheidenden Niederlage der Sozialdemokraten 1934 nur zu kleineren Auseinandersetzungen kam, behakten sich die christlich-soziale Regierung der ersten Republik und die sozialdemokratische Wiener Stadtregierung wie potentielle Bürgerkriegsparteien. Dieser kalte Bürgerkrieg zog sich durch die gesamte erste Republik. Der Blick auf die große Auseinandersetzung unterschlägt in der Regel die Heterogenität der Lager. Sowohl die Rechten als auch die Linken waren in der ersten Republik alles andere als monolithische Blöcke. Die klerikal-faschistischen Christlich-Sozialen scheiterten letztlich an der Opposition der vom Deutschen Reich aus unterstützten Nationalsozialisten. Auf der Gegenseite war das rote Wien ein Sammelbecken aller Reformbewegungen. Es kann als eine sozialistisch orientierte, liberale Kulturbewegung beschrieben werden, die kommunale Sozialpolitik, eine auf breiter politischer Basis verankerte Schulreform, innovative architektonische Projekte und die neuen positivistischen Wissenschafts- und Sozialtheorien unter einem Dach vereinigte. Einig waren sich diese Gruppen und Bestrebungen allenfalls darin, daß sie sich explizit vom feudalen Habsburgerreich absetzten und sich auf die Moderne beriefen.

Die Diskussionen, Diskurse und Projekte dieses großen Spektrums an Erneuerungskräften fanden auf engstem Raum statt. Kaum eine Innovation hatte auch nur die Möglichkeit, im christlich-sozialen Rest Österreichs umgesetzt zu werden. Dort fristeten die sozialistischen Kräfte in wenigen Städten wie Graz, Linz oder Salzburg das Dasein in der Diaspora. Die Enge Wiens hatte zur Folge, daß fast jeder intellektuelle Protagonist oder Politiker seine Kontrahenten und seine Verbündeten persönlich kannte. So war Wien ein Laboratorium, in dem diskutiert, demonstriert, proklamiert, abgestimmt und experimentiert wurde, und in dem fast alle Felder des öffentlichen Lebens als konkret zu veränderndes Ganzes begriffen und behandelt wurden:

Da gab es das sozialdemokratische Wien gegen die reaktionären Provinzen ... die Avantgarde von Wissenschaft, Kunst und Literatur gegen die philisterhaften Spießbürger ... Vor allem aber gab es eben Wien, das von der sozialdemokratischen Partei regierte und beherrschte Wien ... Von 1918 bis 1933, während der ersten österreichischen Republik, war diese Partei, glaube ich, ein einmaliges soziales, politisches und kulturelles Phänomen des zwanzigsten Jahrhunderts. Weltberühmt wurde ihr Wohnungsbauprogramm, das Standards setzte, die die Arbeiter nie zuvor gekannt hatten ...

Diese Beschreibung stammt von Marie Jahoda. Wie Popper war Jahoda Mitglied im von Paul Lazarsfeld gegründeten sozialistischen Verein für Mittelschüler. Wie Popper hatte Jahoda ihre Wurzeln bei den Pfadfindern, wurde Lehrerin, hatte zuvor eine Ausbildung an Karl und Charlotte Bühlers innovativem Pädagogikseminar absolviert und wandte sich frühzeitig vom dogmatischen Sozialismus der Sowjetunion ab. Sie begriff sich mit jugendlichem Enthusiasmus als Teil einer großen Kulturbewegung:

Einer meiner Kollegen war Karl Popper, Karli, wie wir ihn nannten. Ich erinnere mich, wie er mich einmal wegen einer Rede zum Jahrestag der Republik kritisierte, weil ich zu intellektuell gewesen sei, nicht begeistert genug.

Der pragmatische Aspekt der sozialistisch initiierten Bewegung war für Marie Jahoda entscheidend:

Der Austromarxismus hat eine Kulturbewegung in Österreich, vorwiegend in Wien, geschaffen, die nicht auf blinde Versprechungen, sondern auf tatsächliche politische Aktionen in der Gegenwart abgezielt war.

Die Kulturbewegung stand auf drei Säulen, die für Popper Fixpunkte seiner theoretischen Auseinandersetzungen und Abgrenzungen wurden:

1. Interventionistische Sozialpolitik und Wahrung der Demokratie: Die österreichische Sozialdemokratie war die einzige relevante politische Partei, die sich für die Republik und die repräsentative parlamentarische Demokratie einsetzte. Die Kulturbewegung des roten Wiens war die große Stütze der ersten österreichischen Republik. Wie in der Weimarer Republik gingen die Sozialdemokraten davon aus, daß ein allgemeines Wahlrecht sie ohnehin dauerhaft an die Macht bringen würde. Das Primat der parlamentarischen Demokratie verhinderte eine revolutionäre Änderung der Wirtschaftsordnung. Die konkrete Revolution von 1918/19 begriffen auch die österreichischen Sozialdemokraten als unvereinbar mit der parlamentarischen Demokratie. Statt eines Umsturzes der kapitalistischen Besitzverhältnisse und einer konsequenten Sozialisierung der Industrie versuchte die sozialdemokratische Führung unter Otto Bauer und Karl Renner durch interventionistische Sozialpolitik die Lage ihrer abhängig arbeitenden Klientel zu verbessern. Das führte auch den Austromarxismus in den Widerspruch zwischen revolutionärem Anspruch und praktisch immer nur unzureichend zu erfüllenden Erwartungen der eigenen Klientel. Die Erfolge der sozialtechnologischen Stückwerktechnik waren zudem stark auf Wien begrenzt. Die mangelnde Konsequenz erwies sich als dauerhaft schwächend, so daß die christlich-sozialen Gegner 1934 mühelos und handstreichartig das rote Wien beseitigen konnten. Dennoch kann das rote Wien auf eine erstaunliche Bilanz verweisen. Die Sozialpolitik veränderte nicht nur das Stadtbild. Sie war auch mit der programmatischen Verbindung von öffentlichem Wohnungsbau, Sozial- und Arbeitslosenhilfen sowie einer auf Chancengleichheit ausgerichteten Bildungspolitik richtungsweisend für die interventionistischen Wohlfahrtsstaaten nach 1945.

2. Erneuerung der Philosophie durch Grundlegung der Wissenschaft: Der Positivismus des Wiener Kreises ist neben dem Austromarxismus der theoretisch innovativste und aufsehenerregendste Teil der Wiener Kulturbewegung. Den Weg der Verbesserung der sozialen Verhältnisse begriff ein Großteil der in Wien ansässigen Intellektuellen als einen Weg der Durchsetzung einer "Wissenschaftlichen Weltauffassung". Die Wissenschaft sollte auf eine feste, einheitliche Basis gestellt werden. Jegliche Metaphysik sollte aus den Metatheorien verbannt werden, um der politischen und wissenschaftlichen Arbeit eine streng sachlich-wissenschaftliche Handlungsbasis zu geben. Alle mystischen, irrationalen und metaphysischen Letztbegründungen der Wissenschaft hätten aus der Philosophie zu verschwinden. Der Wiener Kreis spaltete sich allerdings von Beginn an in Fraktionen auf. Der politische Anspruch einer Grundlegung der Wissenschaft im Dienste einer besseren Gesellschaft wurde im Wesentlichen von der Fraktion um Otto Neurath und Rudolf Carnap vertreten. Moritz Schlick, das eigentliche Zentrum der Diskussionen, war dagegen ein konservativer Liberaler, der die Wissenschaftstheorie in die Richtung der eher unpolitischen Sprachforschungen von Wittgenstein weitertreiben wollte und auch bereit war, sich mit dem klerikal-faschistischen Dollfußregime zu arrangieren.

3. Die Schulreform stand im Zentrum der Erneuerungen des roten Wiens. Sie hatte auch die größte Strahlkraft außerhalb der Hauptstadt. Der Grund hierfür war darin zu suchen, daß die Schulreformbewegung trotz erbitterter Widerstände des konservativen Lagers auf breiterer Basis unterstützt wurde. In keinem anderen Politikfeld arbeiteten liberale und sozialistische Kräfte so reibungslos zusammen. Zu eklatant rückständig war das habsburgische Schulsystem, das immer noch klerikal dominiert wurde. Daß der Lehrerberuf für politisierte Akademiker unter diesen Umständen in der ersten Republik zum Fixpunkt wurde, lag auf der Hand. Wenn schon die Produktionsbedingungen unter den herrschenden Kräfteverhältnissen nicht einschneidend zugunsten der Arbeiterklasse zu ändern waren, sollten doch den Arbeiterkindern wenigstens die gleichen Startbedingungen eingeräumt werden. Diese Auffassung von Chancengleichheit hieß jedoch, daß das bürgerliche Bildungsideal, über zertifiziertes Wissen eine bessere Zukunft zu erarbeiten, auf die Arbeiterklasse übertragen wurde.

Wie stand Popper zum roten Wien, zur Sozialdemokratischen Partei und zur parlamentarischen Demokratie? Vorab muß wiederum darauf hingewiesen werden, daß es verläßliche zeitgenössische Quellen zu Poppers politischer Haltung in der ersten Republik nicht gibt. Neben späten autobiographischen Schriften können aber seine Hauptwerke, vor allem die Offene Gesellschaft, herangezogen werden, weil sie zum einen die Politik der zwanziger und dreißiger Jahre abstrakt reflektieren, und zum anderen – meist im Anmerkungsapparat versteckt – das Scheitern der ersten Republik kommentieren. In der Autobiographie lobte er die sozialdemokratischen Arbeiter, trennte aber wie schon in der Beurteilung seines Bekehrungserlebnisses praktische Politik und Ideologie der Parteiführung. Anders als die österreichische Sozialdemokratie und die Austromarxisten sah er das Defizit nicht darin, die Strukturen der alten bürgerlichen Gesellschaft nicht weitgehend genug geändert zu haben. Der beibehaltene marxistisch-revolutionäre Anspruch sei vielmehr die Ursache des Dilemmas der sozialdemokratischen Partei gewesen:

Diese Bemerkung (daß die Kommunisten und Sozialdemokraten für die Machtübernahme unvorbereitet waren, Anm. J.N.) soll keine Verteidigung der sozialdemokratischen Führer sein, deren Politik völlig durch die marxistische Prophezeiung, durch ihren impliziten Glauben bestimmt war, daß der Sozialismus kommen müsse. Aber in den Führern war dieser Glaube oft verbunden mit einem hoffnungslosen Skeptizismus in Bezug auf ihre eigenen unmittelbaren Funktionen und Aufgaben sowie in Bezug auf ihre unmittelbare Zukunft. Vom Marxismus hatten sie gelernt, die Arbeiter zu organisieren und sie mit einer wirklich wunderbaren Begeisterung für ihre Aufgabe, die Befreiung der Menschheit, zu inspirieren. Sie waren jedoch unfähig, die Verwirklichung ihrer Versprechen vorzubereiten. Sie hatten ihre Lehrbücher gut gelesen, sie wußten alles über den "wissenschaftlichen Sozialismus", und sie wußten, daß die Herstellung von Rezepten für die Zukunft unwissenschaftlich und utopisch war ... Die marxistischen Führer waren nicht so dumm, daß sie ihre Zeit an Dinge wie an eine Technologie verschwendeten. "Arbeiter aller Länder, vereinigt euch!" – dieses Schlagwort erschöpfte ihr praktisches Programm. Als die Arbeiter ihrer Länder vereinigt waren, als sich eine Gelegenheit bot, die Verantwortung der Regierung zu übernehmen und die Grundlagen für eine bessere Welt zu legen, als ihre Stunde schlug, da ließen sie die Arbeiter auf dem Trockenen. Die Führer wußten nicht, was tun. Sie warteten auf den versprochenen Selbstmord des Kapitalismus.

Popper kritisierte hier direkt die Strategie der Sozialdemokraten. Bauer und Renner hatten die Sozialdemokratie zwar zur einzigen nennenswerten Verteidigerin der parlamentarischen Demokratie gemacht. Aber die Möglichkeiten zu einer sozialistischen Demokratie und zur Ausschaltung der rechten antidemokratischen Kräfte ließen sie reihenweise verstreichen. Selbst am 15. Juli 1927, als der autoritäre christlich-soziale Bundeskanzler Ignaz Seipel nach dem Sturm der Arbeiter auf den Justizpalast bereits aus Wien geflüchtet war, wurde die Revolution mit dem Argument, daß nur freie Wahlen eine Regierung einsetzten könnten, von Bauer abgewürgt.

Popper verschärfte seine Kritik an der sozialdemokratischen Ideologie. Sie habe indirekt das Aufkommen des Faschismus begünstigt:

Etliche Jahre vor dem Sieg des Faschismus machte sich in den Reihen der sozialdemokratischen Führer Mitteleuropas ein stark ausgeprägter Defätismus bemerkbar. Sie begannen zu glauben, daß der Faschismus ein unvermeidliches Stadium der sozialen Entwicklung sei. Das heißt – sie verbesserten das marxistische Schema da und dort, sie bezweifelten aber nie die Richtigkeit des historizistischen Vorgehens; sie sahen niemals ein, daß eine Frage wie "Ist der Faschismus ein unvermeidliches Stadium in der Entwicklung der Zivilisation?" völlig in die Irre führen kann.

Popper vermengte in dieser Anfang der vierziger Jahre geschriebenen Anmerkung aus der Offenen Gesellschaft die offizielle Position der von der Komintern gesteuerten kommunistischen Parteien, wonach der Faschismus als Agent des Kapitalismus zu begreifen war, mit der fehlgeschlagenen Strategie Bauers. Die Sozialdemokraten vertraten zu keiner Zeit die Position, den Faschismus als historische Entwicklungsphase zuzulassen. 1934 traten sie mit ihrem paramilitärischen Schutzbund dem Dollfuß-Putsch entgegen. Der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen. Durch seine Fixierung auf die vermeintlich marxistische Ideologie Bauers und Renners sah Popper nicht, daß die Sozialdemokraten Österreichs, was praktische Sozialpolitik betraf, alle anderen sozialistischen Parteien Europas übertrafen. Popper erkannte nicht an, daß die Sozialdemokratie auch ideologisch keine marxistische Revolutionspartei mehr war. Ihr Widerspruch, der sie so handlungsunfähig machte, lag weniger in einer irrealen Revolutionsideologie als genau in dem Punkt, den Popper später für seinen Liberalismus beanspruchte: in der Verteidigung der liberalen Demokratie. Zur Vermeidung des Faschismus hätten Bauer und Renner die Christlich-Sozialen und die Nationalsozialisten aus dem pluralistischen Spektrum der Demokratie ausschließen und ein sozialistisches System einführen müssen. Genau das geschah aber nicht. Diese, die bürgerliche Demokratie immer schützende, staatstragende Rolle der österreichischen Sozialdemokratie blendete Popper aus. Wie erwähnt nutzte die Sozialdemokratie 1919 und 1927 nicht die Chance, die Rechte dauerhaft von der Macht zu entfernen. Stattdessen bevorzugten Bauer, Renner und andere führende Sozialdemokraten die Strategie, die bürgerliche Demokratie zu retten und die Kommunisten zu bekämpfen. Poppers Vorwurf des versteckten Marxismus ist vor diesem Hintergrund kurios. Nie hätte er ja selbst einem sozialdemokratischen Umsturz von der Straße zugestimmt. Aber gerade die formale Rettung der bürgerlichen Demokratie, die Wiedereinsetzung der Rechten unter Seipel nach dem Justizpalaststurm 1927, hatte Österreich für die populäre Rechte sturmreif gemacht. Die Erhaltung der bürgerlichen Demokratie war der Bumerang der Sozialdemokraten. Diesen Grundwiderspruch thematisierte Popper nicht. Sein Anti-Marxismus hatte ihn zunehmend auf dogmatische Wege geführt, auf denen eine realistische Interpretation der politischen Ereignisse in Österreich nicht möglich war.

Dabei schien Popper den Trend der allgemeinen Abkehr der sozialdemokratischen Parteien Mittel- und Westeuropas von der marxistischen Revolutionstheorie und die Konversion ihrer Programme zu einer rein pragmatischen Sozialpolitik durchaus wahrgenommen zu haben. Spätestens nachdem die sozialdemokratischen Parteien in den beiden letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in Parlamente eingezogen waren und Gewerkschaften beachtliche Erfolge zur Hebung des Lebensstandards in einzelnen Industriezweigen durchgesetzt hatten, spielte bei jedem Grundsatzstreit innerhalb der marxistischen Arbeiterbewegungen die Frage Reform oder Revolution eine Hauptrolle. Paradigmatisch war mit Sicherheit der Revisionismusstreit in der deutschen Sozialdemokratie. Die Aufgabe der Revolutionstheorie hatte der Revisionist Bernstein aus England mitgebracht. Dort trat die Fabian Society, die für Hayek das bevorzugte Feindbild und somit ein Kristallisationspunkt seines Handels werden sollte, von Anfang an für einen evolutionären, gewaltfreien Weg zum Sozialismus ein. Wie nicht anders zu erwarten, galten die Revisionisten in den sozialdemokratischen Parteien als Pragmatiker, die darauf setzten, daß man innerhalb der bestehenden Verhältnisse zu schrittweisen, handfesten Verbesserungen für die Arbeiterklasse kommen konnte. Die sich orthodox auf Marx berufenden Revolutionäre mußten dagegen in Mittel- und Westeuropa trotz und auch wegen des Erfolges der Oktoberrevolution mit dem Image leben, mehr einem unpraktikablen und deshalb gewaltanfälligen Utopismus anzuhängen, der in der politischen Praxis zu keinerlei Verbesserung fähig ist. Diese strikte Trennung von Reform und Revolution sowie Marxismus und Pragmatismus war eine Schablone, der sich Popper lebenslang bediente.

Die Frage Revolution oder Reform versuchte Popper anhand der österreichischen Verhältnisse durchzudeklinieren. Aber diese Verhältnisse waren komplizierter und paßten nicht so ohne weiteres in die Schablone Marxismus/Revolution versus Pragmatismus/Reform. Die Besonderheit des roten Wiens lag gerade in dem Versuch, die künstliche Trennung von Pragmatismus und Marxismus aufzuheben. Im Wien der Revolution und der ersten Republik war der Austromarxismus eine betont praktisch orientierte politische Strömung: Sozialexperimente, Wohnungsbau und tätige Hilfe für sozial Schwache gehörten ebenso zur Programmatik wie das Beharren auf dem Ziel der klassenlosen Gesellschaft. Zudem wurden Reformvorhaben der österreichischen Sozialdemokraten – wie die Schulreform – auch von bürgerlich-liberalen Gruppen getragen.
Die beiden integrierten Pole des roten Wiens zerlegte Popper. Sein kritischer Fokus richtete sich einseitig auf den Marxismus. In Verschärfung der Lagerargumentation nahm Popper die marxistischen Sozialisten aus dem Kanon der praxisbezogenen politischen Gruppen heraus. Die marxistische Theorie las er allein unter dem Aspekt, daß sie a priori eine hybride Krisenverschärfungstheorie sei. Sie war nicht mehr primär eine Ideologie der Unterklasse, die gegen die schwerwiegenden Folgen von Krieg und Kapitalismus opponierte und ein eigenes Politikkonzept dagegen setzte:

Die marxistische Theorie verlangte die dauernde Verschärfung des Klassenkampfes, damit das Kommen des Sozialismus beschleunigt werde. Ein Marxist wußte wohl, daß die soziale Revolution schreckliche Opfer fordern wird. Aber er wußte auch – und er wußte es mit vollster Sicherheit –, daß der Kapitalismus an jedem Tag mehr gewaltsame Opfer fordert als die ganze soziale Revolution. Das war ein Teil der marxistischen Theorie – ein Teil des sogenannten wissenschaftlichen Sozialismus. Ich fragte mich jetzt, ob eine solche Behauptung je wissenschaftlich begründet werden könne. Diese Frage ... führte zu einer dauernden Abwendung vom Marxismus.

Popper griff die marxistische Theorie an ihrer vermeintlich schwächsten Stelle an: ihrem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Popper kritisierte ihre selbst proklamierte Fähigkeit, durch eine materialistische Analyse der Geschichte der Klassenkämpfe zu einer klaren Aussage über den Verlauf der Zukunft zu gelangen. In dieser Argumentation verlor der Marxismus unabhängig von seiner praktischen Politik. Er war ein ultimativer, gefährlicher Irrtum, weil er die beanspruchte Wissenschaftlichkeit in Wahrheit nicht einlöste. Die Sozialdemokratie wiederum schaffte es nicht, sich von diesem Irrtum zu lösen, womit sich letztlich die ganze Kulturbewegung des roten Wiens diskreditierte.
Hier sei kurz ein Gedankengang eingefügt, der die Problematik der wissenschaftstheoretischen Begründung des Anti-Marxismus verdeutlicht. Wenn Popper den Marxismus wegen seiner Unwissenschaftlichkeit aus dem Spektrum der politisch brauchbaren Theorien aussonderte, stellt sich natürlich die Frage, wie es mit der wissenschaftlichen Legitimation der Theorien zur Verteidigung der liberalen Demokratie aussah. Was die wissenschaftliche Fundierung von Politik betrifft, lohnt sich also wiederum eine Umkehrung der Perspektive. Die von Popper favorisierte liberale Demokratie hatte keine wissenschaftlich formulierte Basis. Diesen Mangel erhob Popper allerdings auch nicht zum Problem. Wichtig war für ihn nur, daß die liberale Demokratie einen solchen nicht einlösbaren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit gar nicht erst erhob. Sie entging damit der Gefahr des Historizismus, die Popper dem wissenschaftlichen Sozialismus zuschrieb. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang, daß der Kritische Rationalismus von der liberalen Politik nicht nur nie Wissenschaftlichkeit verlangte. Geschickt formulierte Popper, daß seine eigenen Texte, die sich für die liberale Demokratie einsetzten und den Marxismus angriffen, auch keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben würden. Damit entzog er sie zum einen der wissenschaftlichen Kritik. Sie können nicht falsifiziert werden. Zum anderen hing er die Latte, über die die Legitimationstheorien der liberalen Demokraten springen müssen, bewußt niedrig.

Wenn Wissenschaftlichkeit und Abgrenzung der Wissenschaft von Ideologie die zentralen Kriterien für Wahrheit und die Gültigkeit einer Theorie sind, bleibt schleierhaft, was erstens der Vorteil der unwissenschaftlich fundierten liberalen Demokratie gegenüber dem Sozialismus ist, und worin zweitens der Wert von Poppers Schriften liegt. Wie können nichtwissenschaftliche Texte wissenschaftliche Theorien zunichte machen und aus dem wissenschaftlichen Feld ausschließen? Wenn die Trennlinie Wissenschaft/Ideologie nicht nur auf den Marxismus, sondern auch auf den Kritischen Rationalismus angewandt wird, kommen Poppers Offene Gesellschaft und Das Elend des Historizismus nicht über den Status der pseudowissenschaftlichen Ideologie hinaus. Der ideologische Charakter erschließt sich dann gerade durch die Anwendung der kritisch-rationalen Regeln.

Noch einmal ist zu rekapitulieren: Auf den ersten Blick prallten in Restösterreich die für die Zwischenkriegszeit dominanten politischen Strömungen Demokratie, Faschismus und Sozialismus geradezu exemplarisch aufeinander. Aber in zweierlei, für Poppers Schlüsse bedeutsamer Hinsicht, wirkten sich Besonderheiten der ersten Republik aus:

1. Die sozialdemokratische Partei unter Bauer und Renner war die einzige Großpartei mit Massenbasis, die vorbehaltlos für die bürgerliche Demokratie eintrat.

2. Die Besonderheit des Austromarxismus lag in der Verbindung zwischen Marxismus und politischer Praxis. Theoretisch wurde der Versuch unternommen (Max Adler), Kant und bürgerlich-liberale Positionen mit der marxistischen Lehre zu verbinden. Marxismus und bürgerlich-positivistische Wissenschaftstheorie wurden ganz analog in den politisierten Teilen des Wiener Kreises als vereinbar angesehen. Das rote Wien war zumindest ein Beispiel dafür, daß auch eine Strömung, die den Marxismus auf ihre Fahnen geschrieben hatte, einmal an die Macht gekommen, naturlich auch über den Bereich der politischen Praxis verfügte. Und dabei stand es den Marxisten entgegen Poppers Ansicht durchaus frei, zur Verbesserung der Lage eine Politik der kleinen Schritte zu betreiben. Man könnte es angesichts der Uneindeutigkeit der Machtverhältnisse, die eben allenfalls eine Hegemonie der Austromarxisten in Wien zuließen, nie aber eine volle Verfügung über die Macht, sogar für ausgemacht halten, daß nichts anderes als Stückwerktechnik möglich war. Zur politischen Praxis des Durchwurstelns und Herumbastelns waren alle Interessengruppen und Parteien gezwungen.

Popper hatte bis in die dreißiger Jahre hinein kaum politische Erfahrung. Er war, wie auch noch ungewollt die Überbetonung der Demonstration in der Hörlgasse zum Ausdruck bringt, ganz an den österreichischen und Wiener Verhältnissen orientiert. Trotz seiner beginnenden Auseinandersetzungen mit dem Marxismus banden ihn seine praktischen Ziele an die Sozialdemokraten. Er, der Hauptschullehrer und Sozialarbeiter, war bis Ende der zwanziger Jahre primär an der Reformpädagogik Glöckels und der Weiterbildung am reformistischen psychologischen Institut des Ehepaars Bühler interessiert. Er war Teil der praktischen Arbeit zur Hebung des Sozial- und Bildungsstandards in Wien. Wie viele politisierte Intellektuelle suchte er sein Heil im reformierten Lehrerberuf. In seiner Autobiographie schrieb er:

In ihrer beschränkten Freizeit besuchten viele Arbeiter, jung und alt, Arbeiterbildungskurse oder eine der Volkshochschulen. Sie arbeiteten an ihrer eigenen Weiterbildung, und sie halfen mit an der Erziehung ihrer Kinder, an der Schulreform, an der Wohnungsreform, an der Lebensreform. Es war eine bewundernswürdige Bewegung. Wandern und Bergsteigen ersetzten vielen den Alkohol; gute Bücher die Schundromane; Arbeiter-Symphoniekonzerte und andere klassische Musik die populären Schlager. Das waren friedliche Beschäftigungen, und sie gingen in einer vom Faschismus vergifteten und vom Bürgerkrieg bedrohten Atmosphäre vor sich. (Leider trugen die wiederholten, verwirrten und verwirrenden Drohungen gewisser Arbeiterführer, daß sie ihre demokratischen Methoden aufgeben und zur Gewalt übergehen würden – ein Erbe der zweideutigen Haltung von Marx und Engels –, nicht dazu bei, eine bessere Atmosphäre zu schaffen.).

Diese von Popper positiv besetzte praktische Welt des tätigen Engagements und der stückweisen Verbesserung des sozialen Standards ging zwar mit dem Dollfuß-Putsch 1934 definitiv unter. Als Popper sich aber ab Mitte der dreißiger Jahre die politische Frage stellte, wie das Desaster der ersten Republik hätte vermieden werden können und was man aus der Katastrophe lernen könnte, machte er den Pragmatismus des roten Wiens zu seinem politischen Positivprogramm. Als Stückwerktechnik ging die Philosophie dieser sozialdemokratischen Praxis in seine politischen Hauptwerke ein. Allerdings nannte er die Quelle nicht. Daß die Linke mit schrittweiser Sozialtechnologie bereits Erfolge in der Arbeiterbildung, dem Wohnungsbau, der Arbeitslosenunterstützung und der Kulturpolitik vorzuweisen hatte, verschwieg Popper. Er übernahm die Methode des roten Wiens in verdrehter Form und benutzte sie als Argument gegen ihre Erfinder.

Popper trennte die Stückwerktechnik vom Marxismus. Weil er die sozialdemokratischen Führer für Anhänger der marxistischen Geschichtsphilosophie hielt, war auch ihre Sozialtechnologie diskreditiert. Er löste dieses Problem, indem er seine Stückwerktechnik von einer "utopischen Stückwerktechnik" abgrenzte (was noch in Kapitel 3 diskutiert wird).186 Das rote Wien war damit für Popper als Begründer der positiven Sozialtechnologie obsolet geworden.

Durch weitgehende Ausgrenzung der konkreten Sozialpolitik aus der Begründungsproblematik der Sozialtechnologie machte er die Stückwerktechnik zu einem übergeordneten politischen Konzept. Die Politik selbst durfte nur Schritt für Schritt fortschreiten. An die Stelle der marxistischen Utopie des roten Wiens, die durch Sozialtechnologie verwirklicht werden sollte, platzierte Popper den Funktionsmechanismus Stückwerktechnik selbst. Es gab kein Endziel und keine Utopie; es gab nur noch Methode. Wenn die Stückwerktechnik aber von ihren sozialen Zielen abgekoppelt wurde, war sie tendenziell eine Kampfparole gegen linke gesellschaftsverändernde Sozialprogramme. Poppers Begründung der Stückwerktechnik gegen ihre Erfinder zeigte an, daß der Kritische Rationalismus aus seinem Begründungsproblem heraus immer zuerst den Sozialismus bekämpfte. Die Faschismuskritik konnte aus dieser Konstellation heraus nie mehr als ein Appendix der Sozialismuskritik sein.

Die Stückwerktechnik erhob Popper in seinen beiden Hauptwerken, Das Elend des Historizismus und Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde zum einzig legitimen Grundprinzip politischen Handelns. Während in der Wissenschaft Revolutionen über Falsifikationen von Großtheorien erwünscht waren, sollte die plötzliche eruptive Veränderung in der Politik auf jeden Fall ausgeschlossen bleiben. Deshalb schränkte Popper selbst die Stückwerktechnik methodisch ein. Sie war an Situationslogik gebunden und durfte keinesfalls zur Erreichung einer umfassenden Gesellschaftsutopie eingesetzt werden. Zudem nahm Popper seiner Methode die Tradition. Die Stückwerktechnik stellte er in seinen Hauptwerken abstrakt dar. Jeder direkte Verweis auf die Geschichte des Piece-Meal-Engineering, sei es auf das rote Wien, den amerikanischen Pragmatismus oder die Tradition der Fabians, wurde negiert.

Um es zusammenzufassen: Popper entwickelte seine politische Philosophie aus dem Fundus des roten Wiens. Quasi von innen zerlegte er die Ideologie des Austromarxismus und der SPÖ in einen marxistischen und einen praktischen Teil. Den Marxismus verwarf er, und den übrig gebliebenen Praxisteil formte er zu einer auch für das liberale und rechte Lager annehmbaren Methode der Politik um. Hatte das rote Wien mit Sozialtechnologie einen pragmatischen Weg gesucht, Marx umzusetzen, so verband Popper positive Sozialtechnologie mit einem scharfen Anti-Marxismus. An diesem Punkt scheiden sich auch die Geister, ob Popper nun durch die Beibehaltung der begrenzten Stückwerktechnologie als wohlfahrtsstaatlicher Sozialdemokrat zu interpretieren ist, oder ob er durch seinen Anti-Marxismus das soziale Anliegen des roten Wiens erst entkernt und dessen effiziente Sozialtechnologie ins Arsenal des sich neu formierenden Liberalismus überführt hat. Daß weitaus mehr für die zweite Interpretation spricht, wird im Rahmen der Diskussion seiner Hauptwerke noch ausgeführt. Soviel nur vorweg: Mit dem roten Wien eliminierte Popper auch weitgehend die pragmatische Linie des westlichen Sozialismus aus dem Spektrum möglicher Alternativen. Denn sein Urteil fiel zu knapp und definitiv aus: Die Stückwerktechnik und die Utopie einer besseren, sozial gerechteren Gesellschaft waren unvereinbar. Das rote Wien war abzulehnen. Der Grat, an dem Popper zu einem Theoretiker des Wohlfahrtsstaates und der Sozialdemokratie gemacht werden kann, ist somit wohl zu schmal, um sich darauf berufen zu können. Der Ursprung des Kritischen Rationalismus im roten Wien taugt jedenfalls nicht als überzeugendes Argument. Poppers theoretische Initiation in Wien war eine Geschichte der Abkehr und keinesfalls eine Weiterentwicklung der Programmatik des roten Wiens.

Einfacher ist das Verhältnis des frühen Neoliberalismus zum roten Wien. Hayek und Mises hatten nie eine positive Beziehung zu den sozialdemokratisch dominierten Institutionen der Wiener Stadtregierung. Ihre Beziehung blieb oppositionell und rein äußerlich. Die neoliberalen Wirtschaftswissenschaftler lehnten jegliches staatliches oder städtisches Wirtschaftsprogramm ab.

Zunächst fehlte ihnen zur Propagierung ihrer Auffassung die öffentliche Plattform. Die österreichische Schule der Nationalökonomie, die mit der Grenznutzenlehre und der Gleichgewichtstheorie von Carl Menger, Eugen von Böhm-Bawerk und Hayeks erstem Lehrer Friedrich Wieser der wichtigste Vorläufer des ökonomischen Neoliberalismus war, war 1918 an der ökonomischen Fakultät der Universität Wien nicht mehr präsent. Es lehrte dort unter anderem Carl Grünberg, der spätere Gründer des Frankfurter Instituts für Sozialforschung.190 Die alte Wiener Schule der Nationalökonomie sei regelrecht "enthauptet" worden, und der Wirtschaftsliberalismus habe in der ersten Republik seine sozialpolitische Relevanz eingebüßt, urteilt Johannes Feichtinger.

Die Wende gegen den Wirtschaftsliberalismus an der Wiener Universität bedeutete allerdings nicht, daß die Vertreter der Wiener Schule dem Einfluß der staatlich bestallten Ökonomen nachstanden. Die zweite Generation der österreichischen nationalökonomischen Schule formierte sich in dem Privatseminar von Mises. Die Privatgelehrten, die diesen Forschungskreis besuchten und trugen, waren Unternehmer (Fritz Machlup), Rechtsanwälte (J. H. Fürth), Geschäftsführer (Felix Kaufmann), Mitarbeiter der Handelskammer (Mises, Gottfried Haberler) sowie ab 1927 Leiter des von Mises eigens gegründeten Konjunkturforschungsinstituts (Hayek, Oskar Morgenstern).
Vergegenwärtigt man sich die unübersichtliche Gemengelage der staatlichen Institutionen in Wien, mithin die permanente Konkurrenz der sozialdemokratischen Stadtregierung zur christlich-sozialen Regierung der ersten Republik, wird vorstellbar, daß der Außenseiterstatus des Misesschen Wirtschaftsliberalismus zum einen Produkt einer Inszenierung und zum anderen eine kaum bedrohte, gute Basis zur theoretischen Neuformierung war.

Hayek, der seit 1921 als Assistent von Mises im Abrechnungsamt arbeitete, wandte sich nicht zuletzt infolge der Lektüre von Mises’ großer Abrechnung mit dem Sozialismus, Die Gemeinwirtschaft,192 vom Sozialismus ab. Mises’ Buch ist deshalb so bedeutsam, weil es die neue Priorität des Liberalismus in scharfe Worte faßte: nämlich den Kampf gegen den Sozialismus. Er formulierte in der Gemeinwirtschaft erstmals den Kern des späteren neoliberalen Weltbildes: Der Fortschritt, den der Liberalismus gewährleistet hätte, sei durch Nationalismus und Sozialismus bedroht. Die sozialistisch-kommunistische Idee wirke gesellschaftsauflösend, desorganisierend und antisozial. Jeglichem staatlichen Interventionismus erteilte Mises eine kategorische Absage. Diese kompromißlosen Auffassungen dominierten die wirtschaftsliberale Szene in Wien.

Auf der Mises-Linie schrieb Hayek 1922 Artikel gegen die sozialdemokratische Wirtschaftspolitik. Unter anderem attackierte er die Interventionspolitik der SPÖ in einem Rezensionsartikel.195 Wirtschaft im eigentlichen Sinn sei unter staatlicher Lenkung nicht möglich. Die Sozialdemokraten nivellierten die Einkommen, was das Niveau der Arbeitsteilung senke und zu einer Absenkung der Produktionsrate führe. 1923 ging Hayek für ein Jahr in die Vereinigten Staaten. Nach der Rückkehr lud Mises ihn zur Teilnahme an seinem Seminar ein, an dem unter anderem auch Frank Knight, der Urvater des Chicagoer Neoliberalismus, sowie William Beveridge, der sich später zu einem überzeugten Keynesianer wandelte, als Gäste teilnahmen.

Am 1. Januar 1927 wurde, wie bereits erwähnt, auf Initiative von Mises das Österreichische Institut für Konjunkturforschung gegründet. Mises machte Hayek zum ersten Sekretär. Feichtinger vertritt sogar die These, Mises habe das Institut nur gegründet, um Hayek eine ordentliche Stelle zu verschaffen. In den leitenden Stellen waren auch ansonsten vor allem Teilnehmer des Mises-Seminars untergebracht. Das Institut sollte nach amerikanischem Vorbild Daten für die Geschäftswelt sammeln und herausfinden, wie Konjunkturwellen auf verschiedenen Märkten abliefen. Die Ursachen für Konjunkturschwankungen sollten auf breiterer Informationsbasis erforscht werden.

Neben der Konjunkturpolitik befaßte sich Hayek mit dem klassischen neoliberalen Thema Geldpolitik, wobei die Inflation eine dominante Rolle spielte. Seine Auffassungen zur Inflation ebneten ihm dann 1932 den Weg nach London zur LSE. Sein Habilitationsvortrag "Gibt es einen Widersinn des Sparens?" traf dort genau die Position der sich formierenden Opposition gegen Keynes unter Lionel Robbins, den Hayek ebenfalls über das Mises-Seminar kennen gelernt hatte. Nach Hayeks Wechsel zur LSE wurde Oskar Morgenstern Leiter des Instituts für Konjunkturforschung. Morgenstern änderte die Forschungsausrichtung und erprobte verstärkt mathematisch-statistische Methoden, was ihm und seinen Mitarbeitern Offerten aus den USA einbrachte und Morgenstern einen relativ problemlosen Absprung ins Exil ermöglichte.

Das Institut für Konjunkturforschung kann in gewisser Weise als eine frühe neoliberale Denkfabrik gelten. Es war deutlich gegen die sozialdemokratischen Institutionen gerichtet. Es konkurrierte mit Institutionen des roten Wien – wie der "Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle" von Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel. Anfang der dreißiger Jahre zeigte sich deutlich, daß Hayek zum Lager der Christlich-Sozialen zu zählen war. Er war Mitglied der Wirtschaftskonferenz des Seipel-Nachfolgers Johannes Schober. In Artikeln wandte er sich trotz um sich greifender Weltwirtschaftskrise gegen staatliche Intervention und kritisierte sogar Wilhelm Röpke, der als Mitglied der "Brauns-Kommission" im Deutschen Reich der Brüning-Regierung ein antizyklisches Programm empfohlen hatte. Röpke hielt die sozialen und politischen Konsequenzen der rapide steigenden Arbeitslosigkeit für zu gefährlich. Hayek selbst mußte die Gretchenfrage, ob die christlich-soziale Regierung und ab 1934 die Dollfuß-Diktatur staatliche Interventionen zur Behebung der Krise zulassen sollten oder nicht, nicht mehr beantworten. Der Mitsprache in wirtschaftspolitischen Gremien und dem Zwang zur direkten Stellungnahme zu aktuellen österreichischen Wirtschaftsfragen war er durch seinen Wechsel nach London enthoben. Allerdings äußerte er sich in England in der Regel kritisch über den österreichischen Klerikalfaschismus.

Es wird deutlich, daß der ökonomische Neoliberalismus Hayeks und Mises’ sowie der Kritische Rationalismus sich aus unterschiedlichen Quellen speisten, aber schon in Wien auf denselben theoretischen Punkt zuliefen: einen radikalen Anti-Marxismus. Popper entwickelte seine Theorie in den Grundaussagen als Abkehr vom roten Wien. Er distanzierte sich zunehmend, schlug sich aber nicht auf die Seite der Christlich-Sozialen. Hayek opponierte von Beginn an gegen das rote Wien. Er entwickelte einen Teil seiner Thesen – besonders gegen Intervention und gegen die Nivellierung der Einkommen – in der Opposition zu der Wirtschaftspolitik der Sozialdemokraten. Er schreckte dabei trotz späterer Dollfußkritik in der ersten Republik nicht vor einem Bündnis mit rechtsgerichteten Konservativen zurück.

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