Auszüge aus Hans Dieter Müller's
"Der Springer-Konzern"

Eine kritische Studie

Diese erste umfangreiche kritische Arbeit über den größten Pressekonzern des Kontinents ist das mit Spannung erwartete Ergebnis jahrelanger Recherchen und Materialstudien. Die Auswertung aller erreichbaren Quellen, die Aufzeichnungen von einhundertfünfzig Gesprächen mit führenden Männern des Konzerns selbst machen diese Untersuchung zu einem wichtigen Beitrag zur Zeitgeschichte, in dem fesselnder Bericht und kritische Analyse einander ergänzen. Dieses Buch ist kein Pamphlet, sondern eine scharfsinnige, bis in die Details zuverlässige Studie, die bisher verschwiegene Fakten und Zusammenhänge enthüllt. Sie offenbart zugleich die Gefahren einer solchen Kräfteballung der öffentlichen Meinungsbildung.

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Vorwort

Die Studie über den Springer-Konzern ist nicht aus dem aktuellen Anlaß entstanden, der gegenwärtig die Gemüter bewegt. Sie wurde 1964 begonnen und entstand aus einer Beschäftigung mit der Apparatisierung der Öffentlichkeit und der Rolle der Journalisten in ihr. Die industrielle Gesellschaft braucht auch auf dem Gebiet der Kommunikation große Apparate, um sich zu verständigen. Wie aber kann "öffentliche Meinung" sich noch in ausreichender Vielfalt und Freiheit bilden, wenn nur wenige über diese Apparate verfügen? Über diese Frage gibt es eine zentrale Untersuchung: Jürgen Habermas’ Buch Strukturwandel der Öffentlichkeit – Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Es bezeichnet die Verwahrlosung der gegenwärtigen Diskussion, das Beharren in blinden Interessenstandpunkten. Daß diese Studie, die "Öffentlichkeit" als politischen Begriff freilegt, ohne seine Verwandlung durch privates Eigentum und Konsumgesellschaft zu vernachlässigen, nicht zum Ausgangspunkt der Erörterung geworden ist, die für die Existenz der parlamentarischen Demokratie in Deutschland einige Bedeutung haben mag.

Will man eine konkrete Anschauung von dem Problem gewinnen, lenkt es in Deutschland unvermeidlich auf den Springer-Konzern, so unbequem das für den Betroffenen sein mag, die fünfte Großorganisation der Presse nach Ullstein, Mosse, Scherl-Hugenberg und Eher-Amann, deren Reste sie alle in sich vereinigt, eine Überorganisation ohne Beispiel in der Geschichte des deutschen Zeitungswesens. Die zunehmend hitzige, buchstäblich auf der Straße geführte Diskussion über die Existenz des Konzerns verführt die Politiker heute dazu, sie zu bagatellisieren. "Wir können nicht immerzu auf den Monopolisten par excellence, den imperialen Zeitungsverleger, hinweisen. Das stimmt einfach nicht", sagt Axel Springers Freund Erik Blumenfeld. Keines der vorhandenen Unternehmen hat jedoch die technischen Möglichkeiten, aber auch die publizistischen und politischen Gefahren konzentrierter Pressemacht so deutlich ausgebildet wie die neue Großorganisation, die dem journalistisch-unternehmerischen Genie ihres Gründers und seiner erstaunlichen Fähigkeit zur gesellschaftlichen Anpassung entsprang.

So sorgfältig die vorliegende Studie alles erreichbare Material zusammengetragen hat, so kann sie gleichwohl doch nicht den Anspruch erheben, zum Buch von Habermas den historischen Stoff nachzuliefern, gleichsam ein Kapitel jüngste Gegenwart. Ist es nach Quellenlage schon normalerweise unmöglich, exakte "Geschichte bei Lebzeiten" zu schreiben, so ist es vollends unmöglich einem Unternehmen gegenüber, das sich als Machtgebilde versteht und verhält und in seinen Außenbeziehungen auf Abschirmung, Sprachregelung, das Public-Relations-Bild bedacht ist, dem es zum Teil schon selber erlegen ist. Der Versuch, sich mit dem Konzern kritisch, aber objektiv auseinanderzusetzen, ist eine eigene Geschichte, die noch einmal zu schreiben sein wird. Über die Schwierigkeit, auch nur äußerlich verläßliche Daten in Erfahrung zu bringen, geben die im Dokumentenanhang abgedruckten, dem Konzern eingereichten Fragebögen einen Eindruck, von deren 114 Fragen 88 gar nicht, 6 halb und 20 – nicht die wichtigsten – befriedigend beantwortet wurden. Dem Public-Relations-gefärbten Eigenmaterial des Konzerns entspricht die polemische Färbung der Masse des gedruckten Materials über Springer, es schafft einen Springer-Konzern aus Archivmaterial, das sich je länger, je mehr nur aus sich selber ernährt und von der Wirklichkeit zum Teil ebensosehr ablöst wie das Public-Relations-Bild.

So kann die Darstellung, obwohl sie um die historische Perspektive bemüht ist und die Methode zeitgeschichtlicher Objektivierung anzuwenden sucht, keine Geschichte des Hauses Springer sein. Sie muß die Lückenhaftigkeit in Kauf nehmen und darauf hoffen, daß die öffentliche Diskussion das Fehlende nachträgt. Ich teile lediglich mit, was ich in dreijähriger Beschäftigung mit dem Gegenstand in Erfahrung gebracht habe. In der Hauptsache stützt sich die Arbeit auf Aufzeichnungen und Notizen aus etwa 150 Gesprächen, veröffentlichte und unveröffentlichte Schriftsachen über den Konzern, insgesamt etwa 5000 Seiten, die Jahrgänge seiner Hauszeitschriften, Hausnachrichten, Zeitungen und Zeitschriften, die von seinen Marktforschungsabteilungen über die Konzernblätter angestellten qualitativen und quantitativen Analysen und die dreijährige regelmäßige Lektüre seiner Zeitungen bei geringer anderer Zeitungslektüre, eine Erfahrung eigener Art. Für die vorbildliche Zugänglichkeit des Materials bin ich vor allem dem Spiegel-Archiv in Hamburg zu Dank verpflichtet, voran dem stellvertretenden Archiv-Leiter, Herrn Walther von Schultzendorff, und der geduldigen Hilfe der Herren Dieter Wessendorff und Alfred Wüste, ferner dem Zentralarchiv im Verlagshaus Axel Springer, Hamburg, und der Abteilung Information des Verlagshauses Die Welt, die über die Geschichte der Welt eine bemerkenswerte Dokumentensammlung angelegt hat.

Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der Studie und ihres Gegenstandes, daß ich die große Dankbarkeit, die ich einer Reihe von Personen für Mitteilungen, Hinweise und unveröffentlichtes Material schulde, nicht namentlich abstatten kann. Einige haben gebeten, davon abzusehen, darum möchte ich mich hier im Ganzen bedanken. Nennen darf ich jedoch Paul Sethe, den gerechtesten Betrachter, wenn auch den engagiertesten. Seine Betrachtungsweise war Anteilnahme, aber Schärfe; ich habe mich bemüht, eine ähnliche Position einzunehmen. Danken möchte ich schließlich den Betroffenen, die mir Gelegenheit zu Gesprächen gegeben haben, obwohl ihnen der kritische Ansatz dieser Arbeit bekannt war, Herrn Peter Boenisch, Herrn Christian Kracht und Herrn Axel Springer selber. Diese Gespräche waren für mich nützlich, obwohl sie eine Reihe kritischer Einwände nicht verändert haben.

Der Kritiker solle nicht bei den Spöttern sitzen, sagt der Verleger Axel Springer. Diese Arbeit ist nicht im Kreise der Spötter entstanden, dennoch kommt sie zu negativem Schluß. Vor allem glaubt sie nicht, daß Erfolg schon der Beweis für die Richtigkeit eines Phänomens ist. Konzentration sei gut, weil sie Konzentration und technisch unausweichlich sei, sagen die Verfechter des neuen Großgebildes, Konzentration sei schlecht, weil sie Macht konzentriere und ihr Mißbrauch unvermeidlich sei, ihre Gegner. Beide beantworten nicht, wie Großorganisationen, unvermeidlich in einer Welt der Massenproduktion und des Massenkonsums auch auf den Gebieten von Information, Bildung und Unterhaltung, funktionieren und dennoch nicht zu gesellschaftlichen Monstrositäten werden sollen. Die blinde Anbetung der großen Apparate, die Lust, sich ihnen bedingungslos einzuordnen, ein Symptom der Angst meiner Ansicht nach, fordert zur Auflehnung gegen die Apparate heraus. Diese Auflehnung inmitten der großen Gebrauchs-, Verbrauchs- und Kriegsmaschinen, die das politische Leben zu paralysieren drohen, ist legitim, wie immer ihre Mittel sein mögen. Zielt sie jedoch nur auf Abschaffung, auf "Enteignung", nicht auf Bewußtsein, kann sie leicht neuen Illusionen und machtmäßig produzierten Klischees erliegen, selber zu einem Produkt der Angst und blinden Dämonisierung werden.

Es wäre mindestens die Frage, ob Formen der Freiheit, der organisationsinternen Kritik, wie Jürgen Habermas sie nennt, nicht auch in Organisationen des privaten Eigentums möglich wären. Weniger die äußere Form des Konzerns ist beängstigend als das geringe Bewußtsein, das er von sich selber hat, das Bild der blind in die elektronische Zeit stürmenden modernen Maschine, des "Strohkopfes auf einem Körper von Eisen", wie der Historiker Bernard Faÿ einmal den modernen Reaktionär Joseph II. beschrieb. Die Ursachen herauszufinden, politische, ideologische und publizistische, ist ein Hauptthema dieses Buches.

Wie sehr der Mythos Springer den Sachverhalt schon überwuchert hat, zeigt ein tragikomisches Mißverständnis, das hier schließlich noch zu berichtigen ist: in Hörsälen demonstrieren Studenten neuerdings gegen Veröffentlichungen des Verlags Springer Berlin, Heidelberg und New York, des traditionsreichen Hauses für wissenschaftliche Literatur; gelehrte Autoren fragen sich, ob sie die Veröffentlichung ihrer Arbeit einem so umstrittenen Verlag anvertrauen sollen. Es sei hier angefügt, daß dieses Haus nichts mit der neuen Großorganisation der Presse zu tun hat.

Freiburg im Breisgau, Februar 1968, Hans Dieter Müller

Massenpresse und Großorganisation in Deutschland 1871-1945

In der letzten Juniwoche des Jahres 1966, Tagen zwischen Sommerhitze und Regenstürzen, jagten sich in den Hamburger Zeitungshäusern die Gerüchte und Dementis. Für 68 Millionen Mark, hieß es, solle der Münchner Illustriertenverlag Th. Martens & Co. samt den Zeitschriften Quick, Revue, Twen und Kicker in den Besitz des Hamburger Verlages Heinrich Bauer übergehen. Der Finanzier im Hintergrund sei jedoch Axel Springer; niemand sonst könne in der Bundesrepublik diese Summe aufbringen. Am 24. Juni übergab die Geschäftsleitung des Verlagshauses Axel Springer der mißtrauischen Öffentlichkeit eine Erklärung: der Verlag habe aus der Masse des Th. Martens Verlages lediglich die Zeitschriften Kicker und Twen, vom Heinrich Bauer Verlag die Jugendzeitschriften OK und Wir und vom Verlag C. Busch-du Fallois Söhne GmbH in Krefeld die Familienzeitschrift Eltern erworben. Taktische Käufe also zur besseren Ausnutzung der Maschinenkapazitäten und Marktsicherung, noch kein strategischer Vormarsch auf das einzige noch uneroberte Feld der großen politischen Illustrierten.

Die Gerüchte kennzeichneten jedoch den Grad an Nervosität, mit der die Öffentlichkeit jeden weiteren Schritt des Hamburger Verlegers verfolgte. Spätestens seit seinem letzten strategischen Zug, der Einverleibung des Kindler & Schiermeyer Verlages in den Konzern im Juli 1965, der ihm die Herrschaft über den zukunftsreichen Teenagermarkt brachte, ist die Diskussion über die "Pressekonzentration" heftig entbrannt. Zum erstenmal griff sie von den "Intellektuellen" auf die Branche und von dort auf die Politik über. Eine "spontan negative Reaktion" registrierte die Werbekorrespondenz Der Kontakter in einer Ad-hoc-Umfrage bei Werbeagenturen und Verlegern. Die Konzentration "führe zwar zu einheitlichen Geschäftsbedingungen", sei aber höchst unerfreulich, der "Mißbrauch wirtschaftlicher Machtstellung" läge nahe. Der Stern- und Zeit-Verleger Gerd Bucerius, der sich Anfang Juli 1965 der neuen Verlagsgruppe Gruner + Jahr (Gesellschaftskapital 30 Millionen Mark, Umsatz 400 Millionen Mark, 4100 Beschäftigte, Produktion 4,2 Millionen Gesamtauflage) angeschlossen hatte, gab zu Protokoll, die "Gigantomanie des Hauses Springer" habe ihn zur Aufgabe seiner Selbständigkeit gezwungen; "unselbständig, kommerzialisiert, seelenlos" seien die Adjektive, die den deutschen Verleger der Zukunft beschrieben. Den Zeit-Lesern hatte er am 9. Juli die Gründe erklärt: steigende Kosten und sinkende Rentabilität seien im mittleren Betrieb durch Rationalisierung nicht mehr aufzufangen. Es begänne nun der Kampf der großen Apparate im "schweren Vertriebs- und Anzeigengeschäft".

Der Sprung nach München, der dritten Metropole nach Hamburg und Berlin, habe nun auch politisch "schlafende Hunde geweckt", teilte die Bucerius nahestehende Korrespondenz facts mit. In Bonn regten sich Kreise, die eine parlamentarische Untersuchung, ein Tätigwerden des berufsständischen Deutschen Presserates, eine Einbeziehung der Konzentration in die von der Bundesregierung eingeleitete Enquête über die "Wettbewerbsgleichheit von Presse, Funk/Fernsehen und Film" forderten. In der Sozialdemokratischen Partei sammle man Material über Pressemonopole.

Direkt war die Sprache am Ort der Neuerwerbung, in München. In einem Vorgeplänkel, das die Verkaufsgerüchte begleitete, hatte der Journalist und Rechtsanwalt Ernst Müller-Meiningen jr., Mitglied des Deutschen Presserates, in der Süddeutschen Zeitung diesen an seine 1956 selbstauferlegte Pflicht erinnert, "freiheitsgefährdende Konzern- und Monopolbildungen abzuwehren". Der Rat werde nicht umhinkönnen,

sich bald mit dem einzigen Pressemagnaten der Bundesrepublik, Axel Springer, zu befassen, der, kaufmännisch zweifellos ein tüchtiger Mann, von den verschiedenen Arten periodischer Druckschriften in der Bundesrepublik zwischen dreißig und neunzig Prozent in Händen hat.

Am 22. Juli 1965 konstatierte Müller-Meiningen in der Süddeutschen Zeitung akute Gefahr: "Es droht Ausverkauf der Pressefreiheit." Der Blick solle sich, da die Waffe des Kartellgesetzes ohnehin abgestumpft sei, nunmehr auf das politische Problem richten, auf die "Gefährdung der Journalistenfreiheit", auf das "geistige Marktmonopol", dessen "zerstörerischer Effekt für eine funktionierende Demokratie auf die Dauer verhängnisvolle Folgen haben kann". In ihrem Fernsehurteil vom 28. Februar 1961 gegen ein regierungseigenes Fernsehen hätten die Hüter der Verfassung, die Richter des Bundesverfassungsgerichtes, das Problem am Rande umrissen: noch funktioniere die freiheitliche Struktur der Presse nach dem kommerziellen Prinzip. Werde aber ein Konzern im Pressewesen übermächtig, so könne das eine Verletzung von Artikel 5 des Grundgesetzes bedeuten, der die Meinungs- und Pressefreiheit aller Bürger des Staates garantiert.

Der Riese blieb stumm. Die Aktiengesellschaft mit einem Grundkapital von 6 Millionen DM und einer Tiefdruckerei in Unterföhring wurde in eine GmbH ohne Publizitätspflicht umgewandelt. Über Pläne, Neuinvestitionen und Zukäufe von Maschinen und Grundstücken senkte sich der Vorhang. Man wolle sich in München weiterhin dem Tiefdruck widmen und die mitübernommene Teenagerzeitschrift Bravo ausbauen, hieß es lakonisch. Eine kräftige Hochdruck-Dependance für Bild und Welt in der bayrischen Metropole sei nicht geplant; wiederauflebende Gerüchte wollten jedoch wissen, daß Hochdruckmaschinen zum gleichen Zeitpunkt bereits bestellt waren, Mutmaßungen allerdings, die sich bis heute nicht bestätigt haben.

Trotz Verschwiegenheit, die alle Operationen des Konzerns auszeichnet, kann Zettelkastenfleiß seine Größenordnung und die Zielrichtung seiner Expansion einigermaßen erschließen. Mit einem konsolidierten Umsatz von zirka 740 Millionen Mark steht er heute an siebzigster Stelle der deutschen Unternehmen. Sein Umsatz ist doppelt so groß wie der Umsatz der nächstgrößeren Verlagsgruppen Bauer und Gruner + Jahr, größer auch als der Umsatz der bisher größten Pressekonzentration in Deutschland, des EherTrustes, der zwischen 1933 und 1945 die drei Großverlage der Gründerzeit, Ullstein, Mosse und Scherl, in sich aufgeschluckt hatte. 12.000 Beschäftigte produzieren in vierzehn Redaktionen, ebensoviel Verlagseinheiten und sechs eigenen Großdruckereien in Hamburg, Ahrensburg, Darmstadt, Essen, Berlin und München, unterstützt von fünf Lohndruckereien in Hannover, Frankfurt, Köln, Esslingen und München, monatlich 150 Millionen Zeitungen und Zeitschriften. Das einzige Verteilersystem für Presseerzeugnisse in der Bundesrepublik, der vertreibende Zeitungs- und Zeitschriftenhandel, lebt durchschnittlich zu 40 Prozent von Produkten des Konzerns. Rein nach dem kommerziellen Prinzip hat der Verleger Axel Springer von 1946 bis 1967, in Marktanteilen gerechnet, 47,4 Prozent aller Programmzeitschriften, 81,7 Prozent aller Straßenverkaufszeitungen, 85,8 Prozent aller Sonntagszeitungen und 44,8 Prozent aller Jugendzeitschriften in seiner Hand vereinigt. Von der politischen Tagespresse kontrolliert er in den Stadtstaaten Hamburg und Berlin absolute Mehrheiten von 71,8 und 69,5 Prozent. Für die Bundesrepublik, in der nach der Stichtagsammlung von Walter J. Schütz im November 1964 183 autonome redaktionelle Einheiten 1495 voneinander unterscheidbare politische Tageszeitungen herstellten, verschiebt sich das Bild durch die Vielzahl der regionalen Konkurrenz. Kein Zeitungsverleger, auch keine Organisation verfügt jedoch in gleicher Weise über Instrumente einer zentralen Beeinflussung großer Massen von einem Punkt aus: über ein in alle Winkel der Bundesrepublik dringendes Massenblatt und über die Zeitungsvorherrschaft in den beiden größten Bevölkerungszentren Hamburg und Berlin.

Eine so große Maschine, würde man annehmen, hätte auch ein Gehirn, die gesellschaftlichen Implikationen ihrer Ausdehnung zu erkennen. Folgt man jedoch der Selbstinterpretation des Konzerns, so muß man schließen, daß der Konzern seiner eigenen Größe gegenüber kein Bewußtsein besitzt. Auch in der Automobilindustrie gäbe es mächtige Zusammenschlüsse, die technische Entwicklung fordere sie, vor allem die Konkurrenz des Fernsehens. Die Kritiker, "gutmeinende Leute", "Ideologen", von denen die Pressefreiheit mehr gefährdet würde als von der Konzentration, ließen sich häufig von Wunschvorstellungen leiten. Dann wieder: die "sogenannte Pressekonzentration" existiere gar nicht. Eine Vielfalt von Zeitungsketten, gesunde Fusionen wie die eigene, die sozialdemokratische Konzentration GmbH mit 26 Verlagen und 30 Druckereien etwa, bildeten eine reiche Zeitungslandschaft, in der jeder zu Wort käme. Der Verleger Axel Springer begrüße sie ausdrücklich. Ein Meinungsmonopol gäbe es nur in den öffentlich-rechtlichen Anstalten des Rundfunks und Fernsehens.

Sucht man das Gesellschaftsbild, das hinter diesen Vorstellungen steht, so ist es – allenfalls – eines, das schon vor hundert Jahren nicht mehr zutraf: das Bild einer Gesellschaft frei wirtschaftender, kleiner Unternehmer, die sich ihren Zugang und ihre Chance am Markt durch annähernd gleiche Größenordnung und gleiche Startbedingungen sichern. "Freiheit", so die frühliberale Meinung, reguliere sich mechanisch nach den Marktgesetzen. Was in diesem Spiel der Kräfte an Gütern und Besitztümern angehäuft werde, sei gesellschaftlich machtneutral, Privatsache, gehe die Öffentlichkeit nichts an. Und: Zeitungen seien eine Ware wie jede andere. Folglich reguliere sich auch die Pressefreiheit nach den Marktgesetzen, sei viel Presse in einer Hand ebenso Privatsache.

Daß die Presse, mit den Füßen wohl in der Wirtschaft, mit dem Kopf in die Politik ragt, wird geflissentlich übersehen, andere Widersprüche in der eigenen Argumentation werden unschuldsvoll nicht einmal bemerkt. Was einerseits reinen Warencharakter hat, soll andererseits unter besonderem Verfassungsauftrag stehen. Was Öffentlichkeit konstituiert, soll in seiner Basis die Öffentlichkeit nichts angehen. Was technisch-ökonomisch auf Unausweichlichkeiten beruht, der Konzentrationsprozeß, soll andererseits Unabhängigkeit schaffen. Zwangsläufig soll kein Zwang, sondern Freiheit entstehen. Wessen Freiheit?

Nun ist keine Frage, daß die in Massen produzierende und in Massen konsumierende Gesellschaft auch im Bereich der Kommunikation große Apparate braucht, um sich zu verständigen. Offen bleibt nur, wie sich Konzentration und politische Freiheit, Großapparat und Demokratie miteinander verbinden lassen: ob der demokratische Prozeß unter den Bedingungen der hochindustrialisierten Massengesellschaft überhaupt funktionieren kann. Was zum Beispiel wird aus dem Raum der "Öffentlichkeit", in dem der Ausgleich der Interessen und politische Consensus in freier Diskussion hergestellt werden soll, wenn nicht nur die wirtschaftlichen und politischen Großorganisationen, sondern auch die großen Kommunikationsapparate dazu neigen, sich schon im nichtöffentlichen Vorfeld zu arrangieren, wenn, was Medium räsonierender Kritik und Diskussion sein soll, selber zum organisierten Interesse, zur "Partei" wird?

Das Problem der "Apparatisierung" der Öffentlichkeit ist nicht so neu, wie der Verleger Axel, Springer, bei soviel konservativen Gedanken gelegentlich bemerkenswert unhistorisch, gern wahrhaben möchte. Es hat seine Geschichte. Mit fortschreitender Industrialisierung, angefacht vor allem vom Goldstrom der französischen Reparationen nach dem gewonnenen Krieg von 1870/71, haben sich auch in Deutschland Großorganisationen der Presse gebildet. Wie waren sie beschaffen, wie haben sie die Gesellschaft beeinflußt, wie umgekehrt hat die Gesellschaft sie beeinflußt?

Der Papierhändler als Verleger: Leopold Ullstein

Wie Presse als Organ räsonierender Kritik in den hundert und mehr deutschen Kleinstaaten, Fürstentümern und Königreichen allmählich entstand, vom Hallenser Intelligenzblatt, in dem die Professoren der Universität auf Weisung Friedrichs II. "in reiner und deutlicher Schreibart" dem Publikum bis donnerstags "verwendungsfähige Wahrheiten", beileibe aber keine Kritik mitteilen durften, über Schlözers scharfzüngige Staatsanzeigen im englisch-freiheitlicheren Hannover, dem ersten Blatt, das die Mächtigen wirklich fürchteten – "in den Schlözer kommen" galt soviel wie heute "in den Spiegel kommen" –, bis zu den Revolutionsblättern von 1848, hat Jürgen Habermas in seiner eindrucksvoll scharfsinnigen Studie Strukturwandel der Öffentlichkeit ausführlich beschrieben. Aber auch die ersten fortschrittlich gesinnten Schnellpressen-Zeitungen im Berlin des Nachmärz, der Nachrevolutionszeit von 1848, waren nur eine Öffentlichkeit für Bürger. Die Massen partizipierten nicht daran, sowenig wie an der politischen Diskussion, von der sie das preußische Dreiklassen-Wahlrecht ausschloß. Buchstäblich auf die Straße trugen die Öffentlichkeit erst die Horden uniformierter Zeitungsjungen, die am 22. Oktober 1904 in Berlin mit lautem Geschrei eine neue Zeitung für 5 Pfennig feilboten, die BZ am Mittag, Nachfolgerin der umgemodelten bürgerlich-freisinnigen Berliner Zeitung. Die Einführung der von Applegath und Cowper für die Londoner Times entwickelten Rotationsmaschine und die Aufhebung des preußischen Polizeiverbots, Nachrichten auf der Straße auszuschreien, machten das erste Massenblatt in Deutschland möglich. Typographisch keck kündigte es auf Seite 1 den Generalsturm der Japaner auf Port Arthur für den 3. November an – die Korrespondenten hätten Order erhalten, sich zum Geburtstag des Mikado am Schauplatz einzufinden – und gleich einen Prozeß: Freiherr von Schlicht alias Graf von Baudissin, "eine schlanke Erscheinung mit schwarzem Haar und Vollbart", habe vor Gericht entschieden bestritten, mit seinem Militärroman Erstklassige Menschen das Offizierskorps des Gardefüsilierregiments beleidigt zu haben. Er habe gewisse Schäden aufdecken, nur reformatorisch wirken wollen.

Begründer des kapitalstarken, Zeitungen nun maschinell in Massen produzierenden Unternehmens, der erste in der Reihe der großen Verlagsgründer, war Leopold Ullstein, der Papierhändler als Verleger. Im Revolutionsjahr 1848 von Leipzig nach Berlin gekommen, lernte er unter denen, die sein Papier kauften, politisch interessante Köpfe kennen, Freisinnige, Fortschrittler, Demokraten, die der preußischen Monarchie eine Verfassung und dem Staat eine menschenwürdigere Behandlung auch der untersten seiner Untertanen abringen wollten. Den willensstarken, wissensdurstigen, dabei toleranten jungen Mann zog es bald, sein Papier selber mit Nachrichten und freisinnigen Gedanken zu bedrucken, selber Zeitungen zu machen. Er kaufte oder gründete nacheinander das Neue Berliner Tageblatt, die Berliner Zeitung, die Berliner Morgenpost, die Berliner Abendpost und die Berliner Illustrierte. Fünf kaufmännisch, technisch und journalistisch gleich begabte Söhne, von denen der Drucker Rudolf den endgültigen Niedergang des Hauses 1960 noch erlebte, konsolidierten das Unternehmen, die erste nach den Prinzipien industrieller Produktion geführte Großorganisation der Presse in Deutschland.

Rudolf Masses Anzeigenakquisition

Den Posener Arztsohn Rudolf Mosse, der 1861 achtzehnjährig nach Berlin kam, verdroß die Verstaubtheit des Sortimentsbuchhandels, der Bücher wie handgefertigte Gegenstände einzeln verkaufte. Wo Waren massenhaft produziert werden konnten, mußten sie auch massenhaft unter die Leute gebracht, mußten sie angezeigt werden: in Zeitungen. Nachrichten über Waren und Nachrichten über Ereignisse würden sich gegenseitig verkaufen: die von den Produzenten bezahlten Anzeigen würden die Zeitungen billiger machen und den Leserkreis erweitern, der erweiterte Leserkreis würde mehr Waren kaufen. Die erste konsequente Anwendung dieser Idee, eine gesonderte Annoncenbeilage in der Gartenlaube, in deren Geschäftsleitung der junge Mosse eingetreten war, brachte dem Verleger Robert Apitsch einen durchschlagenden geschäftlichen Erfolg. Die Teilhaberschaft schlug Mosse jedoch aus. Mit den 6000 geborgten Talern eines Onkels gründete er im Januar 1867 die Annoncen-Expedition Rudolf Mosse, die in den nächsten fünfzig Jahren die Anzeigenteile von gut hundert Zeitungen in Pacht nahm und damit das zweite Fundament der modernen Presse in Deutschland neben der neuen Drucktechnik schuf. Mosses eigene Zeitungsgründungen waren nicht so stürmisch; es fehlte ihm Leopold Ullsteins journalistisch-technische Phantasie. In der kommerziellen Konzeption des Zeitungsgeschäftes modern, war er auf diesem Felde eher konservativ – noch 1904 gehörte die einzige Schreibmaschine im Hause einem Sekretär, der für die Abnutzung einen kleinen Gehaltszuschlag erhielt. Gleichwohl gründete der streng liberale Mann 1871 auf dem Unterbau seiner Anzeigen-Expedition eine Zeitung von großer Dauerhaftigkeit und nachhaltigem Einfluß: das Berliner Tageblatt, unter der Chefredaktion seines Neffen Theodor Wolff für Jahrzehnte das Musterbeispiel eines aufgelockerten, großstädtischen, intellektuell-kritischen Journalismus. "Wie Paris Frankreich war", schrieb der junge Zeitungsgründer Mosse in der ersten Probenummer programmatisch, "so will und wird Berlin Deutschland und die Großstadt Weltstadt werden [...]. Es muß das Bewußtsein uns beseelen: Für die zivilisierte Welt schreibt, wer für Berlin schreibt."

Beide, Ullstein und Mosse, preußische Juden, bauten ihre Unternehmen streng nach dem kommerziellen Prinzip auf, sahen ihre Aufgabe aber politisch-aufklärerisch. Sie schufen kleine unabhängige Apparate der Meinungsäußerung gegen die allmächtige Maschinerie des Staates, die an der Kontrolle der politischen Geschäfte, gar einer Beteiligung der Bürger keinerlei Interesse hatte und die öffentliche Meinung, Sozialisten wie Bürgerliche, mit Hilfe des "Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" von 1878 kräftig niederhielt. Dem zwar formell nach der Verfassung, in der Praxis aber absolutistisch regierenden Kanzler, dem Obermaschinisten Bismarck, waren die "Pressebengels" ein Greuel. Sie störten ihn bei den innenpolitischen Geschäften, die ihn ohnehin nur in bezug auf die außenpolitischen interessierten. Presse galt ihm als Sprachrohr, als ein Hebel im Hebelwerk der äußeren Balance, der Journalist günstigenfalls als williger Schreibgehilfe, den er aus den geheimen Staatsfonds bezahlen konnte. Da gegen Ende seiner Amtszeit fast alle Regierungsfunktionen in Bismarcks Staatsministerium endeten, fühlte er sich von allem und jedem beleidigt; für die Anzeigenerstattung benutzten seine Getreuen bereits hektographierte Formulare. Vor allem Ullsteins Berliner Zeitung, die sich gegen den "Kanzler-Absolutismus" erbittert wehrte, wurde mit Prozessen und Gefängnisstrafen eingedeckt: der Redakteur Fischer wanderte nach einer Serie von Strafen nach Paris aus, Franz Xaver Wissberger, verantwortlicher Redakteur von 1883 bis 1894, verließ das Gefängnis mit zerrütteter Gesundheit. Um einen geregelten Redaktionsbetrieb aufrechtzuerhalten, teilte man "Sitzredakteure" ab, die die Strafen en bloc absaßen. "Wer nur die Außenseite der Sache sieht", schrieb die Kronprinzessin Friedrich über die heute so verklärte Zeit, "der findet Deutschland stark, groß und geeint, mit einer riesigen Armee [...], der findet einen Minister, der der Welt befehlen kann [...], einen Handel, der Anstrengungen macht, alle anderen zu übertreffen, und das Deutsche Element überall in der Welt tätig (wenn schon es wenig Liebe und Vertrauen erweckt). Da meint man dann wohl, wir hätten keinen Grund zu klagen und sollten dankbar sein. Wenn nur auch der Preis bekannt wäre, den das alles gekostet hat!"

In dieser Zeit, unter diesen Umständen Zeitungen "unpolitisch", nur in Anpassung an den Massengeschmack und in gehörigem Respekt vor der Obrigkeit zu machen, war die Idee eines verhinderten Kunstmalers und romantisch-unglücklichen Frauenverehrers, des Kolportage-Verlegers August Scherl.

Zeitung als Kolportage: August Scherl

Hätte die Schauspielerin Flora Rosner ihren Anbeter, den Verlagslehrling August Scherl, schon nach Erwerbung des Groschenheft-Verlags Duster & Co. oder dem Bau einer Rollschuhbahn in Köln erhört, wäre der deutschen Zeitungsgeschichte vielleicht jener Anpassungsjournalismus erspart geblieben, der später die Grundlage eines mächtigen Apparates der ideologischen Anpassung abgab. So jedoch brütete der rastlose, in Berlin zunächst gescheiterte Projektemacher in einem Frankfurter Caféhaus über der Idee, was das kaufende Publikum sonst noch interessieren könnte. Politik, intellektuelles Räsonnement gewiß nicht, sowenig wie ihn selber; um so mehr das, was Scherl in Zeitungen selber immer zuerst las: Nachrichten über das Menschlich-Allzumenschliche, Lokales, Neuigkeiten von hochgestellten Persönlichkeiten, vom Adel, vom Hofe, aus der Sphäre der Politik nur, soweit sie "menschlich" interessierten. Eine so auf den Kopf gestellte Zeitung, die Meldungen dieser Art vorn brachte und hinten viele Kleininserate des privaten Tauschverkehrs anhing, die das Blatt billiger machten, mußte die Masse des großstädtischen Kleinbürgertums reizen. Als Muster fand Scherl die französischen, englischen und amerikanischen Blätter mit ihrem knappen Nachrichtenstil und aufgelockerten Umbruch vor, die im Café auslagen.

Mit dieser ebenso einfachen wie fulminanten Idee nach Berlin zurückgekehrt, begeisterte Scherl zunächst eine Zufallsbekanntschaft aus dem Café Bauer, den jungen Balten Florian von Kupffer, der bei Reuter, Havas und Bullier im Nachrichtenmetier gearbeitet und beim New York Herald "amerikanischen Stil" gelernt hatte. Kupffer wiederum machte ihn mit dem wohlhabenden Geheimen Kommerzienrat Georg Büxenstein bekannt, der in der Zimmerstraße 40-41 eine Druckerei und Klischee-Anstalt besaß und Druck und Papier auf Kredit zusagte. Schwager und Schwester Clara gründeten auf Drängen Scherls die Heribert Kurth & Co. OHG, in die sich der neugebackene Verleger mit einem Gesellschaftsanteil von 15,85 Mark als Geschäftsführer, später als "alleiniger Direktor" eintragen ließ. Am 3. November 1883 trugen zweitausend Austräger zweihunderttausend kostenlose Exemplare der neuen "amerikanischen" Zeitung in die Wohnungen. Der Berliner Lokal-Anzeiger – Central Organ für die Reichshauptstadt, fortan für 10 Pfennig monatlich zu beziehen, wolle sich "scharf von allen anderen bisherigen Kundgebungen der Berliner Tagespresse unterscheiden", erklärte das Blatt. Redaktionell "jeder politischen Sonderstellung fern", wolle es bekanntmachen, was "auf dem lauten Markt des residenzlichen Lebens Geist und Herz beschäftigt". Vor allem aber "ist unser kühner und weit-aussehender Plan, daß der ›Berliner Lokal-Anzeiger‹ als ein Sonntagsblatt an jedem Sonnabend Nachmittag in die Hände des Berliner Wohnungs-Inhabers gelangt, der ein Interesse daran hat, zu kaufen oder zu verkaufen, zu miethen oder zu vermiethen, zu borgen oder auszuleihen ...". Auf diesem "unbegrenzten Felde der hochwogenden Interessen" wolle es ein "solider und ausnahmslos jeder Frage begegnender Wegweiser sein".

Es wurde der Wegweiser für einen neuen Zeitungstyp, der sich mit großer Schnelligkeit über ganz Deutschland verbreitete: den unpolitischen, nur auf seine Auflagen und Anzeigeneinnahmen, auf Unterhaltung, spannenden Roman und vermischte Nachrichten bedachten Generalanzeiger, das genau angepaßte Vehikel der "hochwogenden geschäftlichen Interessen" des wirtschaftlich prosperierenden Bürgertums der Wilhelminischen Zeit, das sich den unbequemen gesellschaftlichen und politischen Fragen gegenüber jedoch so indifferent wie möglich verhielt. Ein Offenbacher Schriftgießer, Geschäfts- und Organisationsgenie, August Huck, faßte einige der lukrativsten Blätter dieses Typs in einer großen Kette zusammen: der Eroberung der Provinz durch einen zentralen Konzern war vorgearbeitet. Charakteristisch für den neuen Verkaufsjournalismus wurde die häufige Personalunion von Chefredakteur und Verlagsleiter, die Vertauschbarkeit von journalistischer und verlegerischer Funktion – ein Phänomen, das bei den Springer-Blättern ein halbes Jahrhundert später auffällig wiederkehrte.

An den Lokal-Anzeiger schloß Scherl, von der gerade aufkommenden Momentfotografie inspiriert, das Bilderblatt Die Woche, das zur schier unerschöpflichen Goldgrube wurde. Ein seriöses Morgenblatt Der Tag, das ihm Zugang zu den oberen Schichten verschaffen sollte, mißlang jedoch; trotz der Novität, der farbigen Wirkung Schwarz-Weiß-Rot durch schwarzen und roten Druck, blieb es ein farbloses, langweiliges, regierungsopportunes Blatt ohne Einfluß, das sein unbeachtetes Leben von den Geldern der Woche fristete. "So genau August Scherl die Psyche des kleinen Mannes kannte", schreibt sein Biograph Hans Erman, "so schlecht und unklar sah er die geistige Struktur derjenigen, die den kleinen Mann regierten." Sonst jedoch verleibte der geniale Anempfinder des "Volksgeschmacks" seiner wachsenden Großorganisation alles ein, was populär und auflagenträchtig war: die Gartenlaube, verschmolzen mit dem Familienblatt Vom Fels zum Meer, Sport im Bild, Die weite Welt und den hochbeliebten Praktischen Wegweiser, umbenannt in Allgemeinen Wegweiser.

Zu finanzieller Solidität brachte es der florierende Großverlag dennoch nicht; der alleinige Direktor, dem niemand in die Bücher sah, machte immer neue Schulden. Sein beachtlicher Lebensaufwand, Villen, Equipagen, Kutscher, Diener, kostbare Geschenke an seine Frauen, herrschaftliches Leben, wie August Scherl es sich vorstellte, verschlangen gewaltige Summen. Die Auserkorene war nun, nach Flora Rosners Tod, die Tiroler Tischlerstochter Therese Zoettl, das Modell zu Defreggers Gemälde "Die Schützenresl", das Scherl in einer Illustrierten entdeckt hatte. Im eigens gemieteten Sonderzug war er sogleich nach Kufstein gefahren, um der Angebeteten Herz und Reichtum zu Füßen zu legen. Kaisertreu und beflissen nach oben, zunehmend menschenscheu und mißtrauisch nach unten, verstieg sich der reiche Mann in immer kostspieligere "amerikanische" Projekte: eine "Lies-dich-empor-Bibliothek", die in Lesestufen von der Marlitt zu Goethe führen sollte, Schauflüge des Fliegers Orville Wright zur Popularisierung des Fluggedankens, eine von seinem Sohn Richard und dem Ingenieur Hans Dominik entworfene Einschienenbahn zur Verbesserung des Personenverkehrs in der Reichshauptstadt. Auch begann nun der Kampf der Großen um den hauptstädtischen Markt: mit Mosse um die Anzeigen, mit Ullstein um die Leser der neuen Massenblätter. Ein für beide Seiten ruinöser, ohne Rücksicht auf Rentabilität geführter Morgenpost-Lokal-Anzeiger-Krieg endete im April 1900 mit einem "Freundschafts- und Konkurrenzausschluß-Vertrag", an dem das Kartellamt heute seine Freude hätte. Bis 1906 waren Scherls Schulden bei der Berliner Handels-Gesellschaft auf 8,45 Millionen Mark angelaufen. Das nötige Geld zauberte er wie Mephisto im "Faust": durch mehrfache Neufestsetzung des Unternehmenswertes, schließlich 1911 durch die Ausgabe von Anteilscheinen in Höhe von nominal 10 Millionen Mark. Sie hielten zwei Jahre.

So unsolide seine Geschäftspolitik war, so dauerhaft war allerdings die journalistische Schule, die Scherl begründete: der Scherl-Journalist wurde zum Typus des routinierten Könners, der sich anzupassen verstand: an die jeweilige Obrigkeit, an den Publikumsgeschmack, an die Launen des Verlegers – da Therese Zoettl sich einmal vor abgebildeten Schlangen gegraust hatte, durften Schlangen in Scherl-Blättern fortan nicht mehr erscheinen. Anders als Ullsteins "Sitzredakteure" sahen diese Journalisten, die häufig aus engen Provinzverhältnissen aufgestiegen waren, sich nicht als Kritiker der öffentlichen Gewalt, sondern als ihre "staatsloyalen" Untertanen. Von unverbindlichen vaterländischen Gefühlen erhoben, wurden sie verfügbar, wie der kurvenreiche Weg vieler dieser begabten Journalisten durch drei Regime zeigte. Es lag in der Logik der Sache, daß die innenpolitischen Lämmer häufig zu außenpolitischen Löwen wurden, die man in den Rechtsblättern der Weimarer Republik, später im Völkischen Beobachter, in den Provinzblättern des Eher-Konzerns oder im Reich kräftig brüllen hören konnte –"kriegerischen Literaturmist der Honorarhelden" nannte Theodor Wolff die Produkte dieses martialischen vaterländischen Journalismus aus sicherer Entfernung.

Die Einschmelzung des Anpassungsjournalismus in ein System entschiedener politischer Zwecke ließ nicht lange auf sich warten. Denn August Scherl, müde und argwöhnisch gegen alle Welt, die ihn seiner Meinung nach nur übervorteilen oder beerben wollte, war gewitzt genug, seine hochmoderne Maschine politisch teuer zu verkaufen. Mosse biete ihm 11,5 Millionen Mark, ließ er Anfang 1913 dem Reichskanzler von Bethmann-Hollweg mitteilen, regierungsfreundliche Kreise könnten sie schon für 10 Millionen haben, müßten diese Summe aber bis 30. Juni auf den Tisch legen.

Industrialisierung und Ideologie: Der Hugenberg-Konzern

Die Rettungsaktion, die Scherls Großorganisation der Presse dem "jüdischen", "freihändlerischen" Zugriff Mosses oder Ullsteins entziehen sollte, kristallisierte sich zunächst beim preußischen Landwirtschaftsminister von Schorlemer-Lieser. Nach bangen Monaten und einer Optionszahlung von 1,5 Millionen Mark, die Aufschub gewähren sollte, brachte Schorlemer, ironischerweise durch die jüdischen Bankiers Simon Alfred von Oppenheim und Louis Hagen, vormals Levi, ein Konsortium reicher Geldgeber zusammen, die von Verlagsgeschäften zwar nicht viel verstanden, aber alle "von dem Ehrgeiz beseelt waren, zur Erfüllung eines an hoher Stelle gehegten Wunsches beizutragen". Den neunundfünfzig wohlhabenden Herren unter der Leitung des Generalleutnants a.D. von Schuberth, die sich den Titel "Deutscher Verlagsverein" zulegten, war jedoch kein Glück beschieden. Schon nach wenigen Monaten mußten sie erkennen, daß abermals 8 Millionen Mark fehlten; das Anzeigengeschäft kam durch den Krieg zum Erliegen; die Absicht, den Lokal-Anzeiger von einem "Sensationsblatt" in eine "hochstehende Zeitung mit guten wirtschaftspolitischen Artikeln" zu verwandeln, bekam dem Blatt schlecht. "Diese ethische Anwandlung, dilettantisch verwirklicht, kostete später 10 Millionen Mark Sanierungskosten", bemerkte Hugenbergs Vertrauter, Professor Ludwig Bernhard, in der Rückschau trocken. Die enttäuschten Herren des Verlagsvereins forderten, die Regierung möge, aus welchem Fonds auch immer, das nötige Geld besorgen und sie entlasten.

Minister von Schorlemer wandte sich nun in vertraulichen Briefen an die Ruhrindustriellen Kirdorf, Beukenberg, Müser und Gustav Krupp von Bohlen und Halbach. Diesmal kam er an den richtigen Mann, den früheren Regierungsassessor bei der deutschen Ansiedlungskommission in Preußisch-Polen und Geheimen Finanzrat im Preußischen Finanzministerium, nunmehr Präsidenten des "Vereins für die bergbaulichen Interessen" und Vorsitzenden des Direktoriums der Firma Krupp, Alfred Hugenberg. Der aus Hannover gebürtige, später viel karikierte, in Organisationsfragen aber äußerst scharfsinnige Jurist hatte bereits sehr klare Vorstellungen von einer modernen Presse. Sie lassen sich in drei Punkte fassen:

1.   Die industrielle Produktionsform wird sich auch in der Presse durchsetzen. Nur Konzerne nach der "amerikanischen Organisationsmethode" mit vielen Zeitungen und Zeitschriften, technisch hochstehenden Druckereien, gemeinsamem Vertrieb, gemeinsamer Propaganda, gemeinsamem Nachrichtenwesen werden im industriellen Maßstab produzieren können und für Investitionen interessant sein.

2.   Für Konzernbildungen dieser Art ist es lebensnotwendig, daß "sowohl die kapitaltechnische Konzentrationsmethode als auch der dem Geschmack der Masse angepaßte Charakter seiner Publikationen erhalten bleibt".

3.   Die industriell produzierten und vertriebenen Druckerzeugnisse werden "trotz ihres scheinbaren Oberflächencharakters" durch ihre Massenverbreitung politisch "tief eindringend und viel nachhaltiger" wirken als die Presse konservativen Stils.

Welche politische Wirkung sich Hugenberg erhoffte, kann man in der Schrift seines Freundes, des Professors der Staatswissenschaften Ludwig Bernhard, Der "Hugenbergkonzern", Psychologie und Technik einer Grossorganisation der Presse nachlesen, der wohl offenherzigsten Studie, die es über einen modernen Pressekonzern gibt. "Das öffentliche Leben der modernen Großstaaten", exemplifiziert der Autor, "wird durch die Affinität von politischen Anschauungen und geschäftlichen Interessen gekennzeichnet." Im "Gären der öffentlichen Meinung, im Kampf der Parteien, in den Debatten und Beschlüssen der Parlamente" würden letztlich zwei materielle Gegensätze wirksam: der schärfste zwischen Besitz und Nichtbesitz, der zweitschärfste zwischen beweglichem Kapital, das sich international orientiere, und unbeweglichem, das national gebunden bleibe: Großgrundbesitz, Grundstoffindustrie, Schwerindustrie. Eine auf Massenwirkung berechnete Presse dürfe sich mit den eigenen Interessen aber nicht offen verbinden – der Fehler aller "Industriezeitungen" –, sondern bedürfe zur Überspringung der gesellschaftlichen Antagonismen "allgemeiner Ideen". Hugenberg fand sie in der Idee der "Nation" und in der Idee der "Wiederdurchsetzung des Persönlichkeitsgedankens in Kultur und Wirtschaft", einer milden Umschreibung des Kampfes gegen jede Form von Sozialismus.

Zu dem religiös gefärbten Begriff der "Nation" hatte den jungen Hugenberg, sonst ein leidenschaftlicher Verehrer der kalten Machtpolitik Bismarcks, die Begegnung mit einer Volksgruppe inspiriert, deren Nationalität er mit seinen Kollegen von der preußischen Ansiedlungskommission gerade auf ein Minimum zu reduzieren suchte: die Begegnung mit den Polen. Gegen das polnische Nationalgefühl, fanden die jungen Kolonisatoren, sei das deutsche geradezu kümmerlich. In der "gemeinsamen Arbeit in den Ostmarken", der nicht zimperlichen Germanisierung der seit der dritten Teilung unter preußischer Verwaltung stehenden polnischen Gebiete, hatte sich auch der enge Freundeskreis herausgebildet, der später zur Kernzelle des Hugenberg-Konzerns wurde; aus Träumen seien Pläne gewachsen, aus Plänen Entschlüsse, schreibt Bernhard. Auf die zentrale Bedeutung der Presse hatte einer der Freunde, der als Lehrer verehrte Leo Wegener, Max-Weber-Schüler und Direktor der Posenschen Landesgenossenschaftsbank, schon frühzeitig hingewiesen: "Alle unsere Pläne und Arbeiten werden fruchtlos sein, solange wir nicht über fein entwickelte Leitungen zu den Gehirnen der Menschen verfügen."

In Scherls eingängigen Massenblättern hatte Hugenberg nun solche "fein entwickelten Leitungen" in der Hand. Er koppelte sie mit dem schon vorher unternommenen Versuch, über eine Kanalisierung der Anzeigenaufträge der Industrie, "Allgemeine Anzeigengesellschaft" (Ala) genannt, "nationalen Einfluß" auf die Presse zu gewinnen; eine Vera-Verlagsanstalt GmbH zur wirtschaftlich-technischen Beratung hilfsbedürftiger Regionalzeitungen arbeitete der Eroberung der Provinz vor; die Gründung der "Deutschen Lichtbildgesellschaft" kalkulierte die "populäre Propagandakraft" des gerade erfundenen Mediums Film ein. Die Überleitung der Scherl-Organisation im März 1916 wurde mit äußerster Verschwiegenheit vollzogen. Der Krupp-Vorsteher untersagte jede Schriftlichkeit, für die Beteiligten erfand er Codeworte: "Firma" für das Landwirtschaftsministerium, "Zentrale" für Scherl, "Gruppe" für die interessierten Industriellen. Die Überleitungsgesellschaft wurde an einem unverfänglichen Ort, in Lübeck, gegründet und hieß treuherzig "Hanseatische Treuhand GmbH".

Inzwischen tobte ein Massenkrieg über jede Vorstellung, ein Maschinenkrieg, der mit den blitzenden Degen, den wogenden Fahnen und dem süßen Tod für Kaiser und Volk in Scherls vaterländischen Blättern nichts mehr gemein hatte. Über Ludwig Bernhard, als Reserveoffizier im Stabe des Generalquartiermeisters bereits wieder mit "Neuordnungsplänen" für den Osten beschäftigt, reichte der "eigentümlich vertraute persönliche Zusammenhang der Freunde" nun auch in das Hauptquartier des wahren Lenkers dieses Krieges, des Generals der Infanterie Erich Ludendorff. Ludendorffs Vision von der "totalen Mobilmachung" sah alle Apparate des Staates, der Armee, der Industrie, der Presse in einem einzigen vereinigt, in einer riesigen Kriegsmaschine, die Deutschland dauernden Sieg verschaffen würde.

Geistig virulent, als Doktrin, daß es nur an der Perfektion der Apparate, nicht an ihrer politischen Einordnung gefehlt habe, wurde die Theorie von der "totalen Mobilmachung" erst, als die große Kriegsmaschine schon zerbrochen war. Ihre Teile erwiesen sich jedoch als äußerst lebensfähig. Hugenberg, der sein Amt als Vorsitzender des Krupp-Direktoriums am 1. Januar 1919 niedergelegt hatte, widmete sich der nationalen Mobilmachung der Presse nun mit unabgelenktem Eifer. Ein zentraler Materndienst, der die neuen Stereotypen bis in die kleinsten Heimatblätter verbreitete, Wirtschaftsstelle für die Provinzpresse (Wipro) genannt, eine eigene Nachrichtenagentur, die Telegraphen-Union, die Wochenschau-Produktion Deuligfilm, 1927 schließlich der Ankauf der hochverschuldeten größten deutschen Spielfilmproduktion, der Universum-Filmgesellschaft (Ufa), rundeten die neue Großorganisation ab. Diese letzte Transaktion – man sagt, die starke "linke" Propagandawirkung von Eisensteins Film "Panzerkreuzer Potemkin" habe bei dem Kaufentschluß stark mitgewirkt – bestritt Hugenberg bereits aus dem selbst erwirtschafteten Kapital des Konzerns, das geschickte Finanzmanöver während der Inflation noch beträchtlich vermehrt hatten. Ein System von Banken, die als Holdinggesellschaften dienten und die Kapitalgeber in der Industrie verschleierten, gaben dem Imperium Rückhalt.

Regiert wurde es seit 1919 von einem Kollegium von zwölf Männern, einem institutionalisierten Freundeskreis, der sich "Wirtschaftsvereinigung zur Förderung der geistigen Wiederaufbaukräfte" nannte und für das Zweckvermögen, das keine Gewinnausschüttung erlaubte, auch Eigentümerfunktionen ausübte. Die Namen der Zwölf wurden vor der Öffentlichkeit sorgfältig verborgen gehalten; verstarb einer, so hatte er zwei Namen hinterlassen, von denen die übrigen durch Kooption den Nachfolger wählten. Bernhard läßt aber keinen Zweifel, daß kollegiale Regierung selbst hier nicht gemeint war; es hätte unter allen Mitgliedern Übereinstimmung geherrscht, schreibt er, "daß nur ein einzelner fähig sein kann, ein solches Unternehmen zu leiten".

Was nun in Wort, Ton und Bild folgte – jene hemmungslose Verfälschung der Niederlage und ihrer Ursachen, jener Ersatz der Selbstachtung durch Selbstmitleid, jene neue Schürung von Angst und Haß gegen "eine Welt von Feinden", jene unchristliche Vermischung von Religion und Politik, die den "Herrgott" zum Zeugen eines phrasenreichen Nationalismus anrief –, ist bekannt. Der rechte Journalismus entwickelte jene Züge, die ihn trotz brillanter Einzelleistungen nie mehr verlassen haben: Paralysierung gegenüber den inneren Zuständen verbunden mit bedenkenloser Dynamisierung nach außen. Die Geschichte wurde zum Rohstoff für gewaltige Phantasmagorien, die Hirn und Herz der Nation vernebelten und verhinderten, daß sie zu einem neuen, ihrer politischen Situation gemäßen Selbstverständnis fand. Als Symbol des Ausnahmezustandes, als Zeichen, daß die verhaßte Demokratie, das "Weimarer System", nur ein Übergang war, erkor sich die Konzernpresse, vorübergehend wenigstens, die mythische Gestalt eines Schlachtenlenkers. Im Scherl-Haus zwischen Koch- und Zimmerstraße konferierten und intrigierten Hugenberg und Großadmiral a.D. von Tirpitz, aus dem "Sieger von Tannenberg" und Pensionär in Hannover, Feldmarschall von Hindenburg, den Nachfolgekandidaten des sozialdemokratischen Reichspräsidenten Ebert zu machen.

Als Hugenberg sah, daß mit Zeitungen dennoch keine nachhaltige Politik zu machen war, begab er sich selber in die große Politik. Seit 20. Oktober 1928 Vorsitzender der Deutschnationalen Volkspartei, glaubte er, daß Pressemacht, Rückhalt in der Industrie und die Gabe der persönlichen Kabale ihn ausreichend für das Metier eines großen Politikers qualifizierten. Auf diesem Felde unterlag er. Unklar, welche Geister er gerufen hatte, ließ er sich mit denen ein, die sich auf die religiöse Inbrunst in der Politik und die "Nationalisierung der Massen" weitaus besser verstanden, mit den Nationalsozialisten, am 11. Oktober 1931 in Bad Harzburg in eine "nationale Front" zur Niederringung des marxistisch-kulturbolschewistisch verseuchten "Systems", am 30. Januar 1933 in eine Regierung der "nationalen Erneuerung". Bereits nach fünf Monaten verließ der frischgebackene Reichsminister für Wirtschaft und Ernährung beleidigt Hitlers Kabinett. Anlaß war eine selbstverfaßte Denkschrift über die Rückgabe der deutschen Kolonien und die Neugewinnung von "Lebensraum im Osten", die der Wirtschaftsminister ohne Rücksprache mit Außenminister von Neurath auf der Londonder Wirtschaftskonferenz eigenhändig an die ausländischen Delegationen verteilt hatte. Hitler, in der folgenden Kabinettsitzung eher amüsiert und sarkastisch als verärgert, kam dieser politische Dilettantismus nur gelegen; regieren konnte er nun ohne seine bürgerlichen Mitläufer. Er nahm das Rücktrittsgesuch seines deutschnationalen Verbündeten ohne Trauer an. Zur Belohnung für seine nationalen "Verdienste um Presse und Film" durfte Hugenberg den Scherl-Verlag zunächst behalten, seine patriotische Eitelkeit befriedigte die Verleihung des Preußischen Adlerschildes. Aber auch der Nachfolger, der die Großorganisation der Presse in Deutschland zur Perfektion treiben sollte – ein Konzern für alle Zeitungen –, war schon da.

Der Funktionär als Verleger: Max Amann

Hitler hatte ihn im Februar 1920 in München zufällig auf der Straße getroffen und ein Jahr später überredet, die Parteikasse in Ordnung zu bringen: seinen ehemaligen Kompaniefeldwebel Max Amann, nun Angestellter in einer Hypothekenbank. Dem ehrgeizigen Führer und früheren "Werbeobmann" der Deutschen Arbeiterpartei, der im Sommer 1920 zum alleinherrschenden Parteivorsitzenden aufgestiegen war, lag an einer undilettantischen Führung der Parteifinanzen. Amanns bürgerliche Einwände, er habe Beruf und Pensionsansprüche zu bedenken, wischte Hitler beiseite: "Was nützt Ihnen Ihre Pension, wenn die Bolschewisten Sie am nächsten Laternenpfahl aufhängen?"

Am 4. April 1922 übernahm der sogleich erfolgreiche, die Partei "streng geschäftlich" organisierende Amann auch die Leitung des völkischen Winkelverlages Franz Eher, den Hitler und sein Dichter-Berater Dietrich Eckardt am 17. Dezember 1920 für 120.000 Reichsmark von einer Gruppe seltsamer Gesellschafter um die Thule-Gesellschaft erworben hatten, darunter Käthe Bierbaumer, die reiche Freundin des rechtsromantischen Freiherrn von Sebottendorff, und Theodor Heuß mit einem Anteil von 10.000 Mark. 60.000 Mark hatte General Ritter von Epp aus Reichswehrmitteln beigesteuert, eine weitere Summe Direktor Simon Eckardt von der Hansa-Bank und ein früher begeisterter, später verärgerter Parteigönner, Dr. Gottfried Grandel, der noch 1940 mit dem Eher-Verlag über die Rückzahlung stritt. Das Unternehmen war bei der Übernahme total verschuldet; der wochenweise erscheinende, schwindsüchtige Völkische Beobachter, vormals Münchner Beobachter und Sportzeitung, besaß, wie der Eher-Aufsichtsratsvorsitzende Hitler später in stolzer Rückschau bemerkte, "kaum 7000 Abonnenten, keinerlei Anzeigenverträge und keinen Pfennig in der Kasse, um das Papier für die nächste Nummer zu bezahlen". Gleichwohl wurde das völkische Konventikel-Blatt zur Kernzelle der mächtigsten Großorganisation der Presse, die es je in Deutschland gegeben hat.

Amann war als Verlagsorganisator ein Selfmademan, auf diesem Felde, das schließlich sein Haupttätigkeitsfeld wurde, aber ungemein tüchtig. Die Konjunktur in nationaler Literatur, in Broschüren, Pamphleten und heroisch-schwülstiger Belletristik nutzend, verlegte er sich zunächst auf Bücher, die lukrative Einnahmen brachten. 1925 kam ihm das Buch der Bücher, der erste Band von Hitlers Bestseller Mein Kampf ins Haus, der von einem Erlösungssüchtigen, auf Halbwahrheiten erpichten Publikum wenn nicht gelesen, so doch gierig gekauft wurde. Das Erscheinen des zweiten Bandes 1927, die Folge der Ausgaben in einem Band, Sonderausgaben und Volksausgaben konsolidierte die Finanzen des Unternehmens ab 1929 dauerhaft. Bereits 1932 konnte Amann aus Einnahmen des Eher-Verlags dem Wahlfonds der Partei 3,9 Millionen Mark zur Verfügung stellen.

Zäher war das Zeitungsgeschäft, für das Amann zunächst keine Druck- und Vertriebskapazität zur Verfügung stand, die sich mit den etablierten Zeitungshäusern hätte messen können: noch 1930 bewegte sich die Auflage des Völkischen Beobachters, der auf Hitlers Drängen 1923 in kühnem Vorgriff auf "Weltblattformat" umgestellt worden war, bei 40.000 Exemplaren, der Hälfte der Auflage, die heute die Deutsche National- und Soldatenzeitung hält. Man behalf sich zunächst mit einem Amateurvertrieb; in den frühen Statuten der SS taucht neben den hohen soldatischen Pflichten von Treue und unbedingtem Gehorsam immer wieder die banale auf, Abonnenten zu werben: jene, die später den Polizeiapparat beherrschten, begannen als Zeitungswerber. Erst mit der politischen Konjunktur und der Einverleibung großer Druckkapazitäten in München, Berlin und Wien schnellte die Auflagenkurve in die Höhe: 1932 auf 120.000, 1939 auf 750.000, 1943 auf 1,7 Millionen.

Der stämmige, kurzbeinige Bayer, der seinen linken Arm nicht auf dem "Felde der Ehre", sondern bei einem Jagdunfall verloren hatte, hielt zudem wenig von einem salzlosen Weltanschauungsjournalismus, der nichts einbrachte. Das journalistische Klima im Eher-Verlag war darum lange schlecht. Den Chefredakteur des Völkischen Beobachters und Parteiphilosophen Alfred Rosenberg nannte er geringschätzig einen "narreten, überkandidelten Tropf"; Journalisten galten den handfesten Eher-Managern der Pionierzeit, wie dem eintretenden Redakteur Joachim Schieferdecker bedeutet wurde, als Leute, "die kein Geld bringen, saufen, Weibergeschichten habern und Schulden machen". Noch 1935 mußten der Korrespondent in Brüssel mit 150 Mark, der Korrespondent in Madrid mit 250 Mark, der in Tientsin mit 300 Mark auskommen, für alle zusammen hielt man ein Jahresbudget von 12.650 Reichsmark für ausreichend. Auch Hitler, ein reger Zeitungsleser mit sicherem Instinkt, was die Massen wollten, belustigte sich gelegentlich über seinen bildungsbeflissenen Chefredakteur. Im Völkischen Beobachter, spöttelte er, stünden vorzugsweise philosophische Abhandlungen von Professoren über Zentralasien und den Fernen Osten, eigentlich solle die Zeitung "Münchner Beobachter – Baltische Ausgabe" heißen. Amanns einzige publizistische Schöpfung, von Hitler mit begeistertem Beifall bedacht, war bezeichnenderweise ein Bilderblatt, der Illustrierte Beobachter, der 1926 zunächst als Beilage zu den Kampfblättern der Bewegung gegründet wurde. Das Blatt brachte Hitlers "Geschäftszwergen", wie Konrad Heiden Amann und den Pressefotografen Hoffmann nannte, alsbald beträchtlichen Gewinn.

Hitlers Ansichten über Zeitungmachen und Journalismus waren unideologischer, als man vermuten würde, er sah sie beide unter dem Aspekt der Staatsräson und der Bewegung der Massen. Der Privatbesitz an Zeitungen und Druckereien war ihm verhältnismäßig gleichgültig, solange er nicht mit den Jnteressen der Macht kollidierte; seinen vulgärdarwinistischen Ideen getreu versprach er sich von einem freien Wettbewerb eine Weile sogar eine vermehrte Attraktivität der Zeitungen: nur die stärkste, attraktivste würde überleben. Amann – "er ist ein Genius" – überzeugte ihn allerdings davon, daß die Konzernbildung nach amerikanischem Muster das bessere Steuerungsprinzip sei. Der Journalistenberuf, bisher "ein innerlich haltloser", sei nun durch seine Verwendung als "geistig-operative Waffe" geadelt, meinte Hitler im Mai 1942 bei Tisch. Indem der Journalist auf die Seite des Staates getreten sei, sei er nicht mehr "irgendein Skribent", sondern "ein Repräsentant des Staatsgedankens". In diesen Grenzen waren Gewitztheit, Phantasie, Intelligenz erwünscht. So sagten Hitler die Interpretationskünste der intelligenten, "staatsloyalen", keineswegs nationalsozialistischen Journalisten der Wochenzeitung Das Reich weitaus mehr zu als die orthodoxe Langeweile des Völkischen Beobachters, die er oft sarkastisch tadelte – "prachtvoll ist die Zeitung Das Reich", rief er am 22. Februar 1942 vor seinen Gästen aus.

Amann wiederum liebte die Macht, den Apparat und das Geld und betrieb die Vertrustung der Presse nach 1933 mindestens ebensosehr aus ökonomischen wie aus ideologischen Gründen. Sein Jahreseinkommen, 1934 noch "bescheiden" bei 108.000 Mark, betrug 1944 auf dem Höhepunkt der Konzentrationsbewegung 3,8 Millionen Reichsmark. Der wildwuchernde Konzern war am Ende der Kontrolle ebenso entzogen wie Hugenbergs Großgebilde; selbst dem Schatzmeister der NSDAP gewährte Amann keinen Einblick in die Verlagsgeschäfte. Gegen mißwollende Rivalen schützte ihn die Gunst seines Hauptautors und Aufsichtsratsvorsitzenden, dessen Privatschatulle er seit dem Erfolg von "Mein Kampf" führte.

Die geistigen Architekten der neuen Großorganisation, der frühere Eher-Anwalt und Stabsleiter in Amanns "Verwaltungsamt" Rolf Rienhardt und der ehemalige Postsekretär und Ehrenbürgermeister von Graudenz, Dr. h. c. Max Winkler, waren, wenn man ihren Worten Glauben schenken darf, von anderen Motiven getrieben. Rienhardt, sächsischer Pastorensohn und Strasser-Anhänger, ein idealistischer Nationalsozialist bürgerlicher Observanz, wollte die bürgerliche Presse dem neuen Staat nutzbar machen, ohne ihre verlegerische und journalistische Qualität zu mindern – eine Quadratur des Kreises, wie sein späterer Denkschriftenkrieg gegen die zu "machtmäßige Behandlung" der Verlage und Journalisten zeigte. Winkler, Reichstreuhänder für geheime Ostlandfonds und Grenzlandzeitungen unter achtzehn Reichskanzlern, der auch noch dem neunzehnten dienen wollte, "eine Regierungsmaschine wie die Sphinx im Faust", wie Paul Scheffer ihn beschrieb, interpretierte seine diskreten Überleitungen später als Rettungsaktionen. Er habe die wirtschaftliche und personelle Substanz der deutschen Presse retten wollen, denn immerhin sei der Eher-Konzern doch ein technisch qualifiziertes Unternehmen gewesen, das bei der unvermeidlichen, staatlich gesteuerten Konzentration Überlebenschancen geboten habe.

Beide überzogen Hugenbergs System von Banken- und Holdinggesellschaften, später auch die Generalanzeiger-Ketten und andere Provinzgruppierungen mit einem Netz eigener Treuhandgesellschaften, mit Winklers "Cautio GmbH" und "Cura Treuhand- und Prüfungs-GmbH" aus Grenzlandtagen und. den neugegründeten Deckfirmen "Phönix GmbH" und "Herold Verlagsanstalt GmbH". Andere Zeitungs- und Buchverlage wurden direkt an die Zentrale angeschlossen: Knorr & Hirth in München, Langen-Müller mit der Deutschen Verlags-Anstalt und Rowohlt, und so fort. Winklers Hauptstück war die Überführung der Ullstein-Organisation in den Eher-Verlag, der damit eigentlich erst zum Konzern wurde und eine zentrale technische Kapazität in Berlin gewann. Ullstein und Mosse hatten bereits während der nationalen Konjunktur Anfang der dreißiger Jahre empfindliche Einbußen an Lesern und Anzeigenaufträgen erlitten; Mosse zusätzlich durch die Mißwirtschaft des Schwiegersohns Lachmann. Immerhin lag der Wert der Ullstein-Anlagen noch bei 50 Millionen Mark. Winkler konnte jedoch ein fertiges Gutachten über die desolaten Finanzverhältnisse aus der Schublade ziehen, dessen Verfasser der ehemals freisinnige Redakteur, Presseberater Stresemanns und Geschäftsführer von Albert Broscheks Hamburger Fremdenblatt Max Wiessner war. Danach konnte der feingliedrige, diskrete alte Herr mit dem phänomenalen Zahlen- und Personengedächtnis "leider" nur noch 8 Millionen Mark bieten – 6 Millionen für die nominell 6 Millionen Aktien, 2 Millionen für die Gründerrechte –, von denen der Gründerfamilie nach Abzug der Kapitalsteuer auf jüdisches Vermögen, der "Sühneleistung" und Reichsfluchtsteuer so gut wie nichts blieb. Ullsteinscher Geist emigrierte nach Amerika: Korff und Szafranski, die Inspiratoren der neuen Berliner Illustrierten, schufen für den New Yorker Verleger Henry Luce Life, die Informationsillustrierte neuen Stils, die zu einer der Säulen des Time-Life-Konzerns wurde. Max Wiessner wurde für seine Verdienste neuer Direktor der Ullstein-Gruppe, die sich nach dreijähriger "nationaler Bewährung" Deutscher Verlag nennen durfte. In den Aufsichtsrat rückten Rienhardt und Winkler ein, der auch noch die Reste des Hauses Mosse in den Konzern einbrachte.

Rienhardt bediente sich bei seinen Aktionen vor allem der Berufsorganisation der Verleger, des Verbandes Deutscher Zeitungsverleger, nachmals Reichsverband Deutscher Zeitungsverleger, dessen Vorstand, wohl um die bürgerliche Haut zu retten, die Enteignung der sozialdemokratischen und Gewerkschaftsverlage ohne ein Wort des Protestes hingenommen hatte. Dafür hatte er mannhaft zur Unterstützung der nationalen Regierung Hitler-Hugenberg aufgefordert und gegen die "Hetzpropaganda der Auslands-presse" protestiert. Aus dem sequestrierten Gewerkschaftsvermögen der Bank Deutscher Arbeit bestritt Winkler vermutlich auch die Operationssumme von 30 Millionen Reichsmark, mit der er Ullstein, Mosse und die ersten Generalanzeiger-Objekte kaufte. Die bürgerlichen Verleger wurden von Goebbels für ihre "nationale Disziplin" hoch belobigt und gingen am Ende auch glimpflicher aus: sie durften bei Übernahme ihrer Zeitung durch eine der Eher-Gesellschaften in der Regel ihre Druckereien und den Profit aus den Druckaufträgen behalten und erhielten pro Abonnent eine Abfindung zwischen 20 und 25 RM. "Der Führer hat entschieden, daß Sie sich aus dem Verlagsgeschäft zurückziehen sollen", pflegte Winkler salbungsvoll wie ein Kleinstadtgeschäftsmann die Verhandlung zu eröffnen. "Ich habe den Auftrag, den Kauf zu Ihrer vollen Zufriedenheit durchzuführen." "Entziehung" nannte man in den Restitutionsprozessen nach dem Kriege diesen Vorgang, der keine Enteignung im eigentlichen Sinne war. Auch Hinrich Springers Altonaer Nachrichten wurden 1941 gegen Barzahlung "entzogen", nicht enteignet, wie manche Berichte vermuten lassen.

Die Perfektion der großen Maschine

1943 war die riesige Maschine zur Perfektion gediehen. Sie hatte sich 150 Verlage einverleibt, beschäftigte 35.000 Menschen und warf mit 100 Millionen RM Nettogewinn mehr ab als der IG-Farben-Konzern. 82,5 Prozent aller Tageszeitungen in Deutschland waren nun in Amanns Hand. Die besetzten Länder überschwemmte eine Produktion von 20 Millionen periodischen Druckerzeugnissen, die das tausendjährige, unbesiegbare Imperium deutscher Nation verkündeten. Die größte Ordnungsmacht Europas, besessen von dem Gedanken, nunmehr "endgültige" Lösungen auf allen Gebieten zu schaffen, besaß jetzt nicht nur die stärkste Armee, die mächtigste Rüstungsindustrie, die gefürchtetste Polizei, sondern auch den perfektesten Presseapparat auf dem Kontinent, gar auf der Welt, wie Hitler stolz wähnte.
Im Sommer 1944 trafen sich noch einmal die alten Füchse Winkler und Hugenberg, um in einem zähen Handel den Schlußstein in das Gebäude des Eher-Imperiums zu setzen: den Scherl-Verlag, den Hugenberg mit Wehrmacht-Druckverträgen und der Tiefdruck-Apotheose des "soldatischen Menschen" bisher geschickt durchlaviert hatte. Aber Hugenberg, dessen kalter Verstand noch immer vorzüglich funktionierte, nahm schon keine Reichsbanknoten mehr – "er glaubt, daß sie nicht mehr viel wert seien", ließ er dem zornroten Amann bestellen –, sondern erbat sich für die Kaufsumme von 64.106.500 RM Industriepapiere aus dem Portefeuille des Reichsvermögens, Aktienpakete der Ilseder Hütte und der Vereinigten Stahlwerke.

Kaum auf dem Höhepunkt ihrer Macht, begann auch schon der Verfall der gigantischen Maschinen. Mit der bewaffneten Macht verfiel auch die Großorganisation der Presse. Die Zentrale zwischen Koch- und Zimmerstraße ging unter den Bomben der amerikanischen und englischen Geschwader in Rauch und Flammen auf. Am 29. April 1945 wurde in den Ruinenkellern der Kochstraße die letzte Zeitung gedruckt und gerade noch bis vor die Tür getragen: Der Panzerbär – Kampfblatt für die Verteidiger Groß-Berlins. "In dem heroischen Kampf der Stadt Berlin", meldete es aus dem Führerhauptquartier, als gälte es eine journalistische Schaustellung, "kommt noch einmal vor aller Welt der Schicksalskampf des deutschen Volkes gegen den Bolschewismus zum Ausdruck." Nie habe das deutsche Volk in seinem berechtigten Kampf um Lebensmöglichkeiten die deutsche Lebens- und Interessenzone überschritten, beteuerte der "A–Z" gezeichnete Leitartikel "Der längere Atem", nie habe es die Unabhängigkeit und Freiheit der kleinen Nationen bedroht. Wenn es sich jetzt nur behaupte, werde es einen Staat aufbauen, "in dem wir einen noch größeren Wohlstand erreichen werden, als wir ihn vor diesem Kriege bereits genießen konnten". Am 3. Mai teilte ein primitives Nachrichtenblatt für die deutsche Bevölkerung mit, daß die Truppen der Bjelorussischen Front unter Marschall Schukow "die Stadt Berlin, das Zentrum des deutschen Imperialismus und die Brutstätte der deutschen Aggression", besetzt hätten. Zurück blieb eine an Geist und Körper verstümmelte Gesellschaft, die Existenzangst und politische Unmündigkeit mit einem fast kindlichen Glauben an die großen Apparate verbunden hatte und – wie sich bald herausstellen sollte – noch immer verband.

Der Journalist als Unternehmer: Axel Springer

Altonaer Lehrjahre

Einer der wenigen, die sich abseits von den großen Apparaten halten konnten, war der Sohn eines Vorstadtverlegers aus Hamburg-Altona, Axel Springer. Daß der schlanke, dandyhafte, eher stattlich aussehende junge Mann mit den angenehmen Gesichtszügen, der bei Kriegsausbruch siebenundzwanzig Jahre alt war, den Uniformen und Organisationen so sorgfältig aus dem Wege gehen konnte, verdankte er einer Erkrankung seiner Bauchspeicheldrüse und der unerschütterlichen Bürgerlichkeit seines Elternhauses. Er verdankte es seiner erstaunlichen Fähigkeit, privat zu leben, als es privates Leben fast nicht mehr gab.

Hinrich Springers Unternehmungen, die in der ehemaligen Gartmannschen Schokoladenfabrik in der Königstraße betriebene Druckerei Hammerich & Lesser mit dem Vorstadtblatt Altonaer Nachrichten, griffen nie weit aus in die Sphäre der Gesellschaft und des Staates. Der vorsichtig kalkulierende Drucker mied die Kollision mit beiden, erwirtschaftete in drei Jahrzehnten aber genug, um politische Anbiederung nicht nötig zu haben. Hinrich Springer war ein Altonaer Bürger, und er wollte ein Bürger bleiben, auch als andere sich in braunen, grauen und schwarzen Uniformen zu Hoheitsträgern und Herrenmenschen kostümierten und moralisch und kaufmännisch über ihre Verhältnisse zu leben begannen. Ohne Zweifel schwang auch die Geringschätzung des selbstbewußten kleinen Unternehmers mit, daß nun jene von Geld und Wirtschaft redeten, die meist nie ein Kapital erwirtschaftet hatten.

Von seiner Umsicht und Vorsicht lebten eine vierköpfige Familie und ein halbes Hundert Angestellter, die man auf einem alten Foto aus dem Jahre 1936 anläßlich des hundertfünfundzwanzigjährigen Jubiläums der Firma auf der Balkontreppe des "Finkenwerder Hofes" betrachten kann. Bei ihnen war Hinrich Springer hochangesehen und beliebt, er war ein ruhiger, liberaler Mann, der auf die evangelische Religion hielt und sich bei einer guten Zigarre in "Wiezels Hotel" hoch über dem Hafen oder bei "Rieper" in der Schauenburgerstraße gelegentlich auch anhörte, was andere dachten. Ottilie Springer geb. Müller, Otti genannt, auf dem Foto bescheiden aus der letzten Reihe hervorlugend, war eine Liebhaberin von Belletristik aus dem 19. Jahrhundert, vor allem Goethes, von dem sie alles kaufte, was in Felix Juds Buchhändlerladen kam. In den politisch gefährlichen Zeiten war sie mutig, ohne die Gefahren zu ahnen; wem sie helfen wollte, dem half sie, vor allem jüdischen Bekannten. Bürgerlich und idyllisch, wie Bielschowsky es in seinem Goethe-Buch hätte beschreiben können, ein wenig "Hermann und Dorothea" und ein wenig Gustav Freytag, stellt sich das familiäre Milieu dar, in dem Axel Springer und eine ältere Schwester, Ingeborg, heranwuchsen. Manches aus Axel Springers Sprachschatz, die verbrauchten Wörter aus dem 19. Jahrhundert bei starken Gefühlen, erinnert noch heute daran: das "frohe Leben der Arbeit", die "stille Kammer", die "Schaffenstage" und die "Herzensbedürfnisse", die "Vermächtnisse" und "schicksalsgewollten Begegnungen", die "Liebe zum einfachen Menschen" und die "Trägheit der Herzen".

Johann Friedrich Hammerichs Verlag in Altona, ursprünglich ein renommierter Buchverlag, war eine Gründung des vernunftgläubigen Jahres 1789 gewesen: Humanität und Rechnen würden die Probleme der Menschheit lösen, glaubte der sechsundzwanzigjährige Gründer. Könne man zum Beispiel die Völker dazu bringen, besser zu rechnen, gäbe es bald keine Kriege mehr. So verlegte er Bücher, die "rechnen interessant machten", aber auch Klopstocks Oden und die Homer-Übersetzung von Johann Heinrich Voß, die Journale Genius der Zeit und Annalen der leidenden Menschheit und das prophetische Buch des englischen Demographen Thomas Robert Malthus An Essay on the Principle of Populations as it Affects the Future Improvement of Society. Der Verlag hielt, wie so viele, im Wechsel der Generationen nicht seine Höhe; blickt man heute zurück, so verläuft der Weg von Klopstock und Malthus bis zu Horsters "Rotem Rausch", "Mecki bei den Eskimos" und Julius Greifzus praktischen Kaufmannsbüchern. Als Hinrich Springer das Unternehmen 1909 zusammen mit Julius Wagner erwarb, war es schon mehr Druckerei als Verlag. 1924, "als die Mark wieder fest geworden war", kaufte Springer, inzwischen Alleininhaber, zu dem Wochenblatt Altonaer Bürgerzeitung den Titel der Altonaer Nachrichten, die am 1. August des gleichen Jahres zum erstenmal als Tageszeitung erschienen.

Hinrich Springer sah seine Zeitung erst kaufmännisch und dann politisch, allenfalls lokalpolitisch, als Ableger des Generalanzeiger-Typs mit starkem Gewicht auf dem lokalen Teil. Den politisch räsonierenden Leitartikel hielt er für überflüssig, er druckte lange keinen, "und mochte der Erdball zerspringen, der Lokalbericht über die Altonaer Ratsherrensitzung kam immer auf die erste Seite", schreibt ein Chronist der Zeit. Mit dem sozialdemokratischen Stadtkämmerer und späteren Bürgermeister von Altona, Max Brauer, befreundete er sich dauerhaft, eine Freundschaft, die seinem Sohn einigen Nutzen bringen sollte.

Dieser, durchaus keine theoretische Natur, absolvierte die Realschule ohne sonderliche Spur und verließ sie mit sechzehn Jahren offenbar ohne Trauer, um am 2. April 1928 als Lehrling in den väterlichen Betrieb einzutreten und Zeitung zu lernen: am Setzkasten, in der Rotation, im Druckereikontor, gelegentlich auch nur als Frühstückholer, schließlich in der Redaktion, wo würdig-ernste Männer zur Redaktionskonferenz mit ihrem Verleger um einen schweren lederbespannten Tisch mit gedrechselten Beinen saßen. Als Lokalreporter der Bergedorfer Zeitung und Adjunkt in der Hamburger Filiale des Wolffschen Telegraphenbüros lernte Axel Springer das journalistische Metier, das nach Meinung seines Vaters für eine Zeitung nötig war, die sich rentieren soll, vor allem: lokale Nachrichten und "was der einfache Mann denkt". Im Dezember 1934 verzeichnete ihn das Impressum der Altonaer Nachrichten als "verantwortlich für Handel, Schiffahrt, Sport" – den triumphalen Sieg von Altona 93 über den HSV feierte der begeisterte Sportredakteur mit einem Artikel an bevorzugter Stelle –, im Dezember 1937 als "Stellvertretenden Chefredakteur und Chef vom Dienst".

Axel Springer blieb lange der Sohn seines Vaters, und auch später spielten väterliche Freunde in seinem Leben eine auffällige Rolle, auffällig für eine Zeit, die den Vater-Sohn-Konflikt so dramatisch beschwor. Der erste war Walther Hansemann, genannt Hannes, Redakteur beim Wolffschen Telegraphenbüro, unter dem Namen "Kiebitz" regelmäßiger Lokalspitzenverfasser der Altonaer Nachrichten, später fest dort angestellt und an fast allen Projekten seines Schützlings von den Nordwestdeutschen Heften über das Hamburger Abendblatt bis zur Bild-Zeitung beteiligt. Hansemann war ein gefälliger Gebrauchsjournalist mit starkem Hamburger Lokalkolorit und einem Sinn "auch für die Kleinen unter den Künstlern". "Es gab fast nichts, worüber Hansemann nicht flott und anregend schreiben konnte", charakterisiert ihn der Lokalredakteur Robert Warnecke, "alles floß ihm mühelos aus der Feder." Der Plauderton über alles und jedes, verbunden mit Gemüthaftigkeit, mögen dem jungen Mann gelegen haben, der zwar mitunter auch Tiefsinn mochte, ihn aber gern leicht und ohne Strapazen hatte.

Denn der Fünfundzwanzigjährige, so folgsam seine Gedanken dem Vater waren, war zugleich auch ein lustiger Prinz Heinz, der seinen Poins und Peto und seinen Falstaff hatte. Er war wohlhabend genug, um sich nicht allein amüsieren zu müssen, wiederum zu gefühlvoll, um sich nur amüsieren zu wollen; die nächtlichen Streifzüge wechselten mit langem Sinnieren im Dämmerlicht ab, die raschen, vordergründigen Projekte mit hochfliegenden Spekulationen, meist religiösen. Man mag hier, in der Verspieltheit und Verwöhntheit, in der hartnäckigen Neigung zu Unabhängigkeit und Spekulativem auch die tiefere Ursache der Aversion gegen die stiefelstampfende Gesellschaft sehen, die diese jungen Bürgersöhne, hamburgische zumal, umgab. Es war eine fast physische Abneigung, die Abneigung von Individualisten, die ihre Haare und ihre Anzüge gern trugen, wie sie wollten, die gern lasen und dachten, was sie wollten, die ihre Freiheit eher auf dem Wege über das Private verteidigten, nicht eigentlich aus politischen Gründen, sondern aus Gründen des Instinkts und des Geschmacks. Man traf sich in der Buchhandlung von Felix Jud, der keiner war und nur so hieß – frech klebte dort die Schlagzeile aus Streichers Stürmer "Jud bleibt Jud" an der Wand –, gab unter der Hand Leopold Schwarzschilds Neues Tage-Buch oder Bernhards Pariser Tageblatt weiter, schmuggelte sie auf Reisen unter Risiko auch ein, war emigrantenfreundlich und philosemitisch und verachtete die uniformierten Spießer und ihren blutigen Ernst, der noch blutiger war, als man vermutete. In einer Stadt der Hafenarbeiter, der Docks und linken Viertel, die traditionell sozialdemokratisch wählte, verband sich dieses sympathische, provinziell gemilderte Dandytum durchaus mit einer Affinität zu den "einfachen Menschen" – wenigstens verstand es Axel Springer, diese Gefühle miteinander zu verbinden, auf die ihm eigentümliche Weise, die zum Geheimnis seines Erfolges wurde, auch ohne die später nachgelieferte konservative Theorie vom "Volk".

Erste Projekte: Kino und Buchverlag

Leichthin probierend, gefühlsbestimmt waren auch die ersten unternehmerischen Ideen. 1941 erreichte Amanns "Entziehung" auch Hinrich Springers Altonaer Nachrichten; mit dem plötzlich vorhandenen flüssigen Kapital von einigen hunderttausend Reichsmark aus der Abonnentenabfindung versuchte sich der Sohn, offenbar auch in Gedanken an eine schöne Dame vom Film, zunächst in die Lichtspielbranche einzukaufen. Die "Reichsfilmkammer" verwehrte ihm jedoch den Besitz von Kinos – man kann heute darüber meditieren, wie sich die deutsche Presse einerseits, der deutsche Film andererseits entwickelt hätten, wenn Axel Springer sich auf dieses stereotypenfreudige, ihm so adäquate Medium geworfen hätte. Seine Bemerkung im Nachruf auf den Vater – "Dem Sohn hat er mehr vermacht als materiellen Besitz, der schon in den Jahren der Rechtlosigkeit verlorengegangen war" – ist im übrigen etwas unklar; Geld und Grundbesitz für einen Neuanfang müssen genügend vorhanden gewesen sein. Die Druckerei und Gebäude litten erst in den letzten Kriegstagen durch Bomben schweren Schaden.

Die nächste Idee war eine Wiederbelebung von Hammerichs ehrwürdigem Verlag: Bücher auf den unbeschäftigten Maschinen zu drucken, "lesbare Romane" an der Grenze der Kolportage und Kaufmannsbücher. Mit gewelltem Künstlerhaar und großer Hornbrille, die oft auf die Nase rutschte, verwandelte sich Axel Springer in einen Buchverleger; noch die Nordwestdeutschen Hefte zeigen 1946 sein Porträt zwischen Ernst Rowohlt und Felix Jud als Repräsentanten des literarischen Lebens in Hamburg. Die Buchproduktion kam flott in Gang und wurde auch noch in zwei Ställen auf Hinrich Springers Landsitz in Bendestorf in der Lüneburger Heide fortgesetzt. Der Verleger Henry Goverts, im Kreise der gleichen Freunde "Lord Henry" oder "das Irgendwiesel" genannt, erzählt aus dieser Zeit zwei Anekdoten. Die eine, wie Axel Springer die Kaufmannsbücher Ende des Krieges in große Kisten verpackt und nach Sylt transportiert habe. Befragt, was er damit wolle, lautete die Antwort: dies sei sein Kapital. Wenn niemand mehr Bücher habe, werde er sie verkaufen und mit dem Erlös eine Zeitung gründen. Die andere: nach dem Kriege werde alles Papier verbrannt sein, darum werde der Rundfunk die erste Rolle spielen; also müsse man zu Leuten Kontakt suchen, die zu den mutmaßlichen Herren des Rundfunks, den Engländern, Beziehungen hätten. Die beiden Anekdoten, ob wahr oder abgewandelt, zeigen, daß der junge Mann mit zwei Dingen nach der Apokalypse immerhin fest rechnete: mit freiem Handel und der publizistischen Attraktion des Rundfunks. In beiden irrte er sich nicht; auf beide setzte er mit Erfolg.

Hinrich Springers Sohn war nun ein Journalist und Unternehmer, von einem bestimmten kleinunternehmerischen, provinziellen Milieu geprägt, ausgestattet mit der Gabe rascher Ideen und leichter Anempfindung, wohl auch mit dem Impuls, seine Vorstellung von Glück und Vorteil mit dem Glück und Vorteil anderer zu verbinden. Das hätte jedoch ebenso in Lyon, Manchester oder Bologna wie in Altona stattfinden können. In seinem bürgerlichen Instinkt, Erwerbssinn und Journalismus miteinander zu verbinden, blieb der junge Mann gleichwohl unpolitisch, geschichtslos, ein "unbeteiligter Zuschauer", wie er später selber von sich sagte. Daß er der Geschichte an einem Punkt begegnete, an dem nicht Erweiterung, sondern Verengung des Bewußtseins, neue konservative Mystifikationen stattfanden, in der Person eines geistreichen, tiefsinnigen Causeurs und Neokonservativen, dessen politische Ideen, mehr feuilletonistisch als scharfsinnig, schon einmal gescheitert waren, kann man als Zufall ansehen. Es wäre auch anderes denkbar gewesen, etwa eine Verbindung von Aufklärung und Geschäft, wie sie sich in der Tradition der englischen Presse herausgebildet hat. Axel Springer selber sah die Begegnung als "schicksalsgewollt" an. Für die Entwicklung der deutschen Massenpresse nach dem Kriege war sie jedenfalls folgenreich, und eine Affinität zwischen den neukonservativen Mythen und den Mythen, die der Unterhaltungspresse ein bisher nicht dagewesenes Massenauditorium schufen, läßt sich auch nicht von der Hand weisen.

Der Mentor: Hans Zehrer

Die erste Begegnung fand 1943 oder 1944 auf der Insel Sylt statt und ging auf die Initiative Axel Springers zurück; Vermittler waren, scheint es, Ernst Rowohlt oder Henry Goverts oder beide. Der elegante, markant aussehende, damals fünfundvierzigjährige Publizist, der von seinem Kampener Refugium aus den Vorstand des Stalling-Verlages in Oldenburg leitete und zwischendurch seinen Dienst bei der Luftwaffe absolvierte, ehemaliger Gardeschütze gegen Spartakus, im Kapp-Putsch auf der rechten Seite der Barrikaden verwundet, Medizin-, Geschichts-, Philosophie- und Theologiestudent, außenpolitischer Leitartikler der bürgerlich-liberalen Vossischen Zeitung seit 1925, Herausgeber der nationalrevolutionären Zeitschrift Die Tat, seit 1929, letzter Chefredakteur der ehemals christlich-sozialen Täglichen Rundschau des Generals Schleicher 1932, war noch immer der große, brillante, legendäre Zeitungsmann, der einmal die Haupt- und Staatsaktionen der untergehenden Republik mitbestimmt hatte oder wenigstens doch die Theorien, nach denen sie sich zu formieren schienen. Er war sich dieser hauptstädtischen Prominenz zweifellos noch immer bewußt und empfing den jungen unbekannten Verleger aus der Provinz, der sich mehrfach vergeblich um eine Audienz beworben hatte, eher mit distanzierter Herablassung. Sie machte jedoch bald starken gegenseitigen Gefühlen Platz, die den Weg des jungen Mannes in eine neue Bahn lenkten. Der Tat-Herausgeber wurde zum späten Prinzenerzieher. Nie hatte er einen Schüler besessen, der so begierig und bildsam aufnahm, was er dachte und formulierte, nie war dem Bürgerssohn aus Hamburg-Altona eine so reichhaltige, scheinbar komplexe Welt begegnet, die alle metaphysischen Rätsel zu lösen schien. Später begann die Umsetzung seiner Gedanken den Lehrer mitunter zu irritieren, so wie den Schüler gelegentlich die Mischung von geschmeidiger Anpassung und Reservatio mentalis verwirrte, mit denen der ältere Freund auf unliebsame Anregungen reagierte. Die eigentümliche Bindung blieb von solchen Trübungen bis zu Zehrers Tod im August 1966 jedoch ungemindert. Nicht nur der Text von Axel Springers Todesanzeige bezeugt es – "Er war mein Freund und mein Mentor. Ohne ihn wäre mein Leben anders verlaufen. Ohne ihn wäre mein Haus nicht das geworden, was es ist" –, sondern auch die spätrömische Geste, ein politisch-religiöses Briefzitat des Freundes aus dem Jahr 1963 in Marmor schlagen und in das Foyer des Berliner Konzern-Palastes einfügen zu lassen.

Hans Zehrer, 1899 als Sohn eines Postoberinspektors in Berlin geboren, entstammte einer nach Preußen zugewanderten Familie aus dem Sudetenland. Der Weg des "kultivierten Kurfürstendamm-Schlenderers in den Vormittagsstunden", wie ihn der frühere Welt-Reporter Ben Witter nennt, ist kaum verständlich ohne den Einfluß seines journalistischen Lehrmeisters Georg Bernhard, des Chefredakteurs der Vossischen Zeitung, bei dem der enttäuschte Rechtsputschist, der nun endgültige Antworten in Theologie und Geschichte, bald auch in den Sternen suchte, im Oktober 1923 sein erstes Zeitungsvolontariat antrat.

Bernhard, Sohn einer jüdischen Berliner Familie und ehemaliger Bankangestellter, war ein enttäuschter "Linker", der über den revisionistischen Flügel der Sozialdemokratischen Partei zu seinen bürgerlichen Finanzideen und einer etwas wirren Stände-Ideologie zurückgekehrt war, die an die Stelle der Parteien-Demokratie treten sollte. Politisch ehrgeizig, aber sprunghaft, einmal mit Ludendorff, einmal gegen ihn, ein Mann der Clubs, politischen Salons und Beziehungen "über den Parteien", journalistisch begabt und von großer, gelegentlich geistvoller Beredsamkeit, hatte Bernhard der altersmüden "Tante Voss", die 1914 in den Besitz des Hauses Ullstein übergegangen war, zusammen mit dem Ullstein-Beauftragten Ernst Wallenberg neuen Lebensatem eingeblasen. Sein journalistischer Elan litt jedoch darunter, daß er sich stets im Schatten des bedeutenden Leiters des Berliner Tageblattes, des Mosse-Neffen Theodor Wolff fühlte, der analytisch zweifellos der überlegene Kopf und auch ein eleganterer Stilist war. "Gesinnungslosigkeit", "Intellektualität", "Zersetzung des Vaterlandsgefühls" waren die Hauptkeulen, die Georg Bernhard erbittert gegen das Berliner Tageblatt schwang.

Die nie verwundene Rivalität und Originalitätssucht steuerte die Vossische auf einen Kurs, der alles und jedes sein konnte: konservativ und liberal, diktaturfreundlich und demokratisch, scharf national und übernational für Verständigung mit Frankreich. Erst nach der Ermordung Rathenaus durch die rechtsextreme "Organisation Consul" im Juni 1922 stabilisierte sich die Linie der Zeitung auf einem demokratischen Kurs. Sie verzichtete auf die nationalistischen Töne und sekundierte später dem "Erfüllungspolitiker" Stresemann. Den Ullstein-Erben war das mehr aufgeregt konservative als liberale Blatt, das kaum ihrer Grundanschauung entsprach, eher unheimlich. Einen "serviettenschwingenden politischen Oberkellner, der wedelnd von Tisch zu Tisch eilte und mal die richtigen, mal die falschen Speisen brachte", nannte Heinz Ullstein den unsteten Chefredakteur. "War es eigentlich unser Blatt?" schreibt Hermann Ullstein in seinen Erinnerungen.

Das Ergebnis dieses politisch aufgelockerten Journalismus ohne analytische Disziplin, bei dem der junge Zehrer in die Lehre ging – eine Zeitung ohne klare Linie durch "zuviel Einflüsse, zu viele Veränderungen, zu viele persönliche Probleme", wie der Historiker Werner Becker in einer vortrefflichen Studie schreibt –, erinnert lebhaft an die Welt ein halbes Jahrhundert später. Der Grundvorrat von Bernhards Ideen tauchte in rechter Verschärfung auch schon bald beim Zehrer der Tat, in volkstümlicher Domestizierung noch dreißig Jahre später in den Leitartikeln des Welt-Chefredakteurs auf. Schon bei Bernhard sind die Parteien "künstliche Gebilde", die keinen "dauerbaren Ankergrund in den Tiefen der Wählermassen" haben, gibt es den "Fluch der Parteienwirtschaft", die verhärteten Fronten, die "gesprengt" werden müssen, die Sammlungsbewegungen von Gewerkschaften und Unternehmern, die Vertretung des Volkes durch die "Tüchtigsten aller Berufe", einer "Kammer der Arbeit", statt durch ein gewöhnliches Parlament, die "neue Geistigkeit, die unverkennbar in den jungen Menschen aller Parteifärbungen sich offenbart [...] und der Kristallisationspunkt für das kommende große Neue ist", das Lieblingswort "politisch" für die dilettantischen Gedankenspielereien, die negieren, daß Interessen in der Politik sich organisieren müssen, wenn sie Politik nach den Spielregeln einer Verfassung bleiben und nicht in die dumpfen Regionen des Religionsersatzes und der falschen Absolutheiten absinken sollen – wie sie es alsbald taten. Ob Bernhard auf seinen jungen Außenpolitiker auch etwas von seiner irrationalen Englandfeindschaft übertrug, den Haß auf das perfide Albion, das die Kontinentalpolitik verdarb – in Giselher Wirsings Zwischeneuropa-Ideologie kehrt die Aversion gegen die atlantischen Mächte als politisches Programm der Tat wieder –, läßt sich nicht sagen.

Es war wohl die Neigung zur religion politique, die den jungen Gentleman in den maßgeschneiderten Anzügen, den durch die montäglichen "Außenpolitischen Umschauen" in Ullsteins Vossischer Zeitung nun ein Air von links umgab und der sich in den Salons und bei den Damen bald großer Beliebtheit erfreute, wieder für rechts optieren ließ. Im Oktober 1929 übernahm er die Herausgeberschaft der Tat, die vorher der romantisch linksrevolutionäre Dichter Adam Kuckhoff geleitet hatte, zunächst anonym, nach seinem Ausscheiden aus der Vossischen 1931 offiziell. Unter dem Motto "Achtung, junge Front! Draußenbleiben!" sammelte sich um den neuen Herausgeber eine Gruppe junger Leute, politisch-soziologisch-mystisch orientiert, gleichwohl beachtliche Intelligenzen darunter, die aus dem bündisch-konventikelhaften Journal von kaum 1000 Exemplaren ein Zentrum der rechten Intelligenz machten. Die Auflage schnellte auf 20.000 Exemplare empor, Tat-Kreise verbreiteten sich über das ganze Land. Man schneiderte auch ein Aktionsprogramm zurecht, die Utopie eines neuen autoritären Staates, der den Weimarer Plunder, die Ausgeburt von Marxismus, Liberalismus und Parlamentarismus, in den Orkus befördern und eine "neue totale Volksgemeinschaft" über den Parteien schaffen würde, das "von Gott gezeichnete Volk", dazu berufen, der Welt eine neue erlösende Form des nationalen Sozialismus zu bringen und "dem Westen" im Bündnis mit der mystischen Kraft des "Ostens" die gebührende Quittung zu erteilen. Ein enger Bund von Gleichgesinnten, eine rechte Elite würde es führen.

Damit steuerten die Tat-Theoretiker auf Parallelkurs zu den Nationalsozialisten. Sie hofften aber, auch diese Partei "aufzusprengen" und ihre Massen, ihre Sehnsucht nach einem "neuen Glauben" zu erben und in eine "Dritte Front" leiten zu können. Der Machtfaktor, auf den die jungen Minister und Staatssekretäre in spe setzten, war die Armee. Hier gab es zwei Meinungen. Der Chef der Heeresleitung, der nüchterne Generaloberst von Hammerstein-Equord, hielt nichts von solcher Politisiererei, noch dazu mystisch gefärbter; er wußte, daß sie das Instrument der Reichswehr von der Verfassung lösen und damit zerstören würde: "Was heißt hier Glaube, der gehört in die Kirche", gab er knapp zur Antwort, als ihm vom neuen Glauben geredet wurde. Sein vertrauter Freund aus dem 3. Garderegiment zu Fuß, der politisch ambitionierte Chef des Ministeramtes im Reichswehrministerium Generalmajor von Schleicher, dachte jedoch anders. Er begann, die jungen Publizisten für seine politischen Zwecke zu benutzen, so wie sie durch ihn die Armee zu benutzen glaubten. Sie hätten ihm "ungeheure Schwierigkeiten" bereitet, sagte der letzte demokratisch regierende Reichskanzler Brüning später über den Tat-Kreis und seinen Leiter, der seine Rolle beim Untergang der Weimarer Republik dreißig Jahre danach gern anders darstellte und sich erneut als Mahner gegen die "intellektuelle Zersetzung" der Demokratie empfahl.

"Es ist das Kennzeichen von Salonpolitikern und Amateuren aller Grade, der Menschheit dadurch auf die Strümpfe helfen zu wollen, daß sie für ihre Originalidee einen Millionär oder Minister zu gewinnen trachten", merkte Carl von Ossietzky in der Weltbühne bissig an. Zehrer habe "Hitler überhitlert", ihn "in eine moderne Bildungssprache übersetzt". Daran war ein Kern von Wahrheit. Man wird sich aber die publizistischen Gefechte zwischen links und rechts nicht ganz so stumpf wie heute vorstellen dürfen. Die "linken" Soziologen in Frankfurt kauften am Hauptbahnhof jede Nummer der Tat, um begierig zu lesen, was die "rechten" Soziologen, wissenschaftlich Amateure, politisch aber von halsbrecherischem Elan, über die Krise der neuen Gesellschaft schrieben. Das plumpe Stereotyp von den "zersetzenden Intellektuellen", in Hugenbergs Massenblättern und Materndiensten bis in die letzten Winkel der Provinz schon kräftig in Umlauf und bald synonym mit "jüdisch-zersetzend", wurde von Zehrer und seinen Freunden damals selten benutzt; zu "intellektuell" waren sie selber noch. Manchem Gegner wiederum erschien der Faschismus noch als geistiges Abenteuer, dessen Ausgang offen schien.

Die "große Wende", die Hans Zehrer nach dem endlich erreichten Sieg, der Bildung von Schleichers Präsidialkabinett, im Dezember 1932 in der Täglichen Rundschau prophezeite, dauerte jedoch nur 56 Tage; sie war die erste der zahlreichen von ihm prophezeiten "Schicksalswenden", die nicht eintrafen. Der Meister des Umsturzes von oben, der Führer der Nationalsozialisten, der seine pseudoreligiöse Ekstase mit kaltem politischem Verstand verband, hatte eine Lehre erteilt, daß man die Gedanken und Emotionen der Massen nicht nur aufreizen, sondern auch politisch organisieren mußte, wenn man die Macht wollte, daß man den Existenzgeängstigten vor allem handfeste wirtschaftliche Versprechungen machen mußte, auf wessen Kosten auch immer. Die neukonservativen Tat-Revolutionäre hatten, wie der Historiker Klemens von Klemperer schreibt, "ihre Phantasie auf eine Revolution verschwendet, die, als sie dann eintraf, nicht die ihre war".

Einige traten sogleich auf die Seite der wahren, der siegreichen Revolution und zogen die schwarze Uniform der neuen Elite, der SS, an, so Giselher Wirsing und Friedrich Zimmermann, genannt Ferdinand Fried.

Der junge Gentleman und ehemalige Redakteur der Vossischen, zu dieser Zeit mit einer jüdischen Frau verheiratet, verschmähte jedoch diesen einfachen Weg. Unter dem Pseudonym Hans Thomas begrüßte er zwar noch den neuen Staat in einem Artikel "Der Mensch in dieser Zeit" und allgemeinen politischen Wendungen bis weit in das Jahr 1933 hinein – hier sind seine offiziellen Biographen heute des guten demokratischen Eindrucks wegen nicht ganz korrekt –, zog sich aber, nach einer "durchgreifenden Umgestaltung des Tat-Kreises", vom Schwarzen Korps nun selber als "Literat" beschimpft, im August 1933 von den Redaktionsgeschäften zurück und verließ die Hauptstadt im Juni 1934 gerade noch rechtzeitig, um Hitlers Bartholomäusnacht gegen unbotmäßige Konservative und Nationalrevolutionäre zu entgehen. In Potsdam in der Griebnitzstraße 4, zur Mittagsstunde an seinem Schreibtisch sitzend, starb der Prätendent des Tat-Kreises, General von Schleicher, von fünf Schüssen gedungener Mörder des "neuen Staates".

Der Liberale fühle sich schuldig, wenn er politisch scheitere, reflektiert Klemens von Klemperer, der Konservative empfinde Sünde. In seinem winzigen Refugium in Kampen, einem ehemaligen Bahnwärterhaus von acht mal acht Metern, zwischen Schafen, Hühnern und selbstgebautem Tabak, überprüfte der ehemalige Tat-Herausgeber seine Ideen. Aber auch diesen Weg, scheint es, ging er nur halb. Er las nun Augustinus, die Kirchenväter, Luther, Kierkegaard und die Bibel, östliche Religionsphilosophen und Schweizer Parapsychologen, Berdjajews Sinn der Geschichte und C. G. Jungs Geheimnis der Goldenen Blüte, Danzels Magischen Menschen und Levy-Brühls Seele des Primitiven, Marais’ Die Seele der weißen Ameise und Ortegas Aufstand der Massen, Joachim von Floris, Donoso Cortés und de Maistre, eine verwirrende Fülle von Autoren und scheinbaren Bezügen, die den Neokonservativismus christlich retten und die politischen Allgemeinheften, die in der Realität gescheitert waren, in einer noch größeren Allgemeinheit aufheben sollten. Die Lesefrucht aus vierzehn Inseljahren war ein riesiges metaphysisch gestimmtes Feuilleton unter dem Titel Der Mensch in dieser Welt, durch dessen 656 engbedruckte Seiten, seiner konkreten historischen und sozialen Bedingungen beraubt, der "allgemeine Mensch" geistert, ein armes bußfertiges Geschöpf, nicht mehr national und nicht mehr revolutionär, sondern zerknirscht der Frechheit des Bewußtseins abgewandt, in einigen Auserwählten aber immer noch berufen, die Massen zu einem "neuen Glauben" zu führen, eine neue "geistige Wende" einzuleiten.

Das dicke eklektische Buch, von Rowohlt 1948 als Rotationsdruck auf den Markt geworfen, fand den bischöflichen Segen von Hanns Lilje und kühne Vergleiche mit Spengler und Toynbee. Es deutete bereits auf den religiösen Zehrer der späteren Jahre, die eigentümliche Mischung von Predigerton und Feuilleton, von bedachter Einfalt und ungeschmälerter Eleganz, auf jenes Christentum des Salons, das, subjektiv zweifellos aufrichtig, christliches Sündenbewußtsein und luxuriöses Leben auf seltsame Weise miteinander verband, ein Gegenstück zum ästhetisierenden Marxismus der literarischen Zirkel und Debattierclubs. Die alten Geister beschwor der neue Glaube nicht: er wurde alsbald anfällig für ein neues Vaterlandschristentum, das mit der liberalen Theologie des Wilhelminischen Reiches und der "Glaubensbewegung Deutscher Christen" längst versunken schien. Später gab er die Basis für zunehmend heftige Attacken gegen die Mündigkeit der Welt ab, die der nach dem 20. Juli hingerichtete Theologe Dietrich Bonhoeffer "sinnlos, unvornehm und unchristlich" genannt hatte: "sinnlos, weil sie mir wie der Versuch erscheinen, einen zum Mann gewordenen Menschen in seine Pubertätszeit zurückzuversetzen, das heißt ihn von lauter Dingen abhängig zu machen, von denen er faktisch nicht mehr abhängig ist; unvornehm, weil hier ein Ausnutzen der Schwäche eines Menschen zu ihm fremden, von ihm nicht frei bejahten Zwecken versucht wird; unchristlich, weil Christus mit einer bestimmten Stufe der Religiosität des Menschen, d.h. mit einem menschlichen Gesetz verwechselt wird".

Der Kern der neokonservativen Theorie – was Klemperer den zerstörerischen Widerspruch zwischen der inneren Logik des neuen Konservativismus und seiner Politik genannt hat, die Deformierung zu einem Konservativismus, der keiner mehr war –, das Buhlen um die Massen ohne Identität mit ihren Rechten und Interessen, blieb in dieser Selbstprüfung unangetastet. Hitlers Erfolg hatte Zehrer nur darin bestärkt, daß man es besser machen mußte. Man mußte, wie er, die Massen durch Anpassung an die Masse führen, diesmal nur zum Guten, nicht zum Bösen. Die Harmonisierungsformel, die den Ausgleich der Interessen durch die demokratische Prozedur, die formation of opinion by discussion, überflüssig machte, hieß unverändert "Volk". Sie gab der geistigen Elite, die den rechten Glauben und die nötigen Mittel besaß, den Schlüssel und die Legitimation an die Hand, den unmündigen Massen "Orientierung" zu geben. Sie mündig zu machen, etwa die Verhältnisse von Einkommen, Bildung und Aufstiegschancen zu ändern, war eitle linke Utopie. Das "Volk" verstand sich nicht selber, man mußte ihm sein Selbstverständnis verschaffen und seine Gefühle befriedigen, die guten nunmehr. Das war zunächst religiös gemeint, wurde aber zwangsläufig wieder politisch.

Von Altona aus betrachtet muß diese hauptstädtische Welt mit ihren rechten und linken Zirkeln, ihren kühnen, aufeinanderprallenden Ideen und Theorien, ihrem geistigen und physischen Lebensgenuß, ihren Konspirationen, Ministerstürzen und Generälen, ihrem Ende in Flucht, innerer Emigration und religiöser Versenkung mit Staunen erfüllt und die Phantasie des jungen Mannes nachhaltig gefangengenommen haben, so nachhaltig, daß er sie noch ein Jahrzehnt später zur Grundlage eines großen unternehmerischen Entschlusses machte. Da er es bald mit Massen von Käufern zu tun hatte und ihnen nicht nur gedruckte Ware, sondern auch gute, friedliche, versöhnende Ideen verkaufen wollte, aus denen alle, Käufer wie Verkäufer, Nutzen ziehen sollten, leuchtete ihm auch die harmonisierende Theorie vom Volk ein. Sie erhob nicht nur die eigenen Gefühle, sondern auch das Verkaufen in einen höheren, seelsorgerischen Rang und gab dem bloß kommerziellen Verhältnis zwischen Käufer und Verkäufer einen zusätzlichen, einen "menschlichen" Sinn.

Das Volk, eigentlich gut oder wenigstens doch nicht schlecht, sondern nur verführt, war nun aus Verängstigung und Verstrickung in eine gute, bessere Welt zu führen. Unter dem Guten verstand Axel Springer zu dieser Zeit, scheint es, freien Handel, ein mehr gefühlsmäßiges Christentum und hamburgischen Common sense, ein ziviles, freundliches, unreglementiertes Leben: gut war, was guttat. "Jesus-Euphorie" nannte ein mokanter Beobachter die Stimmung dieser langen Kampener Winterabende in Hans Zehrers Haus. In der neuliberalen Adaption hatte Axel Springer aus der konservativen Theorie vom Volk zwar das Dornige, Sünde und Buße, herausoperiert, aber die geniale Vereinfachung machte ihn telepathisch sicher, die Wünsche und Bedürfnisse der neuen Gesellschaft zu erfassen und in neuen Stereotypen auszudrücken – nicht: "Ändert euren Sinn", sondern: "Seid nett zueinander".

Es entstanden auch Zeitungstheorien, denn der junge Verleger von Hammerich & Lesser hatte den prominenten Journalisten ja auch seiner Zeitungspläne wegen aufgesucht. Hans Zehrer trug sie Anfang 1950 einer Journalistenversammlung an der Evangelischen Akademie Hermannsburg vor: der Typ der großen liberalen Informationszeitung sei vorbei, er sei an den Besitzbürger gebunden gewesen, der seiner Effekten und Geschäfte wegen umfassende Informationen gebraucht und die Strapaze gründlicher Unterrichtung auf sich genommen habe. Mit der sozialen Umstrukturierung, dem Untergang des Bürgertums, sei auch ein neuer Zeitungstyp erforderlich. Die besitzlose Masse könne mit detaillierten Informationen, mit Zeitungen für den Intellekt, nichts anfangen, sie brauche in der kompliziert und unübersichtlich gewordenen Welt inneren Halt und klare Weisung. "Das klang damals und an diesem Orte noch so geistlich", berichtet ein Teilnehmer, trotzdem habe sich gegen die Amateursoziologie eines Journalismus der Unmündigkeit ein leidenschaftlicher Sturm fast aller anwesenden Journalisten erhoben, dem Zehrer, in der Diskussion kein Meister, hilflos ausgeliefert gewesen sei. Erst Bischof Lilje, das große Bischofskreuz auf der breiten Brust, habe die Gemüter beruhigt.

Daß "seelischer Halt", gar christlicher Glaube, nicht massenhaft fabrizierbar und verkäuflich war, allenfalls das Surrogat von Glaube, übersah die neue Zeitungstheorie; daß sie, politisiert, dem Verdikt gefährlich nahe kam, das Walter Benjamin über den Faschismus gefällt hat – daß er nämlich den Massen nur zu ihrem Ausdruck, nicht zu ihrem Recht verhelfe und unausweichlich in eine flache Ästhetisierung der Politik münde, die wiederum in einem pseudoreligiösen Kult von Gemeinschaft und Opfer, in der Ästhetisierung des Krieges enden müsse –, ging ihr nicht auf.

Zunächst war es auch nur ein geniales Patent der journalistischen Anpassung, mit dem Axel Springer, der am 2. Mai seinen dreiunddreißigjährigen Geburtstag gefeiert hatte, im Frühsommer 1945 in das zerstörte Hamburg zurückkehrte. Die Stadt, ausgebrannt bis in die Außenränder, ihres Hinterlandes beraubt, der Hafen tot und ohne Güterumschlag, war nun englisch besetzt, englisch verwaltet und – soweit überhaupt – englisch ernährt. Von den 1,5 Millionen Einwohnern kaum eine Million zurückgeblieben, von 470 Schulen existierten noch 60, von dem halben Dutzend gleichgeschalteten bürgerlichen Blättern keines mehr. Englische Offiziere machten sich englische Gedanken über deutsche Zeitungen: ein Collegeprofessor, Newspapermen aus Dundee und Manchester, deutsche Emigranten in königlich-britischer Uniform. Unter ihnen fand Axel Springer, der nun gelegentlich ein englisches Bärtchen auf der Oberlippe trug, rasch Freunde; er trank mit ihnen Militärkaffee und diskutierte Nächte hindurch über Demokratie. Sein liebenswürdiger, dandyhafter Charme, seine unbekümmerte, unbelastete Intelligenz, seine ungewöhnliche Gabe, Menschen, die ihm sympathisch oder nützlich oder beides waren, für sich zu gewinnen, machten ihn den neuen Herren über Verlagslizenzen und Druckmaschinen angenehm: gute Voraussetzungen für Zeitungspläne im neuen Stil.

Geliehene Publizität: Journale für den Rundfunk

Nordwestdeutsche Hefte

Den ersten Erfolg verdankte Axel Springer jedoch nicht der neuen Theorie vom Volk, in der eine alte steckte, sondern den Intellektuellen, die ihm den Weg zu Radio Hamburg, a Station of Military Government öffneten. Axel Eggebrecht war alles das, was die Blätter des Konzerns später so heftig geißelten: ein heimatloser Linker, nach Rückkehr aus dem ersten Kriege Kommunist, später mit der Partei ihres Taktierens wegen zerfallen und Leiter der antifaschistischen Künstler- und Intellektuellen-Kolonie Wilmersdorf, früher Mitarbeiter der von Bernhard Menne geleiteten marxistischen Literaturzeitung Das Wort und der Weltbühne, nun ein radikaler Demokrat und Pazifist, ein zerschossener, trauriger, integrer Mann, der den perfekten, knochenbrecherischen Militärstaat nach den "Verordnungen zum Schutz von Volk und Staat" im Konzentrationslager von innen erlebt hatte – "bist du wirklich immer noch so radikal?" fragte ihn Axel Springer später einmal. Eggebrecht hatte sich im Juni 1945 nach Hamburg durchgeschlagen und war mit ähnlichen Ideen von verbranntem Papier und der Wichtigkeit des Rundfunks wie Axel Springer ohne Aufenthalt sogleich zum Funkhaus in der Rothenbaumchaussee gefahren. Mit seinen sächsischen Landsleuten Peter von Zahn, Radikalliberaler damals, Curt Emmrich, genannt Peter Bamm, Bruno E. Werner und Ernst Schnabel bildete er dort die Kerntruppe des späteren Nordwestdeutschen Rundfunks – einen "obersächsischen Sender im niedersächsischen Raum", wie es selbstspöttisch hieß. Wie alle, die über die Kette von Ursache und Wirkung in der deutschen Geschichte nachzudenken begannen, waren die neuen Rundfunkjournalisten für radikale Aufklärung und Umerziehung. Ein neuer Rationalismus, übereifrig, kurzschlüssig oft, aber geeignet, die Grundlagen der gesellschaftlichen und politischen Fehlhaltung in Deutschland freizulegen, schien sich zu verbreiten.

Auch Axel Springer, so schien es wenigstens, teilte den neuen aufklärerischen Geist. Da die Henry Goverts gegenüber geäußerte Idee zunächst nicht zu realisieren, privater Einfluß auf den Rundfunk kaum zu gewinnen war, blieben zwei verlegerische Projekte: die Sendungen im Druck vorher anzukündigen und sie, soweit sie lesenswert waren, im Druck nachher festzuhalten, eine Programmzeitung und ein Digest-ähnliches Journal mit dem Wortlaut der interessanten Sendungen nach dem Muster des englischen Listener. Beide Projekte waren aber nicht nur der Aufklärung wegen, sondern auch kaufmännisch interessant: der Stoff kostete im Einkauf so gut wie nichts, Markt und Publizität wurden vom Rundfunk kostenlos mitgeliefert. Man mußte nur redigieren, drucken und eine gute Spanne einkalkulieren. Manche Rundfunkanstalten, so der britische BBC, behielten sich den Vertrieb solcher Druckerzeugnisse darum als Teil der Rundfunkpublizität vor, und man mag es als Ironie betrachten, daß Axel Springer seinen wirtschaftlichen Aufstieg der Anlehnung an den öffentlich-rechtlichen Rundfunk verdankte, den er später als Gralsritter des freien Wettbewerbs so heftig bekämpfte, privilegiert zudem durch ein rigoroses quasistaatliches Lizenzierungssystem, das gleiche Startbedingungen und freien Wettbewerb in der wichtigen Anfangsphase ausschloß und ihm auf dem Markt der Programmzeitschriften einen uneinholbaren Vorsprung verschaffen sollte.

Auf den offiziösen Eindruck achteten beide Organe im Anfang peinlich: die Listener-Nachahmung Nordwestdeutsche Hefte mit dem Kopfvermerk "Herausgeber: Axel Eggebrecht und Peter von Zahn im Auftrage des Nordwestdeutschen Rundfunks", die Hör zu getaufte Programmzeitschrift in dem ab Nummer 2 geführten Untertitel Die Rundfunkzeitung des NWDR. Für die Programmzeitschrift erhielten die Inhaber des Verlages Hammerich & Lesser Axel und Hinrich Springer (in dieser Reihenfolge aufgeführt), beide in der Press-Section gut gelitten und von ihren Rundfunkgönnern mit demokratischen Empfehlungen wohlversehen, von Major Huysman im britischen Hauptquartier die Lizenznummer 67, für die Nordwestdeutschen Hefte die Lizenznummer 68.

Die Programmzeitung kam erst später in Gang. Mancher frage jetzt, warum zurück in den Abgrund blicken, erklärte Axel Eggebrecht in der ersten Nummer der Nordwestdeutschen Hefte programmatisch, die – undatiert – offenbar im März 1946 zum erstenmal erschienen. "Nein. Der Gott unserer Zeit ist ein anderer. Er will, daß wir wissen." Es weht ein rauher, umstürzlerischer Geist durch die gelben, holzhaltigen Seiten im kleinen Quartformat, eine Entschlossenheit, Staat, politisches Bewußtsein, die Presse von Grund auf zu erneuern: gegen Selbstmitleid – "Diejenigen, die zwölf Jahre lang die Knebelung des Gewissens ganz in der Ordnung und die Behandlung der Juden durchaus gerechtfertigt fanden, haben nun ihr Gefühl für Menschenwürde entdeckt" (Peter von Zahn); gegen neue mythische Vernebelung – "Seien wir mißtrauisch! Mit dem Glauben soll uns keiner fangen" (Peter von Zahn); gegen die neuen Verteufelungen eines platten Antikommunismus – "Es empört Sie, daß ich einige sowjetische Leistungen als Großtaten der Menschheit bezeichnet habe. Soll ich mir den Blick trüben lassen?" (Arthur W. Just). "Wenn in den Konzentrationslagern Platz gewesen ist für Christen und Atheisten, warum dann nicht auch in einem neuen Deutschland", schreibt der Pfarrer der bei Stalingrad untergegangenen 371. Infanteriedivision, und der ehemalige Fähnleinführer und spätere Aufrührer gegen die Hitlerjugend Ralf Dahrendorf aus Hamburg-Wellingsbüttel fordert die beschleunigte Amnestierung der jungen Generation, die sonst haltlos, pessimistisch und inaktiv werde, denn "bei 1850 oder 1880 Kalorien gibt es kein Zurück". Axel Eggebrecht beschwört mit Karl Kraus den Erzfeind eines aufgeklärten politischen Bewußtseins, eine bestimmte Sorte von Journalismus, der leichtfertig und gierig mit den Mächten des Geldes und des Staates paktiere und aus dessen journalistischem Tarn-Nebel sich schon einmal die mörderische Maschinerie des Machtstaates gewälzt habe, die Entdeckung des Wiener Polemikers bestätigend, daß "Staat und Macht heutzutage selber wesentlich journalistischen Charakters seien". Selbst der geheiligte bürgerliche Begriff des Privateigentums wird in Axel Springers erster Zeitschrift angegriffen. Die Bomben, sonst sinnlos und unmenschlich, hätten einer neuen Ordnung vorgearbeitet, die Welt des auf Egoismus gegründeten bürgerlichen Eigentumsbegriffes sei tot. Dagegen protestiert Hörer Götsche aus Fuhlsbüttel allerdings schon prophetisch. Das Streben nach Eigentum sei die eigentliche Triebfeder, um die produktiven Kräfte eines Volkes zu entfesseln und alle Reichtümer der Welt zu erschließen, "die so groß sind, daß jeder genug zu einem schönen Leben bekommen kann".

Die Liste der Autoren kennt noch keine Unterscheidung in links und rechts, sie führt Adolf Grabowsky neben Paul Wiegler, Bruno E. Werner neben Adolf Grimme, Hans Asmussen neben Martin Niemöller, Eduard von Schnitzler neben Frank Thiess auf. Die einzige Einstufung, scheint es, war "demokratisch". Belletristik, Theater, Kunst und Populäres blühten mehr am Rande, meist versorgt von Walther Hansemann, der die Hefte laut Impressum seit Januar 1947 offiziell redigierte und offenbar auch die neubelebte Buchproduktion von Hammerich & Lesser dirigierte, für die in der Zeitschrift, eine Eigenheit des Konzerns vorwegnehmend, eine kräftige redaktionelle Eigenwerbung betrieben wurde. Der Buchverlegerehrgeiz scheint bei Axel Springer zu dieser Zeit noch groß gewesen zu sein. Ein aus Hammerich & Lesser ausgegliederter Axel Springer Verlag GmbH sollte offenbar den seriösen Rahmen abgeben. Demnächst, liest man, sollten dort wichtige Bücher erscheinen. Die Firma entfernte sich jedoch ziemlich weit von ihrer Funktion; heute ist sie das Stellenwerk des Riesenkonzerns, und die einzigen Bücher, die dort erscheinen, sind die Bilanzen der zahlreichen Tochter- und Schachtelgesellschaften.

Ob die aufklärerischen Gedanken, die Axel Springer in monatlich 100.000 Exemplaren vertrieb, Spuren im Publikum hinterließen, läßt sich nicht feststellen; der graue Lesermarkt schluckte damals jedes Druckerzeugnis. Auf einem gesättigten, freien Markt hätten sie jedoch, soviel kann man vermuten, kaufmännisch kaum genügend Rendite abgeworfen, um darauf eine Massenpresse im neuen Stil zu gründen. So war es ein anderer Mann, der Axel Springer weiterhalf, einer der wenigen unpolitischen Autoren der Nordwestdeutschen Hefte, der über "Radar-Technik im Tierreich" zu plaudern verstand – "Wir sehr gescheiten Menschen mußten erst die größte Torheit des Menschengeschlechts begehen, um am Ende dieses Krieges das große Geheimnis der Fische zu ergründen" – und den eine redaktionelle Notiz als gediegenen Populärschriftsteller und Verfasser des Operettenlibrettos "Traumland" auswies: Eduard Rhein.

Hör Zu

Den 15. Dezember 1946, den Erscheinungstag der ersten Nummer der Rundfunkzeitung Hör zu unter der Chefredaktion von Eduard Rhein, wird man ein historisches Datum nennen können. Es veränderte die deutsche Zeitungslandschaft; fortan entwickelten sich zwei Richtungen des Journalismus, die, zunächst parallel und unverbunden ihren Markt suchend, später in bittere Fehde miteinander gerieten. Beide verstanden sich demokratisch, die eine in der Kritik an den Verhältnissen, die andere in Anpassung an die Verhältnisse.

In München hatte sich am 15. August 1946 aus einem Blatt in amerikanischen Kriegsgefangenenlagern unter Leitung von Alfred Andersch und Hans Werner Richter Der Ruf – Unabhängige Blätter der jungen Generation etabliert, politisch aggressiv, nonkonformistisch, national von der ersten bis zur letzten Zeile: "Wir leben noch nicht in einer Demokratie. Wir haben eine Militärregierung, die befiehlt" (Alfred Andersch), "Deutschland müßte vielleicht Ostpreußen und Oberschlesien preisgeben, um Pommern und Schlesien, auf die es nie verzichten kann, wiederzugewinnen" (Hans Werner Richter), "Ich liebe mein Volk mehr denn je, jetzt in der Stunde der Not" (Dietrich Warnesius). Die schroffe Sprache gegen jede Art von Machtkonformismus und nationale Schmälerung führte im Frühjahr 1947 zum Verbot der Unabhängigen Blätter. Ihre Mitglieder gründeten die "Gruppe 47" und suchten über den politisch-aufklärerischen Rundfunkjournalismus und die Literatur einen neuen Zugang zur Öffentlichkeit.

In Hannover erschien seit dem 16. November 1946 ein News Review und Time nachgebildetes dünnes Nachrichtenmagazin mit dem Titel Diese Woche. Erfinder waren der junge britische Major Chaloner, der Staff-Sergeant tschechischer Herkunft Harry Bohrer und ein dreiundzwanzigjähriger ehemaliger deutscher Artillerieleutnant und Redaktionsvolontär des Hannoverschen Nachrichtenblattes, Rudolf Augstein, der an einen Erfolg zunächst nicht recht glaubte. Es gab sogleich Ärger mit den Behörden, vor allem mit der französischen Militärregierung. Der Abdruck eines beißenden Weihnachtsbriefes von Victor Gollancz an den News Chronicle "Puter für uns, Hunger für die Deutschen" und eines Berichtes über Mißstände in einem Internierungslager für ehemalige Nationalsozialisten in Darmstadt bewogen Major Huysman im britischen Hauptquartier, seinen Kollegen die weitere Verantwortung an dem Magazin zu untersagen. Am 4. Januar 1947 erschien es neu unter dem rasch erfundenen Titel Der Spiegel als Lizenzblatt von Rudolf Augstein. Nach kurzlebigen Meinungsverschiedenheiten in der Redaktion, ob man mehr einen unpolitischen Magazincharakter anstreben solle, steuerte es der junge Artillerist auf einen Kurs der crusading press. Aufgabe des Journalismus nach Hitler, proklamierte die neue Führungsgruppe Augstein-Brawand, zu der im Mai 1947 noch der ehemalige Funkabwehr-Unteroffizier und Student der Rechtswissenschaften Hans Detlev Becker gestoßen war, sei es nicht, sich erneut in politische Interessen integrieren zu lassen, sondern sie ohne Rücksichten aufzudecken, strikt und angreiferisch zu informieren. Selbst im Gewand des pointierten Story-Journalismus, des talking point um jeden Preis, behielt das Magazin die aufklärerisch-kritische Richtung bei.

In Hamburg im "Hochhaus 2" auf dem Heiligengeistfelde – der postalischen Umschreibung für den schwarzen Klotz des ehemaligen Flakhochbunkers, in dem neben Obdachlosen und kleinen Geschäftsunternehmen auch der Hammerich & Lesser Verlag untergekommen war – wurde im spärlichen Schein einer Glühbirne die Grundlage für einen Journalismus anderer Art geschaffen, projektioniert auf eine Gesellschaft des Überflusses und raschen Konsums, die es in diesem Augenblick noch gar nicht gab. Die Geschichte von Hör zu, die als normale Programmzeitung mit einer Auflage von 250.000 Exemplaren begann und heute als dickleibiges, anzeigengepolstertes Familienmagazin mit 4 Millionen Exemplaren Auflage fortlebt, ist in zweifacher Hinsicht interessant. Sie zeigte einmal die schlafwandlerische Sicherheit, mit der Axel Springer für das leichte journalistische Genre gleich den richtigen Mann fand. Zum andern gab sie das Muster der journalistisch-unternehmerischen Anpassung ab, das später bei allen von Axel Springer erfundenen Zeitungen wiederkehrte, einer Anpassung, die sich auf die unpolitischen Stereotypen des Jahres 1946 ebenso einzustellen verstand wie auf die politischen des Jahres 1967.

Eduard Rhein, eigentlich Ingenieur, kam aus dem Hause Ullstein, wo er unter der Ägide des Deutschen Verlags die unterhaltende Rundfunkzeitung Sieben Tage geleitet und Technik und Wissenschaft in zwei erfolgreichen Büchern popularisiert hatte: "Du und die Elektrizität" und "Wunder der Wellen". Axel Springer lernte ihn, wie es scheint, durch den früheren Ullsteiner Ludwig Cappeller kennen. Ein eigenwilliger Partner für den jungen Verleger, emotionell exponiert und schwierig, kein beliebter Chefredakteur, sondern einer mit der eisernen Hand, war der kleine, auf Eleganz bedachte Mann, der schöne Hunde, schöne Autos mit Chauffeuren und neben seinen technischen Basteleien auch einige der schönen Künste liebte, gleichwohl ein Popularisator großen Stils. Er verstand sich nicht nur auf die Personifizierung von Welle und Korpuskel und des unpersönlichen Rundfunks, sondern auch auf eine eigene Populärpsychologie, die ihn später zum Meister des neuen Trivialromans machte. "Das ganze großartige Leben und Weben der Natur, das Streben der Wissenschaftler, die Beweggründe menschlichen Tuns fängt Kristall auf und wirft sie in faßlichen Antworten zurück", liest man in einer anderen Geistesschöpfung Rheins, den auf die Konsumbedürfnisse der Nachwährungsreformzeit umgemodelten Nordwestdeutschen Heften.

Das Programm von Hör zu mit Ausrufungszeichen, der ersten Zeitschrift mit einem Imperativtitel, äußerte sich zunächst bescheidener: "Hör zu! will nicht eine Illustrierte ersetzen, nicht eine Gartenlaube mit Häkelmuster und Rundfunkprogramm sein, nicht mit der Bühne und dem Film kokettieren. Hör zu! will zur reinen Urform der Rundfunkzeitung zurückführen und sich deshalb ausschließlich mit dem Rundfunk beschäftigen: mit seinen Künstlern, Technikern, Organisatoren, mit den Problemen seiner Programmgestaltung." Die Zeitschrift halte es dabei "nicht für eine erhebende Pflicht, Traditionen zu heiligen", sondern nehme das Recht in Anspruch, neue zu schaffen. Den Rundfunk betrachte man nur als Vorstufe des "farbigen, plastischen Fernsehrundfunks", der Zukunft verpflichtet wolle man diese gewaltigen Fortschritte in England und Amerika trotz der gegenwärtigen "drückenden Alltagssorgen" im Auge behalten. Viel Raum solle vor allem dem Hörer zur Verfügung stehen, "Ihren Wünschen und Anregungen – und Ihrer Kritik. Schrecken Sie nicht vor einem offenen Wort zurück. Wir leben nicht mehr unter der Peitsche der Diktatur."

Im übrigen war die Zeitschrift, ihren technischen Möglichkeiten weit voraus, auf eine Attraktion konzipiert, die sie später nicht halten konnte und auf dem Wege der Anpassung stillschweigend wieder fallen ließ, ein Phänomen, das auch bei der Tagesillustrierten Bild wiederkehrte. Sie hieß in diesem Falle: Farbe. Farbige Bilderserien, Farbrätsel sollten den "blinden" Rundfunk ergänzen. "Schon in unserer übernächsten Nummer werden wir Ihnen an einem Beispiel beweisen, daß man in dieser Richtung noch völlig neue Wege gehen kann." Begierig die "völlig neuen Wege" suchend, stößt man auf einige Farbbilder zum "Zigeunerbaron", die lediglich ein echter oder fingierter Leserbrief vier Nummern weiter als die große, verpuffte Attraktion identifizierte: "Ausgezeichnet [.1 Ihre Idee, Szenerie und Personen der Operettensendungen den Hörern bildlich vor Augen zu führen. Den Silvesterabend verlebte ich in stiller Zweisamkeit mit meiner Frau. Das Zimmer dunkel, Hör zu durch das Skalenlämpchen des Empfängers matt beleuchtet, hörten wir schweigend den ›Zigeunerbaron‹ von Anfang bis zu Ende. Uns war es, als ob sich die Gestalten über die bunten Szenenbilder bewegten. Wir vergaßen die beschädigten Wände und Möbel unseres Wohnraums; wir vergaßen auch, daß wir nicht im Theater saßen ...]." Damit war der farbige Ersatzbildfunk auch schon wieder zu Ende.

Sogleich funktionierte jedoch der Strom der Leserzuschriften, auf den sich die Redaktion einzusteuern begann. Die Zeitung verfuhr demokratisch, und sie hatte ein ideales Publikum dafür, das Massenauditorium des Rundfunks. Man mag es für bedeutsam halten, daß Axel Springer, ohnehin fast feminin empfänglich für die Stimmungen anderer, so frühzeitig und fast kostenlos Gelegenheit fand, ein Massenpublikum zu erproben, und daß er bereits bei seinem ersten Zeitungsobjekt einen genialen Chefredakteur besaß, der diese Stimmungen aufzufangen und sich als redaktioneller "Führer" an ihre Spitze zu setzen verstand. Die "Volksabstimmung" vertrieb zunächst die Bilder der ernsten Rundfunkintellektuellen von Seite 2, wo eine Serie von Kurzbiographien "Funkschaffende" vorstellte: Peter von Zahn, Axel Eggebrecht, Dr. Heitmüller, Eduard von Schnitzler. Seine "oft scharfen Polemiken gegen die rückständigen Kräfte in der deutschen Geschichte" hätten ihm Freunde, aber auch viele Feinde eingetragen, heißt es von Schnitzler. An ihre Stelle traten Schlagersängerinnen und Operettentenöre, Gitta Lind und Lisse Merlin, Rupert Glawitsch, Dorle Rath und Lale Andersen. Ansätze zu politischen Artikeln verschwanden aus den Spalten, soweit sie nicht der Eigenwerbung für Bücher des Hammerich & Lesser Verlages dienten, einem Buch des norwegischen Journalisten Findahl Letzer Akt – Berlin und einem Band mit deutschsprachigen Sendungen des BBC während des Krieges Was wir nicht hören durften. Die Leserhörer forderten mehr Blasmusik und Gemütlichkeit, wieder Wunschkonzert, "die beliebten Tonfilmmelodien" und "mal so richtige lustige Seemannssendungen, in denen es mit Carracho um Kap Horn geht und die Stimmungswogen über uns zusammenschlagen". Der Erfolg einer "wirklich volkstümlichen Sendung" über die "vielen totgeglaubten Künstler" ließ die Zeitschrift von dem puristischen Konzept der "reinen Urform der Rundfunkzeitung", die nicht mit Bühne und Film kokettiert, schnell abkommen, eine neue Rubrik "Wo sie blieben und was sie trieben" gab dem Leserhörervolk seine Stars zurück: Lilian Harvey, Asta Nielsen, Marlene Dietrich, Lida Baarova, Paul Hörbiger und Otto Gebühr, den unsterblichen Alten Fritz der UFA-Tonfilme. Technische Tips, wie man Röhrensockel mit Leukoplast reparieren konnte, und ein Angriff auf die Praktiken der arroganten, im Fett des Tauschhandels schwimmenden Radiohändler, verkörpert durch einen dickbäuchigen Bourgeois mit gelber Weste und Zigarre im pseudo-realistischen PK-Stil des Zeichners Hans Liska, der sich später zum beherrschenden Bildstil der Zeitschrift entwickelte, brachten Rhein stürmische Publikumsakklamation ein.

Hör zu konstituierte sich als Rundfunk-Parlament, bald auch, wie sich in Rheins schwarzen Listen mißliebiger Funkschaffender herausstellen sollte, als private Rundfunk-Nebenregierung. Diese selbsterwählte plebiszitäre Führerrolle durch Anpassung an den Massengeschmack bildete sich bezeichnenderweise in einem Streitfall heraus, der, scheinbar unpolitisch und nebenbei eine Privatmarotte des Chefredakteurs, gleichwohl an unterschwellige politische Ressentiments rührte: in der Diskussion über die sogenannte "Tanzmusik des Nordwestdeutschen Rundfunks", der damaligen Umschreibung für den Jazz. Leserbriefe kündigten die Tendenz schon an: "Machen Sie Schluß mit dem Swing und senden Sie kultivierte Tanzmusik. Helga Löffler, Hagen und 100 Unterschriften", "diese Art des Singens sollte man doch den Amerikanerinnen überlassen", "Negermusik", "wie ein Viehmarkt", "fast nichts als ausländische Schlager. Sind wir denn nicht selbst reich an wunderschönen Melodien? Ist es nicht beschämend für uns, daß wir ausländische Sender einschalten müssen, wenn wir liebe, altvertraute deutsche Weisen vernehmen wollen?" Die erste Hörerumfrage des NWDR vom Mai bis November 1947, an der sich Hör zu als publizistisches Organ beteiligt hatte – das Sendegebiet und damit Verbreitungsgebiet der Zeitschrift umfaßte inzwischen rund 12 Millionen Hörer –, brachte Gewißheit: 88 Stimmen sprachen sich für die täglich plätschernde "Unterhaltungsmusik", dagegen nur 26 für die umstrittene "Tanzmusik" aus. Die Ablehnung sei in diesem Falle nicht nur zahlenmäßig, sondern auch in der Begründung schroff über alle Maßen gewesen, interpretierte Rhein das "sensationelle" Ergebnis. Es sei nun kein Zweifel, daß die Tanzmusik des NWDR nicht "den Wünschen der Allgemeinheit" entspreche. "Weshalb? Das deutsche Ohr verlangt die Melodie. Den nur auf Rhythmus gestellten Tanzschlager lehnt es ab."

Das Problem ließ sich personifizieren und spitzte sich auf den verantwortlichen Kapellmeister Kurt Wege zu, der nun "zur Debatte stand": "Wir aber fragen uns: Geht es hier wirklich nur um den zweifellos sehr begabten, aber auch sehr eigenwilligen Tanzkapellmeister Kurte Wege? – Wohl kaum. Uns scheint: Es geht schlechthin um die Frage, wie eine Tanzmusik sein soll, damit sie dem deutschen Rundfunkhörer gefällt." Demokratisch kam auch der Angegriffene zu Wort, dem die Redaktion herablassend zubilligte, er habe auf ihre Vorhaltungen hin schon "etwas gemäßigter musiziert". Das Streben nach Popularität zwinge oft zu unerträglichen Abstrichen an der Qualität, verteidigte sich Wege. Unbekümmerter äußerten sich seine Arrangeure Maluck und Meyer: "Ihr könnt Euch nicht beklagen; die deutschen Rundfunkstationen nudeln tagaus, tagein Eure Ständchen und Serenaden, "Großmütterchen" und "Rote Laterne von St. Pauli". Gönnt doch auch anderen Leuten etwas und bleibt mit Eurer Kritik zu Hause, wenn sie von keiner Sachkenntnis getrübt ist." Aber nun hatte Hör zu schon die Rolle des Volkstribunen usurpiert. Weil manches dem Laien unbekannt gewesen sei, könne man die Erklärung der Wege-Arrangeure als positiven Beitrag zur Diskussion hingehen lassen, dekretierte die Redaktion. "Sie zeigen teilweise aber auch eine unerträgliche Mißachtung berechtigter Höreransprüche und können deshalb nicht unwidersprochen bleiben. Die Diskussion geht weiter." Die Pose von Bild warf ihre Schatten voraus.
Als mit der Währungsreform die Konsumgesellschaft anbrach, war die Anpassungsmaschine bereits perfekt; sie überstand das neue Warenangebot, das viele Vorwährungsreformprodukte hinwegschwemmte, ohne Einbuße. Die Zeitschrift war längst ein Gebrauchs-, längst und vor allen anderen ein Markenartikel geworden, und sie war nun alles, was sie nach ihrer Gründungserklärung nicht sein wollte, ein dickleibiges Genußmittel in Kupfertiefdruck mit "Klatsch und Tratsch", Kochrezepten, Schnittmustern, "Aufregendsten Erlebnissen" und den unverwüstlichen, immer gleichen lebenskundlichen Ratschlägen von Axel Springers Freund Walther von Hollander, der sich nun Frau Irene nannte: "Die menschlichen Probleme betreut bei uns Frau Irene. Sie tut das als erfahrene Frau – nicht als Juristin. Hier ein paar Beispiele aus unserer Praxis: ›Da kam eine Jüngere ...‹, ›... Wenn der Altersunterschied nicht wäre‹, "Bin ich als Vater machtlos ...?‹"

Rhein, auf der Woge des Konsumerfolges schwimmend, war in der Anwendung seiner Vulgärpsychologie nun nicht mehr zimperlich. Das biologisch genommene bürgerliche Nest, das Geborgenheitsgefühle auslöse, sei die Familie, theoretisierte er, also genüge die häufige Benutzung des Wortes, um solche Gefühle auch bei einer großen Leserschaft zu erzeugen und sie dauerhaft an eine Zeitung zu binden. Die eine Million, bald zwei, drei und vier Millionen Konsumenten von Hör zu verwandelten sich in eine "Familie", die erste der vielen Verbraucherfamilien, die in der neuen Konsumgesellschaft als Ersatz der Volksgemeinschaft aus dem Boden schossen und Gemeinschaftsgefühle und Charaktereigenschaften durch Gemeinsamkeit im Konsum suggerierten: die Person, die Tugend, ja die Erlösung als Attribute der Waren, die man kauft.

Die Millionenfamilie von Hör zu erhielt ihre Ersatz-Haustiere, den Redaktionsigel Mecki und Charly Pinguin, gezeichnet von Reinhold Escher und dem früheren Maler heroischer Wikinger und nordischer SS-Männer, Professor Wilhelm Petersen. Ihr gemeinsames Ersatz-Schicksal erlitt sie im Roman. Er wurde zunächst konventionell von den Autoren Hans Rudolf Berndorff und Otto Erich Kiesel bestritten. Später führte Rhein unter dem Sammelpseudonym "Hans Ulrich Horster" die kollektive Produktion ein, an der er sich neben versierten Schreibern wie Benn Löschenkohl und Siegfried Agthe selber beteiligte. Dem festgelegten Handlungsschema nur in großen fortsetzungsweise der Leser-Zügen folgend, konnte sich das Team fast fortsetzungsweise der Leserreaktion anpassen und ein Maximum von Identifizierung erzielen, das gleichbedeutend mit kommerziellem Erfolg war. Oberstes Gesetz war "das Naturgetreue", ein minuziöser Pseudorealismus, der die Schauplätze, Gewohnheiten, Requisiten des täglichen Lebens an Ort und Stelle genau ausmaß und nachahmte – "auf dem Balkon ein Schuß Balzac", wie ein Kritiker die unübertreffliche Mischung nannte. Trifft die Anpassungstechnik zu – sie wird nach Anwendbarkeit und Intensität geschwankt haben –, so müßte der neue Trivialroman, schwammartig aus den Wünschen des Publikums wuchernd, sozialpsychologisch wertvolle Aufschlüsse geben. Heinz Klüter hat in einer interessanten Studie darauf hingewiesen, daß mindestens drei der Serien – "Ein Herz spielt falsch", "Herz ohne Gnade" und "Der rote Rausch" – die gleiche Handlungsstruktur aufweisen:

Immer geriet eine Zentralfigur in den Verdacht, eine bestimmte Tat begangen zu haben, an der sie aber nur indirekt oder moralisch beteiligt war. In langen dramatischen Versuchen gelingt es in letzter Minute, die Indizien zu widerlegen, und jeder Makel einer Tatschuld fällt. Das Erstaunliche ist aber, daß jetzt in diesem Moment von der moralischen Schuld, etwa der unerlaubten Liebe zur künftigen Stiefmutter, keine Rede mehr ist. Die Art der Schuldverdrängung ist klar: gelingt es, die Tatschuld zu widerlegen, so fällt auch die moralische Schuld. Wie der Romanleser kann sich der Deutsche mit der Formel befriedigen: nichts getan, nichts gewußt, nicht betroffen.
In der Tat mieden Rheins "faßliche Antworten", die sonst alles und jedes Gebiet überschwemmten, die politische Vergangenheit strikt. Sie behandelten auch die nationalen Fragen der Gegenwart, etwa die Wiedervereinigung, als seien sie nicht existent. Scheingefühle und Scheingeborgenheit breiteten sich aus wie der Scheinwohlstand des nichtbezahlten Krieges, dessen moralische und materielle Schulden der Ost-West-Konflikt auf den östlichen Teil des Landes umbuchte. Die Idylle durfte nicht gestört werden. Als in einer Zuchthausreportage die Stimme eines Mörders zu hören war, maßregelte Hör zu den Sender: es sei unzumutbar, den Mörder auf diese Weise in die Wohnküchen und guten Stuben treten zu lassen, denn "nur wenige von uns können es vertragen, auf diese Weise mit dem Unheimlichen der Menschenseele und des Lebens in Verbindung zu geraten". Daß in den Wohnküchen und guten Stuben selber noch einige tausend Mörder von Staats wegen saßen, die nun Versicherungspolicen, Oberhemden und Kühlschränke verkauften und sich wieder als die anständigen Deutschen und guten Bürger fühlten, die sie immer schon waren, schien Hör zu nicht unheimlich und blieb unglossiert.

Erst mit dem Vordringen der großen Informationsillustrierten in den sechziger Jahren, die qualifizierte Unterrichtung an die Stelle der Scheinidylle von der "bunten, weiten Welt" setzten, verblaßte Rheins Konzept der neuen Gartenlaube. Nach einem Maximum von 4,215 Millionen gedruckten Exemplaren im ersten Quartal 1962 erlitt die Auflage in wenigen Monaten einen Verlust von 450.000 Exemplaren, der sich schließlich bei 300.000 Exemplaren einpendelte. 1965 sank der immer noch stattliche Anzeigenumsatz mit 119,2 Millionen DM zum erstenmal unter den Umsatz des Sterns, der 133,6 Millionen DM verbuchen konnte. Einbuße als Gebrauchsartikel erlitt Hör zu vor allem durch die geniale Erfindung des Nürnberger Fotohändlers Porst, der Anfang der sechziger Jahre eine Programmbeilage Radio + Television für die Regionalzeitungen herzustellen begann. Zwar schlossen sich die großen Programmzeitschriften sogleich zu einem Kartell zusammen, das nun seinerseits eine Wochenschau genannte Beilage kostenlos verteilte, um "Unsicherheiten auf dem Markt der Programmzeitschriften zu vermeiden". Sie drängte den rasch expandierenden Porst-Anteil erfolgreich wieder zurück, aber der Angriff auf die bisher für unangreifbar gehaltene Position von Hör zu ließ sich nicht mehr ungeschehen machen: auch dieser Riese war verwundbar. Anfang 1965 gab Rhein, nun selber im Pensionsalter, nach achtzehnjähriger Redaktionsführung die Leitung der Zeitschrift an Hans Bluhm ab, einen der kühlsten und fähigsten Chefredakteure des Hauses Springer, der den redaktionellen Stil modernisierte und den Auflagenrückgang allmählich auffing.

Man wird der qualifizierten Informationsillustrierten mit erweitertem Fernsehteil heute die größeren Zukunftschancen geben. Gleichwohl wird das Konzept der "Familienzeitschrift mit Programmanhang" noch eine Weile unverwüstlich sein, dazu ist der Anpassungsmechanismus, nun auch mit dem Instrumentarium eines modernen Computerbestückten Marketing ausgestattet, inzwischen zu perfekt. Er wird das "Denken und Fühlen" der zuverlässig errechneten 12 Millionen Leser, dem der Inhalt von Hör zu nach einer Verlagsmitteilung genau entspricht, rechtzeitig wahrnehmen und in Gedanken, Empfindungen und Entschlüsse umsetzen, die von Millionen genauso gedacht, empfunden und beschlossen werden.

Die Schule des Neuen Journalismus: Das Hamburger Abendblatt

Den jungen Verleger von Hammerich & Lesser – Hinrich Springer kränkelte seit längerem und starb am 25. Januar 1949 in seinem Landhaus in Bendestorf – muß der Erfolg von Rheins Anpassungsjournalismus in doppelter Hinsicht beeindruckt haben: einmal als imponierende Basis seiner eigenen wirtschaftlichen Existenz, zum anderen als Beispiel, wie weit es ein persönlicher, "menschlicher" Journalismus, der den Massen den Zugang erleichterte, bringen konnte: ein Journalismus, der sich quasiunternehmerisch ganz auf den Markt einstellte und ohne Rücksicht auf die hergebrachten Formen und Funktionen zum Maximum seiner Verkäuflichkeit entwickelte. Man kann annehmen, daß Eduard Rhein diese Kunst kühl und technisch, als Virtuose sah, zu oft machte er sich über die kalkulierte Sentimentalität selber lustig, zu weit war seine eigene komplizierte, extravagante Natur von den "faßlichen Antworten" und der millionenfachen Familienidylle in glänzendem Tiefdruck entfernt. Axel Springer adaptierte die neue journalistische Verkaufstechnik, die er in gewisser Weise, nach Herkunft und Ausbildung, ideal personifizierte, aber er fügte noch etwas Eigenes hinzu: er glaubte an die Gefühle, die der Neue Journalismus verbreitete, politisch an das "Versöhnende" über den Gruppen und Parteien, eine abgewandelte Version von Zehrers harmonisierender Formel vom "Volk", allgemein psychologisch, daß der "einfache Mann" zwar gut und nur mißleitet sei, daß man ihn aber nicht durch Aufklärung, sondern nur indirekt und habituell aus Verhärtung und Verängstigung führen und zu richtigem Handeln anleiten könne. Man mußte beiläufige, freundliche Floskeln erfinden, die sich zu neuen Stereotypen verdichten ließen, etwa "Seid nett zueinander". Andere fand man vielleicht durch das einfache Gedankenexperiment, das der verwöhnte Flaneur gelegentlich anstellt, wenn er durch die Vorstadt schlendert oder aus der vorüberrasenden Stadtbahn beiläufig in die offenen Fenster grauer Hinterhöfe blickt: was denken diese Leute eigentlich?

Im Herbst 1948 in Hamburg eine neue Zeitung zu gründen und den soliden, aber noch bescheidenen Erfolg von Hör zu schon wieder aufs Spiel zu setzen war gleichwohl riskant und schien auch vollkommen überflüssig: auf dem Markt von inzwischen wieder 1,5 Millionen Einwohnern konkurrierten bereits sieben Zeitungen, fünf parteiorientierte, die nach dem Willen der Besatzungsmacht als Organe der politischen Willensbildung fungieren sollten, die überregionale, deutsch redigierte, englisch kontrollierte Welt und ein unabhängiges Wochenblatt Die Zeit. Jedermann vermutete auch, daß es eines Tages Broscheks renommiertes bürgerliches Hamburger Fremdenblatt wieder geben würde, das noch einen großen Teil seiner Rotationsmaschinen besaß und nur durch schleppende Restitutionsverhandlungen und zögernde Geschäftspolitik darniederlag. Gegen Rat und Zureden blieb Axel Springer jedoch bei seinem Entschluß, wie später häufig, wenn Intuition ihm eine Idee eingab. Auch diesmal stand er gut mit der Obrigkeit, die Lizenzen zu vergeben hatte, in diesem Falle mit der sozialdemokratischen Stadtregierung. Nach manchen Bedenken und Ausschußsitzungen – andere Bewerber waren abgelehnt worden – erteilte sie die "Zulassungs-Nr. 1 des Senats der Hansestadt Hamburg" für eine zunächst dreimal wöchentlich erscheinende "unabhängige, überparteiliche" Mittagszeitung mit dem Titel Hamburger Abendblatt und für den Anfang sogar eine Bürgschaft. Es war, wenn man will, ein Handel auf Gegenseitigkeit, denn die "unabhängige" Zeitung, so bürgerlich ihre Intentionen waren, zeigte sich der sozialdemokratischen Regierung gegenüber von Anfang an "staatsloyal". Sie wurde für die Regierungsverhältnisse in der Hansestadt zu einem stabilisierenden Faktor. Das war durchaus logisch. Es folgte aus der Absicht, eine Zeitung der Mehrheit des Volkes zu sein, die im parlamentarischen System gleichbedeutend mit der Regierungsmehrheit ist, und wies schon auf Axel Springers späteren Begriff der "Staatsloyalität" hin, die besser Regierungsloyalität hieße.

Das Projekt war auf das sorgfältigste vorbereitet. Ein Konsilium von versierten Lokaljournalisten aus den alten Zeiten der Altonaer Nachrichten und des Hamburger Fremdenblattes, von befreundeten Geistlichen, psychologischen und anderen Ratgebern beriet im September 1948 über das Konzept und stellte dem Leser die Diagnose. Der "Journalist als Unternehmer" präsidierte. Es mag hingehen, daß seine damals entwickelte Lieblingstheorie, die überwiegend liberale, von "intellektuellen" Journalisten gemachte Presse der Weimarer Republik habe den Nationalsozialismus nicht verhindern können, eine andere Art von Amateursoziologie war: sie übersah zum Beispiel, daß der Markt der großstädtischen "Asphaltpresse", vor allem in Berlin, sich weithin mit den Gebieten konstanter linker Mehrheiten gedeckt und das Hauptreservoir der Nationalsozialisten bei der Floating Vote des nationalen Bürgertums gelegen hatte, das Hugenbergs aufbauende Maternzeitungen oder die unpolitische Generalanzeigerpresse las. Richtig war, daß nun, im Herbst 1948, nach dem vollständigen politischen Bankrott, die Verlockungen der unpolitischen Konsumgesellschaft vor Augen, niemand mehr etwas von politischen Programmen wissen wollte. Das Nationale schied als verbindende Idee also aus. Man brauchte aber eine, teils aus ideell-seelsorgerischen Gründen, teils aus handfest-praktischen der Werbung unter einer sozial heterogenen Bevölkerung.

Die schließlich gefundene Idee hieß einfach: Hamburg. Der dazu passende Wappenspruch im stilisierten ältesten Stadtsiegel von 1241 lautete: "Mit der Heimat im Herzen die Welt umfassen." Eine Serie von Probenummern, keine dem Verleger locker und lebendig genug, ging der ersten Ausgabe vom 14. Oktober 1948 voraus. Das Endprodukt war schon in den Proportionen genial und zeigte, daß Axel Springer im aufgelockerten Genre in der Tat ein großer Zeitungsmacher war. Das Abendblatt, wird man sagen können, war seine persönlichste und seine gelungenste Schöpfung. Man wird sie nicht "unpolitisch" tadeln können, Seite 1 gehörte der Politik, wenn auch schon aufgelockert durch den Porträtkasten "Menschlich gesehen" und die idyllische Serie "Alte Heimat neu erlebt", ebenfalls Seite 2, die Meinungsseite. Die Gründungserklärung sprach von Männern von Erfahrung und Leidenschaft, "die Politik als das unentrinnbare Schicksal unserer Zeit empfinden". Allerdings klangen auch schon Axel Springers spätere Töne an: Aufgabe der Zeitung sei der "deutsche Mitmensch", der "Dienst am ganzen deutschen Volk". Die Hauptattraktion für den bloß neugierigen Lokalleser lag jedoch darin, daß der umfangreiche Lokalteil, "Hamburg-Seite" genannt, bereits auf Seite 3 gezogen war und sich bald kräftig und mit Könnerschaft gemacht auf Seite 4 und Seite 5 ausdehnte. Der Rest enthielt die üblichen Ingredienzien von Unterhaltung, Roman, Rätseln, Horoskopen, Preisausschreiben – "Bürgermeister für einen Tag: Was ich als Bürgermeister tun würde" –, bald auch Comic strips und die unvermeidlichen Symboltiere. Auf Seite 8 findet man bereits die Keimzelle für eine weitere Zeitungsidee: "Das Leben im Bild – die Bilder-Seite".

In der leichten Zubereitung, in den Gefühlstönen, im kräftigen Gebrauch aller Klischees der Großstadtromantik, für die Hamburg mit St. Pauli, Kehrwieder und Michel, mit Fischmarkt, Wein- und Austernkellern und Hagenbecks Tierpark einen schier unerschöpflichen Vorrat bereithielt, war die Redaktion nicht wählerisch. Die Nachrichten, der Spiegel sei wegen eines Artikels über Königin Juliane von Holland zwei Wochen verboten worden oder Graf Einsiedel habe sich wegen seiner Mitarbeit im kommunistenverdächtigen "Nationalkomitee Freies Deutschland" erneut vor Gericht zu verantworten, findet man unter der Überschrift "Bunte Welt". Die zeitgeschichtliche Aufklärung beschränkte sich hartnäckig auf Kolportage. "Hitler, Himmler und die Sterne – Unfaßbare Tatsachen aus den Tagebüchern des Hamburger Astrologen Th. H. Wulff", kündigte schon Nummer 1 auf der ersten Seite an. Der Text las sich dann so: "Herausgerissen aus meiner Privatgelehrtenidylle wurde ich hinabgerissen in die Hölle des Konzentrationslagers und schließlich, im Zuge seltsamer Schicksalsverkettungen, mitten vor den Thron des finsteren Herrschers über diese Welt der Greuel und Vernichtung gestellt: vor den Thron Himmlers." Sterne und das Schicksal, dämonische Mächte und Mächte des Lichtes walteten in der Politik – Hans Zehrers Schicksalsprophetien in Bild und Welt zeichneten sich am journalistischen Horizont ab.

"Im hellen Setzersaal" der Alten Volksfürsorge habe Axel Springer "ein schnelles Gedankenbild dessen geformt, was ihm vorschwebt", hieß es in einem Bericht über die Tauffeier der neuen Zeitung, die als Gäste den sozialdemokratischen Bürgermeister Brauer, seinen parteilosen Vorgänger Petersen, Kultursenator Hartenfels, den Vertreter der Handelskammer Erik Blumenfeld, Polizeichef Georges und Hans Albers verzeichnete. Die neuen Worte lauteten: das Versöhnliche, das Gemeinsame, gelassener Mut, ein gutes Lächeln, einander ruhig in die Augen sehen, die wilde und trotz allem schöne Welt, das wahre Leben, die stille Kraft, die Menschen wieder zueinander führen, das Glück im Kleinsten, das eigentümlichste, innerste Wesen, die einzig erlösende Idee, Gemeinde.

Als noch zukunftsträchtiger erwies sich jedoch die formale Tendenz des Neuen Journalismus, alle Ereignisse auf eine Anekdote, eine handfeste, stimmige Geschichte zu bringen: die klassischen Formen des Journalismus, den räsonierenden Leitartikel, die moralisierende Glosse, die deskriptive Reportage, das lyrisch-impressionistische Feuilleton, aufzulösen und in eine neue, alles enthaltende, alles erklärende, von jedem konsumierbare Mischform zu verwandeln, die Human-interest-Story. Durch das Souterrain des Neuen Journalismus kehrte die in Pointe und Moral schlüssige Fabel wieder zurück, die skrupulöse Autoren, der Komplexheit der modernen Welt inne, gerade aus der Literatur zu vertreiben begannen – eine Entwicklung im übrigen, die auch der aufklärerische "linke" Journalismus teilte, wie die Entwicklung des Spiegel-Journalismus zeigte. "Menschlich gesehen", die Galerie der Kürzestbiographien von Eugen Kogon über Tschiangkaischek und Konrad Adenauer bis zum Weihnachtsmann, wurde zur Seele des Hamburger Abendblattes und lieferte auch noch die Optik für die zweite bedeutende Erfindung Axel Springers, die Bild-Zeitung. Man mag es als symbolisch ansehen, daß die erste Porträtskizze einen Amerikaner vorstellte, den Manager des Marshallplanes Paul Hoffmann, einen Mann mit festen Nerven, Nichtraucher, Nichttrinker, gesunder Familienvater, hingegeben "dem Glauben an das Mysterium der Produktion", der allerdings, wie die Vita vermerkte, im Unterschied zu andern Unternehmern auch Karl Marx las und die kapitalistische Praxis mit theoretischer Reflexion verband.

Lehrmeister des Neuen Journalismus rechter Observanz wurde Wolfgang Köhler, den Axel Springer durch den britischen Militärgouverneur Berry kennengelernt hatte und der 1956 als New Yorker Korrespondent des Hamburger Abendblattes früh starb. Jahrelang stand sein Bild auf Axel Springers Schreibtisch. Seine sporadischen Artikel im Abendblatt und in der Urfassung von Bild verraten eher eine etwas angestrengte Nachahmung amerikanischer Vorbilder als Originalität. Gemeinsam war dem neuen Lehrmeister und seinem Verlegerschüler die Abneigung gegen "intellektuelle" Journalisten: "Eunuchen im Tempel der Vernunft" nennt Köhler sie in einer Abendblatt-Besprechung von Zehrers "mystischem" Buch Der Mensch in dieser Welt.

Die neue Zeitung war nicht eigentlich bürgerlich; sie brach alsbald auch in die traditionellen Leserschichten der sozialdemokratischen Zeitungen ein. Ihre Gefühlsklischees entlieh sie jedoch der bürgerlichen Empfindungswelt, ihre Organisationsform und einen Teil des qualifizierten Personals Broscheks bürgerlichem Hamburger Fremdenblatt. Gegen die unerbetene Adaption der Tradition protestierten die Erben Broschek zwar am 14. Oktober 1948 in einer Anzeige im Hamburger Echo, die Freunde des Hauses möchten nicht dem Irrtum verfallen, "Zeitungen, die etwa im Klang des Namens oder gar im Schriftzug des Titels unserem Hamburger Fremdenblatt ähneln, als dessen Nachfolger oder seinen Ersatz anzusehen". In der Folge kam es jedoch nur zu einigen kraftlosen Gegenzügen. Der Versuch einer Neu- und Gegengründung im Herbst 1954, zu spät unternommen und dilettantisch durchgeführt, scheiterte nach kaum acht Wochen. Axel Springer, der für den Verzicht auf die Konkurrenzgründung Millionen gezahlt hätte, pachtete nun den Titel Fremdenblatt zu günstigen Bedingungen und billigem Preis und führte ihn fortan als Trophäe im Untertitel des Abendblattes. Längst auch hatte er das bewährte Fremdenblatt-System der Kolporteure kopiert, kleiner Agenturen, die den Vertrieb der Zeitung, Abonnentenwerbung, Zustellung, Leserbetreuung als Kleinstunternehmer auf eigene Rechnung, aber in strenger Zucht und Abhängigkeit vom großen Bruder betrieben und den Operationen im Stadtgebiet einen unübertrefflichen Rückhalt verliehen.

Noch folgenreicher für die rasche Konsolidierung des Unternehmens wurde das Erbe an Personen. Karl Andreas Voss, von der Magdeburgischen Zeitung kommend, letzter Direktor des Fremdenblattes unter der Rienhardt-Amann-Verwaltung, nach dem Kriege kurzfristig Leiter eines Flensburger Blattes, von den Engländern 1946 als "dunkelgrau" für die Verlagsleitung der Welt abgelehnt, wurde der väterliche Freund, der nach den Geschäften sah. Er trat die Nachfolge Hinrich Springers als Seniorteilhaber von Hammerich & Lesser an, allerdings mit einem sehr bescheidenen Anteil von zehn, später maximal fünfzehn Prozent. Erfahren, solide, vorsichtig, mit dem Zeitungsgeschäft sowohl journalistisch wie kaufmännisch vertraut, legte er die Fundamente der geschäftlichen Organisation, etwas altmodisch, aber stabil genug, um die gewaltige Expansion wenigstens fünfzehn Jahre lang auszuhalten. Mit dem ehemaligen Anzeigenleiter des Fremdenblattes Helmuth Klosterfelde, einem ebenso milden wie strengen alten Herrn, im Kollegenjargon "Kloster" genannt, gewann die neue Zeitung einen Experten seines Fachs, der ihr mit einem Schlage einen soliden Kundenstamm und eine Reihe fähiger Generalvertreter einbrachte. Auch sonst war das Abendblatt im Beerben unbekümmert: als die Hamburger Ausgabe der Welt mit großem Erfolg den "Leser-Reporter" einführte, ein Gegenzug ihres Leiters Josef Ollig gegen die neue Konkurrenz – "besonders während der Sturmböen am Mittag war die Beteiligung lebhaft" –, rückte der junge kommissarische Leiter der "Hamburg-Seite" des Abendblattes, Christian Kracht, sogleich einen Kasten ein, in dem er sich für die zahlreichen Anrufe bedankte und für "weitere Hinweise" gute Honorare zusicherte.

Kaum ein Jahr später, im November 1949, sprach die Welt bereits vom "Todeskampf der Lizenzpresse". Es war jedoch nicht nur die geschickte Adaption und Modelung der Tradition, mit der das Abendblatt die anderen Hamburger Zeitungen, bürgerliche wie sozialistische, niederkonkurrierte. Es war auch die schier unerschöpfliche Public-Relations-Phantasie des neuen Unternehmerjournalisten, der seine Idee vom allgemeinen Glück in pausenlosen "Glücks"-Kampagnen auf die Straße trug und gute Taten und Ideen entwaffnend mit handfester Eigenwerbung und beträchtlichem kommerziellem Erfolg zu verbinden verstand. Grüne Glückspantoffel, in der Nacht vor Nikolaus im ganzen Stadtgebiet versteckt, trugen dem Finder zwei Lebensmittelpakete ein, von denen er eines armen, alten Leuten bringen sollte, um die sich niemand mehr kümmerte; Teilnehmer berichten von "erschütterndem Erfolg". In der Nacht vor Frühlingsanfang brachten Lastwagen 120.000 Schneeglöckchen- und Stiefmütterchensträuße in die Stadt, die ganze Ernte der Vierlande, die, mit grünen Abendblatt-Herzen geschmückt, am nächsten Morgen auf dem Jungfernstieg von Axel Springer und einem Schwarm Studenten allen Frauen und Mädchen überreicht wurden, die des Weges kamen. Wer aus tausend verteilten Begonienknollen die schönsten "Begonienkinder" zog und der Natur damit wieder nahe kam, wurde hoch belohnt. Wer "Herrn Lombard" erkannte, den gelegentlich durch die Stadt schlendernden soignierten Redakteur Losch, und damit bewies, daß er wieder auf seine Mitmenschen achtete, erhielt auf der Stelle 100 Mark. Wer als Abonnent treu blieb, bekam Silvester einen vergoldeten Glückspfennig, wer heiratete, konnte auf Anruf in einer weißen Hochzeitskutsche mit livriertem Postillion zur Kirche traben und seine Hochzeit in hamburgischem Neubiedermeier begehen. "Indem wir uns unauffällig an einem entscheidenden Tag ihres Lebens in das Gespräch der Menschen einschalten", lautete die hausinterne Erklärung dazu, "bleiben sie bis an ihr Lebensende unser Leser." Als das Glück schon mehr industriell gefertigt wurde und eine Abendblatt-Kolonne Tausende von Glücksmuscheln an den Stränden der Nord- und Ostseebäder versteckte, entwickelten sich auch industrielle Formen der Suche: schon in der Nacht seien Sucher mit eigens konstruierten Unterwasser-Nachtsuchgeräten losgezogen, um die grünen Muscheln im seichten Wasser ausfindig zu machen, berichtete die Zeitung.

Manches davon war nicht unbedingt neu, die Verbindung von Gefühl und Geschäft, wenn man will, "amerikanisch". Sie deutete auf die "affluent society" [Überflußgesellschaft], die unter dem warmen Regen der Marshallplan-Gelder und der Sonne des Korea-Booms westlich der Elbe alsbald auch ausbrach. Jessica Mitford hat das geschäftsbelebende neupuritanische Neben- und Miteinander in ihrem satirisch-soziologischen Buch The American Way of Death an einem extremen Beispiel, der amerikanischen Trauerindustrie, bissig beschrieben; eine satirische Beschreibung der Glücksindustrie besitzen wir noch nicht. Andere Einfälle, etwa Herr Lombard, erinnerten auch an das Instrumentarium von amüsanten Kaufreizen, die der Daily Mirror in den dreißiger Jahren so virtuos entwickelt hatte.

Es war aber eine deutsche Adaption, ernsthaft und mit jener eigentümlichen Form von Selbstsuggestion und Identifizierung verbunden, die auf fast jeden übergriff, der in den Umkreis des humanitär-geschäftlichen Unternehmens geriet. Nicht wenige verkörperten selber den enttäuschten, von politischen Katastrophen aus der Bahn geworfenen "einfachen Mann", etwa Otto Siemer, der später sehr erfolgreiche Chefredakteur des Abendblattes, der, seiner Parteizugehörigkeit wegen von den Engländern grau oder dunkelgrau eingestuft, die erste Welt-Redaktion wieder verlassen mußte, oder Rudolf Michael, der erste Chefredakteur der Bild-Zeitung, dem das gleiche widerfuhr. "Zwei mörderische Kriege. Zweimal Geld und Besitz dahin. Dreimal der Staat in Fetzen. Aber immer wieder Zeitung", heißt es über Michael in der Springer-Post. Auch in den unteren Rängen des schnell wachsenden Unternehmens war die Zahl der unterbrochenen Lebensläufe, der Berufswechsel, der Selfemade-Karrieren als Redakteur, als Vertriebs-, Anzeigen- und Werbemann auffällig groß. Sie alle verdankten der Verbreitung des allgemeinen Glücks, ingeniös verbunden mit geschäftlichem Erfolg, auch ihr eigenes: neue gesicherte Positionen und einen zum Teil sehr steilen sozialen Aufstieg, der eine starke Bindung an den Erfinder des Unternehmens schuf.

In der Identifizierung mit den Intentionen des neuen Unternehmerjournalisten, in der Vertauschung und Vertauschbarkeit der Funktionen, die den Vertrieb journalistisch und den Journalismus vertriebsmäßig, unter dem Gesichtspunkt maximaler Verkäuflichkeit sah, wurde das Abendblatt zur Schule des Konzerns. Fast niemand stieg später in die Führungsspitze auf, der sie nicht durchlaufen hatte: von den zehn Mitgliedern des obersten administrativen Gremiums, der Holdingkonferenz, entstammten ihr 1965 sieben, von den engeren persönlichen Beratern des Verlegers mindestens vier. Die großen Herzogtümer, die Häuser Hamburg, Ahrensburg, Berlin und das Welt-Haus, sind heute fest in den Händen dieser Treusten der Getreuen, deren Verdienste eine Ehrentafel der Springer-Post im Februar 1959 lorbeerumkränzt feierte: "... zehn Jahre pionierhafter Arbeit um den Aufbau und Ausbau zum größten Verlagshaus des europäischen Kontinents. Zehn Jahre des Wagnisses, der Bewährung, Behauptung und des Triumphes ..." Am höchsten stieg der ehemalige Welt-Volontär, Redakteur der Jugendzeitschrift Benjamin und des Spiegel-Vorläufers Diese Woche, der sich im September 1948 im Alter von siebenundzwanzig Jahren um eine bescheidene Redakteursstelle beim Abendblatt beworben hatte: Christian Kracht, heute engster Vertrauter und Generalbevollmächtigter Axel Springers, Vorsitzender der Holding-Konferenz und alleinvertretungsberechtigter Geschäftsführer der Axel Springer Verlag GmbH.

Vom väterlichen Besitz her nicht unverwöhnt, muß Axel Springer der unablässig wie im Märchen vom süßen Brei wachsende Reichtum dennoch nicht unberührt gelassen haben. An der Schwelle des Jahres 1952 blickte er auf einen für die Zeit beachtlichen Erfolg zurück: auf eine verkaufte Auflage von 1,327 Millionen Exemplaren Hör zu, 261.111 Exemplaren Hamburger Abendblatt, 243.075 Exemplaren Kristall und ein florierendes Anzeigengeschäft. Er war nun der reiche Mann, der sich in den Möbeln des 18. Jahrhunderts einzurichten und seinen Lebensstil seinem Reichtum mit Maßen anzupassen begann, ihn später nicht mehr sonderlich ändernd, allenfalls ins noch Großräumigere und Bequemere: mit Grundbesitz und Häusern in Blankenese, Kampen, Gstaad und Berlin, mit Rolls Royce, Bentley und den jeweils teuersten Mercedes-Wagen, mit Privatflugzeug, schönen Reitpferden, Golfspiel und teurer, wenn auch nicht sehr seetüchtiger Luxusjacht, mit salopp sitzenden maßgeschneiderten Anzügen und ebenso ungezwungenen, aber angenehmen Umgangsformen, ein Mann von bestem vierzigjährigem Aussehen, sorgfältig auf seine Gesundheit achtend, früh zu Bett und früh auf, charmant und gewinnend, fast telepathisch eingehend im Gespräch, sichtlich belebt in Gegenwart von Frauen, ein Mann, der auf eine Frage antwortete, er liebe Hellblau und die Musik Tschaikowskis.

Bei seiner Empfindsamkeit und den von Hans Zehrer genährten metaphysischen Spekulationen lag der Gedanke nahe, daß dieser Reichtum auch noch zu etwas anderem gut sein mußte. Da er zudem aus etwas kam, was bei allem kaufmännischen Kalkül "gut" gemeint war, begünstigte er auch einen gewissen Neupuritanismus, der aus dem materiellen Erfolg die Richtigkeit der eigenen Ideen ableitete, der humanitär-religiösen wie später der gesellschaftlich-politischen. Die religiösen Ideen, nicht sehr stetig und verbindlich zunächst, kristallisierten sich allmählich um eine intensive Beschäftigung mit Francesco Bernardone, dem Sohn des reichen Tuchhändlers aus Assisi, der unter die Armen ging, dem "hochgespannten Bürgerssohn voll gegenbürgerlicher Wallungen", wie der katholische Theologe Joseph Bernhart den heiligen Franz beschreibt. "In der eleganten Jugend des Städtchens, einem Schwarm ergebener Freunde, ist er der Mittelpunkt des ausgelassenen, genußsüchtigen Treibens", liest man nicht ohne Bezüglichkeit bei Bernhart weiter. "Er hat vom väterlichen Überfluß genug hinauszuschwenden, er liebt es, im Vorgefühl des Besonderen, zu dem er berufen ist, sich aufzuspielen und im geselligen Triebe das Dasein als Fest in Festen zu feiern. In einem Gemüt voll Schwang und Überschwang bewegt ihn stetig der Traum, er werde einst als großer Fürst von allen verehrt werden."

Wann Axel Springer den Traum vom großen Fürsten zu träumen begann, wann er der Zeitungsmacht als politischer Macht innewurde, ist schwer zu sagen. Von einem Korrespondenten von Time darauf befragt, antwortete er noch 1957 erstaunt und unwillig: "I hate the word, power." Das wird aber schon damals nicht mehr gegolten haben. Denn bereits die nächsten beiden Unternehmungen, die Gründung des Massenblattes Bild und der Kauf der Welt, der Hans Zehrer an das Ziel seiner politischen Wünsche brachte, zogen ihn vollends in die Politik.

Ein deutsches Massenblatt: Bild

Erste Konzeption: Die Tagesillustrierte

Daß Bilder tausendmal schneller den Weg zum Gehirn des Menschen fänden und eine Nachricht eigentlich viel einfacher übermitteln müßten, war schon August Scherls Idee, er begründete darauf die illustrierte Zeitung Die Woche, die zum finanziellen Rückhalt seiner phantastischen und schwankenden Unternehmungen wurde."Momentfotografien" retteten auch die mißglückte Tageszeitung für Damen von Alfred Harmsworth, nachmals Lord Northcliffe, und verwandelten sie in das erste Massenblatt mit Millionenauflage, den Daily Mirror. An die Stelle der Damenredakteure – "es war grauenhaft wie das Ersäufen junger Katzen" (Chefredakteur Hamilton Fyfe) – traten hartgesottene Fotoreporter, die mit Laborwagen und selbstgemischtem Blitzlicht-Pulver, das beim ersten Versuch explodierte und einen Balkon abriß, auf Schnappschußjagd gingen. Auch ein anderer Kenner der Massenpsychologie meditierte gelegentlich über eine den Massen leicht eingängige Zeitung, sie sollte "viel Bildwerk enthalten, so gesetzt sein, daß sie leicht zu lesen ist und auch einen Roman bringen, damit die Dirndel auch etwas davon haben": Hitler in seinem Hauptquartier Wolfsschanze. Die Engländer täten sich leichter, was Bild- und Lesestoff angehe, aus aller Welt ströme er ihnen zu, aber "wir werden jetzt auch weiterkommen".

Nicht die Ausdehnung des neudeutschen Imperiums durch Krieg brachte die Deutschen jedoch weiter, sondern die Perfektion und ungehinderte Ausbreitung des Bild- und Nachrichtenfunks. Heute stapeln sich Mengen von Bild- und Lesestoff in den Redaktionen, die unbenutzt in den Papierkorb wandern. Den täglichen Überschuß des Hamburger Abendblattes kommerziell besser zu verwerten, den Neuen Journalismus auch auf einem überregionalen Markt zu erproben, brachte Axel Springer auf die Idee eines aufgelockerten, noch eingängigeren "Abendblattes". Statt "Hamburg" war nur eine andere Attraktion zu finden. Sein Kinosinn, der die Ausbreitung des Fernsehens in bewegten Bildern gespannt verfolgte, verfiel dabei auf einen Gedanken, der den technischen Möglichkeiten allerdings zwanzig Jahre vorauseilte: auf ein Fernsehen in starren Bildern, eine Tageszeitung, die ihre Nachrichten nur in Action-Fotos mitteilte, eine "Tagesillustrierte". Im Rotationsdruck in Massenauflage hergestellt, konkurrenzlos billig, möglichst nur 10 Pfennig, würde sie den Händlern vom bilderhungrigen Massenpublikum aus den Händen gerissen werden. In der "magischen Welt zweiten Grades" – so die von Hans Zehrer nachgelieferte Theorie – werde sich Lesen und Schreiben wieder "wie früher" nur auf eine schmale Schicht beschränken, es breite sich der "optische und akustische Mensch" aus, ein quicklebendiger moderner Analphabet, hungrig nach Bildern und Tönen. Einige sparsame seelsorgerische Ideen konnte man im Innern des billigen Vierseitenblattes unterbringen.

Auch dieses Mal rieten die engeren Berater eher ab; der väterliche Teilhaberfreund Voss, kaufmännisch vorsichtig, schätzte die Aussichten des Unternehmens skeptisch ein. Auch dieses Mal blieb Axel Springer zäh und intuitiv bei seinem Entschluß. "Heute kostenlos, ab morgen überall für 10 Pfennig", erschien am Dienstag, den 24. Juni 1952, in Tabakläden, Schreibwarenhandlungen und an den Kiosken "Bild – Deutschlands modernste Zeitung". "Täglich aus Hamburg" ergossen sich fortan 250.000 Exemplare auf einen neuen Markt, den Markt der Kleinstadt-Boulevards. Die Urfassung der Bild-Zeitung ist verblüffend weit von der heutigen Fassung entfernt, nicht nur äußerlich, sondern auch im Ton des Vortrags. Die Schauflächen vorn und hinten füllten die blickfängerischen Fotos und drei Comic-strips-Serien: "Spione von der anderen Erde", "Bei Lottchen geht es lustig zu", "Zwei Jungs unterwegs in Afrika". Die Bild-Legenden waren so knapp wie möglich gehalten, die Schlagzeilenandeutungen am oberen Rand sachlichen angelsächsischen Mustern nachempfunden. Innen jedoch herrschte das Biedermeier des Hamburger Abendblattes. Es begann mit einer gedruckten Morgenfeier links oben: nach Goethes Rat "Jeden Tag ein gutes Bild betrachten" betrachtete man eine Reproduktion des Gemäldes "Mutter" von Heinrich Lehmann aus der Hamburger Kunsthalle, in den folgenden Nummern meist Romantikerbilder mit bürgerlich-idyllischen Familienporträts. Der Tagesspruch "Am Dienstag, dem soundsovielten, notieren Sie in Ihrem Herzen: ›Ein Leben ohne Freude ist wie eine weite Reise ohne Gasthaus‹ stimmte auf die säkularisierte Morgenpredigt ein, mit der sich nun fortan über neun Jahre lang bis zum Bau der Berliner Mauer Hans Zehrer, genannt "Hans im Bild", an die "einfachen Menschen" wandte, biedermännisch, jovial, gemütvoll, angestrengt schlicht, der konservative Revolutionär nicht mehr als Volksführer, der "Krusten durchstößt", "aufsprengt", "Kräfte freisetzt", sondern als Prediger und Volksfreund: "Man muß das Volk lieben, dem man angehört! Nicht den kleinen Mann und nicht den großen Mann und nicht den reichen und nicht den armen Mann, sondern alle zusammen." Dieses Volk – das müsse auch einmal gesagt werden – sei ein großartiges Volk, das voreinander den Hut ziehen könne, "wir jedenfalls werden es jeden Morgen von neuem tun". In der Metaphorik spielten Naturklischees und das Wetter eine große Rolle: "Überall zeigen sich plötzlich zarte Knospen, die auf ein wärmeres Klima hindeuten", "die Schauertätigkeit läßt nach, diesmal kommt die Wärme von Osten", "während wir die schönen Tage des Mai ausnutzten". Das Schicksal, von den "Großen dieser Welt" bereitet, zog meist als "dunkle Wolke" über den Häuptern dahin, die sich entlud oder noch einmal vorüberwanderte.

Auch die Vergangenheit löste sich in Wolken der Schicksalhaftigkeit auf: der Mensch sei in die "Zone der Unmenschlichkeit" geraten, in der er nicht mehr richten und nicht mehr sühnen könne, hieß es am 14. Januar 1953 über den Oradour-Prozeß, es sei ein "Geheimnis" um diese Zone. Wenn die Menschen und die Ereignisse später normal gerichtet und verurteilt würden, erhalte sie "nachträglich etwas Normales, das ihre Furchtbarkeit und ihre Schrecken herabmindert". Denn es sei das "Geheimnis des Unmenschlichen", daß es "niemals mit den gleichen Mitteln, sondern nur durch eine größere Menschlichkeit zu überwinden" sei. Der Sechzigzeilen-Artikel und die neun Jahre lang folgenden zeigten, welche Therapie die neukonservative Zeitungstheorie dem "Volk" zugedacht hatte. Sie hieß: Verdrängung, nicht hören und nicht sehen. Von den Nebeln des Allgemein-Menschlichen umwogt, ging die Kontur dessen, was sich tatsächlich ereignet hatte, die Einsicht in den Kausalnexus, verloren. Plötzlich war es vergessen, es kam nicht mehr vor, ein Vorgang, der sich später bei den Lebensläufen mancher Redakteure auffällig wiederholte: viele beginnen erst 1945. Daß die moralischen Aufwallungen der ersten Nachkriegsjahre, linke wie rechte, zur verstandesmäßigen Aneignung der historischen Erfahrung wenig beitragen, ja, in völligem Vergessen enden würden, hat der Historiker Hans Buchheim im Vorwort zu dem Buch "Anatomie des SS-Staates" treffend angemerkt: "Man strebt weg von der historisch-rationalen hin zur moralisch-emotionalen Betrachtungsweise. ›Aufrüttelung der Gewissen‹ nennt man das. Aber mit einem schläfrigen Gewissen ist es wie mit einem schläfrigen Menschen: man kann ihn durch gehöriges Rütteln wohl aus dem Schlaf reißen – nach ein paar halbwachen Augenblicken schläft er jedoch rasch wieder ein."
In der Mischung von Horoskop, Human-interest-Nachrichten, Witzen, "Noveletten" und zeitgeschichtlicher Kolportage auf geringem Niveau glich der Textteil im übrigen dem vermischten Teil des Hamburger Abendblattes. Man kann vermuten, daß es vor allem Hans Zehrers Laienpredigten waren, die zu dem hartnäckigen Selbstverständnis der Zeitung führten, sie sei ein "Volks-" und kein Massenblatt, auch noch zu einem Zeitpunkt, als sie längst die bewährten Anreißertechniken der großen Massenblätter adaptiert und lediglich mit dem Zuckerguß der neukonservativen Erbaulichkeit überzogen hatte, der den angelsächsischen pennypapers, etwa dem Daily Mirror, so angenehm fehlt.

Denn die Adaption der angelsächischen Techniken erwies sich als nötig. Zwar meldete bereits die nächste Nummer, ein "über die Maßen begeisterter Leser" habe sich schon in der Frühe, kaum sei das Blatt auf der Straße gewesen, in der Redaktion eingefunden und einen Langhaardackel überreicht – "Nehmt ihn hin, er heißt ›Rübezahl‹ und sei fortan euer Redaktionsdackel" –, aber sie verschwieg dabei, daß es der Verleger selber gewesen war und man Rübezahls feuchten Hundeaugen noch eine wohlbedachte Public-Relations-Funktion zugedacht hatte. Die Auflage stagnierte bei der Zahl der verschenkten Exemplare und war weit davon entfernt, rentabel zu werden. Auch ein 30.000-Mark-Bild-Preisausschreiben zur Anpassung an den Bildgeschmack des "neuen optischen Menschen" – wer das Bild nannte, auf das die meisten anderen Stimmen fallen würden, erhielt einen Preis – rettete das Fernsehen in starren Bildern nicht. Es wurde nicht zur erwarteten Attraktion. Zu konventionell, zu wenig aktuell, zu wenig "beredt" waren die üblichen Agenturfotos. Der Kleinstadt- und Pendelverkehrleser wollte mehr für sein weniges Geld, er wollte Stories, die ihn wenigstens eine halbe Stunde unterhielten.

Es begann die allen Springer-Objekten eigentümliche Phase der Anpassung an die Bedürfnisse des Marktes. Sie dauerte nicht, wie die Legende will, nur eine Woche, sondern ein gutes halbes Jahr und endete erst, als sich einige bewährte Boulevardblatt-Journalisten an der Mitarbeit beteiligten, unter anderem der dreißigjährige ehemalige Flakoberleutnant Hans Bluhm, der im Januar 1953 von der erfolgreichen sozialdemokratischen Boulevardzeitung Hamburger Morgenpost in die Redaktion der Bild-Zeitung übergewechselt war.

Die Phase der Anpassung: Chefredakteur Michael

Das spärliche Impressum der ersten Nummern nannte als "verantwortlich für den Inhalt" Rolf von Bargen, einen jungen Abendblatt-Redakteur, ehemaligen Volontär der DP-nahen Niederdeutschen Zeitung und blondlockigen früheren Oberleutnant der U-Boot-Ostasienflottille, der gern von seinen Erlebnissen auf Java schwärmte. Leiter der kleinen Redaktion, die im Hinterhaus der Alten Volksfürsorge, An der Alster 61, mit dem Verleger die ersten Bild-Nummern zusammenklebte, war jedoch ein alter Hamburger Zeitungsveteran, den das Impressum, aus welchen Gründen auch immer, erst am 7. Mai 1953 als Chefredakteur aufführte: Rudolf Michael. Bieder, stattlich-beleibt, solide, mit grauem Haar und Seehundsbart, hätte man sich den betagten alten Herrn von zweiundsechzig Jahren, Sohn eines Hamburger Kaufmanns, auch im Hafenkontor einer kleinen Export-Import-Firma vorstellen können. Er hatte jedoch die gutbürgerliche Hamburger Zeitungsschule durchlaufen: Volontär beim Fremdenblatt, Redakteur des liberal-konservativen Hamburgischen Correspondenten – in gestreifter Strickweste, übergeschnalltem Lederkoppel und Prinz-Heinrich-Mütze sieht man ihn dort mit dem ehemaligen Reichskanzler Cuno und dem Fremdenblatt-Chefredakteur von Eckardt zu Schiff nach Amerika reisen –, wieder beim Fremdenblatt, Reisekorrespondent und Innenpolitiker des Blattes im Dritten Reich, schließlich beim Hamburger Abendblatt, dessen neuer Stil, wie man einer offiziellen Biographie entnimmt, für Michaels "Journalismus mit den Herztönen" die ideale Basis abgab. Der politische Weg verlief parallel: liberal und national mit gelegentlichen lokalpolitischen Aktivitäten in Stresemanns Deutscher Volkspartei, die später nach rechts in Hugenberg-Hitlers Harzburger Front abrutschte, ein kurzer bürgerlicher Ausflug in nationalsozialistisches Gedankengut, danach Enttäuschung und Ernüchterung, die nun zu Abstinenz rieten.

Sie war, solange Michael die Bild-Zeitung regierte – ein Zeitabschnitt, der vom Abschluß der Pariser Verträge über die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik bis zu Chruschtschows Berlin-Ultimatum reichte –, nahezu vollkommen. Wäre ein Historiker späterer Jahrhunderte auf die ersten sechs Jahrgänge der Bild-Zeitung als einzige Quelle angewiesen, so könnte er die wichtigsten innen- und weltpolitischen Ereignisse kaum in Umrissen rekonstruieren; sie kommen zum großen Teil gar nicht vor, und wenn, dann nur als punktuelle, explosionsartige Ereignisse, die für einen kurzen Moment unter den Tierfreunden, kleinen und großen Dieben, Schönheitsköniginnen, armen Rentnern und Selbstmördern aus Liebeskummer Aufruhr stiften und dann ebenso spurlos wieder verschwinden wie Naturkatastrophen, wenn die Wasser wieder ablaufen. Aus welchen Gründen das Land geteilt war, läßt sich zum Beispiel nicht feststellen, kaum das Faktum, daß es geteilt war und ein Drittel der Bevölkerung ein ganz anderes Leben lebte. Das entsprach der neuen Zeitungstheorie vom "unpolitischen kleinen Mann" und dem Verzicht auf eine Komplett-Zeitung, es entsprach ohne Zweifel aber auch der Mentalität und Enttäuschung des Chefredakteurs.

Michael regierte die allmählich wachsende Redaktion väterlich-autoritär, ein ehrbarer Unterhaltungsmakler, der an die Stelle der Politik Gemüt und Tierliebe setzte. Ein überfahrener Hase auf der Autobahn konnte ihn in der Redaktionskonferenz stundenlang empören. Acht Tage nach dem Aufstand in der Zone, der in Ursachen und Folgen schon nach wenigen Tagen wieder spurlos aus den Spalten verschwunden war, wandte sich Rübezahl höchstpersönlich an die Leser, denn "es gibt soviel zu berichten aus meinem Hundeleben". Leserbriefe, von der Redakteurin Tubental als Ghostwriterin verfaßt, wurden fortan "herzlich, Ihr Rübezahl" unterschrieben. Bild-Veteranen erinnern sich noch an die Leserin, die soviel gedruckte Tierliebe wörtlich nahm und mit einer kranken Schwalbe in der Redaktion erschien; mit Mühe komplimentierte man sie wieder heraus. "Die Zeitung mit dem heißen Herzen und den kalten Füßen", variierte der Redaktions-Spott den Slogan des neuen Gemütsjournalismus, der offensichtlich eine zweite Tradition im Selbstverständnis der Zeitung begründete: daß sie auf eine besondere Weise eine "deutsche Zeitung" sei.

Das Problem des maximalen Reizes löste sie jedoch englisch. Aus den knappen Legenden unter den Bildern wurden Meldungen, aus den Meldungen Kürzestberichte mit der Andeutung von Schlagzeilen und Fettungen – bereits der Untergang des siebzigjährigen Langstreckenschwimmers "Opa" Kemmerer vor Sylt, eine Nordsee-Badesensation im Sommer 1952, erschien in dieser "normalen" Fassung – aus den Kürzestberichten neben oder unter Bildern wurden gewöhnliche Textseiten, aufgelockert durch Bilder. Mit der Nummer vom 10. Januar 1953 – "Dörrstein beschimpft seine Mutter", dem Prozeßbericht über einen Arbeiter, dessen Frau und drei Kinder in der Nachbarschaft einer Abdeckerei spurlos verschwunden waren, als Hauptaufmacher vorn –, endgültig mit der Nummer vom 12. Januar 1953 – "Typhus in Stuttgart: bisher über 200 Kranke, kein Grund zur Panik – Notkrankenhäuser eingerichtet" – war man schließlich bei der "Schlagzeile mit dem Holzhammer" angelangt, die Harry Guy Bartholomew 1934 mit so schlagendem Erfolg im Daily Mirror eingeführt hatte. Der verbale "eye-catcher" war gefunden, das verfrühte Fernsehen in starren Bildern entbehrlich. Die Bilder sanken auf die Funktion zurück, den Text zu illustrieren.

Der neue Reizjournalismus bedingte allerdings variable Schlagzeilengrößen, eine auf maximalen Effekt zielende Dynamisierung des Umbruchs und die völlige Auflösung der herkömmlichen Sparten, der, nicht zum Schaden der Zeitung, allmählich auch das Heimelige zum Opfer fiel. Man handelte dafür eine ziemlich genaue Anpassung an das Leseverhalten des Normallesers ein, der eine Zeitung zunächst nach den "interessanten Stellen" absucht. Scherl, in den Abendblatt-Anfängen auch Axel Springer, hatten diese "interessanten Stellen" mehr inhaltlich gesehen: daß man das Lokale und Vermischte nach vorn ziehen müsse. Nun schritt man weiter zur Revolutionierung der Form, die den "interessanten Stellen" nach allen Regeln der Werbekunst auch optisch den maximalen Reizeffekt abgewann. Die neuen Schlagzeilen stopften sie dem Leser förmlich in die Augen: Journalismus als Genußmittel, das im Verzehr schon wieder Appetit auf den nächsten Happen machte, nicht auf Sättigung, sondern auf Reizung der Eßlust bedacht, ein Zeitungskuchen nur aus Rosinen. Der Effekt stellte sich fast sofort ein, bereits Ende Januar 1953 begann sich das Blatt aus der Stagnation zu lösen und auf eine atemberaubende Auflagensteigerung zuzusteuern.

Ein Nebeneffekt der Auflösung und Dynamisierung des Umbruchs war ein zunehmend harter Konkurrenzkampf der Ressorts, wer die beste, schlagzeilenwürdigste Human-interest-Geschichte anzubieten hatte. Das führte am Anfang – Kinderkrankheit jedes Massenblattes – gelegentlich zu blindwütiger Sensationserfinderei, später jedoch zu sichtlicher Qualitätsverbesserung im Recherchiersystem. Unter Michael und von Bargen bevorzugten die kühnen Erfindungen, offensichtlich eine Abendblatt-Spezialität, das Feld der zeitgeschichtlichen Kolportage. Das "wirklich und wahrhaftig tollste Abenteuer unserer Tage" kündigte die Zeitung vom 17. Februar 1953 drei Tage lang an, "Bild besitzt Dokumente und wird sie Ihnen zeigen". Sie bestanden aus einem verwischten Paßfoto und dem zur Hälfte abgebildeten Soldbuch eines gewissen "CPL Gallagher, George Vincent" und enthüllten die atemberaubende Geschichte des PoW Leo Dalderup, der aus einem englischen Kriegsgefangenenlager geflohen war, sich dank seiner originalenglischen Sprachkenntnisse in einen Royal Air Force-Offizier verwandelt hatte und als solcher schließlich zu den tiefsten Geheimnissen des britischen Königreichs vorgedrungen war – ein Deutscher, der nun den Schlüssel zur westlichen Politik in der Hand hielt. Zur weiteren dokumentarischen Erhärtung strömten bereits am nächsten Tag die Leserbriefe alter PoW-Kameraden in die Redaktion: "Lieber Leo, überrascht war ich, als ich in Bild Dein Foto sah ... Walter Bolze" usf.

Sport dehnte sich im Kampf der Ressorts aus und wurde alsbald zum besten und interessantesten Teil des Blattes, im übrigen zur einzigen Sparte mit festen Platzrechten. Andere Massenblatt-Attraktionen stellten sich automatisch ein. An die Stelle der beschaulichen Romantikerbilder traten Karikaturen, die hübschen Bikinimädchen, die zur Belebung schon verstohlen in die Tagesillustrierte eingedrungen waren, erschienen nun freizügig und unbekümmert, der Karikaturist Beuthin zeichnete Bild-Lilly, ein weibliches Wesen mit ansehnlichem Busen und beachtlichen Beinen, von vergrämten Kritikern "Sexpüppchen" genannt, ohne Zweifel aber eine legitime Schwester von Girl Jane im Mirror, dem Trost der Army, RAF und Royal Navy auf allen Kriegsschauplätzen.

Im April 1953 stieg die Zeitung mit beträchtlichen Mitteln auch in das große Show-Geschäft ein, eine Methode, die später zu einer Spezialität des Konzerns wurde. Unter der Leitung des Massenunterhalters Jacques Königstein, einer Rundfunkberühmtheit seiner Zeit, umschluchzt von einem neuen Bild-Schlager des Lili-Marleen-Komponisten Norbert Schultze, durften 7000 Bild-Leser in der Hamburger Ernst-Merck-Halle "den idealen deutschen Frauentyp" wählen, den eine Jury mit Max Schmeling, Anni Ondra, Willy Fritsch, Dinah Grace und Bild-Verlagsdirektor Dr. Funk aus "tausenden von Bewerberinnen" schon auf zwölf Damen eingeschränkt hatte. Das Plebiszit erkor "die Eine, die ins Wunderland Indien reist", Frau Jutta Westfal aus Düsseldorf, trotz zweiundzwanzig Jahren leider schon verheiratet, wie die Zeitung ihren enttäuschten männlichen Lesern mitteilen mußte.

Show-Geschäft und angelsächsischer "New Look" brachte Bild den ersehnten Durchbruch. Mit dem Einsetzen der wärmeren Witterung und dem ersten massierten Auftreten der weißuniformierten Sonderhändler im Straßengewühl kam es zu einer Auflagenexplosion, die in der deutschen Pressegeschichte ohne Beispiel ist: im März 1953 noch 300.000 Exemplare, im April bereits 500.000, im Mai 600.000, im Juni 700.000 und so fort bis 1,2 Millionen Exemplare im Dezember. 1955 überschritt das Blatt die Zweimillionengrenze, 1956 die Dreimillionengrenze, 1962 unter Peter Boenisch, dem begabtesten der Chefredakteure, die "Traumgrenze" von vier Millionen Exemplaren, 1966 gar an gut zwanzig Tagen die Fünfmillionengrenze. Das Erfolgsrezept war in zäher Anpassung gefunden. Es war auch in diesem Falle nicht unbedingt neu, aber es war, wie immer bei Axel Springer, genial adaptiert und für die deutschen Verhältnisse praktikabel gemacht. Vergleicht man allerdings Cassandras bissige Kommentare, den Mut WMs, des zweiten Mirror-Kommentators, Oxford-Absolventen und Fabier-Sozialisten Richard Jennings, zu unpopulären Wahrheiten mit Hans im Bilds selbstmitleidigem Biedermannston, dann werden die Unterschiede eines Massenblattes im posthitlerischen Deutschland deutlich. Selbst der lyrische Godfrey Winn, der sonst die himmelblauen Idyllen vom kleinen Glück liebte, schrieb bei 15.000 Pfund Jahreseinkommen in schöner Freimütigkeit: "Man darf nie vergessen, wer diese Honorare zahlt. Es ist der Mann auf der Straße. Er ist der Arbeitgeber. Man muß ehrlich mit ihm umgehen."

Die Perfektion des Neuen Journalismus

In der Technik der Kürzeststory, die eine Geschichte auf den talking point brachte und ihn als Schlagzeile, als Seufzer, als Ausruf, als neuen Slogan heraustrieb, fand der Neue Journalismus zur Perfektion. Er war nun maximal verkäuflich. Nicht mehr an den Rundfunk gebunden, von der Hamburger Lokalfärbung befreit, auch optisch auf eine höchst moderne Formel gebracht, schuf er sich sein eigenes Massenauditorium.

Die Folgen solcher Technik lagen auf der Hand: jedes Ereignis mußte möglichst personifiziert werden, die Schlagzeilen mußten sich möglichst den in Umlauf befindlichen Schlagworten und Stereotypen annähern, die Komplexheit eines Sachverhalts, die in den grammatikalischen Verkürzungen nicht unterzubringen war, mußte durch eine unbekümmerte Entschiedenheit des Urteils ersetzt werden. Aus allen diesen Ingredienzien mußte nach Möglichkeit eine neue Sprache geschaffen werden, die den Bedürfnissen der Formelhaftigkeit und der fließbandartigen, unter dem Zeitdiktat des täglichen Massenvertriebs stehenden Produktion gerecht wurde.

Es ist kein Zweifel, daß der Massenblatt-Journalismus in dieser Beziehung starke Ähnlichkeiten mit dem Magazin-Journalismus aufweist, so verschieden die Endprodukte – hier "novellistisch", dort "episch" – und die Schicht der Verbraucher auch sein mögen: beide arbeiten "synthetisch", beide sind auf ausgedehnte Recherchiersysteme angewiesen, die den Stoff zuliefern, beide kennen den "Kahlschlag auf die Pointe" hin, der wiederum zur unbarmherzigen Ausmerzung aller fleißigen journalistischen Überproduktion führt, die der Apparat nicht braucht, beide leben von einem angespannten Klima der Dauerkonkurrenz intelligenter Leute schon in der Redaktion, beide haben sich ihre eigene Sprache, ihren Jargon, ihre "Masche" geschaffen, deren Gefahren Hans Magnus Enzensberger am Beispiel der Sprache des Spiegels scharfsinnig analysiert hat, beide bevorzugen die Personifizierung und Human-interest-Story als Form, die Gegenstände dem Leser kommensurabel zu machen und den Leser dem Blatt, wie Enzensberger es genannt hat. Beide sind hochintelligente, disziplinierte Gruppenleistungen: nicht von ungefähr herrscht heute in der Bild- und in der Spiegel-Redaktion das gleiche sachliche, managementmäßige Klima, das sich auffällig von der Künstler- und Plauderatmosphäre anderer Redaktionen unterscheidet. Bild-Journalismus und Spiegel-Journalismus, wird man sagen können, sind zwei Seiten einer Münze: Produkte einer hochindustrialisierten Gesellschaft, die auch den Nachrichtenstoff industriell zubereiten und verbreiten, dem Massenabsatz konform machen muß.

Die Intelligenz und Qualität der Redaktionen, ihre gesellschaftliche "Nützlichkeit" wird sich jedoch danach bemessen, wie weit es gelingt, über den Apparat und die Story-Verformung immer noch genügend wichtige, politisch und gesellschaftlich relevante Informationen einzuschleusen, die Stereotypenfreudigkeit mit dem Kopf eine Handbreit zu überragen, um jene Stereotypen zu meiden, die politische und gesellschaftliche Fehlhaltungen fixieren: wie weit es gelingt, aus der Anpassung und dem Konsum die Aufklärung zu retten. Verbindet sich die neue Technik mit Glauben statt mit Wissen, so sind die Gefahren allerdings unübersehbar, und es mag nur trösten, daß sich der Neue Journalismus in einer an Ausbildung und Wissen expandierenden Gesellschaft ohne "aufklärerische Tendenz" von seinen eigenen Voraussetzungen im Wettbewerb abschneidet: von der Verbesserung des Produkts. Nicht aus Monopolgründen sind alle Spiegel-Gegengründungen bisher gescheitert, sondern weil keine die Qualität des Recherchiersystems erreicht hat. Nicht durch Werbemanipulationen hat der Stern, die Informationsillustrierte neuen Stils, alle anderen Illustrierten auskonkurriert, sondern durch seine überlegene Qualität. Das Beispiel Amerikas zeigt in großem gesellschaftlichem Maßstab, wie eng Aufklärung und Produktion in einer kapitalistischen Gesellschaft miteinander verkoppelt sind, wenn beide expandieren und dem einzelnen wie dem Gemeinwesen Nutzen bringen sollen.

Analysiert man den Bild-Journalismus unter diesem Gesichtspunkt, so zeigt er allerdings die gleiche Janusköpfigkeit wie sein Erfinder. Lange Strecken ging er den bequemsten Weg reiner Anpassung, und man wird bis heute schwer sagen können, ob er ein aufgeklärtes Bewußtsein seiner selbst entwickelt hat oder es in den Eigenstereotypen "modern", "dynamisch", "deutsch" nur vorgibt. Die Anfänge – eine Zeitung, angelegt auf den "optischen und akustischen Menschen der magischen Welt zweiten Grades", in Erwartung eines wachsenden modernen Analphabetismus – belasten das Blatt stark; sie enthüllen, entkleidet man sie des pseudokonservativen, seelsorgerischen Vokabulars, ein tief rückschrittliches, ja feudalkapitalistisches Gesellschaftsbild, von dem es sich erst in den letzten Jahren zu lösen beginnt. Schon die geringste Verbindung mit politischen Zwecken mußte es an den Rand der Massenpropaganda drängen, in unmittelbare Nähe zu den Stereotypen, die Hugenbergs und Amanns Großorganisationen so nachhaltig in Umlauf gesetzt hatten. Die Koppelung ließ, da kein Verstand sie kontrollierte, nicht lange auf sich warten. Im Unterschied zu Scherl und Hugenberg fand sie jedoch nicht in zwei Individuen, sondern in einem statt, im Prozeß eines Bewußtseins.

Führung durch Zeitung

Der Massenerfolg des Bild-Journalismus blieb nicht ohne Eindruck auf Axel Springer, er reflektierte auf sein politisches Bewußtsein. Neben dem Austausch mit Hans Zehrer machte ihn die Resonanz, der Rückstrom der Leserbriefe – zu wissen, was "das Volk" denkt und fühlt – "politisch". "Wenn Sie alle unsere Leserbriefe durchschauen könnten", sagte er 1963 zu Hans Habe, "wüßten Sie, wie [...] das deutsche Volk reagiert." Daß dieser Rückstrom im Vergleich zur Masse der Leser nur ein dünnes Rinnsal war und die Beziehung eines Massenblattes zu seinen Konsumenten kaum die geeigneten Kanäle herstellt, um sich über die informelle öffentliche Meinung zuverlässig zu informieren, gar mit ihr demokratisch zu kommunizieren, sah er wohl nicht. Er legte sich, was Masse war, als "Volk" aus. In die so genaue Erfühlung der Massenwünsche die eigenen politischen Vorstellungen einfließen zu lassen war eine naheliegende Versuchung. Sie tauchte offenbar zum erstenmal 1956 auf, dem Jahr, in dem sich das Blatt der Dreimillionengrenze näherte und die Entscheidung für das Verlagsengagement in Berlin fiel. Nach der Moskau-Reise des Verlegers im Januar 1958 wurde das Blatt eindeutig zur Plattform der eigenen politischen Willensbekundungen, Manifeste, auf eigene Faust angestellten Plebiszite – "Bild sagt, wie es ist!", lautete die Formel, die nun häufiger gebraucht wurde.

Das erste spektakuläre Beispiel war eine Art "letzte Note" an den sowjetischen Ministerpräsidenten Chruschtschow und die "Millionenschar der SED-Mitglieder", die am 28. Februar 1958 unter der Überschrift "Über die Elbe gesprochen" fast die ganze erste und zweite Seite füllte. In unerwartet staatsmännisch-gemessenem, Bildfremdem Ton faßte das bemerkenswerte Dokument die damals kursierenden Pläne zur Wiedervereinigung in einem Springerschen Überplan zusammen: den Lemmer-Plan eines Staatenbundes, den Wehner-Plan einer Vier-Phasen-Angleichung der Währungsgebiete, den Strauß-Plan für eine militärische Entspannung in Mitteleuropa in Anlehnung an den Rapacki-Plan, die Vorschläge über gemeinsame Expertenkommissionen zwischen der Bundesrepublik und der DDR, die hier gar als gleichrangiger Partner ohne Anführungszeichen erschien. Immer mehr führende Männer in Westdeutschland machten sich Gedanken über eine Wiedervereinigung, "die nicht eine unzumutbare Überrollung der DDR mit wirtschaftswunderlichen Mitteln bedeutet". Für den Fall der Ablehnung drohte die Zeitung in ihrer Mischung von Staatspolitik und astrologischem Hokuspokus allerdings schon Konsequenzen an: "13 Jahre sind seit Kriegsschluß vergangen! Im Laufe des Jahres 1958 wird sich zeigen, ob die 13 eine Glückszahl oder eine Unglückszahl für den Frieden der Welt ist. Was dann wird, möge Gott verhüten."

Den Betroffenen blieb jedoch kaum Zeit, die "Note" zu beantworten. Bereits drei Tage später, am 3. März 1958, eröffnete die Zeitung mit einer düsteren Reportage über die "Nationale Volksarmee" ihren ersten Agitationsfeldzug gegen den Staat östlich der Elbe, der nun wieder "Sowjetzone" hieß. Er erhitzte sich im Sommer mit Zunahme der Fluchtbewegung, obwohl es den Flüchtlingsstrom in den Vorjahren längst und in viel stärkerem Maße gegeben hatte. Die subjektiven Gefühle, die die Kampagne leiteten, mögen achtbar gewesen sein. Objektiv erfüllte sie erstaunlich genau die Gesetze eines Massenblattes in der Konsumgesellschaft, die mit den Gesetzen der Massenpropaganda hier glücklich in eins fielen: daß man den Feind nach außen projizieren, die inneren Konflikte und Entscheidungen – etwa die Unterstützung einer anderen, oppositionellen Deutschlandpolitik – dagegen möglichst meiden müsse. Dieser äußere Feind, der außerhalb der Konsumgemeinschaft stand, in ihr keine Stimme besaß und kein Kaufpublikum stellte, die "bolschewistische Gefahr", war der Masse der Leser wohlbekannt und auch die Sprache, die ihn beschrieb. Es entfiel nur das Zusatzadjektiv "jüdisch". Ohne Bedenken griff die Zeitung zu den Stereotypen, die sie bei etwas historischem Verstand besser gemieden hätte.

Am 28. November 1958 prallte die Fortsetzung der Politik mit Public-Relations-Mitteln zum erstenmal mit einer bösen Realität zusammen. In der gleichen Nummer, die den Start der Abzeichenaktion "Macht das Tor auf" verkündete, einer entwaffnenden Lieblingsidee Axel Springers wie die Frühlingssträuße am Jungfernstieg, meldete die Hauptschlagzeile Chruschtschows Berlin-Ultimatum. Während die Regierungskanzleien allen Verstand aufboten, die lebensgefährliche Koppelung von nuklearer Bedrohung und Berlinkrise zu meistern, rüstete die Zeitung zum zweiten, noch heftigeren Agitationsfeldzug.

Er blieb zunächst ohne begabten Feldherrn. Die erste Phase der Politisierung hatte schon unter Michael begonnen, aber der tierliebe alte Herr war für so politische Dinge nicht mehr der geeignete Redaktionsführer. Auch sein Nachfolger wurde es nicht, obwohl der Verleger offenbar Hoffnungen in ihn setzte. Es folgte das Übergangsregiment Bezold, das nach Auskunft des Impressums vom 2. Dezember 1958 bis zum 30. November 1960 dauerte.

Übergangsphase: Chefredakteur Bezold

Oskar Bezold, ehemaliger Marineoffizier, korrekt und formell, die Damen in der Redaktion mit "gnädige Frau" und "gnädiges Fräulein" anredend und in wohlabgemessenen Abständen kleine Drinks veranstaltend, war mehr ein begabter Organisator als ein ideensprühender Journalist. Er kam von der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung in Essen, einem großstädtisch orientierten, auflagenstarken Regionalblatt des Ruhrgebiets, das wenig von Michaels heimeligem Abendblatt-Biedermeier hatte, an sich eine günstige Voraussetzung, um das Provinz-Boulevardblatt Bild nun städtischer, offener, moderner zu machen, es von seinem Kleinstadtmuff auch politisch zu befreien. Möglich, daß der Verleger es in dieser Phase sogar wollte.

Dem neuen Chefredakteur fehlten jedoch die durchgreifenden Ideen und wohl auch der Rückhalt in der Redaktion; neben einigen Ansätzen zur Versachlichung der Zeitung – Rübezahl und Bild-Baby verschwanden – beschränkte sich sein Regiment auf die organisatorische Konsolidierung der Redaktion, die mit ihrem dichten Netz von Außenredaktionen, Zuträgern und Informanten und der komplizierten Apparatur der fernsatzverbundenen Außendruckorte nun schon die Umrisse der späteren Mammutorganisation annahm. In der Zentralredaktion wurde straffer geführt, der etwas hemdsärmelige Zynismus, der sich in der Pionierzeit unter der Oberfläche der Erbaulichkeit ausgebreitet hatte, wich formelleren Umgangsformen: weißes Oberhemd und Krawatte wurde für Redakteure obligatorisch, die Hosenträger verschwanden. Heute kann man die feinen Abstufungen in der Redaktionshierarchie schon an den Unterschieden der Kleidung erkennen, gesteigert bis zu jener Vollkommenheit, die in der höchsten Redaktionsspitze auch die höchste Eleganz versammelt sieht. Wer ständig ein Jackett trägt, ist ein Ressortleiter oder Stellvertreter, wer sich in Westen vom letzten Schnitt kleidet, läßt schon bedenkliche Ambitionen erkennen.

Immerhin fiel in Bezolds Regierungszeit ein Ruhmesblatt der Bild-Zeitung. Als sechs Hamburger Richter gegen den Holzkaufmann Friedrich Nieland, Verfasser eines in 2000 Exemplaren vertriebenen antisemitischen Pamphlets "Wieviel Welt(Geld)-Kriege müssen die Völker noch verlieren?" kein Verfahren wegen Rassenhetze eröffnen wollten, schlug Bild auf Seite 1 "Alarm": "Jetzt muß es gesagt werden. Laut. Unzweideutig. Auch wenn es manchen schrill und unangenehm in den Ohren klingt." Studienrat Zind in Offenburg, zwei Beamte in Wiesbaden, ein beurlaubter Studienrat in Lübeck, jetzt Nieland, alle wegen antisemitischer Äußerungen angeklagt, dürften nicht bagatellisiert werden, selbst wenn es sich noch um Einzelfälle handele: "Die Unbelehrbaren machen wieder das Maul auf. Und die Vergeßlichen reden. Meist unter der Hand. Vorläufig. Hinter verschlossenen Türen – vorläufig. Aber wann kommen sie hervor?" Bild warne, "bevor es zu spät ist". Die klare und prophetische Sprache verlor sich jedoch. Sechs Jahre später brachten die Konzern-Ideologen Martini, Mohler und Studnitz in den Intelligenzblättern die giftigen Worte von der "Bewältigungsindustrie", den "Berufsbesiegten" und "Reuechristen" in Umlauf.

Der neue Bild-Chef war jedoch glücklos. Alsbald begann man intern "an seinem Stuhl zu sägen", wie es im Redaktionsjargon hieß, und der ehemalige Chef vom Dienst Rolf von Bargen, seit 1958 Verlagsleiter der Bild-Gruppe, konnte auch auf Zahlen verweisen, die im Hause in Zweifelsfällen immer das letzte Wort sprechen: die stürmische Aufwärtsentwicklung des Blattes setzte sich nicht fort. Die verkaufte Auflage stagnierte dicht vor der Dreimillionengrenze und bei einer Zuwachsrate, die dem zahlenverwöhnten Management minimal erscheinen mußte. Anderes kam hinzu. Bezold war ein nüchterner, eher liberaler Mann. Auf die Dauer mußte er mit der Gefühlspolitik des Verlegers kollidieren, der an der redaktionellen Steuerung seiner erfolgreichsten Schöpfung immer noch den intensivsten Anteil nahm. Ende 1960 traf man in beiderseitigem Einvernehmen ein Arrangement, das Oskar Bezold zur neu erworbenen Ullstein-Gruppe nach Berlin versetzte. Der Fortbeförderte verband die Versetzung offenbar mit der Illusion, er könne hier, am Schauplatz der heftigsten politischen Emotionen, mäßigend wirken. Nach weiteren fünf Jahren ging er auch dort. Das Konzept, die Zeitung sachlicher und urbaner zu machen, war mit ihm zunächst begraben, sein Nachfolger übernahm es nicht, obwohl er aus der Hauptstadt Berlin und von Ullsteins traditionsreicher BZ am Mittag kam. Der neue Chefredakteur hatte politischen Ehrgeiz.

Die Politisierung der Bild-Zeitung: Chefredakteur Hagen

Provinzklatsch und Agitation zu verbinden, Hugenbergs fatales Rezept der Politisierung kleinbürgerlicher Emotionen zu wiederholen schien Karl-Heinz Hagen unbedenklich und durch den reinen Zweck des Kampfes gegen den Kommunismus geheiligt. Der neue Chefredakteur, bei Übernahme der Bild-Zeitung im November 1960 vierzig, war ein intelligenter Mann. Seine Zeitungsideen kamen der neukonservativen Theorie vom Volk aber erstaunlich nahe. Daß man sich dem Provinzgeschmack anpassen müsse, ihn allenfalls noch wirksamer nutzen könne, übernahm er ohne weiteren Reformeifer: Axel Springer habe erkannt, daß Deutschland nur aus Provinzen bestehe, darauf beruhe der Erfolg seiner neuen Zeitungstypen, pflegte er zu sagen. Mehr interessierte Hagen die politische Führungsfunktion von Zeitungen, der Einfluß auf "Volk" und "Herrschende". Der geborene Berliner, Verfasser eines Nachkriegsromanes Der Du im Nebel bist, in den fünfziger Jahren Journalist der Berlin-Redaktion des Norddeutschen Rundfunks unter Thilo Koch, hatte hier seine eigene Theorie entwickelt, eine Mischung von handlicher Freiheitsideologie und Showmanship, die von den Propagandatechniken des totalitären Gegners zweifellos nicht unberührt geblieben war. Sie mißverstand sich als militanter Demokratismus und hatte schon den Chefredakteur der BZ am Mittag tiefer in die Praktiken des kalten Krieges geführt, als manchem seiner Freunde gut schien: Antikommunismus diente der Berliner Boulevardzeitung eine Weile als Alibi, das Halbdunkel der Nachrichtenhändler, Zwischenträger, Kampfgruppen gegen Unmenschlichkeit und politischen Aktionen auf eigene Faust nicht unbedingt zu meiden; nach dem Bau der Mauer trieb diese Verbindung von Human-interest-Geschäft und parapolitischer Aktivität noch einige traurige Blüten.
Ob Axel Springer diese Gefahr sah oder gar in seine Rechnung einbezog, als er den neuen Bild-Chef berief, wird niemand wissen. Jedenfalls mußte die Koppelung der "unpolitischen" Bild-Zeitung mit so entschiedenen politischen Zwecken unvermeidlich zu einer Spielart massiver Massenpropaganda führen, wie sie der deutsche Zeitungsleser seit 1945 nicht mehr erlebt hatte. Hagen entdeckte für die Bild-Zeitung, wie sein pragmatischer Nachfolger Peter Boenisch es formulierte, "die Politik vor der politischen Information". Für das Ansehen der Zeitung war diese verhältnismäßig kurze Epoche von knapp einem Jahr folgenreich, sie fixierte das Image, das in die Polemiken, Satiren und auch in einige ernsthafte Analysen eingegangen ist, obwohl der historische Betrachter eher die überraschende Wandlungsfähigkeit des Blattes konstatieren muß.

Journalistisch war der kleine, geschmeidig-elegante, schnurrbärtige Mann mit dem rasch ergrauenden Bürstenhaar und dem Nasser-Profil, Nichtautofahrer und Großneffe des jüdischen Bankiers Louis Hagen aus Köln, der 1913 Scherl vor der "jüdischen Gefahr" gerettet hatte, eine beachtliche Potenz. Ullsteins neu-alte BZ am Mittag, von Hagen mit journalistischem Elan und Witz geleitet, setzte der Berlin-Ausgabe der Bild-Zeitung hart zu; auch nach der Erwerbung der Ullstein-Majorität durch Axel Springer dauerte der scharfe Konkurrenzkampf fort. Der Erfolg empfahl den BZ-Chef für das größere Objekt. Anders als Bezold führte Hagen nach dem Motto "Hier ist lange genug geschlafen worden" sogleich ein gründliches Revirement in der Bild-Redaktion durch. Langerworbene Privilegien schwanden dahin, in die meisten Schlüsselstellungen rückten "Hagen-Leute" ein. "Moabiter Keulenriege" hieß später die Praxis, unzertrennlich von Redaktion zu Redaktion zu ziehen. Seite 1, das "Schaufenster" der Zeitung, wurde von "Schmonzetten" – Romananreißer, Sportkasten und so fort – entrümpelt, noch großflächiger, noch effektvoller gemacht. Auch im Innern des Blattes wurden die Gemütsreste eingeschränkt, lediglich Hans im Bilds Predigerkanzel, von der nun mitunter auch andere predigten – die Hilfspredigerstelle rangierte hoch in der Redaktionshierarchie –, blieb noch ein Jahr unangetastet.

Der Effekt kam jedoch weniger den Human-interest-Stories als der Politik zugute, gelegentlich erschienen nun zwei politische Aufmacher auf Seite 1. Während weltpolitisch Sturm aufzog, reffte die Bild-Zeitung alle Segel aus und drehte schäumend auf Agitationskurs. Die weltpolitischen Krisen eskaladierten mit steigendem Jahr: Störungen zunächst am Rande, das Fiasko in der Schweinebucht und die Kongokrise. Im Juni 1961 die erste Konfrontation zwischen Kennedy und Chruschtschow in Wien, von letzterem dazu ausersehen, "den jungen Mann das Fürchten zu lehren". Im Juli Kennedys Ankündigung der Rüstungsverstärkung, Anfang August Chruschtschows Drohung, daß nur noch bis Jahresende eine "Friedenslösung" des Berlinproblems möglich sei. Parallel dazu ein Anschwellen des Flüchtlingsstroms von Mitteldeutschland nach Westberlin, der über alle Ufer zu treten drohte. Schon 1958 hatten Axel Springer und Hans Zehrer in der agitatorischen Auswertung der Fluchtbewegung offenbar den geeigneten Hebel gesehen, die erstarrte Deutschlandpolitik wieder in Bewegung zu bringen; jetzt griff Bild das Thema mit Hagenscher Effektivität auf.

Während sich die Regierung Kennedy fieberhaft bemühte, die Berliner Situation mit einer Mischung von militärischen Vorkehrungen und Flexibilität unter Kontrolle zu bringen und die Initialzündung zu einem dritten Weltkrieg zu vermeiden, ohne "Essentials" der westlichen Politik preiszugeben, bestand der Beitrag des größten deutschen Massenblattes darin, die Emotionen mit einer Kombination von Human-interest-Rührung und Politisierung aufzustacheln, die Situation mit Schlagzeilen journalistisch "anzuheizen", wie es im Redaktionsjargon hieß – in einer Bevölkerung, in der die ohnmächtigen Gesten der Empörung und Scheinmacht nur Angst und Panik auslösen konnten. Man sah als "deutsches Problem", das die Welt zu lösen hatte, was längst ein Problem von Krieg und Frieden in nuklearem Ausmaß war. Hätte Kennedy bei seiner täglichen Morgenlektüre auch die Bild-Zeitung gelesen, so hätte sie seine Befürchtung, daß die Deutschen zu kontrolliertem, die Grenzen des Möglichen achtendem Handeln unfähig seien, deprimierend bestätigt. Solle es je zu einem den Planeten verheerenden Atomkrieg kommen, hatte er seinen Beratern beim Studium von Kriegsausbrüchen gesagt, dann dürfe sich nicht wiederholen, was Reichskanzler von Bülow in seinen Memoiren berichtet. "Nun sagen Sie mir bloß, wie ist dies alles gekommen?" hatte Bülow seinen glück- und hilflosen Nachfolger Bethmann-Hollweg im August 1914 gefragt. "Ja, wer das wüßte", erwiderte Bethmann-Hollweg, die langen, dünnen Arme zum Himmel hebend.

Am 13. August 1961 um 1.11 morgens prallte der Agitationsfeldzug der Bild-Zeitung zum zweitenmal gegen eine böse Realität, die brutal und schändlich war, aber aus der ersten, Chruschtschows Berlin-Ultimatum und der Unmöglichkeit, den Flüchtlingsstrom in Grenzen zu halten, notwendig folgen mußte, gegen die "Maßnahmen zur Sperrung der Sektorengrenzen" des Ministerrats der DDR, später Stein geworden in einer Preßbetonmauer von beispielloser Häßlichkeit und deutscher Perfektion quer durch die Stadt. Man wird nicht so weit gehen wie Rudolf Augstein, der einen direkten Kausalzusammenhang zwischen Bild-Agitation, Flüchtlingspanik und Mauerbau sah – das hieße wohl die kalte Zweckmäßigkeit und Langfristigkeit der kommunistischen Politik und das unlösbare Problem der Ausblutung der mitteldeutschen Wirtschaft verkennen, das sich seit langem, nicht erst seit 1961, unabhängig von aller publizistischen Agitation abzeichnete. Die Reaktion des Bild-Journalismus in der Berlinkrise zeigte aber, wie ungeheuerlich weit die Zehrer-Springersche Deutschlandpolitik von den Realitäten der Politik im nuklearen Zeitalter, die ein Problem der Kontrolle, nicht der Freisetzung von Massenemotionen ist, entfernt war. Ein Zeitgenosse, nur auf Bild und Welt als Informationsquellen angewiesen, hätte wohl sowenig wie Bethmann-Hollweg sagen können, "wie das alles kommen konnte". Die Einheit des Volkes sei näher, als den meisten bewußt sei, hatte Hans im Bild Jahr für Jahr prophezeit, das letzte Mal vier Wochen vor Chruschtschows Berlin-Ultimatum.

Feldherr Hagen, der sich nun täglich mit seinem Oberfeldherrn beriet, führte den Feldzug nach kurzem Stocken diesmal weiter: über die Front-Seiten des Blattes rollten nun Panzer, spannte sich Stacheldraht, marschierten maschinenpistolenbehangene Rotarmisten, jenen mythischen Schrecken verbreitend, der den Deutschen aus langer Propagandagewöhnung und scheinbar bestätigender Anschauung von 1945 noch in den Gliedern saß. Die Politisierung erreichte einen bisher nicht gekannten Grad: mindestens optisch übertraf sie zum Teil, was man von vergleichbaren Blättern im Dritten Reich kannte. Stacheldraht und aggressive Karikaturen wurden Elemente des dynamischen Umbruchs. An politischen Aufmachern findet man in der Zeitung, die Politik jahrelang kaum in Splittermeldungen gebracht hatte,

am 30. August 1961: Von der Vopo erschossen! Der zweite Fall in sechs Tagen. Moskau: Rekruten bleiben unter Waffen. Brandt über Adenauers Zustand: "Der alte Herr ..." Lübke in Berlin. So starb Grenzgänger G. Litfin;

am 31. August 1961: Kreml droht mit Super-Bomben. Kennedy schickt General Clay nach Berlin. US-Panzer brachten Vopos zur Vernunft. Mord! Gesucht wird dieser Mann (eine auf einen Grenzpolizisten umgemodelte Nachahmung des berühmten Mirror-Steckbriefes vom 4. September 1939: "Wanted! For Murder. Adolf Hitler alias Adolf Schickelgruber, Adolf Hitler or Hidler");

am 1. September: Moskau – Wieder Versuche mit Atombomben. Schüsse gegen Hamburger Küstenfrachter. Spalter-Flagge über Stacheldraht. Lübke: Wir müssen Opfer bringen. Keulenschlag für Neutrale. Die Welt ist über Moskau empört;

am 8. September: Ulbrichts Hitlerjugend droht jetzt offen: Wir werden auf Deutsche schießen. Bonn: Mehr Soldaten, mehr Geld. Chruschtschow prahlt mit seinen Bomben, aber der Westen ist stärker. Atom-Faust aus dem Güterzug;

am 9. September: Es gibt wieder KZs in der Zone. Ost-Berlin: schon die ersten Urteile. Wie 33. Selbstmordserie in Ost-Berlin. Notfalls mit Jagdschutz (umrahmt vom "Stacheldraht-Umbruch");

am 28. Oktober: Zum erstenmal auf Schußnähe: Sowjetpanzer und US-Panzer, gestern in Berlin. USA starten größte Rakete der Welt. Atomregen über China. Bonn sucht erneut nach dem Ausweg. Bundeswehr zieht Reservisten ein. Keine Spur von den US-Fliegern.

Ein höfliches, formelles Antwortschreiben Albert Schweitzers auf einen "Friedensbrief" von Ulbricht, politisch nicht sehr orientiert, aber ganz in Übereinstimmung mit seinen Ideen vom Weltfrieden, brachte die Redaktion am 26. August 1961 auf den Gedanken, den Volkszorn direkt auf den fernen alten Mann zu lenken: "Wer an Albert Schweitzer schreiben will, kann seinen Brief an zwei Adressen richten: Günsbach im Elsaß; oder: Lambarene-Hospital, Lambarene, Gabun (Afrika)." Intendanten, die weiter Brecht spielten, wurden mit Leserbrief-Beschimpfungen überschüttet und dem Ausdruck "nützliche Idioten" bedacht, einer Lieblingsvokabel des Verlegers, die auch bei seinen Mitarbeitern ständig wiederkehrt. Als westdeutsche Aussteller trotz der angespannten Situation zur Leipziger Herbstmesse fuhren, entfachte die Zeitung am 6. September 1961 ein empörtes Leserbrief-Plebiszit: "Was die 380 Firmen tun, ist Landesverrat. Geschäft bleibt eben Geschäft. Und ein Schwein bleibt ein Schwein, auch wenn es sauber gewaschen ist."

Das war nun schon die Sprache des Stürmers und des Schwarzen Korps; neben den vertrauten Stereotypen drang jetzt auch das alte Vokabular in die neue Propagandamaschine ein, die im Nebeneffekt gleichzeitig ein riesiges Alibi produzierte: in der Analogie von Vopos und "dem barbarischen Menschenhaß der SS-Vernichtungskommandos", von Zone und KZ, von Mauer 1961 und Machtergreifung 1933 schuf sie das Bild eines zweimal unterdrückten Volkes, beide Male Opfer einer winzigen Minderheit, selber unbeteiligt an Unterdrückung und Terror, unschuldig an seinem Schicksal damals wie heute. Den Gipfel erreichte diese bedenkenlose Assoziationstechnik im Fall eines Dortmunder Journalisten, der bei einem Grenzzwischenfall erschossen und von den Friedhofsbehörden der Zone vor Benachrichtigung der Angehörigen eingeäschert worden war. Der schlimme Vorfall diente der Zeitung am 19. Oktober 1961 zu der Schlagzeile: "Erschossen und verbrannt!"

Präsident Kennedy, mit der Sportpalast-Schlagzeile "Ein Wille! Ein Weg! Ein Ziel!" für die eine Komponente seiner Strategie, die Rüstungsverstärkung, im Juli noch stürmisch als großer Führer des Westens gefeiert, wurde nun wegen der anderen Komponente, der genau kalkulierten Anwendung der bewaffneten Macht, heftig geschmäht: am 16. August mit der Schlagzeile "Der Westen tut nichts", am 25. September 1961 mit dem berühmt gewordenen riesigen Hauptaufmacher "Wird Deutschland jetzt verkauft?". Man hat diese zweite Schlagzeile, die in der Umgebung des Präsidenten beträchtliche Verärgerung auslöste, später mit Hagens Abberufung in Zusammenhang gebracht. Bei der Empfindlichkeit der Amerikaner gegenüber starken Reaktionen der public opinion ist eine Unmutsäußerung nicht ganz ausgeschlossen. Da aber feststeht, daß der Verleger sich selber an der Formulierung beteiligt hatte – Hagen soll die maßvollere Fassung "Verhandelt, aber verkauft uns nicht" vorgeschlagen haben –, wird man andere Differenzpunkte für den überraschenden Wechsel im Bild-Oberbefehl suchen müssen, der in der ersten Dezemberhälfte abrupt vollzogen wurde.

Der eine lag vermutlich in Hagens innenpolitischer Ambition, die mit einer Grundregel des Massenkonsumblattes in Kollision geraten war: daß es sich wohl einen äußeren Feind leisten dürfe, niemals aber für länger einen innenpolitischen, der es in Widerspruch zu den herrschenden Trends brachte. Hagen war für starke Regierungen, am liebsten für eine harte Regierungspolitik auf CDU-Grundlage. Da die von ihm favorisierte CDU aber keine Aussicht hatte, bei der Bundestagswahl am 17. September 1961 die absolute Mehrheit zu behaupten, strebte er mit allen Bild-Mitteln – Schlagzeilen, Balkenunterstreichungen, Karikaturen – ein Allparteienkabinett an, notfalls auch gegen Kanzler Adenauer, der trotz Popularitätseinbuße an einer kleinen Koalition unter seiner Führung festhalten wollte. "Die Furcht eines großen alten Mannes gegen die Hoffnung von 70 Millionen Deutschen in Ost und West – was wiegt schwerer?" schrieb Bild am 12. Oktober 1961 empört. Der alte Mann, lange Jahre das Idol machtbewundernder Publizisten, immer noch zäh, aber schon abgeklärter und nie anders als nüchtern in der Einschätzung der Möglichkeiten, hatte zudem in der Berlinkrise vorsichtig operiert. Die Pulverfaßgefahr war ihm wohlbewußt gewesen; die buchstäbliche Vermauerung des Status quo hatte unter anderem auch etwas mit den Grenzen seiner Politik zu tun. Sosehr jedoch Bild stichelte und stach, die bürgerlichen Parteien wälzten sich auf das alte Lager der kleinen Koalition zurück. Machtgewohnt durch zwölf Jahre, mochten sie auch diesmal die Macht nicht mit der Linken teilen, und der schlaue alte Taktiker erreichte nach sechswöchigem Handeln sein Ziel: den kläglichen Umfall der Freien Demokraten, die ihr Wahlversprechen brachen und die Fortdauer seiner Herrschaft wenigstens befristet akzeptierten, wenn sie nur weiter mitregieren durften. "Das Kabinettchen", höhnte Hagens Schlagzeile am 8. November, und man kann sich vorstellen, daß sie dem Verleger nun doch peinlich war; zu oft hatte er Briefe mit dem alten Kanzler getauscht und ihn seines Respektes versichert, sich in der hohen Politik auch mit ihm abzustimmen gesucht. Das "Volk", daran war auch kein Zweifel, wollte längst seine Ruhe und seine Regierung, welche auch immer.

Der zweite Differenzpunkt, vermutlich ausschlaggebender, hing mit dem ersten indirekt zusammen. Die in der Ahnung der Massenwünsche selten fehlgehende Intuition mochte Axel Springer sagen, daß die übertriebene Politisierung dem Absatz der Zeitung auf die Dauer schaden würde. Daran änderte auch nichts, daß sich in dieser Politisierung das politische Temperament des Chefredakteurs mit dem politischen Temperament des Verlegers potenziert hatte, wie ein kluger Kenner der Verhältnisse es formulierte. Die Geschäftsräson forderte Korrektur. Der Zuckerguß an Unterhaltung und human interest sei dem Verleger zu dünn geworden, erklärte Hagen nach einer Aussprache am 9. Dezember 1961 im 12. Stock des Verlagshochhauses, in der Axel Springer dem kurz vorher noch hochgelobten Chefredakteur die Trennung vorgeschlagen hatte. Auch in diesem Falle hatte Verlagsleiter von Bargen mit Zahlen aufwarten können: zwar war die Auflage unter Hagen wiederum leicht um 140.000 Exemplare gestiegen, die erhoffte steile Aufwärtsentwicklung war aber ausgeblieben. An der Absatzeinbuße einzelner Nummern war auch meßbar, daß ausgesprochen politische Schlagzeilen das Publikum auf die Dauer abschreckten – keine Zeitung reagiert im Verkauf auf die Hauptschlagzeile so empfindlich wie die Bild-Zeitung. Außerdem, so sagte man wenigstens in der Verlagsleitung, die der selbstbewußte Chefredakteur gegen den früheren Brauch von den Redaktionskonferenzen ferngehalten hatte, habe der nur auf Effekt gemachte Umbruch der Zeitung im Monat einen Kleinanzeigenverlust von einer Million Mark eingebracht.

Der kritisierte Chefredakteur diskutierte nicht, aber er wollte seinen Fünfjahresvertrag ausbezahlt haben, den das Verlagsmanagement um ein Haar nicht gezahlt hätte. Das aber stand Axel Springer, der alles, nur nicht kleinlich war, schlecht an. So verließ Karl-Heinz Hagen nach nur vierzehn Monaten im Januar 1962 ohne Arbeitsgericht, aber mit einer guten Abfindung das Haus, in das er vier Jahre später, nach dem großen Illustriertenrevirement, als Chefredakteur "zur besonderen Verwendung" zurückkehrte, diesmal nur mit einem Unzertrennlichen, seinem Quick-Stellvertreter Prinz. Welche Aufgabe den beiden auf die Dauer zugedacht ist – im Augenblick fungieren sie als mobile Sprungredaktion, die neuerworbene Projekte journalistisch auf Hochglanz bringt –, scheint noch ungewiß zu sein.

Die Wahl des Nachfolgers, von Hagen vorgeschlagen, von Axel Springer sogleich akzeptiert oder auch schon selber erwogen, war immerhin ungewöhnlich: sie brachte den jüngsten der möglichen Kandidaten auf den Posten, der im redaktionellen Bereich nun zum wichtigsten des Hauses geworden war. Es war ein Generationswechsel, wie sich herausstellen sollte.

Pragmatischer Kurs: Chefredakteur Boenisch

Der neue Chefredakteur befand sich bereits im Hause und probierte Illustriertenpläne für den Verleger aus. Peter Boenisch, im Dezember 1961 vierunddreißig, hatte zuletzt Kindlers auf Linkskurs steuernde Illustrierte Revue geleitet und im gleichen Verlag ein Kind eigener Art großgezogen, die Teenagerzeitschrift Bravo, die aus improvisierten Anfängen zu einem verblüffenden Erfolg geworden war. Im Sommer 1959 war der erfolgreiche Teenager-Redakteur zu Axel Springer übergewechselt, wo er zunächst Probenummern für die geplante europäische Superillustrierte Capitol herstellte, ein Prouvost-Mondadori-Springer-Lord-Drogheda-Projekt, das nach einem schon gedruckten Prospekt den "seit der Götterdämmerung der Cäsaren" geträumten Traum eines geeinigten Europas viersprachig verwirklichen sollte und schließlich an britisch-französischen Differenzen scheiterte. Das nächste Projekt war ein englischsprachiges Berlin-Heft der früher Ullsteinischen, nun Springerschen Berliner Illustrirten, ein politisch gemeintes Public-Relations-Produkt im technisch perfekten Bilderbuchstil des Hauses, das teils der Bekräftigung des Titelbesitzes, teils der Deutschlandpropaganda in den Vereinigten Staaten dienen sollte. Es wurde im Spiegel unter der Überschrift "Die Fahne hoch" und "Krieg ohne "e"" und von einigen der unfreiwilligen Empfänger herber Kritik unterzogen: "Sirs: I am shocked and angered to receive in the mail a copy of the ›Special Edition‹ (sic!) of the Berliner Illustrirte", schrieb Leser Charles Pemberton aus New York, N. Y., an seine Zeitung. "Sandwiched between pictures of bare-bosomed actresses and sleek models", enthalte es Seite für Seite "the old symbols of hate and fear of the Russians". Für einen einfachen Amerikaner, der zweimal in seinem Leben seine friedliche Arbeit habe unterbrechen und zu den Waffen greifen müssen und der Edith Cavell, Lidice, Belsen und Auschwitz nicht vergessen könne, sei dieses Produkt unerträglich.

Gleichwohl kann man sich den großgewachsenen, ungewöhnlich gut aussehenden Journalisten ohne Mühe am city-desk einer New Yorker Zeitung oder am Producer-Tisch eines Magazins am Times Square vorstellen. Er ist ein "amerikanischer Typ", auch in der Vereinigung sehr verschiedener Eigenschaften, Begabungen und Einflüsse. Katholisch, Sohn einer Russin und eines Deutschen, der sich später in Kinogeschäften in Berlin niederließ, in Berlin aufgewachsen, heute stets taylormade nach letztem Schnitt exklusiver Herrenjournale gekleidet, dirigiert er die riesige Redaktionsmaschine der Bild-Zeitung inzwischen mit leichter Hand. An seinem mahagonidunklen Diplomatenschreibtisch aus dem englischen 18. Jahrhundert, den Widmungsfotos von Konrad Adenauer, John F. Kennedy im Händedruck mit Peter Boenisch, Axel Springer und meist eine Rose schmücken, bequem in die Cordsamt-Fauteuils seines klimatisierten Chef zimmers hingestreckt oder hinter dem Tastenklavier der Konferenzschaltung im großen Konferenzraum sieht man einen Virtuosen der redaktionellen Kunst, ein Massenblatt für alle zu machen.

"Amerikanisch", wenn man will, war auch seine journalistische Laufbahn. Unschlüssig, ob er als Student der Slawistik die Seele Rußlands erforschen, als Priester arme Seelen aufrichten oder als Strafverteidiger große Verbrecher verteidigen sollte, geriet der Achtzehnjährige im Spätsommer 1945 in Berlin an einen früheren Freund der Familie, den ehemaligen Wiener Rechtsanwalt und amerikanischen Besatzungsoffizier Eric Winters, der gerade Aushilfsreporter für die Allgemeine Zeitung suchte, die Berliner Version der amerikanischen Neuen Zeitung. Das beifällig aufgenommene Probestück war ein Artikel über die erste Modenschau mit Modefrisieren nach dem Kriege, da die Stadt nach einem Befehl des amerikanischen Kommandanten General Barker "normalisiert" darzustellen war. Für 250 Reichsmark und ein warmes Essen am Tag begann die harte Reporterlehre, deren Lehrmeister der Staff-Sergeant Peter Wyden alias Weidenreich wurde, ein Newsweek-Redakteur und junger jüdischer Emigrant aus Berlin, der in journalistischem Temperament gelegentlich mit Tintenfässern warf. Der Schauplatz war abwechslungsreich genug: das sowjetische Hauptquartier in Karlshorst, wo bei deutsch-sowjetisch-amerikanischen Verbrüderungsfesten der Wodka in Strömen floß und Bruderküsse mit finsteren Mienen wechselten – die Redaktion der Allgemeinen Zeitung befand sich zufällig im gleichen Haus wie der CIC –, das amerikanische Gegenstück in Dahlem, die Rathäuser und Parteizentralen, in deren Intrigen sich die ersten tiefgreifenden interalliierten Spannungen ankündigten. Besonders beeindruckte den jungen Reporter Wydens Umgang mit Generälen. Als General Clay der Presse nicht genügend Auskunft gab, zupfte Wyden ihn ungeniert am Armel: "Hallo, General, I’ve asked you", eindrucksvolles Beispiel für die angelsächsische Journalistenfreiheit, auch Militärs ohne Schonung zu befragen.

Nächste Stationen waren die Münchner Zentralredaktion der Neuen Zeitung und das platte schleswig-holsteinische Land: bei der Schleswig-Holsteinischen Tagespost, nachmals Schleswig-Holsteinische Landeszeitung, einem konservativen Lokalblatt in Rendsburg mit 22.000 Exemplaren Auflage, bewarb sich der Zweiundzwanzigjährige 1949 als "politischer Schriftleiter". Im Kleinstadtmilieu von Gustav Freytags "Journalisten" begann er seine ersten publizistischen Feldzüge auf eigene Faust, gegen die "Cliquokatrie" der großen Parteien und Mißstände in der Lokalpolitik, aber auch für eine ernsthafte Prüfung der sowjetischen Deutschlandnote von 1952 – den Schleswiger Bauern vermutlich sehr fern – und für den "roten" Grimme, den ersten Generaldirektor des Nordwestdeutschen Rundfunks und ehemaligen sozialdemokratischen Kultusminister von Preußen, gegen den, schon damals beliebte Waffe, nationale CDU-Kreise Rote-Kapelle- und Landesverratsgerüchte in Umlauf gesetzt hatten. Der Einzelgängermut trug dem Lokalblattchef das Angebot Grimmes und seines Persönlichen Referenten Dr. Wenzier ein, im Hamburger Funkhaus "Öffentlichkeitsarbeit" zu betreiben. Für den Bürobetrieb nicht übermäßig begabt, verfiel der junge Mann hier auf eine "Kinderluftbrücke", die Kinder aus den sozial verwahrlosenden Berliner Flüchtlingslagern nach Westdeutschland bringen sollte. Amerikanische Luftwaffengeneräle, im Wiesbadener Hauptquartier mit der von Wyden erlernten Unbekümmertheit bedrängt, stellten schließlich, versicherungsmäßig nicht ganz legal, die kostenlosen Militärmaschinen, der Sender gestattete eine kühn improvisierte Abendsendung mit Zarah Leander, Caterina Valente, Quizmaster Kulenkampff und einer schottischen Dudelsackkapelle, die von den Programmredakteuren zwar nur mühsam in das normale Sendeschema gezwängt wurde, aber genügend Mittel brachte.

Nach der Teilung des NWDR in Norddeutschen und Westdeutschen Rundfunk 1955 erschien Peter Boenisch zum erstenmal bei Axel Springer. In der Bild-Redaktion erinnerte man sich später an einen freundlichen jungen Mann, der Zuckerstückchen verteilte und Sekt ausschenkte, vom Redaktionspatriarchen Michael aber wenig freundlich aufgenommen wurde. Zu einer festen Anstellung kam es jedoch noch nicht; der Verleger fand ihn, entnimmt man einer Journalistenkorrespondenz, noch "zu jung und zu impulsiv".

Massenblattgenies sind Stereotypengenies. Peter Boenischs Stereotypenrepertoire ist reichhaltig und rasch in Schlagworte umgemünzt, die in Berlinismen brillieren, von der "Bild-ist-ein-Volksblatt"-These über die "Politik der radikalen Mitte" bis zur "Partei des gesunden Menschenverstandes". Seine Virtuosität bestehe darin, daß er die Schlagworte in seinem Kopf ohne Zeitverlust in Schlagzeilen umsetzen könne, spöttelte ein Chefredakteurskollege von der linken Konkurrenz einmal. Trägt man jedoch die zwei, drei Schichten von Geläufigkeit und Routine ab, kommt ein bemerkenswert gut funktionierender Verstand darunter zutage, dem man im politischen Geschäft einiges zutrauen würde: sicher in der Beurteilung von Personen und Konstellationen, unängstlich, immun gegen Ideologie und subalterne Taktik, nicht identisch mit seinem Job, in der Lage, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen. Der unideologische Pragmatismus ist zweifellos auch ein Produkt seines Jahrgangs, dem die Folgen von Staatsvergottung und selbsterfundenen Mythen zum ersten bewußten Schicksal wurde. Boenisch, geboren 1927, teilt es zeittypisch: Flakhelfer, Soldat in einem Luftnachrichtenregiment, Fallschirmjäger des letzten Aufgebots, als man an die Ostfront schon mit der S-Bahn fahren konnte.

Wo der pragmatische Verstand nicht kontemplativ wird, wird er allerdings anfällig für den Erfolg. Hier liegt vermutlich die Hauptversuchung für den intelligenten, in gewissen Grenzen furchtlosen Journalisten, dem leichter Erfolg rasch zuflog: die große Stereotypenmaschine gelegentlich zu leichthändig zu handhaben, sich zu rasch zu arrangieren. Kaum oder nur aus der Hausräson und persönlichen Animosität war etwa das Lavieren der Bild-Zeitung in der Spiegel-Krise zu verstehen. Sein unideologischer Verstand hätte dem Chefredakteur sagen müssen, wie gefährlich mindestens die neue Mythologisierung des Wortes "Verrat" war, gefährlich auch für das Funktionieren einer demokratischen Presse jenseits der Tagesfehden. In dem ausgeprägten Sinn für Macht, der Neigung, persönlich auf sie zu reagieren, liegt offenbar auch die Affinität zu einem anderen intelligenten Pragmatiker, dem die persönlichen Vorlieben und Animositäten die Mittel gelegentlich unbedenklich machen, zu Franz Josef Strauß, der den jungen Revue-Chefredakteur als Verteidigungsminister nach einem Angriff auf seine Person und Politik nicht verärgert abgekanzelt, sondern in kluger Praxis zum Essen eingeladen und ihm seine Politik erläutert hatte. Die Begegnung begründete eine dauerhafte Beziehung, die für Franz Josef Strauß gewiß interessant war und später, vom Spiegel etwas voreilig provoziert, zu einer Duzfreundschaft wurde.

Der neue Bild-Chef, laut Impressum seit 12. Februar 1962 in der Kornmandozentrale, tatsächlich aber schon einige Wochen früher, führte den Hagenschen Feldzug zunächst weiter und eröffnete noch einen zweiten auf einem innenpolitischen Kriegsschauplatz, der dem Verleger um diese Zeit wichtig wurde, auf dem Felde der Fernsehpolitik. Das Verhältnis zwischen Human-interest-Teil und politischen Zwecken wurde jedoch sogleich drastisch geändert: im Januar 1962 waren von 26 Hauptaufmachern nur noch 2 politisch, im Februar keiner, im März 7 – Ergebnis der Konzern-Kampagne gegen Botschafter Kroll, die aber in der Welt ihren Ausgang nahm –, im April 4, im Mai 1, im Juni 3 und so fort. Zu einer Massierung kam es noch einmal in der Zeitspanne, die von der zweiten kleinen Berlinkrise über die Kubakrise bis zur Spiegel-Krise reicht; in 57 aufeinanderfolgenden Nummern findet man hier 43 politische Hauptaufmacher. Der Feldzug gegen die Mauer, in der Reihenfolge der Bild-Feldzüge der dritte, fand seinen Höhepunkt im August 1962 nach der Erschießung des Ostberliner Bauarbeiters Peter Fechter und damit auch schon sein abruptes Ende: nach Schlagzeilen wie "Berlin marschiert gegen die Mauer" (14. August 1962), "Steinhagel gegen die Sowjets" (20. August 1962) und "Berlin-Krise wird heiß" (25. August 1962) schlug der Zeitung nun auch von westlicher Seite scharfer Protest entgegen. "Es ist jetzt in Berlin so weit gekommen, wie ehedem, als die Nazi-Krawalle auf Befehl und unter Mitwirkung eines gewissen Goebbels in Szene gesetzt worden sind", schrieb die ehemalige Berliner Bürgermeisterin und Alterspräsidentin des Bundestags Marie Elisabeth Lüders am 25. August 1962 im Tagesspiegel mit empörter Heftigkeit, nachdem Jugendlichen-Zusammenrottungen an der Mauer außer Kontrolle geraten waren. Es sei wohl kein Zufall, daß immer die gleichen, organisatorisch eng miteinander verbundenen Zeitungen unbesonnene Jugendliche zu Handlungen aufreizten, "die mit Sicherheit zum Bürgerkrieg und Schlimmerem führen müssen". Der New Statesman ließ sich vernehmen, man solle "einer Horde randalierender Berliner nicht gestatten, den Westen in den Abgrund eines Krieges zu ziehen", und im amerikanischen Senat wurde Präsident Kennedy aufgefordert, den Führern der Bundesrepublik die Situation "kristallklar zu erläutern". Die Agitation wurde danach gemäßigter, nicht mehr in Form von Feldzügen geführt; möglicherweise hing der neue Kurs auch mit einer besseren Abstimmung der Konzernführung mit dem Berliner Senat zusammen, für die Axel Springer den ehemaligen Leiter des Berliner Ministerbüros des Ministeriums für Gesamtdeutsche Fragen, Dr. Rolf May, engagiert hatte.

Der Fernsehfeldzug wurde dagegen zum Musterbeispiel ad hoc geschaffener Öffentlichkeit. Man wird kaum annehmen können, daß der eigentliche Kern von Axel Springers Forderung, ein privates Fernsehen auf der Grundlage von lukrativer Werbung plus gängiger Unterhaltung plus verstärkter Wiedervereinigungspropaganda, die Masse der Fernseher ernstlich interessiert oder gar zu spontaner Aktion angeregt hätte: keine der Organisationen und Kommunikationsapparate, die Massenstimmungen sonst registrieren, fing ein solches "Volksbegehren" auf. Der in den tieferen Schichten des sozialen Ressentiments latent vorhandene Unmut gegen "die da oben", der unartikulierte Ärger gegen diese oder jene Sendung ließ sich jedoch, wie die Kampagne zeigte, mit einem Masseninstrument wie Bild leicht in eine Akklamation für die Ziele des Verlegers umleiten und zu einer Art Plebiszit verdichten. Suggestive Fragestellungen und Kommentaruntermalungen öffneten die Schleusen des Volkszorns: "Schämt Euch!", "Der größte Käse", "Man müßte das Fernsehen wegen Betrugs verklagen", "... selbst unser Hund lief aus dem Zimmer und erschien erst, als die Sendung vorüber war", "Lassen Sie nicht nach in Ihrem Kampf gegen die Fernsehdiktatur", "Bild soll das Sprachrohr enttäuschter Fernseher werden", "Wenn der Pfarrer Heß und andere sogenannte Programmgestalter meinen, sie brauchen auf die Massen keine Rücksicht zu nehmen, dann sind sie für die sogenannten Massen untragbar", lauteten Kostproben dieses Leserbrief-Plebiszits, das am 23. September 1963 in der Schlagzeile auf Seite 1 gipfelte: "Deutsche sind fernsehmüde". Darunter war eine großzügige Interpretation einer Infratest-Untersuchung über die Zuschauerhäufigkeit bei verschiedenen Sendungen abgedruckt, die völlig normale Zahlen ergeben hatte. Neben den drei erkennbaren Phasen des Fernsehfeldzugs – es wäre interessant, ihre Koordinierung mit den anderen fernsehpolitischen Aktivitäten des Verlegers zu untersuchen, die kurz vor Eröffnung der Bild-Kampagne im März 1963 ihrem ersten Höhepunkt zusteuerten – focht die Zeitung noch eine Privatfehde mit dem Panorama-Chef Gert v. Paczensky aus, der Bild in einer Fernsehsendung nicht sonderlich sanft, aber wirkungsvoll angegriffen hatte. Sein wohlgestutzter Kinnbart erlaubte die Vermischung der Aggressionen: "Der Spitzbart muß weg", hieß es im Leserjargon in Anspielung auf Ulbricht, Beispiel jener nur allmählich schwindenden gedankenlosen Assoziationstechnik, die in diesem Falle "intellektuell" mit "kommunistisch" assoziierte. Die Ad-hoc-Plebiszite verpufften jedoch. Sie beruhten auf der gleichen Verkennung der Entscheidungsmechanismen in einer pluralistischen Massendemokratie, die Axel Springer später noch so häufig unterlief.

Für den neuen Bild-Chefredakteur war die Vergeblichkeit eine Lehre, die Verhältnismäßigkeit der Mittel zum Zweck in der Führung eines Massenblattes noch schärfer zu erkennen. Die Zeitung als politisches Führungsmittel – die Massen im Sinne der Herrschenden zu leiten und die Herrschenden mit dem Hebel der Masse im Sinne der eigenen Ziele zu beeinflussen, wie Hagen es aufgefaßt hatte – sah er ohnehin skeptischer. Sein Konzept war von Anfang an "demoskopischer": man könne sich den großen Trends wohl anpassen und sie verstärken, nicht aber sie "umdrehen" oder verursachen. Eine Massenblatt-Leserschaft, pluralistisch wie die Gesellschaft, die sie en miniature spiegele, lasse sich wohl flüchtig auf Orientierungspunkte hin leiten, nicht aber "erziehen". Der Konsumcharakter bleibe dominierend – "heute rein, morgen raus" –, andererseits dürfe eine Zeitung den Massenemotionen auch nicht bloß nachlaufen, sondern müsse ihnen immer um eine Nasenlänge voraus bleiben. Steht der Bild-Chefredakteur zu seinen Thesen, dann bedeuten sie im günstigen Falle eine Masseninformationszeitung im Mirror-Stil, die sich der Sorgen des "kleinen Mannes" annimmt und sie in Rächer-der-Enterbten-Kampagnen im Maße ihrer Möglichkeiten umsetzt, jenen "nützlichen" Human-interest-Journalismus eine Handbreit über den Stereotypen, im ungünstigen Falle einen Journalismus der Anpassung an die umlaufenden Stereotypen, kalkuliert nur nach Verkäuflichkeit, eine Zeitung des ständigen Arrangements, die die verhärteten gesellschaftlichen Verhältnisse unter der Scheingebärde großer Worte bloß reproduziert. Man wird sagen können, daß die Bild-Zeitung in den folgenden fünf Jahren zwischen den beiden Möglichkeiten hin und her schwankte und die wohlgesetzte Theorie ihres Chefredakteurs oft besser war als die Praxis, der sie im Handgemenge des täglichen Human-interest-Geschäfts erlag. "Demoskopischer" bedeutete im übrigen auch, daß die Zeitung sich stärker auf den treuesten Teil ihrer Leserschaft einstellte, die Leserinnen. Unter Hagen war die Zeitung zu "männlich" geworden. Boenisch gab ihr sogleich eine "weiblichere" Note: "Jeder zweite Leser ist eine Leserin", mahnte fortan ein Plakat von den Wänden der Redaktion. Die Reste des Neubiedermeier verschwanden nun endgültig, mit ihnen auch Hans im Bild, der schon nach der Mauer anonymen Kurzleitartikeln und eingesandten Leserweisheiten Platz gemacht hatte – "Erfahrene Weisheit ist überzeugender als erlernte", schrieb Leser E. Hermersdörfer aus Neuwied am 13. September 1961 nicht ohne unfreiwilligen Bezug.

Die neue Bild-Theorie, immerhin durchdacht und in Übereinstimmung mit dem Phänomen, brachte auch sogleich Erfolg: die Zeitung geriet wieder in Bewegung, sie machte den zweiten großen Sprung ihrer Geschichte nach vorn. Innerhalb von sechs Monaten stieg die Auflage auf vier Millionen Exemplare, alsbald näherte sie sich der Fünfmillionengrenze, die sie nach der Ermordung Präsident Kennedys am 25. November 1963 zum erstenmal, nach Chruschtschows Sturz im Oktober 1964 zum zweitenmal, nach der Wahl zum Bundestag im September 1965 zum drittenmal, während der Fußballweltmeisterschaft im Juli und August 1966 gleich zwanzigmal überschritt. Nach der Erfahrung in anderen großen Industrieländern wird der Sättigungsgrad zwischen fünf und sechs Millionen liegen. Im Schutze der neuen Erfolgskurve wagte man nun auch, ein bis dahin absolutes Tabu anzugreifen: den Groschenpreis. Taste man ihn an, werde der Erfolgsmythos sogleich zerfallen, lautete ein Vertriebsdogma, obwohl nicht zuletzt der mit der Auflage gewachsene Vertriebsapparat, der perfekteste und modernste des Kontinents, aber auch der teuerste, die Kalkulation in die Enge trieb. Der Glaube an die Zauberkraft der einen Münze trieb so seltsame Blüten wie die lobbyistische Anregung der Bonner Konzern-Vertretung an für das Münzwesen zuständige Ministerialbeamte, den Entwurf eines Fünfzehnpfennigstücks zu erwägen. So kam der Anstoß, die Preiserhöhung zu riskieren, eher vom redaktionellen als vom Verlagsmanagement: der Chefredakteur sah der Expansion des Redaktionsapparates und der Verbesserung des journalistischen Produkts bei so knapper Kalkulation auf die Dauer zu enge Grenzen gesetzt. Er sah das Heil eher in einem erweiterten als einem reduzierten Angebot. Karl Andreas Voss’ Mahnung bei Übernahme des Blattes, nie eine "Komplett-Zeitung" zu versuchen, habe er "nie verstanden". Hinter einer Nebelwand von Dementis vollzog sich die Vorbereitung massierter vertriebspsychologischer und redaktioneller Mittel, um den 6. Oktober 1965, den "schweren, aber auch stolzen Tag für Bild", erfolgreich zu schlagen und einige hundert Grossisten, 68.000 Einzelhändler und 4,5 Miilionen Bild-Käufer auf den neuen Preis umzusteuern. Schwerste Geschütze wurden in dieser bisher kostspieligsten Werbekampagne einer Nachkriegs-Zeitung aufgefahren: riesige Farbplakate in allen Städten, großflächige Anzeigen in fast allen Zeitungen und Illustrierten, Preisausschreiben, eine Flut von Rundschreiben, Anweisungen und Verkaufshilfen für den vertreibenden Handel; über Verlag und Redaktion wurde Urlaubssperre verhängt. Die Redaktion berief sich interessanterweise auf den Spiegel als Autorität, der eine gut informierte indiskrete Vorstory gebracht hatte. "›Eine Preiserhöhung war auf die Dauer kaum vermeidbar.‹ Das schreibt das Nachrichtenmagazin Der Spiegel ...", lautete der Bild-Kommentar, der damit im Zeichen des Neuen Journalismus eine neue Variante der Realitätsverbürgung "Bild sagt, wie es ist" schuf: "Bild sagt, daß der Spiegel sagt, wie es ist." Für die Masse seiner Leser beschwor das Blatt allerdings die alte Gemeinschaftsideologie: "Die Bild-Familie hilft sich selbst." Mit Tausenden von bereitgehaltenen Fünfern werde sie den Bild-Verkäufern "Leben und Arbeit" leichter machen.

Die Einbuße, von der Verlagsleitung mit einigem Angstschweiß erwartet, betrug in den ersten Monaten zwischen 3 und 7,5 Prozent der Auflage, hatte sich nach einem halben Jahr aber bereits wieder ausgependelt. Sie hinderte nicht den bisher absoluten Auflagenrekord am 1. August 1966 bei Rückkehr der deutschen Mannschaft von der Fußballweltmeisterschaft mit 5.316.500 gedruckten Exemplaren. Der "kleine Mann" honorierte auch mit fünfzehn Pfennig, daß er mit der Erfindung dieser Zeitung, nunmehr auf sechs Seiten mindestens, sich selber zum Gegenstand geworden war, schlagzeilen- und fotowürdig wie sonst nur die Prominenten seiner Zeit.

Seitdem fließen neun Pfennig des Verkaufspreises statt sechs an den Verlag zurück. Zusammen mit den wachsenden Anzeigeneinnahmen, zweifellos eine Folge der gehobenen Reputation des Blattes – der Seitenpreis der Bundesausgabe liegt gegenwärtig bei 141.440 DM für den einfarbigen, bei 241.280 DM für den mehrfarbigen Druck, die Belegung pro Nummer bei durchschnittlich fünfundzwanzig Prozent –, bilden sie die ökonomische Basis für eine neue Phase der Zeitung, die sich erst in Umrissen erkennen läßt: journalistisch in Richtung auf eine Verbesserung des Recherchiersystems und ein erweitertes Informationsangebot; drucktechnisch in Richtung auf eine noch schnellere, damit spätere und aktuellere Herstellung und einen noch "bunteren", Lord Thomson würde sagen "künstlerischen" Umbruch; vertriebstechnisch in Richtung auf ein Verteilersystem, das von den Fahrplänen, Wetterlaunen und der altmodischen Armee der Austräger endlich unabhängig macht, auf eine elektronisch übermittelte Zeitung, die bei Herrn Jedermann morgens zwischen Rasieren und Morgenfrühstück auf einer Folie aus dem Fernseh-Zusatzgerät fällt und während des immer längeren Pendelverkehrs zwischen Wohnung und Arbeitsplatz konsumiert werden kann.

Der Redaktionsapparat

Die Steuerung der Mammutmaschine mit damals 130 Redakteuren, 10 Außenredaktionen und 8 Außendruckorten, knirschend am Anfang durch zu häufigen Führungswechsel und starke Personalfluktuation, sei ihm zunächst nicht leichtgefallen, sagt Peter Boenisch. Heute ist der Redaktionsapparat mit seinen inzwischen 195 Redakteuren, 1000 "Stringern", den Zuträgern und Amateurreportern – Lehrern, Behördenangestellten, Pensionären, Hausfrauen –, seinem erweiterten Auslandsnetz und den komplizierten Bildfunk- und Nachrichtenverbindungen ein beängstigend gut geöltes Instrument, das fast von allein zu laufen scheint. Täglich um 12.30 Uhr, eher eine halbe Minute später, nimmt der Dirigent an der Schmalseite des großen Konferenztisches hinter der Tastatur der Wechselsprechanlage Platz, die zu diesem Zeitpunkt die Außenredaktionen mit der Zentrale verbindet. Im Raum ist ein Orchester von vierzig Redakteuren und Redakteurinnen versammelt, stellvertretende Chefs, Ressortleiter, Seitenredakteure, Layouter, Haupt- und Hilfskräfte und der Karikaturist Karl-Heinz Schoenfeld, der schon während der Diskussion zu malen beginnt, was ihm malenswert erscheint. Am 9. März 1966 haben die Ressortchefs aus dem einfließenden Strom selbstrecherchierter und Agenturmeldungen als Angebot vorsortiert: die Nachrichtenredaktion 15 Stoffe aus dem Inland und 1 aus dem Ausland, die Allgemeine Redaktion 5, die Politik 4 – schon in der Vorauswahl spiegelt sich das Verhältnis zwischen human interest und "gewöhnlicher" Politik. Der Nachrichtenredakteur, wie ein Protokollant seitlich zum Tribunal der Chefs sitzend, trägt die Stoffe vor; auch die anderen Ressortleiter bemühen sich, ihre Vorschläge extemporierend interessant zu machen. Der Chefredakteur hört wie der Vorsitzende eines Gerichts zu, stellt Zwischenfragen. Der Hauptaufmacher wird an diesem Tag jedoch keinem der vorsortierten Stoffe, sondern einstimmig einer später eingetroffenen Extrameldung von der Hochzeit der holländischen Thronfolgerin Beatrix zuerkannt: ein frackverkleideter Bild-Reporter hat sich in die exklusive Polterabendgesellschaft eingeschlichen und war erst von der Prinzessin im Vorbeitanzen als falscher Gast erkannt worden. Das Ereignis wird belacht, der Reporter offiziell vermahnt, inoffiziell belobigt – "besser, man sieht sich eine Sache selber an, als daß man sie aus den Fingern saugt" –, zur Entschuldigung wird ihm eine Orchidee und ein handgeschriebener Brief an die Prinzessin verordnet. Schlagzeile: "Beatrix entlarvte ›Spion‹ im Frack."

Die übrigen Aufmacher werden nach talking point und Zeilenzahl zäh, aber mit routinierter Schnelligkeit ausgehandelt; die Anzeigenbelegung hat die Verlagsleitung schon vorher durchgegeben: Seite eins 210 Zeilen, Anzeigenbelegung 30 Prozent; Seite zwei 300 Zeilen, Anzeigenbelegung 28 Prozent; Seite drei 320 Zeilen, Anzeigenbelegung 11 Prozent; Seite sechs 350 Zeilen, Anzeigenbelegung 12 Prozent. Die übrigen Seiten sind sogenanntes Vorprodukt, Serien, Mode, Horoskop, Rätsel, Sport, der als einziges Ressort voraussehbar disponieren kann. Durch Tastendruck wird der Consensus mit den Außenredaktionen hergestellt. Der Chefredakteur läßt den Block mit seiner raschen Aufzeichnung liegen und zieht sich in der nächsten Stunde zum Essen in die "Vier Jahreszeiten" oder zu "Ehmke" zurück. Seinen Platz nimmt der Chef vom Dienst ein, der nun die Produktion der Zeitung leitet, zu der jetzt am gleichen Tisch die Seitenredakteure und Layouter aufziehen, bewaffnet mit Rasterblättern und Pappbuchstaben: das Puzzlespiel des dynamischen Umbruchs beginnt, beherrscht vom Diktat des Uhrzeigers und der Furcht, daß eine wichtige Nachschubmeldung das Ausgetüftelte wieder zunichte macht. Die Redakteure sind in ihre Zimmer zurückgekehrt, schmale, enge Zellen mit grünen Türen, um die Texte auf die verordnete Zeilenzahl und die beschlossene Schlagzeile hin umzuschreiben. Der Chef vom Dienst, die rücklaufenden Manuskripte mit der rechten Hand redigierend und zur Auszählung und Auszeichnung an die Seitenredakteure weiterreichend, lenkt unterdessen mit der linken Hand den Nachrichtenstrom, der von hinten aus der gläsernen Box der Nachrichtenredaktion unablässig über seinen Tisch weiterfließt: die blauen, gelben, roten, grünen und braunen Fernschreiben der Deutschen Presseagentur, der Associated Press, United Press International und des Springer-Auslandsdienstes, gut hundertfünfzig weitere Meldungen an einem Nachmittag, dazu die Nachlieferungen der eigenen Außenredaktionen. Der durch Funk aufgenommene Bilderstrom endet an der gläsernen Wand links, wo die eingetroffenen Fotos zur Betrachtung und Verwendung laufend mit Tesafilm angeheftet werden; in einem anderen Raum wird der Polizeifunk abgehört. Was noch eingeschleust werden soll, muß rasch und bei vorrückendem Uhrzeiger in genauem Blick auf das schon verfestigte Puzzle entschieden werden, dessen Ergebnis, der jeden Tag neue, einzigartige Umbruch, ab 17 Uhr seitenweise photostatiert und an die acht Außendruckorte gefunkt wird. Gleichzeitig tickt und hämmert das Tele-Type-Setting-System den Satz auf elektronischem Wege in die acht Winde hinaus. Der Chef der Politik Klaus Blume, ein kleiner, rundlicher Mann, würdig und gemessen, will ab 14.50 Uhr noch 25 Zeilen über die Schwächung der NATO durch General de Gaulle auf Seite 1 unterbringen. Er bedient sich des Mittels beharrlicher persönlicher Diplomatie wie der Vertreter einer seriösen Versicherungsfirma und hätte beim Chef vom Dienst auch fast Erfolg gehabt, wenn dem Chefredakteur nach dem Essen nicht noch der Genfer Automobilsalon und die Notwendigkeit einer schnittigen Karosserie im Schaufenster von Seite 1 eingefallen wäre; de Gaulles NATO-Vorstellungen, so sein Diktum, "überraschen doch keinen mehr". Sie rutschen einzeilig auf die letzte Seite, vorn prangt nun ein Ford 20-M-TS-Coupé zum Schätzpreis von 20.000 DM, kein Volksauto gewiß, aber ein Traumvehikel, das die Phantasie einiger Hunderttausend junger Leser beflügeln wird.

"Nachrichtenbörse", "Verkaufsschlacht" hat Günter Gaus den Vorgang des harten Aushandelns der Stoffe und Plazierungen in einer instruktiven Studie über die Bild-Technik genannt. Am höchsten werden Human-interest-Werte gehandelt, rigoros und selektiv; Kurspflege und Stützungsaktionen gibt es nur für einige wenige Spezialwerte, die dem Chefredakteur oder, sehr viel weniger in den letzten Jahren, dem Verleger am Herzen liegen: contra Anerkennung der DDR, contra Verteidigungsminister von Hassel, solange er im Amt war, contra Todesstrafe, für de Gaulle, für Große Koalition, für Franz Josef Strauß usf. Zwei Dinge zeichnen den konsequenten Verkaufsjournalismus jedoch aus:

1.   Die "Eindringtiefe" der selbstrecherchierten Meldungen ist größer als bei dem Material der Agenturen, das zwar quantitativ überlegen ist, aber nur die Oberfläche der Ereignisse abtastet; die Human-interest-Meldungen sind tatsächlich "interessanter", sie könnten darum auch gesellschaftlich relevanter sein, selbst in den Alltagsfällen von Sex und Crime.

2.   Der Zwang zur Verknappung und Verkürzung, von Gaus als Hilflosigkeit vor der Technik interpretiert, hat mindestens einen Vorzug: er schafft einen Informationsstil, der Detailbesessenheit mit schnel1er, genauer Faktenerfassung und Komprimiertheit verbindet und Abschied von einem falschen Feuilletonismus nimmt, der souveränen Überblick und Bildungszusammenhänge vorspiegelt, wo keine mehr sind.

Insofern ist der Bild-Journalismus eine moderne Gruppenleistung wie der Spiegel-Journalismus, die Schule machen wird, weil ihr informationstechnischer Ansatz besser ist. Die Versuchung liegt in der Verarbeitung zwischen Roh- und Fertigfabrikat. Sie ist allerdings ebenfalls mehr ein Gruppenprodukt als Ergebnis gesteuerter Manipulation: die vielkritisierten Schlagzeilen und Gags entstehen meist schon auf der Redakteursebene, in einer Art Sportsgeist. Die Führungskunst besteht darin, ihn wohl zu ermuntern, aber gleichzeitig zu kanalisieren. Von den in der Hauptkonferenz angebotenen Vorfabrikaten, schon auf talking point und mögliche Schlagzeile, aber sachlich abgefaßt, lauten am 9. März 1965 etwa drei von einundzwanzig:

Frankfurt: Der Maurer Paul Köhler hat sich an einem Apfelbaum in seinem Garten erhängt. Die Vorgeschichte: Köhlers Frau war durchgebrannt und hatte ihn mit seinen vier Kindern im Alter bis 13 Jahren sitzenlassen. Der Mann gab die Kinder in ein Mainzer Waisenhaus und holte sie an jedem Wochenende nach Hause. Das Heim kostete aber sehr viel Geld. Fast sein ganzer Lohn ging dabei drauf. Er machte Mietschulden. Jetzt kamen nach einem entsprechenden Gerichtsbeschluß ein paar kräftige Möbelpacker und setzten die ganzen Möbel auf die Straße. Das Haus gehörte der Stadt. Aber entgegen den Vorschriften besorgte ihm die Stadt Mainz keine andere Unterkunft. Dann nahm der verzweifelte Maurer einen Strick und erhängte sich.

München: In Füssen wird eine tollwütige Fliege gesucht! Zwei Bauarbeiter sahen einen toten Fuchs, auf dem eine Fliege saß. Als sie näherkamen, flog die Fliege einem von ihnen ins Auge. Der bekam fürchterliche Angst, ließ sich sofort in eine Klinik fahren und wurde dort auch mit Spritzen gegen Tollwut behandelt. Die Fliege schwirrt weiterhin durch den blauen Äther des Allgäus.

Zu einem "Zwischenfall" ist es am Kontrollpunkt Marienborn gekommen. Ein Lastwagen, der Möbel von Berlin nach Helmstedt bringen sollte, fuhr vorschriftsmäßig an die Zollrampe. Ein Zöllner inspizierte Anhänger und Lastwagen. Plötzlich gab es grünes Licht, die Schranke ging hoch und alles schien okay. Der Lastwagen fuhr an. Plötzlich eine wilde Schießerei im Anhänger. Alarmstufe 1 am Kontrollpunkt. Aufgeregt wird der Lastwagen angehalten. Es stellt sich heraus: Der Zonenzöllner war irrtümlich im Anhänger geblieben. Als der Lastwagen anfuhr, versuchte er, sich mit den Schüssen bemerkbar zu machen. Die beiden Fahrer wurden eine Nacht lang festgehalten.

Der erhängte Maurer im Apfelbaum und die tollwütige Fliege müssen am 9. März 1966 im Laufe des Nachmittags den Meldungen "Keine ›Vorfahrt‹ mehr für Fußgänger? – Zebrastreifen-Recht in Gefahr" und "Der UG-Skandal – Leitende Beamte müssen gehen!" weichen, weil Chef vom Dienst und Chefredakteur sie für wichtiger, vom Human-interest-Standpunkt aus für ebenso interessant halten. Die Story "Schüsse aus dem Lkw-Anhänger" beginnt der verarbeitende Redakteur mit den Sätzen: "›Wir sahen uns schon irgendwo in einem Zonen-Gefängnis verschwinden!‹ Die beiden Berliner Lastwagenfahrer Gerhard B. (43) und Alfred T. (34) atmen auf. Sie haben zwölf Stunden verschärfte Verhöre durch Zonen-Behörden hinter sich." Auf seinem stündlichen Rundgang dem Seitenredakteur über die Schulter blickend, mildert der Chefredakteur in diesem Falle: "verschärft" wecke falsche Vorstellungen, "die mußten eben die Nacht dableiben". Es heißt also: "Sie haben zwölf Stunden Verhöre hinter sich." Die Aufmerksamkeit, mit der Chef vom Dienst, Seitenredakteur und zufällig Umstehende dem Vorgang folgen, zeigt, wie beträchtlich der indirekte Einfluß des Chefredakteurs ist. Man orientiert sich an ihm, er bestimmt das Klima, ohne daß Weisungen nötig sind: ebensogut hätte er verschärfen und anders akzentuieren können. Das Endprodukt lautet in diesem Falle der Mäßigung:

Schüsse aus dem Lkw-Anhänger
Zonen-Zöllner aus Versehen eingeschlossen

"Wir sahen uns schon irgendwo in einem Zonen-Gefängnis verschwinden!" Die beiden Berliner Lastwagenfahrer Gerhard Braunholz (43) und Alfred Treptow (34) atmen auf. Sie haben zwölf Stunden Verhöre durch Zonen-Behörden hinter sich. Grund: Die Zonen-Behörden bezichtigten sie des Menschenraubs! Weil sie versehentlich einen Zöllner in ihrem Lastwagen eingesperrt hatten!

Am Dienstagabend starteten die beiden Kraftfahrer mit ihrem Lastzug von Berlin nach Helmstedt. Die Papiere waren in Ordnung. Ihre Fracht: Möbel und Hausrat. Am Zonen-Kontrollpunkt warteten sie auf ihre Abfertigung. Gerhard Braunholz zu Bild: "Ich sah, wie der Zonen-Zöllner den Anhänger verließ und auf die Rampe ging. Meine Papiere hatte ich schon. Da schloß ich die Türen, und startete. Die Kontrollampel zeigte ›grün‹ und die Schranke war hoch!"
Der Lastzug hatte sich kaum in Bewegung gesetzt, da knallten Schüsse aus dem Anhänger. Braunholz: "Ich trat sofort auf die Bremse. Es gab Großalarm. Die Schranke schloß sich. Wir waren von Soldaten umzingelt."

Als die beiden Kraftfahrer die Ladeluken öffneten, starrten sie in den Lauf einer Pistole. Es war der Zöllner. Offensichtlich war er noch einmal in den Wagen zurückgegangen, ohne daß es die Lkw-Fahrer bemerkt hatten. Braunholz: "Er schrie uns an: ›Ihr wolltet mich verschleppen. Das hättet ihr aber nicht geschafft. Meine Kugeln hätten eure Körper durchbohrt!‹"

Braunholz und Treptow wurden in den Wachraum geführt. In Abständen von zwei Stunden wurden sie die ganze Nacht hindurch verhört. Erst gegen Morgen ließ man sie endlich frei.

Der Vorgang der redaktionellen Herstellung hat etwas Maschinelles, Fließbandartiges an sich. "Gebt acht auf die Uhrzeit!" mahnen die überall ausgehängten Zeittafeln, die für Seite eins etwa auf die Minute vorschreiben: "Layout vom Produktionstisch: 17.00. Erstes Manuskript ab: 16.10. Letztes Negativ und Positiv Strich in die Chemigraphie: 17.10. Letztes Auto. vom Produktionstisch zum Funker: 17.25. Letzte Meldung bis 30 Zeilen: 18.25. Umbruchschluß: 18.55. Prägezeit: 19.10." Kommt es in einer Herstellungsphase zu Verzögerungen, stauen sich die Seiten in der Endphase; der Zeitverlust potenziert sich. "Wie liegen wir?" ist der Hauptschlachtruf, der durch Redaktion und Umbruchsaal schallt.

Der Journalistentyp, der sich von dieser Präzisionsarbeit in strenger Gruppendisziplin angezogen fühlt und den Hosenträgerjournalisten mit Butterstulle und Thermosflasche abgelöst hat, ist jung und kommt meist von den kleineren Lokalzeitungen in der Provinz, nicht selten von kleinen SPD-Zeitungen. Er genießt einen doppelten Vorteil: eine komprimierte Schule in modernem Journalismus und einen beachtlichen Gehaltssprung, den keine normale Zeitungskarriere bieten kann. Jeder partizipiert, hierarchisch gestuft, am Erfolg des großen Apparats, die jüngeren Redakteure mit monatlich 1500 bis 1800 DM, Ressortleiter mit 2500 bis 3000 DM. Welchen Anteil der Chefredakteur davonträgt, läßt sich nur schätzen: mit Prämien, Tantiemen und Aufwandsentschädigungen aller Art wird sein Jahreseinkommen nicht unter 200.000 DM liegen. Die Gefahren solcher Erfolgsverwöhnung liegen auf der Hand: ein starker Konformitätsdruck innerhalb der Gruppe, aus der man ohne empfindliche Einbuße an Lebensstandard nicht mehr ausbrechen kann, das Abschleifen organisationsinterner Kritik zugunsten des reibungslosen technischen Ablaufs, der Glaube an den Apparat: Journalismus als Produktionsweise, deren Endzweck der maximale kommerzielle Erfolg ist.

Politisch unheimlich wird der Bild-Erfolg jedoch erst durch seine Konkurrenzlosigkeit. Günther Gaus sieht sie quasi-ideologisch, als Resultat des redaktionellen Rezepts "Bild gleich Bundesrepublik". Der Bild-Mythos hat sich jedoch längst in einer Apparatstruktur verfestigt, die ihm heute eine unangreifbare ökonomische Basis verschafft. Gegen sie anzukonkurrieren wäre kaum aussichtsreich, erforderte eine riesige Investition, die keiner der Zwerge neben dem Riesen aufbringen könnte. Neben den perfekten Redaktionsapparat tritt der perfekte, marktbeherrschende Vertriebsapparat.

Der Vertriebsapparat

Beruhte die redaktionelle Herstellung auf dem einfachen Gedanken, Nachrichten im Dutzend billiger und durch Senkung der Verständnisschwelle den Massen zugänglich zu machen, so beruhte der Vertrieb auf einem ebenso einfachen Gedanken: man mußte die Produkte dorthin tragen, wo Massen fluktuieren. Das konventionelle Vertriebssystem reichte dazu nicht aus, nach der klugen Regel des Hauses baute man es aber ein, sobald der Markt kostspielig erschlossen und der Erfolg bewiesen war. Erich Kuby hat die weiß-uniformierten Sonderhändler, die Anfang der fünfziger Jahre an allen Punkten von Massen- und Verkehrsstauungen auftauchten, in seinem Buch Das ist des Deutschen Vaterland lyrisch beschrieben: als Sanitäter, die seelische Erste Hilfe suggerieren, als ersehnte Botschafter des Unpolitischen, als Trostspender in einem Augenblick der größten Ausgesetztheit im Chaos des Verkehrs. Beobachtet man den Konsum ähnlicher Produkte ohne seelsorgerische Ambition, etwa der Hamburger Morgenpost oder des Kölner Expreß, so erscheint allerdings die Beschreibung des Bild-Kritikers Paul Sarkandt realistischer, der das Blatt mehr als Stimulans wie die Morgenzigarette sieht: "Könnte man bloß das Rauchen lassen. Was für ein Quatsch ist heute wieder los?" Auch ist das Blatt längst zum selbstverständlichen Konsumartikel geworden, der neben Suppenwürfeln, Tempotaschentüchern und Seife seinen Weg in die Einkaufstasche findet; aus der Kunststoff-Polsterklasse dringt er in die Samt-Polsterklasse der Fern- und TEE-Züge vor: zählt man in einem mäßig besetzten 2.-Klasse-Wagen 15 Exemplare, so in einem 1.-Klasse-Wagen heute schon 3 bis 4.

Vier Marschsäulen sind erkennbar, die der Vertrieb, der perfekteste Generalstab des Konzerns, nebeneinander und nacheinander unter dem Feuerschutz kräftiger Werbekanonaden in der gesamten Bundesrepublik ansetzte. Die erste, aus drei mobilen Propagandaeinheiten bestehend, erschloß die Straßenverkaufsplätze der Groß- und Mittelstädte – Bahnhofsvorplätze, Ampelkreuzungen, Omnibushaltestellen, Fabriktore –, zunächst in eigener Regie, verkaufte auch selber, bis das Terrain ausreichend sondiert war, und machte dann "einen Mann auf", den Sonderhändler, der heute als eigene Truppe geführt wird, eine knappe Brigade, die von der Hamburger Zentrale eingekleidet, instruiert, mit Geschenken furagiert und, wenn nötig, auch getadelt wird. Die zweite Marschsäule, ebenfalls fahrbar, überzog die Kleinstädte und Dörfer ab 300 Einwohnern. Sie führte das Bild- und Hör-zu-Angebot in die Tabak-, Schreib- und Gemischtwarenläden ein. Solange der Umsatz die Vertriebskosten nicht deckte, belieferte der Verlag diese neuen Stützpunkte direkt, rechnete aber die Erlöse großzügig über den gebietszuständigen Großhändler ab. Ließ sich das "Schmierbladerl", wie das "Volksblatt mit dem heißen Herzen" im Volksmund bayrisch-katholischer Bauern heute noch häufig heißt, nicht halten, so blieb wenigstens der einträgliche Gebrauchsartikel Hör zu. Die Kampagne auf dem flachen Lande hatte die nachhaltigsten Folgen. Sie erschloß praktisch einen völlig neuen Markt, von dem heute auch die Konkurrenzverleger profitieren. Die beiden anderen Marschsäulen sind konventioneller Art: die dritte sorgt für den kurzgeschlossenen Kontakt zu den Bahnhofsbuchhandlungen, die vom Verlag direkt beschickt und beraten werden, die vierte dient als Hilfs- und Lehrtruppe der Grossisten, ihre Verkaufsberater besuchen die Einzelhändler und sorgen für den bevorzugten Platz am Kiosk.

Das Resultat dieses nach Ausdehnung, Dauer und eingesetzten Mitteln in der deutschen Pressegeschichte beispiellosen Feldzuges sind heute 68.000 Bild-Einzelverkaufsstellen im Gebiet der Bundesrepublik. 4,5 Millionen Bürger gleich 9 Prozent der Gesamtbevölkerung kaufen das Blatt täglich, 14,5 Millionen gleich 34 Prozent lesen es, 41 Millionen gleich 98 Prozent kennen es – die Bekanntheit des Markenartikels Bild wird nur noch von einem anderen Statussymbol des deutschen Wirtschaftswunders übertroffen, dem Volkswagen. Bereits Mercedes-Stern und Sarotti-Mohr bleiben als Markenzeichen mit 85 bzw. 69 Prozent spürbar dahinter zurück. Auf ein ähnliches Image wie die Volkswagen-Marke scheinen die ehrgeizigen Marktstrategen mit der stereotypen Kombination von "Volksblatt" und "Markenartikel" offenbar auch hinzuarbeiten. Die Zeitung, Medium der Markenpropaganda, wird selber zur Marke: Bild-Öffentlichkeit ist Markenöffentlichkeit, sie hat einen höheren Genuß-, Gebrauchs- und folglich auch Werbewert als Nichtmarkenöffentlichkeit. Der nächste Schritt im Zeichen des totalen Verkaufs – längst getan – ist die Markenwahrheit: Bild-Wahrheit ist die gebrauchsfähigere, strapazierfähigere Wahrheit, der Leser, dessen Realitätsverbürgung ohnehin schon zur Hälfte aus Markenverbürgung besteht, kann sie getrost nach Hause tragen, so wie der Spiegel-Leser die Spiegel-Wahrheit nach Hause trägt. Hier, in der genauen Entsprechung zu den Gesetzen der Konsumgesellschaft, weniger im Gleichklang der Seelen, liegt heute vermutlich das Geheimnis des Phänomens Bild.

Bild-Vertrieb und Werbung sind heute superlativisch. Gestützt auf eine Fülle von quantitativen und qualitativen Leserschaftsanalysen, wie sie bisher für keine einzelne Zeitung in Deutschland aufgeboten wurden, bearbeiten sie den vertreibenden Handel mit einer Mischung von großzügiger Hilfe und hartem Druck. Die Werbeabteilung kann man wohl die einfallsreichste, witzigste und tüchtigste nennen, die sich in deutschen Zeitungshäusern finden läßt. Sie sekundiert der Verkaufsfront mit massiven Werbekampagnen und ausgesuchten Werbekünsten, die den Ton des Mannes auf der Straße vorzüglich treffen. Der Vertrieb, die Rückendeckung der eigenen Erfolgszahlen und anderen umsatzstarken Objekte des Konzerns hinter sich, hält Grossisten und Einzelhändler in Trab und steuert in Bild-dichten Gebieten einen harten Remissionskurs bis dicht an die 5-Prozent-Grenze. In Bild-unterentwickelten, vor allem süddeutschen, ländlich-katholischen Gebieten, nimmt er zwischen 10 und 12 Prozent der Exemplare zurück, aber nur so lange, bis der Markt erobert ist. Eine Spezialleistung des Bild-Verlagsapparates war die Improvisation des Bild-am-Sonntag-Vertriebs, der mit zusammengestoppelten, zeitungsunkundigen Hilfstruppen buchstäblich aus dem Boden gestampft werden mußte. Heute verkaufen die zum Offenhalten ermunterten Kioske und die Armee der Feiertagsausträger am früher zeitungstoten Sonntag 2,6 Millionen Exemplare des Wochenendpendants zu Bild, das unter der Chefredaktion von Hans Bluhm seinen ersten spektakulären Aufstieg nahm und sich unter Peter Boenisch zu einer Art Spiegel fürs Volk entwickelt hat, den es schon am Sonntag gibt, dazu mit viel gutem Sport.

War das Hamburger Abendblatt die Schule des auf Gemüt gestimmten Human-interest-Vertriebs der Gründerjahre, so ist Bild zur fortgeschrittenen Schule der Efficiency geworden. Die hier Aufgestiegenen haben gute Chancen, zur nächsten Führungsschicht des Konzerns zu werden. Von den Herzögen, den Direktoren mit eigenen Häusern, entstammen ihr bereits zwei: Rolf von Bargen und Peter Tamm, dem mit der Ernennung zum mitvertretungsberechtigten Geschäftsführer der Holding Axel Springer Verlag GmbH der zweite Platz neben dem Generalbevollmächtigten Kracht zufiel.

Wirkungen – Die Kritiker

Heftig und wirkungslos war die Kritik, die den Erfolg von Bild von Anfang an begleitete. Die täglich ad oculos demonstrierte, scheinbar ungeheuerliche Niveaulosigkeit erlaubte den Kulturkritikern, aus dem vollen zu schöpfen. Schlagzeilen-Montagen wurden das bevorzugte Beweismittel. "Bildersprache von der Primitivität der Trommelsignale afrikanischer Buschneger", "Produkt der heutigen Massenseele", "unausgesetzter Lähmungsprozeß des Denkens", "demagogisch verbrämter Betrug", "entfesselter Journalismus", "lesendes Analphabetentum", "Selbstbestätigung der kleinen Geister", "Bösartigkeit des Banalen", "roher Kitzel", "Zynismus", "Sozialschnulze", "Wiedervereinigungsschnulze", "Hetzschnulze" sind einige der Urteile. Der Kritiker Joachim Stave schämte sich gar, Bild zu Studienzwecken zu kaufen, so peinlich, ja obszön schien ihm der Vorgang; er entschuldigte sich bei seinem Zeitungshändler, einem "aufgeweckten und beschlagenen Manne", den nur eine schwere Körperbehinderung zum Verkauf solcher Produkte zwinge. Die meisten Käufer, wußte der Händler zu berichten, schimpften auf die Zeitung, kauften sie aber dennoch.

In der Masse der Bild-Leser hinterließen die Argumente der Kritik jedoch keine Spur, bei den Bild-Machern nur einen trotzigen Korpsgeist. Selber ein Produkt der neuen Gesellschaft, entwickelte sich das neue Massenblatt ohne jede Beziehung zum Bewußtsein dieser Gesellschaft; den Gesellschaftskritikern wuchs ein Kind heran, das sie nicht annahmen. Das mag zum Teil daran liegen, daß sich die Mehrzahl im Grunde noch bürgerlich, das "rohe Phänomen" des Massenblattes in Bildungszusammenhängen mißverstand, die selbst für den normalen Zeitungsleser kaum noch zutreffen: daß Medien des raschen Nachrichtenkonsums den Menschen bilden, bessern, heben könnten. Wie wenig Gepflegtheit des Stils, der Bildungsdekor der gehobenen Stände, mit politischem Bewußtsein zu tun hat, haben jedoch die bürgerlichen Qualitätsblätter des Dritten Reiches gezeigt; wieviel tiefer die Faktoren des gesellschaftlich-politischen Verhaltens liegen als in der täglichen Zeitungslektüre – sei es in Familie, Beruf, Einkommensschicht, restreligiösen und anderen Gruppenbindungen –, fördert jede empirisch-soziologische Untersuchung zutage. Moralische Anstalten waren Zeitungen auch ihrem Ursprung nach nicht. An diesem Mißverständnis ist allerdings nicht unwesentlich schuld, daß sich die Bild-Zeitung lange selber so sah. In ihrer kopflosen Tüchtigkeit, Kennzeichen vieler Pioniertaten des Verlegers, hielt sie zu penetrant an der pseudoseelsorgerischen Ambition fest, das Volk bessern zu wollen. Hätte sie sich auf eine Diskussion über ihren Informationswert oder die gesellschaftliche Relevanz mancher Meldungen beschränkt, wäre es ihr besser ergangen. Denn hier verfährt die Kritik erstaunlich oberflächlich.

Selbst einem so gewissenhaften Kritiker wie Gösta v. Uexküll passiert es zum Beispiel, daß er in einer Analyse die technische Seite des Nachrichtenmetiers gänzlich außer acht läßt: zum Beweise der Nachrichtenmanipulation dient ihm in einem Artikel im Deutschen Panorama Adenauers Äußerung über die "friedliebende Sowjetunion" auf dem CDU-Parteitag 1966, die das Blatt unterschlagen habe. Der flüchtige Blick auf ein Exemplar der Zeitung, die an acht Orten mit drei verschiedenen Andruckzeiten und einem komplizierten System von Nachschubmeldungen gedruckt wird, verleitet ihn zu der Schlußpointe: "Vielleicht hat es dem Verleger oder seinem Chefredakteur nun doch einmal die Sprache verschlagen?" Tatsächlich war die Adenauer-Improvisation jedoch eine Nachschubmeldung gewesen, die sich bis Berlin, dem spätesten Andruckort, zu der Schlagzeile "Rußland will den Frieden" auf Seite 1 ausgewachsen hatte.

Scharf ablehnend mit Marktfolgen bleiben jedoch zwei große gesellschaftliche Gruppen, die sich mit den Tröstungen und Retouchen der Bild-Ideologie aus tieferem Grunde nicht abfinden wollen: die katholische Kirche und die Gewerkschaften. Der pseudoseelsorgerische Anspruch der Zeitung und das gelegentliche Auftreten von "Pfarrer im Bild" täuschen die katholischen Kritiker nicht darüber hinweg, daß der Bewußtseinsausverkauf des Neuen Journalismus mit der christlichen Auffassung vom Bewußtsein, von Sünde, Beichte und Lossprechung, nicht vereinbar ist. Der einzelne ist unmittelbar zu Gott, vermittelt nur durch den geweihten Priester. Seine Verfehlungen, Nöte, Ängste, Leiden "öffentlich" darzulegen und mit den Ersatzriten des "Menschlichen" zu beschwichtigen – die Sphäre des Privaten zu veröffentlichen und die Sphäre der Öffentlichkeit, die auch die Sphäre des Zeremoniellen und der Liturgie ist, zu privatisieren – ist absurd. Es muß die Gesellschaft in ihren Abstufungen von unversehrter privater Sphäre, dem Recht unterworfener öffentlich-staatlicher Sphäre und kirchlich geweihter zeremonieller Sphäre zerstören und die Gabe der Unterscheidung, die wichtigste nach Augustinus, auslöschen. Die Auslöschung der Unterscheidungsfähigkeit muß die Gesellschaft, wie der christliche Theoretiker sie sieht, in Masse verwandeln, die durch kalkulierte Stereotypen beliebig manipulierbar ist. Insofern sind "Menschlich gesehen" und "Seid nett zueinander", wenn sie seelsorgerisch-missionarischen Anspruch erheben, wider-christliche Formeln. Die wirklichen großen Sünden, erklärt eine katholische Kritikerin, lägen heute nicht mehr im Raum des einzelnen, wie ihn der alte Katechismus faßt, die Todsünden der Gegenwart wirkten ins Weite, seien geistiger Natur, sie lägen zum Beispiel bei den Verlegern und Redakteuren der Massenpresse, die "systematisch die individuelle Bewußtheit des Menschen" zerstören. Der Bild-Kritiker Paul Sarkandt spitzt es noch schärfer zu: seiner ethischen und religiösen Eigengestalt beraubt, von Bild gewerbsmäßig gefördert, stehe der neue Massenmensch jedem ideologischen Mißbrauch hilflos zur Verfügung, den Haltlosen suggeriere das Blatt "eine sittliche Autonomie aus der Übereinkunft der vielen". Neben der gewöhnlichen Missionsarbeit sei darum eine Bild-Mission vonnöten, die unter "religiös günstigen Bedingungen" auch schon sichtbare Erfolge erzielt habe. Gemeint ist die Inhibierung des Blattes durch Kanzelreden und indirekten moralischen Druck katholischer Pfarrer, die der Bild-Vertrieb vor einigen Jahren in mindestens 120 Orten schmerzlich feststellte. Die Zahlen haben sich heute etwas verschoben, aber noch die Erhebung der Bild-Dichte pro Hundert der Einwohner von 1964 zeigt, daß Bild-arme und katholische Gegenden sich nahezu decken: Münster Land (2,4) und Würzburg Land (0,8), Rottenburg (1,1), Meppen (1,6), Landshut Land (0,6) und St. Ingbert (1,3), Trier Land (1,8), Regensburg Land (1,7) und Saarlouis (1,9). Auffällig hoch sind dagegen die Zahlen in protestantisch-freigeistigen, Garnisons- und Pensionärsstädten: Neumünster (19,3), Ulm (12,5) und Cuxhaven (17,1), Wolfsburg (21,4), Celle (14,9), Lüneburg (18,6), Hanau (18,6) und Bad Reichenhall (19,2), Braunlage (17,5) und Bad Kissingen (22). Das Mittel liegt bei 6 bis 12 Exemplaren pro Hundert der Bevölkerung der Bundesrepublik.

Bestreitet die Kirche Axel Springer die Herrschaft über die Seelen, so bestreiten ihm die Gewerkschaften die Usurpation der Interessen der Massen, des "Volkes", wie Bild sagen würde. Daß ein eindeutig unternehmerisch orientiertes Blatt sich Zugang zur Masse der Arbeitnehmer verschafft hat und, ihre Sprache sprechend, zu ihrem Fürsprecher aufwerfen konnte, erscheint ihnen als reines Rattenfängerkunststück, fast so vertrackt wie Hugenbergs "allgemeine Ideen". In der Tat ähnelt der Gebrauch des Wortes "Volk" im Bild-Vokabular Hugenbergs Gebrauch des Wortes "Nation", allerdings ist es demokratischer und schillernder. Es deckt auch rauhbeinige, hemdsärmelige Ad-hoc-Aktionen für die Belange des kleinen Mannes, die in der Regel durchaus spontaner, nicht so zynisch ausgekocht entstehen, wie viele Kritiker vermuten: gegen den Übermut der Ämter, gegen unkulante Geschäftsleute und hochmütige Richter, gegen prügelnde Eltern und autoritäre Polizisten. Sie wären nach Hugenbergs klarer hierarchischer Vorstellung von "oben" und "unten" undenkbar gewesen.

Es ist auch weniger Hexerei als die naive Anpassung, die Bild den Zugang zu den Massen verschafft. Sie trifft ihren Nerv, gibt ihnen, was das schematisierte Menschenbild der Gewerkschaften ihnen nicht geben kann: Abbilder des physischen und psychischen Lebenshungers, der sie selber vorwärtstreibt, Traumfiguren des Glücks, die in ihren Gegenbildern, den Schrecken erregenden Bildern des Unglücks, nur noch gesteigert erscheinen. Sie hier und jetzt zu haben, nicht in der fernen Utopie einer gerechten Gesellschaft, macht die Attraktion des Bild-Journalismus aus, allerdings auch seine Bedenklichkeit. An die Stelle des Zukunftsutopisten, der immerhin noch tätig hofft, tritt der Gegenwartsutopist, der die schönere Welt in die gegenwärtige projiziert und sich dabei, außer in den unverbindlichen Wallungen seines Gefühls, nicht mehr vom Fleck bewegt. Vielleicht liegt hier die Ursache, warum im Umkreis der Gewerkschaften, reich an Mitteln und Kontakten zum "Volk", aber nicht ruchlos genug, um das Erstgeburtsrecht der gesellschaftlichen Veränderung gegen das Linsengericht des puren Human-interest-Vergnügens zu verkaufen, bis heute keine Massenpresse von Bedeutung blüht. Der Frankfurter Soziologe Wilke Thomssen hat die gesellschaftliche Scheinbewegung des Neuen Journalismus rechter Observanz in einer Studie "Über die Öffentlichkeit der Bild-Zeitung" präzis umrissen: "Mit der Vorliebe für sogenanntes "blühendes Leben", Jugend, Glücks- und Aufstiegsspekulationen setzt sich die Massenpresse an die Stelle einer besseren Welt und reproduziert blind die Ungleichheit der hierarchischen Ordnung, deren Stufenleiter durch Fleiß und Arbeit zu erklimmen sei. Indem sie die Tendenzen der verhärteten Welt unreflektiert beschwört, Trost und Hilfe verspricht und unvermittelte Nächstenliebe predigt, ohne einzugestehen, daß die herrschenden gesellschaftlichen Zustände einen auf Vernunft sich gründenden Lebenszusammenhang verhindern, befriedigt die Bild-Zeitung die Leser mit Surrogaten. Damit verschleiert sie die Struktur der Gesellschaft und verfestigt die Verhältnisse, in denen sie lebt."

Gleichwohl ist der interessenpolitische Firnis dünn, als reiner Hebel der Unternehmerinteressen ist Bild ebenso untauglich. Stößt die Zeitung etwa nach zu gewerkschaftsfeindlicher Streikberichterstattung auf eine harte, direkte Reaktion der Gewerkschaften, sei es in Form einer scharfen öffentlichen Erwiderung oder mehr oder minder offenen Boykottempfehlungen in den Betrieben, nimmt sie erstaunlich rasch zu ihrer "Überparteilichkeit" Zuflucht, die niemand schmerzt. Zu teuer muß ihr die Masse ihrer Hauptkonsumenten sein, die Arbeitnehmer der Einkommensschichten zwischen 400 und 600 DM monatlich. Wie sie allerdings in einer wirtschaftlichen Depression reagieren würde, wenn der Existenzkampf den Interessenvertrag zwischen Besitz und Nichtbesitz aufkündigt, ist kaum vorauszusagen. Hier harren Charakterproben für den Leiter des Konzerns und den Leiter der Redaktion, die noch nicht bestanden sind und die latente Rechtsorientierung um so gefährlicher machen.

Wirkungen – Die Politiker

Weitaus vorsichtiger als Kirche und Gewerkschaften verhalten sich die gesellschaftlichen Gruppen, die Gesellschafts- und Menschenbilder nicht prägen, sondern vermischt mit anderen Interessen in Politik umzusetzen trachten: die politischen Parteien. Unter ihnen geht das Gespenst der Sorge um, das Massenblatt könne die Gunst der Wähler entscheidend beeinflussen. So wirkt Bild bereits politisch, bevor es überhaupt einen belegbaren Einfluß ausgeübt hat: durch die pure Furcht der Politiker, es könnte politisch wirken. Indizien deuten darauf hin, daß es die Hauptwirkung des Blattes auf dem Felde der Tagespolitik ist. Sie gewinnt jedoch beträchtliche Bedeutung in Fragen, die dem parlamentarischen Entscheidungsmechanismus unterworfen sind, wie etwa die Frage des privaten Fernsehens oder der Pressekonzentration. "Ich werde mich doch nicht mit Peter Boenisch anlegen", kann man aus dem Munde prominenter CDU-Bundestagsabgeordneter hören, und von den sozialdemokratischen Führern weiß man, daß sie sich von der Gunst der Massenzeitung eine Weile "etwas erhofften". Eine Analyse der fünf Bundestagswahlkämpfe hätte ihnen allerdings sagen können, daß sich die Blätter des Konzerns vor bundespolitischen Entscheidungen stets auf ihre bürgerlich-konservative Grundhaltung zurückziehen und die "Linke" stereotyp auf den zweiten Platz verweisen, schulterklopfend und jovial, wie man arme Verwandte zu behandeln pflegt, aber in deutlicher Übereinstimmung mit der Privatmeinung des Verlegers, daß Sozialdemokraten zwar rechtschaffene, kommunalpolitisch sogar recht tüchtige Leute seien, daß man sie aber nicht gleich regieren lassen müsse.

Furcht oder Hoffnung oder beides verführte die sozialdemokratischen Führer im Wahljahr 1965 gleichwohl zu einem Akt des Konformismus, der für das Verhalten der Parteien gegenüber dem Besitzer der größten Massenzeitung symptomatisch ist. Ein Blatt des Sozialdemokratischen Hochschulbundes, die Bonner Studentenzeitung Frontal, hatte in ihrer Juninummer einen ebenso heftigen wie ungeschickten Artikel gegen Axel Springer veröffentlicht, mit den üblichen handfesten Klischees arbeitend: Bild gleich Stürmer, Griff nach dem Meinungsmonopol, Ermahnung des demokratischen Gewissens und so fort. Eine abgewogene Distanzierung der Partei wäre in dieser delikaten Situation verständlich gewesen. Statt dessen ergoß sich jedoch ein Strom von Entschuldigungs- und Ergebenheitsadressen an den Verleger, deren Beflissenheit peinlich zu lesen ist. Der SPD-Landtagsabgeordnete Gross von der Bielefelder Presse-Druck GmbH, Drucker des Blattes, in einem Fernschreiben: "Auf die Redaktion dieser Zeitschrift habe ich leider keinerlei Einfluß, ich bin nur der Drucker. Ich bin in der Ablehnung dieser Sorte Zeitschriften von Studenten mit vielen meiner Freunde in unserem Parteivorstand völlig einig." Das Präsidiumsmitglied Alex Möller umgehend: "Die Empörung war einhellig." Der Sprecher des SPD-Vorstands Barsig in einen Brief: "Ich habe, als ich diesen Artikel bei seinem Erscheinen las, überall den Standpunkt vertreten, daß er in hohem Maße sachunkundig, beleidigend und unverschämt ist. Nicht wenigen gegenüber habe ich gesagt, daß die Schnösel, die ihn verfaßt haben, wahrscheinlich in ihrem ganzen Leben weder Julius Streicher noch den Stürmer jemals gesehen haben [...]. Auf dem Gebiet, Ärger mit Studentenorganisationen zu haben, stehen wir allerdings nicht allein. Sie werden mir sicherlich abnehmen, daß ich den Artikel, seine Form und seine Ungehörigkeiten in tiefem Maße bedauere." Willy Brandt: "Mir liegt daran, Sie in Übereinstimmung mit meinen Freunden vom Präsidium und der Regierungsmannschaft wissen zu lassen, daß die SPD damit nichts zu tun hat." Herbert Wehner: "Anmaßend und dumm", zur Bekräftigung fügte der Stellvertretende Parteivorsitzende auch noch gleich den Durchschlag seiner Abkanzelung der Frontal-Redakteure bei, als habe es sich nicht um den Fauxpas junger Parteigenossen, sondern um die persönliche Beleidigung erbitterter Feinde gehandelt: "Ihre Art, sich mit einer so ernsten Sache zu befassen, ist eine Form des groben Unfugs, die scharfe Zurückweisung verdient." Der Verleger hing die Fernschreiben und Briefe in seinem Hausblatt Springer-Post stolz als Trophäen auf und erteilte dafür huldvoll das Prädikat, es habe ihn erleichtert, wie die "wirklich urteilsfähigen Menschen in unserem Lande über Angriffe dieser und ähnlicher Art auf unser Haus denken".

Auch die FDP, als Minderheitenpartei von Bild meist nur erbarmungslos gezaust, macht Angriffe von Parteifreunden, etwa auf die Lieblingsidee des Verlegers, das Verlegerfernsehen, möglichst eilig ungeschehen. "Zu meinem Entsetzen werde ich von einem Parteifreund darauf hingewiesen, daß Das freie Wort am 16.06.1964 unter der Überschrift ›Kahage am Bildschirm‹ eine Stellungnahme zu der Ausstrahlung eines Dritten Programms veröffentlicht hat", schreibt der FDP-Bundesgeschäftsführer Genscher am 19. Juni 1964 tödlich erschrocken an seinen FDP-Parteifreund, den Chefjustitiar des Springer-Konzerns Herman F. Arning. "Ich bedaure ... kann Ihnen versichern ... Ausräumung von Mißverständnissen ... positiv gegenüberstehen ... vor allem auch Herr Dr. Mende ... niemand Kenntnis von der Absicht, geschweige denn vom Inhalt", überstürzen sich die Beteuerungen bis zu der Schlußfloskel, die in ihrem komischen Effekt wie erfunden klingt: "Ich möchte auf jeden Fall vermeiden, daß durch diese Veröffentlichung in einer der letzten Ausgaben des Freien Wortes, die Zeitung wird am Ende des Monats Juni 1964 ihr Erscheinen einstellen, eine neuerliche Belastung unseres Verhältnisses zu dem Hause Springer eintritt. Aus diesem Grunde stelle ich Ihnen gerne anheim, meinen Brief Herrn Springer zur Kenntnis zu bringen." Analysiert man die Sprache dieser Schriftstücke, so enthüllt sie genau das, was die Politiker in den Debatten über die politischen Gefahren der Pressekonzentration wortreich zu bagatellisieren suchen, um einer parlamentarischen Entscheidung auszuweichen: daß sie im Eigentümer des Konzerns einen Mann vermuten, der über die zentrale Steuerung seiner Blätter politischen Einfluß ausübt.

Die geheime Furcht der beiden großen Parteien vor der Massenwirkung von Bild führte im letzten Bundestagswahlkampf zu einem erbitterten Anzeigenduell. Bereits acht Wochen vor der Wahl einsetzend, führte die CDU vom 29. Juli bis zum 17. September 1965 24 Anzeigen ins Treffen, darunter 3 Eindrittelseiten, die SPD, auch hier nachhinkend, 22 Anzeigen mit einer Eindrittelseite und einer Unterstützungsanzeige der Gewerkschaften: "Herr Bundeskanzler, warum tun Sie nichts?" Die CDU/CSU, meist vortrefflich plaziert auf Seite 1 über der Bild-Marke, wo sonst "Handelsgold – genau richtig" prangt, unmittelbar neben dem eye-catcher der Hauptschlagzeile, paßte sich geschickt dem antikommunistischen, nationalen Pathos des Blattes an: "Es geht um Deutschland. Um unsere Sicherheit. Um unseren Schutz vor Moskau und Ulbricht. Deutschland braucht eine erfahrene und zuverlässige Regierung. Auch morgen. Darum Ludwig Erhard", "Die Lage ist ernst", "Regieren ist etwas anderes als Sprüche machen. Vorsicht ist besser als Nachsicht. Darum: Ludwig Erhard – CDU", "Die Versprechungen der SPD sind entweder nicht ernst gemeint – oder führen unser Volk ins Unglück. Das deutsche Volk wird sich genau überlegen, wem es Vertrauen schenkt". Die Wahlstrategen der Union spekulierten offenkundig auf eine Verschmelzung mit dem redaktionellen Teil, die oft verblüffend gelang: politisch dramatisierende Hauptschlagzeilen wurden zur wirksamen Illustrierung der Anzeigentexte und kostenlosen Wahlhilfe. Der SPD hatten die Werbepsychologen offenbar eingeredet, der günstigste Platz sei hinten und am "unterschwelligsten" wirke die mimikryartige Verbindung mit dem Anzeigenteil. Nette, den Konsumgewohnheiten angepaßte Floskeln – "Alles zu seiner Zeit", "Probieren geht über studieren", "Aus Liebe zur Sache", "Gesundheit um jeden Preis", "Ein Luxus, den sich jeder leisten kann", "Weil man wählerisch ist" –, optisch die Erinnerung an den obersten der Konsumfetische, das Auto, durch die nummernschildartige Formel "SPD –1965 ", sollten Politik als Ware unter Waren verkaufen. Man kann aber seine Zweifel haben, ob der Wahlkampf im Stile des Marketing, dilettantisch unpolitisch oder seiner Zeit weit voraus, in einem politisch aggressiven Medium wie der Bild-Zeitung nicht ins Leere verpuffte.

Lohnen Angst und eingesetzte Mittel, lohnen die Verbeugungen vor dem Eigentümer des Massenblattes? Wer ist die gefürchtete Sphinx, der Bild-Leser?

Fragen an die Sphinx: Der Bild-Leser

Über seine sozialen Merkmale haben eine Serie vorbildlicher Untersuchungen, von der Zeitung mit den großen Marktforschungsinstituten Divo, Contest und Infratest selber veranstaltet, eine Fülle zuverlässiger Daten zusammengetragen. Setzt man daraus den durchschnittlichen männlichen Bild-Leser zusammen, so ist es ein junger Mann von ungefähr fünfundzwanzig Jahren, der Volksschule und Lehre absolviert hat, als Arbeiter in der Industrie zwischen 400 und 600 Mark netto verdient und in der Regel schon verheiratet ist. Die Soziologen stufen ihn in die "obere Unterschicht" mit aufstrebender Tendenz ein. Er rasiert sich meist schon elektrisch und benutzt Gesichtswasser, die Hersteller von Haarwasser und desodorierenden Mitteln verdienen aber noch wenig an ihm. Er bewohnt die kleinen Städte zwischen 2000 und 20.000 Einwohnern, vorzugsweise in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, dort wiederum eher die protestantischen als die katholischen Gegenden. Zur Fortbewegung benutzt er die öffentlichen Verkehrsmittel oder ein Moped. In der Hauptsache liest er nur Bild, das allerdings aufmerksam von vorn bis hinten, entweder schon am Arbeitsplatz oder erst zu Hause, sehr viel weniger unterwegs im Pendelverkehr.

Die durchschnittliche Bild-Leserin ist eine knapp vierzigjährige Hausfrau, die nach der Volksschule nicht ausgelernt und gleich geheiratet hat und nun mit zwei heranwachsenden Kindern zu Hause sitzt. Sie wäscht die Wäsche noch selber mit der Hand und muß mit den 400 bis 600 DM netto auskommen, die der Mann nach Hause bringt, wenn nicht eines der Kinder zuverdient. Die Soziologen rechnen sie zur unteren Unterschicht, sie wäre aber auch gern mehr in ihrem Leben geworden. Gelegentlich benutzt sie schon einen Lippenstift; Nagellack, Make-up und andere körperliche Verschönerungsmittel sind ihr aber noch fremd. In der Küche oder guten Stube der Bild-Familie, meist in einer kleinen Dreizimmer-Wohnung eines großen Wohnblocks, steht eine hand- oder fußbetriebene Nähmaschine, auf der die Bild-Leserin aber nicht mehr näht. Ein Staubsauger ist in Gebrauch, auch ein Kühlschrank, auf einem Sparbuch werden bescheidene Rücklagen gemacht. Das Hauptvergnügen ist das Fernsehen, fotografiert wird nur für das Familienalbum, noch nicht für das gehobene bürgerliche Vergnügen, Dias an die Wand zu werfen und Verwandte und Nachbarn damit zu langweilen. Das Telefon benutzt der Bild-Leser selten, er besitzt keines.

Dieses beiläufige Faktum, entnommen der quantitativen "Bild-Leseranalyse 1963", liefert bereits ein Indiz, wie sich die dramatischen Ad-hoc-Aktionen des Blattes zur Masse seiner Leserschaft verhalten: die bisher erfolgreichste, die eine ängstliche Regierung und ein ängstliches Parlament im Juli 1964 aus den Sommerferien trieb, die spektakuläre Schlagzeilenkampagne gegen die Erhöhung der Telefongebühren, muß sie unbewegt gelassen haben. Sie fand im Interesse der Masse der Bild-Leser keinen Rückhalt, eher im Eigeninteresse des technisch hochentwickelten Unternehmens, das an dem kostenempfindlichen Punkte seiner elektronischen Nachrichtenverbindungen spürbar getroffen war, sich scheinplebiszitär aber zum Vorkämpfer eines Allgemeininteresses, der Erhaltung der Preisstabilität, machen konnte. Schwer erkennbar ist auch die Reaktion der 14 Millionen Bild-Leser auf die anderen erklärten Ziele der Zeitung, von denen sich durchaus ein Katalog aufstellen ließe: pro de Gaulle, pro Strauß, pro Große Koalition, pro Notstandsgesetze, pro Scheidungserleichterung, pro frühzeitige sexuelle Aufklärung, pro Gastarbeiter, pro Rücksicht beim Autofahren, pro Beatles und Gammler, contra DDR, contra "linken" Sozialismus, contra Mende, contra Streik, contra Prügelstrafe, contra Todesstrafe, contra "anti-deutsche Hetzfilme" und so fort. Hier liegt ein Feld, dessen systematische psychologische und soziologische Bearbeitung von einigem Interesse wäre. Man kann vermuten, daß die vielzitierten Leserbriefe, auffällig anschwellend nur bei Human-touch-Geschichten wie Tierquälerei, Grausamkeit gegen Kinder, Mißstände in Krankenhäusern, Faulheit oder Fleiß von Gastarbeitern, die informelle "öffentliche Meinung" der Millionenleserschaft nur ungenügend repräsentieren; allein das Zahlenverhältnis – zwischen 50 und 500 Zuschriften bei 14 Millionen Lesern – deutet darauf hin.

Betrachtet man die soziale Schichtung der Bild-Leserschaft, so erscheint zweifelhaft, ob auch nur die Summe der politischen Zwecke der Zeitung – eher für eine konservative bürgerliche Regierung als für eine linke nichtbürgerliche Regierung – einen nachhaltigen Einfluß auf die Masse der Leser ausübt, etwa der Art, daß ihre Mehrheit CDU wählt. Nach den sozialen Merkmalen kann man eher vermuten, daß etwas mehr als die Hälfte SPD wählt, mit Verschiebung zugunsten der CDU bei den Leserinnen. Eine Aufschlüsselung der Wahlkreise nach Bild-Dichte bestätigt diese Vermutung: SPD-sichere Kreise sind in der Regel auch Bild-starke Kreise, ausgesprochene CDU/CSU-Gegenden, in denen die konfessionelle Bindung stark ist, sind fast immer auch Bild-arme Gegenden. Vor allem für den katholischen Bevölkerungsanteil wird im übertragenen Sinne gelten, was der Freiburger Soziologe Erhard Blankenburg in einer höchst aufschlußreichen Studie über den Zusammenhang von "Kirchlicher Bindung und Wahlverhalten" allgemein herausgefunden hat: wo die kirchlichen Bindungen noch stark sind, wird CDU gewählt und eine Massenpresse wie Bild nicht gelesen; wo sie sich lockern, in den Städten und verstädternden ländlichen Gebieten, wird Bild gelesen, aber nach den nächstwirksamen sozialen Faktoren, Beruf, Schichtzugehörigkeit, Familientradition, gewählt.

Das sind grobe Schätzungen, die im Einzelfalle Abweichungen zeigen werden; einer Sonderuntersuchung wäre zum Beispiel wert, ob die – konfessionell gesehen – "auflösenden Tendenzen" unter den Bild-Lesern auch dem bedenkenlosen Ideologie-Angebot der NPD zugute käme. Die klare Überrepräsentation der SPD wählenden Schichten in der Leserschaft des Blattes erlaubt jedoch den Schluß, daß seine aktuelle politische Wirkung überschätzt wird. Sie bestätigt, was Politologen längst vermutet haben: daß die Zubereitung politischer Informationen zum Konsumartikel durch Personifizierung und Pointe um jeden Preis die Politik notwendig entpolitisieren muß, daß die "Schlagzeile mit dem Holzhammer", das Furcht und Abscheu erregende Hauptärgernis, gleichzeitig auch schon wieder die Wirkung totschlägt, die sie eben erzeugt hat. Nach den Gesetzen der Reklame im Wettbewerb mit den anderen Informations- und Unterhaltungsangeboten der pluralistischen Gesellschaft "verkauft", sich täglich selber überschreiend, hinterläßt die Bild-Story – ähnlich wie die Spiegel-Story – im Bewußtsein des Konsumenten kaum eine andere Spur als das Bedürfnis nach neuem Konsum.
In der Überflußgesellschaft des permanenten Überangebots wird man darum die direkten politischen Gefahren des Massenblattes, das einem einzigen gehört, nicht zu hoch veranschlagen dürfen. Offen bleibt jedoch, wie sich die verdeckte autoritäre Fixierung im vorpolitischen Raum auf das Verhalten der Massen auswirken wird, wenn Krisen zur Radikalisierung drängen und nach einem neuen Messias schreien lassen. Denn die Leserschaft der Bild-Zeitung bleibt Masse im spezifischen Sinne, so gern das Blatt auch vom "Volk" spricht. Masse im Kommunikationsbereich, definiert der amerikanische Soziologe C. W. Mills, sei im Unterschied zum räsonierenden Publikum, das der Meinungsbildung durch Diskussion fähig sei, wenn

1.   sehr viel weniger Leute ihre Meinung äußern als sie empfangen;

2.   die Art der Kommunikation so beschaffen ist, daß es für den einzelnen schwierig oder unmöglich ist, sofort oder mit irgendeinem Effekt zu antworten;

3.   die Umsetzung von Meinungen in Aktion autoritären Instanzen unterworfen ist, die organisatorisch und führungsmäßig über die Kanäle solcher Aktionen (oder Akklamationen) verfügen.

Daß sich im Verhältnis zwischen der Bild-Zeitung und ihrer Leserschaft unter der Hand autoritäre Strukturen herausgebildet haben, gibt der für den internen Hausgebrauch bestimmte Expertenband der letzten "Qualitativen Analyse der Bild-Zeitung" von 1965/66 auch offen zu: die Image-Tester hätten einen starken Instanzencharakter des Blattes festgestellt, es verkörpere für viele vor allen Dingen "Macht und Autorität". Das Verlangen der Bild-Leser nach einer geordneten, durchschaubaren und begreifbaren Welt "beinhaltet auch Angst vor dieser ohne Hilfe zumeist nicht verstehbaren Welt. Diese Angste fängt Bild auf: in der Funktion von Bild als ordnende und richtende Instanz. Dank ihrer Autorität nimmt die Zeitung dem Leser das Ordnen, Sichten und Bewerten der Ereignisse, welche die gegenwärtige Welt repräsentieren, ab." Es verschaffe "die beruhigende Gewißheit, daß man dieser Welt doch begegnen und sie fassen könne". Ein wesentliches Mittel, um die Ängste und daraus sich ergebenden Aggressionen zu verarbeiten, sei "die aggressive Haltung, die Bild oft an den Tag legt. Einfluß und Macht der Zeitung, Mut und Entschlossenheit, die teilweise als rücksichtslos und brutal erlebte Härte und Durchschlagskraft, geben dem Leser die Möglichkeit, sich mit diesem überlegenen Angreifer zu identifizieren, in Bild die Realisierung dessen zu erleben, was ihm selbst immer unmöglich sein wird zu verwirklichen." In der Koppelung von provozierter und zugleich aufgefangener Angst enthüllt die Analyse das eigentliche Erfolgsgeheimnis des Massenblattjournalismus und die Ursache der starken Leserbindung an seine Produkte: "Zwangsläufig wird durch die Berichterstattung über aktuelle Ereignisse Angst vor der undurchschaubaren gesellschaftlichen Situation provoziert. Aber gleichzeitig werden auch die Entlastungsmechanismen geliefert, die das Ausmaß der auftretenden Spannungen reduzieren."

Was eine radikale Politisierung hier ausrichten könnte, liegt auf der Hand: das Rezept, das der Konsumsteigerung dient, ist zugleich das Grundrezept der politischen Demagogie. Die latente Gefahr einer stufenweisen Ummünzung der Existenzangst der "einsamen Masse" in ein eindeutiges Freund-Feind-Verhältnis, das die Aggressionen nach außen lenkt, hat der Leipziger Publizistikwissenschaftler Klaus Wilcynski in durchsichtiger Absicht, aber zutreffend beschrieben: auf der ersten Stufe des Anpassungsjournalismus würden kleinbürgerliche Kategorien von Gut und Böse geschaffen, vorläufig noch unpolitischer Natur; auf der zweiten Stufe würden sie am Beispiel nebensächlicher Ereignisse bereits in einem gewissen Maße politisiert: die Kategorie Gut deckt sich weitgehend mit Erscheinungen der "kapitalistischen Welt"; auf der dritten Stufe werde die Politisierung durch grobe, untypische Ausschnitte aus der kapitalistischen und der sozialistischen Welt dramatisiert; die vierte Stufe überführe, was inzwischen als Selbstverständlichkeit des gesunden Menschenverstandes erscheine, durch die unmittelbare Konfrontation in ein unentrinnbares Freund-Feind-Verhältnis; Freund gleich kapitalistische Gesellschaftsordnung, Feind gleich sozialistische Gesellschaftsordnung. Es mag auf sich beruhen, daß die Presse der sogenannten sozialistischen Welt nach gleichem Schema verfährt, nur umgekehrt. Zu oft und zu lautstark sind in der Bild-Zeitung noch Kommunisten Verbrecher und Chinesen Tiere, um ganz auszuschließen, daß in den Köpfen der Bild-Leser eines Tages alle Kommunisten Verbrecher und alle Chinesen Tiere sind: daß sich, geschürt von Krisenangst, das alte Stereotyp einstellt, nach dem bestimmte Menschen keine Menschen mehr sind. Die möglichen politischen Folgen, für das Verhalten von Wählermassen durchaus relevant, hat Wilke Thomssen in seiner schon zitierten Studie umrissen: "Der historisch und gesellschaftlich bedingte Gegensatz zwischen Ost und West regrediert zum starren Schema von ingroup und outgroup, das allen Problemen den gleichen Stempel aufdrückt. Das Gefühl der Zugehörigkeit zum eigenen, mit allen positiven Qualitäten geschmückten Kollektiv läßt die andere Seite als die undurchdringliche, böse Welt erscheinen." Erst die Krise in der Konfrontation mit der "undurchdringlichen, bösen Welt" kann enthüllen, ob Axel Springers Theorie vom Volk demokratischer Natur ist oder, unter dem Vorwand eines demokratisch verbrämten Antikommunismus, auf das faschistische Muster im Benjaminschen Sinne zurückfällt, das in den neokonservativen Schwärmereien vom Volk im Kern ohne Zweifel enthalten ist.

Kann die Bild-Zeitung nützen?

Kann die Massenmaschine in ausschließlich privater Verfügung dennoch nützen, kann sie zu einem Ferment der demokratischen Gesellschaft werden? Die Scherl-Hugenbergsche Praxis der Massenführung durch Massenanpassung, die historische Spielart der deutschen "Volkszeitung", ermutigt wenig. In der angelsächsischen Massenpresse bietet sich jedoch ein anderes Muster an. Sie hat, wenigstens in der Tendenz, Aufklärung und Geschäft miteinander verbunden. Reich an Krokodilstränen und groben Reizen wie jede auf Millionenabsatz bedachte Presse, hat sie ihr Pathos von Anfang an auf eine funktionierende Demokratie gerichtet, auf die ehrliche Parteiergreifung für den "kleinen Mann". Hier liegt, je "amerikanischer" unsere Gesellschaft mit wachsender Produktion, wachsendem Wohlstand und wachsendem Wissen wird, auch für ein deutsches Massenblatt eine dreifache Chance. Die Möglichkeit, zur Demokratisierung vieler gesellschaftlicher Bereiche beizutragen, die bisher noch im Halbdunkel der Teiltabuierung liegen – etwa der Familienbeziehungen, des sexuellen Bereichs, der Rechtspflege, der Arbeitsverhältnisse, des Verhältnisses zur verwaltenden Obrigkeit und zu den Chancen von Aufstieg und Bildung –, hat der Direktor des Instituts für Bildungsforschung in der Max-Planck-Gesellschaft, Hellmut Becker, der Bild-Zeitung in einer vielbeachteten Bemerkung bereits bescheinigt. Die zweite Chance läge darin, den Markterfolg in bessere Information umzusetzen: in den Grenzen des Massenblattjournalismus allmählich ein Vollinformationsblatt zu entwickeln, das nicht nur den Flucht- und Entspannungsmechanismen der unteren Schichten gerecht wird, sondern auch dem weit verbreiteten Bedürfnis nach rascher, konzentrierter Information entgegenkommt, die sich in den verlorenen Zeiten des Massenverkehrs und der Kurzpausen konsumieren läßt. Drittens kann Bild als "Lokalteil auf Bundesebene", der aber von den lokalpolitischen Rücksichten unabhängig ist, denen die Lokalpresse gemeinhin unterworfen ist, tatsächlich zum Ort werden, an dem die Interessen des kleinen Mannes in der total verwalteten Welt noch vertreten werden, ein unabhängiger Großapparat gegen die schikanierenden Klein- und Großapparate der allgewaltigen Bürokratie, denen nicht nur der kleine Mann ausgeliefert ist.

Dazu müßten die leitenden Maschinisten allerdings ihr Verhältnis zu den Obrigkeiten des Staates und der Gesellschaft klären und erkennen, daß der demokratische Staat – auch die Funktion der Presse innerhalb dieses Staates – auf dem Prinzip stikter Gewaltenteilung beruht, daß Staatsloyalität darum nicht gleichbedeutend mit Machtkonformismus sein kann und in den Ursprungsländern der Pressefreiheit auch nie war. Ein rechtes Volksblatt ist ein Widerspruch in sich, der nur Böses gebären kann. Hier kann man allerdings Zweifel haben, ob der politische Ehrgeiz des Verlegers, selber zu den Herrschenden zu zählen, der Einsicht nicht hinderlich ist. Als Chefredakteur Peter Boenisch in der Starfighter-Affäre im Herbst 1966, dem klassischen Fall in einer Demokratie, in dem ein Minister zurüekzutreten hat, wenn nötig, eine Regierung, die Partei des Volkes ergriff und mit Bild-üblichen Schlagzeilen – "Weg mit diesem Größenwahn" – den Sturz des Verteidigungsministers betrieb, erhielt er vom Eigentümer des Blattes einen ungewöhnlich scharfen Verweis: der Staat sei in Gefahr, man wiederhole Weimar und so fort. Die Maßregelung zeigt den Konflikt in seiner Schärfe: ein aus dem recherchierten Material, der Stimmung in der Truppe, der "Meinung des Volkes" entstandener Consensus innerhalb der Redaktion sollte aufgehoben werden, weil er dem Verleger staatspolitisch und im Sinne seiner eigenen Interessen unpassend erschien. In der Geschichte des Daily Mirror wäre solcher Vorgang undenkbar gewesen; selbst auf dem Höhepunkt des Krieges gegen das Dritte Reich, den das Blatt im übrigen mit glühendem Eifer betrieb, blieb es bei seiner konsequenten Parteinahme für den "einfachen Mann", gegen Militärbürokratie, dünkelhafte Offiziere und unzulängliche militärische Führung, so hartnäckig, daß Churchills Kriegskabinett die widerborstige Zeitung um ein Haar verboten hätte. Der Briefwechsel des damaligen Mirror-Verlagsdirektors Cecil King mit Premierminister Churchill ist ein Musterstück, wie eine demokratische Presse selbst in Krisenzeiten ihre Autonomie mit guten Gründen verteidigen kann und verteidigen muß.

Ein Volksblatt, das nur gegen Ulbricht, nicht aber gegen versagende Minister der eigenen Regierung agitieren darf, sinkt indessen zum Propagandainstrument herab; es verliert seine Glaubwürdigkeit, die Interessen des Volkes zu vertreten, wie schillernd der Begriff auch immer sein mag. Nach fünfzehn Jahren einer erstaunlichen Geschichte verharrt die Bild-Zeitung offenbar immer noch unschlüssig, was sie nun sein soll, ein Werkzeug im Dienste einer mythisch-propagandistischen Mission oder eine demokratische Massen-Zeitung – nicht anders als die Gesellschaft, deren Produkt sie ist. Zivilcourage, Achtung vor der Autonomie, Mut zu unpopulärer Popularität sind nicht gerade Eigenschaften, die in den großen Apparaten wachsen, andererseits brauchen die großen Apparate sie, um leistungsfähig zu bleiben: die moderne Industriegesellschaft wird ohne die Tendenz zur Aufklärung nicht überleben. Da wiederum Anpassung die Seele von Axel Springers Geschäft ist, kann man hier vielleicht Hoffnung auf ein besseres Massenblatt schöpfen: wenn schon die Bild-Zeitung die Gesellschaft nicht verändert, so verändert vielleicht die Gesellschaft die Bild-Zeitung.

Vielleicht entdeckt ein genialer Unternehmer – so genial wie Axel Springer Anfang der fünfziger Jahre, aber in den Kategorien der siebziger Jahre denkend – auch die Achillesferse des Kolosses: regionale Straßenverkaufs – Zeitungen im Stile des Neuen Journalismus, die sich des vermehrten Lokalinteresses und der ortsansässigen Vertriebsorganisationen bedienen, den überregionalen Teil aber von einem fähigen zentralen Apparat beziehen, den sie gemeinsam unterhalten: ein journalistischer Föderalismus gegen den Zentralismus aus Hamburg, der auch den großen Anzeigenkuchen in regionale Stücke zerteilt und den gefräßigen Riesen auf etwas knappere Ration setzt. Die Hamburger Morgenpost, die Münchner Abendzeitung und der Kölner Expreß praktizieren diesen Typ schon auf eigene Faust, das Hamburger und das Münchner Blatt mit einer erstaunlich fest behaupteten Marktposition gegenüber der Bild-Zeitung, der späte Ableger des Hauses Neven Du Mont mit einem verblüffend raschen Erfolg, der selbst seine Erfinder überraschte: was als kaum rentabel kalkulierte Schutzmaßnahme des Kölner Stadt-Anzeigers gegen die Springer-Betzsche Boulevardzeitung Mittag mit einer Auflage von knapp 30.000 Exemplaren geplant war, schnellte binnen kurzem zu einem lukrativen Objekt von 170.000 Exemplaren empor.

Entmythologisierung und Konkurrenz könnten auch etwas von dem Alptraum nehmen, den die Aussicht, Axel Springer könnte den Fernsehkrieg schließlich doch zu seinen Gunsten entscheiden, heute zweifellos hat: daß eine elektronische, ideologisierte Bild-Zeitung, in Millionen Exemplaren mehrmals täglich aus den Fernsehapparaten fallend, zwischen bunter Werbung und Unterhaltung eines Tages den nationalen Notstand ausruft, aus der Eingebung ihres einzigen Eigentümers, dem ein verängstigtes Parlament, dem Götzen der mechanischen Marktgesetze huldigend, neben dem einen auch noch das andere Massenkommunikationsmittel überlassen hat. Man kann sicher sein, daß er es, mit einer bescheidenen Lizenz beginnend, ebenso genial und machtkonform handhaben würde wie das erste.

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Nationalismus als Markt

Anpassung an den Markt wie Scherl, nicht Machtsinn wie Hugenberg hat das neue Großgebilde der Presse geschaffen; sosehr Marktbeherrschung, wohl auch politische Tauschgeschäfte später zu seiner Ausdehnung beigetragen haben mögen, der Antrieb blieb in seinem Kern ohne Zweifel das Glücksgeschäft. Man muß diese Verflechtung mit den stärksten Antrieben unserer Gesellschaft möglichst entdämonisiert sehen, um auch das ideologische Produkt der neuen Maschine richtig einzuschätzen. Wie sich die journalistisch auf den Markt getragene Altonaer Glückslehre allmählich politisierte, wie Storyform und Märchen den politischen Inhalt bis zum volkstümlichen Propheten- und Demagogentum denaturierten, ist hier in Umrissen nachgezeichnet worden. Es zeigt das Arrangierte, Bühnenhafte, Showmäßige: predigt Pfarrer Evertz in der Welt am Sonntag das neue Vaterlandschristentum, tritt er in jeder Nummer wie ein Schauspieler neu auf: Pfarrer Evertz mit Talar und Bibel vor der Orgel; Pfarrer Evertz vor Kreuz und Lutherbild an seinem Schreibtisch; Pfarrer Evertz als schlichter Deutscher; "Mahnende Stimme: Pfarrer Evertz". So bleibt der Neue Journalismus auch in seinen politischen Intentionen zunächst eine Bühne mit Show-Effekten, von der die Politik erst zu fürchten hätte, wenn unbedenkliche Organisatoren die Aufführungen in Aufmärsche verwandeln würden. Selbst Hans Zehrers ehrgeiziger Neukonservativismus hatte keine politische Realität, die Politik vom Parlamentarischen Rat bis zur Berliner Mauer fand ohne ihn statt. Es blieb ein in Konsumware verwandelter Konservativismus, ein Konsumkonservativismus, so wie man die Aggressionstendenzen der Bild-Zeitung einen verdeckten Konsumfaschismus nennen könnte, der wohl bedenklich ist, aber zunächst keine andere Wirkung hat als Lust an starken Worten. Welche politischen Traumbilder der Markt jedoch annahm, mag über das Selbstverständnis der Deutschen einigen Aufschluß geben und auf die Gefahren deuten, die einem so indoktrinierten Gemeinwesen auf die Dauer drohen können.

Die neuen Ideologen

Mitte der sechziger Jahre betraten Schauspieler mit gröberen Effekten die Bühne. Neben den Mentor aus Tat-Kreis-Tagen und die blassen Hintergrundsfiguren mit den energischen Inspizientengesichtern traten die Prominenten der neuen "Konservativen Revolution", alte Männer in jugendlichen Kostümen, Komödianten einer Weltordnung, deren wirkliche Helden längst gestorben sind, wie der sarkastische Kritiker der bürgerlichen Ideologie, Marx, einmal schrieb. Ihr Star wurde Willi Schlamm, früherer österreichischer Kommunist und Chefredakteur der Wiener Roten Fahne, der 1929 mit der Partei zerfiel und über Prag nach Amerika ging, wo er sich als Kommunistenfresser am rechten Flügel der Republikaner William nannte. Der aggressive kleine Mann mit der bohemehaften Fliege und den funkelnden Brillengläsern, heute Hohn und Haß über alles ausgießend, was intellektuell und links ist, dabei selber ein rabulistischer Intellektueller von Graden, entstammte jenem eigentümlichen Milieu des österreichischen Caféhaus-Marxismus, an dem schon Trotzki befremdet "unverhüllten Chauvinismus, die Prahlsucht kleiner Bourgeois und einen heiligen Schauer vor der Polizei" konstatiert hatte, ein selbstzufriedenes Philistertum, dem es mehr um rhetorische Rechthaberei als um die Revolution ging. "Das sind schon Revolutionäre!" hatte der junge Russe erstaunt ausgerufen, und Schlamm, der gut zwei Jahrzehnte später dort auftauchte, blieb es auch nicht lange. Von diesem ersten Leben offenbar nichts mehr wissend, tritt er heute als der ernste, ultrakonservative Mann auf, der er immer schon war. "Mir, einem alten Konservativen, ist die beglückende Kontinuität des schöpferischen Europa noch nie fühlbarer gewesen als an diesen Abenden, da zwölf junge Leute aus Frankfurt mit jubilierender Genauigkeit alte Musik zelebrierten", schreibt er in einer lyrisch-politischen Betrachtung über "Kammermusik in Salzburg", die in den Kulturspalten des Reichs hätte stehen können. Der Revolutionär Mozart entlarve Beatniks und die Linksaußen der neudeutschen Kritik als "fade Reaktionäre". Ein von der Schweiz aus 1959 in Deutschland publiziertes Buch, Die Grenzen des Wunders, das den Deutschen wieder Mut zur Macht einredete, fand im politischen Kleinbürgertum und unter ehemaligen Nationalsozialisten eine begierige Leserschaft und wurde bald zur Nachttischlektüre schwärmerischer Krankenschwestern, unzufriedener kleiner Geschäftsleute und der jungen Fanatiker der ostdeutschen Jugendgruppen. Es blieb aber eine Wirkung im publizistischen Souterrain, keine ernsthaftere deutsche Zeitung hätte den wendigen Advokaten der Macht, den Paul Sethe einen "intellektuellen Scharlatan" nannte, mehr gedruckt. Erst Axel Springer verschaffte ihm nach einem mißglückten Debüt im Stern den Auftritt auf der großen Bühne.

Der romantische Traum vom starken Reich hatte auch den Basler Bahnbeamtensohn Armin Mohler nach Deutschland geführt, das erste Mal 1942 nach Berlin, wo der zweiundzwanzigjährige Bewunderer Ernst Jüngers, Niekischs und Arthur Moeller van den Brucks der Geschichte im Freikorps der Waffen-SS nahe sein wollte, aber abgewiesen wurde, das zweite Mal 1949 als Privatsekretär Ernst Jüngers, das dritte Mal 1961 als konservativer Schriftsteller und Bewunderer in der Umgebung des CSU-Landesvorsitzenden Strauß, um den Deutschen wieder "Mut zur Macht und Geschichte" zu machen. Der bündisch-elitären Begeisterung des jungen Schweizers verdankt der deutsche Neokonservativismus seine ausführlichste Beschreibung, eine zum Buch erweiterte, ebenso fleißige wie ideenverstiegene Dissertation über "Die Konservative Revolution in Deutschland 1918-1932, Grundriß ihrer Weltanschauungen" mit einer selbsterfundenen politischen Theologie von einem Oberleitbild und fünf Unterleitbildern, in der das Weltbild der Kugel gegen das Weltbild der Linie streitet. Der redliche, stämmige Schweizer, dem Freunde in seinen Schriften "ein Drittel Gedanken und zwei Drittel Emotionen" zubilligen und der sich stets als Frondeur fühlt, wo ihn längst das wohlwollende Kopfnicken der Mehrheit und der Mächtigen umgibt, hat in seiner Pariser Korrespondententätigkeit für die schweizerische Tat über die französischen Verhältnisse kluge Beobachtungen gemacht; die ungleichen Helden, die er sich hier erkor, waren Mendès-France und General de Gaulle. In den deutschen Dingen ist er von erstaunlicher Instinktlosigkeit. Die jungen Deutschen nach dem Kriege, "Berufsbewältiger", "Nationalmasochisten", "Richterknaben", "Ritterkreuzpietisten", liest man in seinem jüngsten Buch Was die Deutschen fürchten, "türmten die Kadaver der Juden, die nicht für sie gestorben waren, als Wall um sich auf, um Feldvorteil zu haben". Allerdings steht solcher konservativer Mut zur großen Geschichte in paradoxem Verhältnis zur Ängstlichkeit gegenüber der eigenen. Das Mißverständnis gipfelte in der Ehrung durch die nationale "Deutschland-Stiftung" e.V. in München, die den Konrad-Adenauer-Preis für Publizistik 1967 für "mutiges Eintreten gegen die auflösenden Kräfte unserer Zeit in schweizerischem Bürgersinn" an einen Schweizer Bürger verlieh, den die Schweizer Armee wegen seiner Fahnenflucht zum potentiellen Gegner in einem Augenblick großer Gefahr ausgestoßen hatte und den Traum vom imperialen Reich deutscher Nation im Militärstrafdetachement auf dem Zugerberg austräumen ließ. In dem Lebenslauf, dem Buch Was die Deutschen fürchten eigens angefügt, weil die "Auseinandersetzungen heute weitgehend biographisch geführt werden", findet sich kein Wort davon, sondern nur geschickte Aussparungen. Peinlich ertappt wie ein Schulbub mußte der wahrheitsmutige konservative Bekenner auch zugeben, daß er unter dem Pseudonym "Michael Hintermwald" gelegentlich in der Deutschen National-Zeitung und Soldaten-Zeitung geschrieben hatte.

Die Rolle des intellektuellen Verächters der Jakobiner spielt Winfried Martini, der geistreichste Poseur des neuen Konservativismus, der gern der überlegene Kopf der neuen Rechten geworden wäre, ein deutscher Burke, dem nur die Französische Revolution mit geköpften Noblen und Bürgern zur Abschreckung fehlt. Der gelernte Kaufmann, der sich auch im Staatsrecht umsah, im Krieg Korrespondent der Deutschen Allgemeinen Zeitung und Hilfsbeamter im Referat III der Informationsabteilung des Auswärtigen Amtes, das eine "subtile Form der Auslandspropaganda" in die neutrale Presse lancierte, konzentriert seine Bemühungen heute vor allem auf die Bundeswehr und die Maternpresse in der Provinz, mit der man "das Volk besser erreicht als mit anspruchsvollen Zeitungen". Martinis Bücher Das Ende aller Sicherheit und Freiheit auf Abruf sind die interessantesten Blendwerke des neuen Neokonservativismus. In den regelmäßigen Einladungen des gewandten Dialektikers zu Vorträgen in Stäben und Kasinos hat die demokratische Armee gewiß den Bock zum Gärtner gemacht. Der plauderbegabte, auf die Manieren eines Grandseigneurs bedachte alte Herr zählt zu den Musterbildern jener wieder parasitär in die demokratischen Institutionen eingedrungenen Neukonservativen, die, von vollendeter demokratischer Mimikri, beharrlich auf eine autoritäre Wendung der Dinge hoffen und sie betreiben, wo immer sich eine publizistische Gelegenheit dazu bietet. Hauptangriffsziel von Martinis Minierarbeit im Plauderton ist die Reform in der Armee, Graf Baudissins "Innere Führung".

Aus seiner Hilfstätigkeit in der Presseabteilung des Auswärtigen Amtes während des Krieges bezieht auch Hans-Georg von Studnitz seine kühnen machiavellistischen Ausblicke, der aristokratische Verächter der Demokraten auf der Bühne des Neuen Journalismus. Der adelsbewußte frühere Scherl-Journalist hat unter dem Titel Als Berlin brannte über diese Zeit ein bemerkenswertes "Diarium" veröffentlicht, von dem man fast nicht glauben kann, daß es von einem Aristokraten stammt, ein empfindsames Vademekum Der Adel als inneres Erlebnis, halb Klatschspalte, halb Jünger-Imitation. "Vom Atem der Geschichte kein Hauch, wohl aber Bratenduft und ein ungeheuerlicher Adelshochmut [...]. Sozialer Geist wird in Studnitz erst rebellisch, als er im Auswärtigen Amt keine privaten Ferngespräche mehr führen darf", beschreibt Hans Schwab-Felisch in einer Rezension bissig die "abgestandene, auch abgeschiedene Luft", von der Amateurdiplomaten wie Studnitz in den unteren Stellen der Staatsmaschinene umgeben waren und in der man beiläufig Burghard Preußen, Konstantin Österreich und Otto Bismarck treffen und am Ende erleichtert aufatmen darf, daß der kultivierte Freddy Horstmann auf seinem Kerzendorfer Besitz wenigstens das Augsburger Silber und einen Teil des Meißner Schwanenservices retten konnte. In ihrer "Unbeholfenheit im bunten Tuch", ihrer Neigung, den Diplomaten durch Richtlinien an die Vertragsschneider jede Möglichkeit zur persönlichen Eleganz ihrer Uniformen zu nehmen, fand Studnitz die Nationalsozialisten noch schlimmere Plebejer als die Demokraten, auf deren Staatsbanketten er heute nur das "edle Kristall sudetendeutscher Glasbläser" und "feines Tafelporzellan aus den Berliner, Nymphenburger und Ludwigsburger Manufakturen" vermißt. Neben solcher vor den Machthabern sorgsam gehüteten Kritik, die mehr den Sitten als den Taten des Dritten Reiches galt, verstand sich der Edelmann im Berliner Lokal-Anzeiger allerdings auch auf die handfeste Sprache des Scherl-Journalismus, der 1941, der Stunde gemäß, nicht mehr die goldenen Worte des Kaisers, sondern die "geniale außenpolitische Konzeption des Führers und seines Reichsaußenministers von Ribbentrop" deutete, das "Wesen des Nationalsozialismus", der "den Dualismus zwischen politischer und militärischer Kriegsführung beseitigt und der geeinten Kraft der Nation das Ziel des totalen Sieges gesetzt" habe. "Jude Roosevelt als Stratege", liest man am 14. November 1941 aus der Feder des nach Auskunft seines Verlegers Seewald heute wieder "hervorragenden Kenners des Auswärtigen Dienstes", der sich mit Bismarck nach Bonn denkt und die große Karte China spielt, werde mit seinen strategischen Prognosen kläglich scheitern, denn unter seinen Ratgebern sei "kein berühmter Flieger, kein erfolgreicher Feldherr, kein großer Admiral. Die Männer, mit denen Roosevelt Strategie erörtert, sind die gleichen, deren Vorfahren einst trockenen Fußes das Rote Meer zu kreuzen wußten. Sie kennen die Preise in aller Welt und außer diesen nur ein Gefühl: die jüdische Angst." Auf einen Amerikaner übertragen, werde diese jüdische Angst zum Irrsinn, "Schmutz, Schamlosigkeit, Dummheit und abgrundtiefer Mangel an politischer Moral" mache das "Wesen der Politik Roosevelts und seiner jüdischen Helfer" aus. Fünfundzwanzig Jahre später suchte der selbsternannte Militärschriftsteller, dem Exerzierplatz und Kugelpfeifen selber erspart geblieben sind, die neue deutsche Armee vor ähnlicher Unmännlichkeit zu bewahren.

Dem Reformer Graf Baudissin, der als junger Offizier in Afrika in Gefangenschaft geriet, sei die Anwesenheit in "geschichtlicher Stunde", "die Zeugenschaft des Rußlandfeldzuges", versagt geblieben, liest man in Studnitz’ neuester Schrift Rettet die Bundeswehr. Als Philosoph stamme der Graf aus der Zeit, "die den Scherenschnitt liebte und Schokolade im Schatten von Barrikaden genoß", als Soziologe erinnere er an einen Diagnostiker, "der das Dekolleté einer Kranken bewundert, um ihre Krebsgeschwulst nicht sehen zu müssen". Das Handbuch Innere Führung habe im Denken der Deutschen die Nachfolge von Mein Kampf angetreten. Wer daran rüttle, werde "nicht selten von den gleichen Leuten diffamiert, die Mein Kampf für die letzte Wahrheit hielten".

In Otto Freiherrn von Sass, genannt Matthias Walden, fand die Bühne ihren jugendlichen Helden, der zwischen den mehr sarkastischen alten Männern, von denen man nicht recht weiß, ob sie Zyniker oder Opfer ihrer Verdrängung sind, an das Gute glaubt, eine milde Philosophie des gesunden Menschenverstandes, der stets rechts steht und für den nur noch die Kommunisten das störende Element sind, Anhänger einer Art Geistesverwirrung. Man kann vermuten, daß diese leicht verständliche Botschaft Axel Springers Philosophie des "Seid nett zueinander" am nächsten kommt. Eine begabte Rundfunkstimme, die ihre netten Botschaften gut verkaufte, ließ den 1927 geborenen Dresdner, bis 1950 Redakteur der Zonen-CDU-Zeitung Die Union in Dresden, rasch zum Berliner Starkommentator werden. Fotos zeigen einen mehr schüchternen Menschen, der seine Miene und seine Metaphorik offenbar aufmerksam vor dem Spiegel probt. Quick-Chefredakteur Karl Heinz Hagen verleitete den antikommunistischen Freiherrn schließlich dazu, Starkolumnist zu werden, obwohl sein Umgang mit dem gedruckten Wort nicht eben glücklich ist: die todesmutig durchgehaltenen Metaphern haben oft einen kuriosen Effekt. "Das Licht aus dem Osten kommt nicht, weil es im Sack politischer Vorbehalte steckt", liest man etwa über die Berliner Festwochen. "Im Klatschen der Ohrfeigen hören unsere Gläubigen schon den Geigenklang der unankömmlichen Orchester." Von Bonn aus erscheint Berlin "wie eine Galerie, in die man zur Vernissage der Schwarzmaler kommt. Bundestag und Regierung können dazu beitragen, die Bilder aufzuhellen." Über die "fatale Minorität" der linken Studenten gibt es nichts zu lachen, weil "die taube Blüte der Groteske an einem dicken Ast studentischer Fehlentwicklung blüht". Axel Springers "staatsloyale Zeitungen" – Walden erfand das Wort – "treten der Regierung oft auf die Zehen, wenn auch nicht aufs Herz". Wie bei allen rechten Schriftstellern spielen Bilder der Hygiene und Sauberkeit eine große Rolle. In der "akademischen Variante des Gammlertums" sei der physischen Ungewaschenheit als Mittel, Mangel an Persönlichkeit durch Bürgerschock zu ersetzen, die noch viel unangenehmere Parallele der "vorsätzlichen geistigen Ungewaschenheit" erstanden. "Wir sind Nasenzeugen des peinlichen Geruches, der dabei entsteht." Antikommunismus, etwas ganz anderes als Antisemitismus, "ist ganz einfach entstanden und bei allen denen gewachsen, die das Abstoßende der Realitäten des Kommunismus empfanden". Sie seien gegen den Kommunismus und wollten deshalb, "daß er aufhört, zu bestehen. Es ist noch kein Mittel gegen den Krebs gefunden. Aber es wird weiter gesucht. Die Menschen sind gegen den Krebs. Nichts anderes ist Antikommunismus." Die Synonymität von "Jude" und "Marxist" in der nationalsozialistischen Terminologie, die eigentliche Sprengkraft dieser deutschen Ideologie, war dem Freiherrn offenbar entgangen. Hier geriet er mit seinen Metaphern auch am weitesten in das alte Vokabular. "Sprache und Gestik des Kommunismus, die Mittel seiner Selbstbehauptung", liest man in dem "Couturiers des Anti-Antikommunismus" überschriebenen Artikel weiter, seien "im wesentlichen minderwertig. Ihre Diagnose wäre eine Aufgabe der forensischen Psychiatrie."

Der neue Neokonservativismus will geistreich sein, will auf den Markt und auf dem Markt sich leicht verkaufen, zu dem ihm Axel Springer auf Rotationspapier, der Stuttgarter Verleger Heinrich Seewald zwischen Buchdeckeln wieder Zugang verschafft haben. Er spart nicht mit Reizeffekten, witzigen Beobachtungen und kühnen Klitterungen. "Es ist ja immer halb- und viertelsrichtig, was sie zu sagen haben", schreibt Golo Mann über "unsere Neo-Machiavellisten", "aber das sind gerade die gefährlichsten Sachen; wenn der Deutsche graziös sein will, so springt er zum Fenster hinaus, und wenn er realistisch sein will, wird er entweder zum Snob oder gemein oder beides." Hinter dem modischen Aufputz findet man jedoch die alten autoritätssüchtigen Vokabeln: Ordnung, Ernstfall, Notstand, Glaube, Volkstum, Halt nach innen, nach außen Macht und "unser unveräußerliches Recht". Als Gedanken, gar als politisches Konzept sind diese Reizworte kaum noch lebensfähig, als in Gedanken gekleidete Gefühle gewinnen sie jedoch Virulenz. Zwei Elemente machen sie vor allem bedenklich: die deutliche Zielrichtung auf die Bundeswehr, in der die neuen Ideologen offenbar Männer mit großen Maschinen und kleinen Köpfen vermuten, und die Koppelung der bedenkenlosen Geschichtsphantasmagorien mit dem neuen System der Massenpresse. Zu Transformatorenstationen wurden die Welt-Blätter, in denen die Prominenten der neuen Konservativen Revolution in gleichgesinnten Journalisten wie Pentzlin, Sander, Zehm, Hertz-Eichenrode, Schützsack usf. Rahmen und Kontinuität fanden. Seit je auch suchte die Welt aus der Anlehnung an die Staatsmaschine sich jenen Rest von Seriosität zu bewahren, den sie durch den Verfall ihres intellektuellen Niveaus längst verloren hatte. Bundeswehradressen nahmen auf der Liste von Welt-Vortragsreisenden schon immer einen bevorzugten Platz ein, als sei die Zeitung nebenbei auch ein Truppenbetreuungsinstitut: II. Bundeswehr-Korps Ulm, Aufklärungsgeschwader Immelmann, Wehrbereichskommando V, 4. Luftwaffendivision Aurich, Artillerieschule Idar-Oberstein, Panzergrenadier-Regiment 17, Raketenschule Eschweiler, Offizierschule München-Neubiberg, Luftwaffenparkregiment Erding und so fort.

Im Detail variierend, zeigt die neue Ideologie in den Kernfragen der deutschen Politik gleichwohl ein Grundmuster, das man den Neuen Nationalismus nennen könnte. Die Analyse stößt auf acht Komplexe, die sich differenzieren oder verknüpfen lassen, aber offenkundig Schwerpunkte bilden:

Acht Thesen des Neuen Nationalismus

1. Es ist an der Zeit, das Verhältnis zur Vergangenheit zu revidieren

Das Bild von der Vergangenheit entsprang nicht freiem Willen und freier Auseinandersetzung, sondern ist den Deutschen aufgezwungen worden. Die "Tabula rasa", die Deutschland darzustellen hatte, sei zum Experimentierfeld für linksliberale Amerikaner geworden, die "ihre gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Träume zu verwirklichen hofften, deren Erfüllung ihnen in den USA versagt blieb", meint Winfried Martini in einer Besprechung des Buches von Schrenck-Notzing Charakterwäsche – Die amerikanische Besatzung in Deutschland und ihre Folgen. Nach "haarsträubenden Theorien" hätten die Psychoanalytiker die neue deutsche "Couch-Elite" ausgewählt ("Charakterwäsche mit Spätzündung", Kristall 1965/24). Deutsche Intellektuelle wie Bertolt Brecht, Karl Jaspers, Thomas Mann, Ernst Niekisch haben nach Hans-Dietrich Sander damals "das deutsche Miserere mitgebetet. Während aber Amerikaner, Engländer und Franzosen deutsche Geschichte seither differenzierter zu betrachten sich anschickten, hängen manche deutschen Geister noch immer an der Flagellantenpose" ("Die legendäre Restauration", Welt, 23.04.1966). Die "Katecheten des deutschen Mi(e)serere" hätten in Klaus Harpprecht leider auch von rechts Zulauf bekommen, aber es sei zu hoffen, daß der Konservative, "ist die Hitze des ersten Parforceritts in das Gestrüpp abstruser Schuldverflechtungen erst einmal abgekühlt, der letzte sein wird, der das tückische Rankenwerk der Legenden nicht wieder zerrisse" ("Utopischer Kyffhäusertraum?", Welt, 10.12.1966). Denn zwanzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, konstatiert Armin Mohler, "setzt sich mehr und mehr die Meinung durch, daß man auf die Dauer die politischen Aufgaben nicht bewältigen kann, wenn man im Zustand des schuldbewältigenden Büßers verbleibt" ("Ist in Deutschland der Nationalismus im Vormarsch?", Welt, 16.06.1966). Zeitgeschichte und Politische Wissenschaften – meist nur in Anführungszeichen erwähnt – haben zur Bewältigung der Vergangenheit nicht nur nichts beigetragen, sondern das wahre Vergangenheitsbild überhaupt unmöglich gemacht. Sie haben nach Mohler vor der Aufgabe, "ein differenzierteres Wissen über diese Dinge zu vermitteln, mit ihren Schwarzweißdarstellungen völlig versagt" ("Der nächste ›Nazi‹ bitte!", Welt am Sonntag, 05.12.1966), nach Martini lediglich "unserer "Bewältigungsindustrie" als Lieferantin von historischem Zubehör" gedient ("Charakterwäsche als Spätzündung", a.a.O.). So konnte auch der Irrtum entstehen, die konservative Rechte und nicht die Linke sei an Hitlers Machtergreifung schuld gewesen, die "bequeme Legende vom konservativen Charakter des Nationalsozialismus". Die Weimarer Republik sei "nicht aus Illiberalität, sondern aus Liberalität zugrunde gegangen", weiß Hans-Dietrich Sander ("Die deutsche Frage – Entdeckungen und Irrlehren", Welt, 07.07.1966). Der deutsche Volkssouverän selber habe den beiden totalitären Parteien, "der NSDAP und der KPD zusammen", die absolute Mehrheit gegeben und sich damit eindeutig gegen die Weimarer Verfassung entschieden, meint Winfried Martini ("Dilemma der Demokratie", Welt, 05.03.1966). Nach Art unpolitischer Intellektueller, Politik unter moralischem Aspekt zu sehen, hätten viele Intellektuelle unter dem Eindruck von Hitlers Machtaufstieg die Wendung nach links vollzogen, "wobei sie freilich die ›linke‹ Komponente des Nationalsozialismus übersahen, die ebenso wie die anderen Linksbewegungen unserer Zeit in den Ideen der Französischen Revolution wurzelte" ("Lucy, der geheimnisvolle Doppelagent", Welt, 21.10.1966). "Die konservativen Deutschen", weiß William Schlamm, "waren gründlichere Hasser des Nazismus als Millionen deutscher Kommunisten, die sich von seiner revoluzzerischen Brutalität angezogen fühlten. Auf jeden deutschen Industriellen, der dem Hitler Geld gab, kamen Zehntausende ›Proleten‹, die ihm ihre Stimmen gaben." Die deutsche Rechte sei darum "ein eingebildeter Kranker", der an den Folgen eines Fiebers leide, "das ganz andere Leute hatten" ("Lachen links und rechts", Welt am Sonntag, 15.08.1965). Auch die Judenfrage erscheint nach solchem Sachverhalt in anderer Sicht: "Schon daß wir alle Juden, die zwischen 1945 und 1953 den Ostblock verließen, entschädigen, übersteigt vielleicht unsere moralische Verpflichtung", schreibt Winfried Martini. "Denn nur bei einem Teil von ihnen stand die Auswanderung in einem ursächlichen Zusammenhang mit den nationalsozialistischen Verfolgungen. Im übrigen aber ging und geht sie auf die kommunistische Bedrängung des Zionismus und der jüdischen Orthodoxie zurück." Zwar habe "gerade ich niemals den geringsten Zweifel daran gelassen, daß die Wiedergutmachung eine deutsche Ehrenschuld ist. Aber sie findet ihre selbstverständliche Grenze dort, wo Hitlers Schuld aufhört" ("Schuld nicht mit Politik verwechseln", Kristall 1965/14). So reduziert sich das Problem der Vergangenheit auf die Verbrechen einiger weniger, die gestorben oder deren Taten inzwischen verjährt sind. "Warum kam Hitler – war er Ursache, war er Wirkung?" fragt Wilfried Hertz-Eichenrode in "nachdenklicher Rückerinnerung". "So sehr kriminelle Verbrechen ihre Sühne finden müssen, mit einem eifernden Sündengericht kommt man dieser Frage nicht bei" ("Der Ruf nach Disziplin", Welt, 20.08.1966). Die Angriffe gegen Professor Oberländer, empört sich William Schlamm, beruhen, wie neuerdings die Angriffe gegen Bundespräsident Lübke, lediglich auf dem Vorwurf, "daß Herr Oberländer vor dreißig Jahren nicht ein Antifaschist gewesen ist" ("Ein Gruß an Heinrich Lübke", Welt am Sonntag, 30.01.1966). Als Sprecher der "Notgemeinschaft evangelischer Christen" mahnt Bernt von Heiseler auch die Kirche, "im deutschen Gemeinwesen nicht nur eine Haftungsgemeinschaft für Schuld aus der Vergangenheit, vielmehr eine in sich sinnvolle und uns alle verpflichtende Gemeinschaft" zu sehen ("Es geht uns ums Vaterland", Welt am Sonntag, 05.06.1966). So ist das Wiederaufleben des Nationalismus in der NPD im Grunde nichts Schlimmes und nur gut zu verstehen, was "den Schrecken betrifft", so begreift William Schlamm "den überhaupt nicht" ("Wer hat Angst vor der NPD", Welt am Sonntag, 03.04.1966). "In dieser Partei und um sie herum sammeln sich Menschen – viele von ihnen überraschenderweise unter dreißig Jahren –, die es satt haben, einer drittrangigen Nation anzugehören. Sie wollen nicht einsehen, weshalb ein Volk, das alle Kennzeichen und Fähigkeiten einer Nation ersten Ranges besitzt, nicht als solche handeln kann" ("Das Ende einer Affäre", Welt, 26.01.1967).

2. Die Bundesrepublik bedarf eines neuen Machtbewußtseins

Mit dem veränderten Verhältnis zur Vergangenheit müssen die Deutschen auch wieder ein neues Verhältnis zur Macht gewinnen, sich von der "nationalen Stigmatisierung der Macht", der "deutschen Lust am politischen Nirwana" befreien. "Die Zeit für Fleißaufgaben, mit denen sich Deutschland zwanzig Jahre lang ausschließlich um sein ›Image‹ im Ausland bemüht hat, ist vorbei", verkündet William Schlamm ("Ohne de Gaulle geht’s auch", Welt am Sonntag, 20.03.1966). Zwar bestehe "wenig Hoffnung, daß sich das schizophrene Verhältnis deutscher Intellektueller zum Problem der Macht bei der nachrückenden Generation der Gebildeten ändern wird", meint Axel Schützsack. "Wenn es um die Frage der Macht geht, zieht sich ein großer Teil unserer Studenten, gebrannte Kinder ihrer am Machtrausch des Dritten Reiches gestrauchelten Väter, auf die Moral zurück – auf einen moralischen Infantilismus, der etwas Rührendes und Raffiniertes zugleich an sich hat" ("Bitte um Prinzipientreue", Welt, 01.10.1966). Aber William Schlamm ist zuversichtlich, daß solches "aufgeweckte Gymnasiastengeschwätz", solcher "unterentwickelte Pazifismus" bald "vollkommen irrelevant" sein wird: "Sehr bald wird sich in Deutschland kein ernsthafter Mensch um solches Pennälergerede kümmern" ("Deutsche Schicksalsfragen", Welt am Sonntag, 01.08.1965). Politisch liege das Problem darin, daß "die Republik von einem Minderwertigkeitskomplex gequält ist, der sich an dieser einen verhängnisvollen Bruchstelle formt: daß die Republik, zur zweitstärksten Macht des Westens und drittstärksten Macht der Welt gewachsen, sich selbst immer noch als ›Provisorium‹ betrachtet. Der erste Schritt zu einer intellektuellen Ordnung in der Deutschlandpolitik, meine ich, hätte in der Liquidierung des närrischen Begriffs ›Provisorium‹ zu bestehen. Die Bundesrepublik ist, weiß Gott, kein ›Provisorium‹, sondern, ganz im Gegenteil, die bleibendste und gesündeste Struktur des europäischen Kontinents." Von dieser gesunden Struktur aus habe die Bundesrepublik offensiv zu denken. "Die Bundesrepublik – das ist das eine und einzige Deutschland, dessen Gebiete östlich der Elbe immer noch von fremden Truppen besetzt sind. Und das einzige deutsche Provisorium ist dieser widernatürliche, dieser unerträgliche Besatzungszustand. Da die fremde Besatzungsmacht im Osten ihre Position offenbar nicht aus freien Stücken räumen wird, muß sie von der Notwendigkeit der Räumung überzeugt werden. Wie? Das hängt natürlich davon ab, wie man die Stärken, die Schwächen, die Interessen, die Nervenzustände dieser Ostmacht einschätzt." Mit anderen Worten: Macht sei, "was dem deutschen Recht nützt". Alle erdenkliche deutsche Macht habe vernünftig zur Durchsetzung des deutschen Rechtes verwendet zu werden. Zwanzig Jahre lang hätten die Deutschen sich angewöhnt, "über rationelle [sic] Probleme wie Recht und Macht so emotionell zu debattieren, wie man von Schuld und Sühne redet. Aber Nationen begegnen einander nicht im Beichtstuhl. Das nationale Schicksal wird in der Begegnung von Recht und Macht entschieden" ("Verwirrung unter Patrioten", Welt am Sonntag, 10.07.1966). Auch die evangelische Kirche muß dazu beitragen, das Mißtrauen gegen die Macht wieder zu überwinden, fordert Pfarrer Alexander Evertz. "Zahlreiche Theologen stehen nach den schlimmen Erfahrungen, die wir gemacht haben, bewußt oder unbewußt unter dem Eindruck, alle politische Macht sei böse. Deshalb sehen sie ihre Aufgabe darin, gegen alle Äußerungen der Macht ihre protestierende Stimme zu erheben und mit der Lautstärke kapitolinischer Gänse auf wirkliche oder eingebildete Gefahren aufmerksam zu machen" ("Die Kirche darf nicht auf die Rechte des Volkes verzichten", Welt am Sonntag, 21.05.1967). De Gaulle, freut sich Hans-Georg von Studnitz, habe die Rückkehr zur nationalen Politik des "souveränen, selbstbewußten und selbstgesteuerten" deutschen Staates freigemacht. "Nachdem de Gaulle eine neue Partie eröffnet hat, in der sogar abgelegte Karten wie Großbritannien und bisher unbenutzte wie Spanien auftauchen, hat auch Bonn das Recht, alles zu überdenken." Es sei zum Beispiel zu überprüfen, ob die europäische Wirtschaftsgemeinschaft mit den Verlusten der deutschen Landwirtschaft nicht zu teuer bezahlt sei und die NATO-Integration der Bundeswehr nach dem Austritt Frankreichs noch Sinn habe. "Wie nach einem Gewitter zeichnen sich die Konturen der politischen Landschaft Europas nun schärfer ab. De Gaulle hat dafür gesorgt, daß jedermann sie unbewehrten Auges wahrnehmen kann" ("Handlungsfreiheit", Welt am Sonntag, 12.09.1965). Die Frage spitzt sich auf das militärische Potential der Bundesrepublik zu. Hier müssen die Deutschen sich endlich von den überholten Tabus befreien, denn "Deutschland ist stark genug, sich während der kritischen paar Wochen ›konventionell‹ allein zu verteidigen", meint William Schlamm. Es sei nicht mehr die Zeit, sich vordringlich um "Schildas barocke Attrappen" zu kümmern. "Vielmehr ist jetzt die Zeit, die Struktur der deutschen Sicherheit fertigzubauen: ein ›konventionell‹ und optimal gerüstetes Deutschland in einem echten Bündnis mit einem atomar entschlossenen Amerika" ("Tabus in Schilda ...", Welt am Sonntag, 24.04.1966). Es gilt, die Linien auch atomar auszuziehen: "Nationale Souveränität ist nur dann gesichert, wenn ihre Verletzung, unmittelbar und unbezweifelbar atomare Konsequenzen nach sich zöge" ("Deutsche Schicksalsfragen", Welt am Sonntag, 01.08.1965). Daraus folgt ein klares Konzept für ein Deutschland, das sich endlich "in Bewegung setzen" muß: "Atomarer Schutz Deutschlands kann nur auf eine dieser zwei Arten gesichert werden: 1. Amerika verpflichtet sich mit einem militärisch unterbauten Vertrag, jeden Angriff auf die deutsche Souveränität als einen direkten Angriff auf die Souveränität der Vereinigten Staaten zu betrachten und zu beantworten. 2. Wenn die Vereinigten Staaten diese Verpflichtung nicht eingehen wollen, beginnt Deutschland ohne Verzug mit der Entwicklung seiner eigenen Atomwaffe. Daß nämlich eine halbwegs gesunde Nation sich um den eigenen Schutz kümmert, findet jeder Amerikaner absolut selbstverständlich und absolut korrekt. Was ihn an der deutschen Außenpolitik stutzig macht, ist im Gegenteil ihre total unglaubwürdige Leisetreterei. Dieser Leisetreterei ein Ende zu bereiten, ist die vornehmste und dringlichste Aufgabe der neuen Regierung" ("Verlogene Atom-Debatte", Welt am Sonntag, 31.10.1965).

3. Das Volk braucht Glauben und Halt

Nach einem Prozeß der Entwurzelung brauchen die Deutschen wieder Glauben und Bindung. Jahre hindurch konnten sich "die Prediger ungebundener Freiheit nicht genug tun, die Autorität zu verdammen. Statt froh zu sein, in schwerer Zeit einen Mann wie Konrad Adenauer zu haben, hat man ihn als "Autokraten" verketzert", schreibt Wilfried Hertz-Eichenrode. Der Staat und seine Institutionen seien durch maßlose Kritik herabgewürdigt worden. Nun aber steige wieder "brennendes Interesse" auf, "in der modernen Zeit das Glaubensgut zu erhalten. Das elementare Interesse daran zeugt davon, daß die Menschen einen Halt suchen. Sie brauchen ihn; denn die pluralistische Gesellschaft, auf die wir so stolz sind, gewährt zwar Freiheit, aber es ist die Freiheit der Vereinsamten. Es ist die Frage nach der "inneren Führung" im demokratischen Staat gestellt" ("Der Ruf nach Disziplin", Welt, 20.08.1966). Zwar hat nach Hertz-Eichenrode auch in den Kirchen "ein theologischer Intellektualismus die Felder der Frömmigkeit kahl gemacht", nach Pfarrer Evertz ein "neuprotestantischer Futurismus" den illusionären Marsch in die kommende "Weltgesellschaft" angetreten, aber der national gesinnte Christ wende sich wieder einer neuen "gereinigten Vaterlandsliebe" zu, "die vor Gott und Menschen in Ordnung ist. [...] Gott selber bindet uns an diese Stelle. Der Abfall vom Vaterland ist darum nicht nur unnatürlich, er ist auch eine Schuld. Es ist genauso, als wenn einer seine Mutter haßt" ("Wie hält es die Kirche mit dem Vaterland?", Welt am Sonntag, 05.12.1965). Die Botschaft ist eindeutig: "Hier gibt ER uns die Wesensmerkmale unserer irdischen Existenz. Wenn man alles das, was uns durch die Familie, Heimat, Volk und Überlieferung in mannigfachen Merkmalen gegeben wird, abstreifen will, dann ist man gar kein richtiger Mensch mehr. Man ist, mit Helmut Thielicke zu sprechen, nur noch ein "scheinleibliches Abstraktum"" ("Das Vaterland darf nicht abgeschrieben werden", Welt, 03.12.1966). Da fordere endlich einer unseren Staat auf, "die Jugend ›für sich in Dienst zu nehmen‹; da setzt einer den abstrakten Formeln, die heutzutage gern gebraucht werden, das Vaterland als gelebte Umwelt entgegen; da beschwört einer das Pathos als ›göttlichen Funken im Nationalgefühl‹. Sogar die Idee der Volksgemeinschaft wird aus dem Kehricht einer Vergangenheitsbewältigung gerettet, die weder Gegenwart noch Zukunft ›bewältigen‹ kann", begeistert sich Hertz-Eichenrode an dem Buch des Daimler-Benz-Angestellten Dr. Heinz Burneleit "Ich hab mich ergeben ...", einer patriotischen Zitatensammlung von Heuss und Lübke bis Strauß und Axel Springer. Mit den Ausflüchten der Vaterlandsverächter gehe Burneleit "scharf ins Gericht: Wer von Freiheit redet, um Rechte für sich in Anspruch zu nehmen und die Pflichten gegenüber der Gemeinschaft zu leugnen, macht die Freiheit zum Götzen." Wer den Mißbrauch der Ideen Volk und Volksgemeinschaft durch Hitler ins Feld führe, "mißachtet die europäische Geschichte und auch die Erfahrung, daß es keine ›Gabe Gottes‹ gibt, die nicht mißbraucht werden könnte. Die Flucht vor dem Vaterland in übernationale Ordnungen führt in die Irre, denn national und europäisch muß kein Gegensatz sein. Was kann das Ergebnis von Ausflüchten anderes sein als Staatsverdrossenheit?" ("Wieder lernen, auf natürliche Weise deutsch zu sein", Welt, 22.03.1967). Vor allem die Bundeswehr bedürfe dringend einer neuen "geistlichen Rüstung", schreibt Hans-Georg von Studnitz über eine Tagung der Militärseelsorge in Münster, von der ein Soldat seinen Vorgesetzten "schockiert und erschreckt" die Abwesenheit von vaterländischem Gedankengut gemeldet habe. "Von jungen Soldaten, die Seelsorgern und Offizieren ausgeliefert bleiben, wie sie in diesem Bericht auftreten, denen Vaterland, Geschichte, Volkstum zerfleddert und Vertreibung als Gottesgericht dargestellt werden, soll man nicht erwarten, daß sie ihr Leben für die ›freie Wirtschaft‹ in die Schanze schlagen" ("Hier zerfledderte man das Vaterland", Welt am Sonntag, 22.05.1966). Die neue Armee bedürfe anderer Symbole, schon die Reichswehr sei in dieser Hinsicht "kümmerlich genug bedient" gewesen. "Die schwarz-rot-goldenen Farben können ebensowenig wie das gegenwärtige Bundeswappen als Elemente militärischer Tradition gelten, da deutsche Soldaten niemals unter diesen Feldzeichen gefochten haben." Was die Truppe brauche, sei eine "Anlehnung an die deutsche Militärgeschichte, an soldatische Vorbilder, denen nachzuleben und nachzusterben das Ziel sein soll" ("Zweifel an Hassels Traditions-Erlaß", Welt am Sonntag, 25.07.1965). William Schlamm kennt die "saubere, fröhliche, im wesentlichen zutiefst ernsthafte studentische Jugend Deutschlands", die sich "allein und verlassen von der Berufspolitik" fühlt. Er sieht das Problem vor allem propagandistisch, denn "die jungen Menschen Deutschlands verlangen eine klare und engagierte Sprache. Niemand kann mir einreden, daß es in Deutschland an Intelligenz, Geld und verlegerischem Talent fehlt, die patriotische Grundhaltung der drei Parteien gegen die Wadenbeißer und Hosenzerreißer glaubhaft zu formulieren. Der deutschen Regierung und der deutschen Berufspolitik fehlt es nur an charakterlichem Mut" ("Augstein macht jetzt ernst", Welt am Sonntag, 27.06.1965). Zu Tausenden findet Schlamm in den "Studierstuben der kleinen Universitätsstädte, in deutschen Pfarrhäusern" auch die wahre deutsche Intelligenz, die "Stillen im Lande, die sich nicht gegen ihr Volk entwickeln, sondern mit ihm". Sie bewegen sich "behutsam und verantwortungsvoll in dem Raum, dem sie sich verpflichtet haben – dem Raum des Geistes. Und es ist, da sie Deutsche sind, ›deutscher Geist‹" ("Sitzt die Intelligenz links?", Welt am Sonntag, 17.10.1965). Über die vaterländische Glaubensnot "drangen immer neue Stimmen an uns heran, die zeigten, welche Verwirrung, Ratlosigkeit, ja Verzweiflung sich ausgebreitet hatte", erklärt Bernt von Heiseler für die Notgemeinschaft evangelischer Christen, die dem Glaubensnotstand patriotisch abhelfen will. "Wir sind nicht aus eigenem Wunsch aufgetreten. Man hat uns gerufen."

4. Intellektuelle und Linke zersetzen die Nation

Von tiefem Schaden für Volk und Staat ist dagegen die Kritik der intellektuellen Linken. Sie erinnert den unmittelbaren Zeugen und unermüdlichen Warner Hans Zehrer an Weimar, wo "die Freiheit schon einmal in die Libertinage übergegangen und mißbraucht worden ist" ("Wie frei eigentlich", Welt am Sonntag, 01.08.1965). Der "hämische Slang der Intellektuellen, die boshafte Ranküne dieses Intellektuellen-Deutsch" habe schon jetzt die Luft der Bundesrepublik "weimarisch verpestet", schreibt William Schlamm. Wohl sei das, was die deutsche Intelligenz ihrem Staat vorzuwerfen habe, "dem Volk total gleichgültig", aber "das Deutschland von heute gerät in die gleiche Verpestung hinein. Ich rieche in Deutschland den Unrat des unverfrorenen Zynismus" ("Die höhnische Stimmlage", Welt am Sonntag, 10.04.1966). Solche epidemische Ausbreitung der Linken könne "diesen Staat recht bald zum Spielball jedes Druckes von außen machen", meint Armin Mohler ("Wir sind keine ›kalten Krieger›‹", Welt am Sonntag, 17.04.1966). Darum müßten sich die konservativen Federn heute aus "bitterer Notwendigkeit in erster Linie dem Kampf gegen die intellektuelle Linke widmen" ("Konservative in Deutschland", Welt, 26.02.1966). Diese Linke hat sich überall eingenistet, in den öffentlich-rechtlichen Anstalten des Rundfunks und Fernsehens, in den Kirchen, in der Presse, in den Universitäten, in Kunst und Literatur, ja selbst noch in der SPD, die trotz "Wehners Maskerade der verbürgerlichten SPD [...] immer noch die Partei der deutschen Revolution ist", wie William Schlamm enthüllt. Vor allem im deutschen Fernsehjournalismus sei die Libertinage unerträglich geworden, schreibt Schlamm in einem seiner haßerfülltesten Artikel. "Ein paar Dutzend Schreiber und Schwätzer, aus öffentlichen Mitteln bezahlt, haben sich des deutschen Äthers bemächtigt und handhaben das Fernsehen als ein politisches Privatgeschäft. Der Diebstahl wird mit hohen Motiven gerechtfertigt, zum Beispiel mit ›Meinungsfreiheit‹. Dem Diebstahl wird also noch ein Schwindel hinzugefügt, und es ist höchste Zeit, mit diesem Schwindel aufzuräumen. [...] Was macht eigentlich der Deutsche Bundestag? Gibt es ihn noch? Nach dem Buchstaben und dem Geist des Grundgesetzes hat er der Schutzherr der deutschen Demokratie zu sein." Den Intendanten dürfe nicht länger gestattet werden, sich "auf angeheuerte Schwätzer auszureden. Für jeden von ihnen sind die Intendanten verantwortlich. Und sie haben sich also vor einem Untersuchungsausschuß des Bundestages zu verantworten" ("Fernseh-Störung", Welt am Sonntag, 06.02.1966). Wie anders in England, berichtet Hans-Georg von Studnitz, wo eine Lehrerin gegen ein einziges obszönes Wort im Fernsehen 425.000 Unterschriften für einen "sauberen Bildschirm" zusammengebracht habe. "Das so gern strapazierte ›Volksempfinden‹ reagiert nun einmal anders und gesünder als Kreise, denen nur das Unnatürliche den ersehnten Nervenkitzel schenkt" ("Der Fernseh-Satire fehlt die Konkurrenz", Welt am Sonntag, 16.01.1966). Der deutschen "Linkspresse", die "einer verschandelten Jugend grinsend den Hof macht", gelüstet es nach Schlamm nach "LSD und DDR, nach Gammlern und Vietniks, nach Sexpartys und Versammlungssprengungen. Alles, versteht sich, nur im ›schwarzen Humor‹, im ›toleranten‹ Geiste von Schwabing – harmlos, aber gemein" ("Erhard und die Gammler", Welt am Sonntag, 17.07.1966). Es sei zu konstatieren "die Dekadenz der öffentlichen Meinung zur öffentlichen Fehlmeinung. Recht ist, was der deutschen Linkspresse nützt. Wahrheit ist, was der Spiegel versteht. Und Freiheit ist, was dem Strauß schadet. Aber wie lange kann sich Deutschland das leisten?" ("Die öffentliche Fehlmeinung", Welt am Sonntag, 28.11.1965). Aus einer "mißverstandenen Modernität" dränge auch die evangelische Kirche "in den Strudel der diesseitigen Dinge", beklagt Hans Zehrer, es läge wohl an der "rationalen und dialektischen Theologie", daß die Christen "so unfröhlich und finster" geworden seien an Stelle einer "einfachen und unmittelbaren Glaubensüberzeugung". Bischof Dibelius, "der alte Mann, der an diesem Ostersonntag zum letztenmal predigt, sieht diese Gefahr sehr klar. In seinem Abschiedswort an seine Gemeinde schreibt er: ›Die Gefahr eines haltlosen inneren Zerfalls hat noch nie so hart an die Tür unseres Volkes und unserer Kirche geklopft wie heute‹" ("Sind Christen fröhlich?", Welt am Sonntag, 10.04.1966). Der "böse Geist der Gleichmacherei" treibe in den Demokratien sein Unwesen, schreibt der Christ Evertz, "aber alle Gleichmacherei steht im Widerspruch zu der Schöpfung Gottes. Der Schöpfer richtet sich nicht nach dem pseudodemokratischen Grundsatz ›Allen das gleiche‹. Er ist ein Liebhaber des Besonderen und gibt jedem das Seine." Die Gleichmacher wollten nur die Bindung an "Heimat, Überlieferung, Erbe, Volksbrauch und Sitte" zerreißen ("Die Kirche darf nicht auf die Rechte des Volkes verzichten", Welt am Sonntag, 21.05.1967). Die Bindungen an Heimat und Volk, so Hertz-Eichenrode, würden von manchen Protestanten "preisgegeben für das Leitbild einer konturenlosen Weltgesellschaft" ("Vor dem Evangelischen Kirchentag", Welt, 03.06.1967). Im "Rückfall in ein anarchisches Urchristentum" stellten sich manche Pastoren gar "bewußt und konsequent jenseits staatlicher Bindungen", verwundert sich Walter Görlitz über die Weigerung von drei Flensburger Pfarrern, einen Gedenkgottesdienst zur Traditionsfeier des Füsilier-Regimentes Nr. 86 abzuhalten, dessen Chef überdies noch die Königin von Preußen und Deutsche Kaiserin gewesen sei ("Gefallenenehrung nicht in der Kirche?", Welt, 23.03.1967). Solcher Undank westdeutscher Kirchenmänner übersähe ganz, daß die Kirche "Kostgänger des Staates geblieben ist", schreibt Hans-Georg von Studnitz. "Sie dankt vielmehr ihre materielle Existenz der Kirchensteuer, die der Staat progressiv zur Einkommensteuer von allen Bürgern erhebt, die nicht ihrer Zugehörigkeit zur Kirche entsagt haben. Man mag über diesen Zustand denken wie man will. Er bindet die Kirche an den Staat, der sie ernährt, und legt ihr Rücksichten auf, die nicht verletzt werden können, ohne daß die Glaubwürdigkeit der Kirche Schaden nimmt" ("Die Kirche und das Glatteis der Politik ...", Welt am Sonntag, 05.11.1966). Selbst in der katholischen Kirche gibt es linke Intellektuelle wie den Münchner Jesuiten Professor Karl Rahner, der in einer Diskussion mit Marxisten "in schönstem postkonziliärem Stil den Gegner zu unterlaufen" suchte, muß Armin Mohler feststellen. "Eilfertig distanzierte er sich der östlichen Phalanx gegenüber vom ›bürgerlichen Konservatismus‹. Der Mensch sei ›grundsätzlich operabel‹ und dürfe es sein, ja er sei ›das sich manipulierende Wesen‹. In der Pause konnte man einen christlichen Teilnehmer schimpfen hören: ›Unsere Tagungstheologen sollten sich doch einmal von einem kleinen Gemeindepriester etwas über Jesus Christus und über das Sakrament erzählen lassen‹". ("Vom Stil deutscher Gespräche", Welt, 25.05.1966). An der "schreienden akademischen Linken" sind nach Matthias Waldens Beobachtungen vor allem die Politischen Wissenschaften und die Soziologie schuld, die ein "akademisches Spezialistentum in seiner ganzen zeittypischen Enge" züchten, das "einige Seminare praktischer Demokratie, einige Übungen in gelebter Freiheit" versäumt hat und zum "immatrikulierten, mobilisierten Mob" geworden ist. Ein Zentrum scheine in Berlin vor allem das Otto-Suhr-Institut für politische Wissenschaften zu sein, von dem "wir Außenstehende nicht ausschließen können, daß einiges von dem ideologischen Wildwuchs in Lehrplan und Lehrkörper des Instituts wurzelt" ("Links vom Geist", Welt, 07.01.1967). Wenig ist auch der SPD zu trauen, in der nach Hertz-Eichenrode mit dem Widerstand gegen die Notstandsgesetze eine neue "Windsbraut aufkommt [...], Unlust am Staat, Griesgram über die gesellschafts- und innenpolitische Entwicklung, Nachhut des Klassenkampfes, Missionseifer unverbesserlicher Marxisten" ("Die innere Opposition", Welt, 26.04.1966). Herr Wehner, der "bei Marx in die Schule gegangen und ein echter Marxist geblieben ist", wird sich nach William Schlamm über das Bürgertum am Ende ins Fäustchen lachen, weil er mit der "Nervenzehrung und dem Charakterverbrauch des Bürgers" rechnet. "Er wird die komischen Figuren des deutschen Bürgertums, die Herren Rüdiger Altmann und Rudolf Augstein zu zügeln haben; denn der echte Revolutionär hat für die Hysterie der Amateure nichts übrig. Er weiß, was er tut, denn seine Zeit ist gekommen. Ich gratuliere Herrn Wehner – und trauere um die deutsche Republik" ("Und nun – ›Deutschland‹-Plan?", Welt am Sonntag, 08.05.1966). Die "Schickeria der ›Hauptstadt der Playboys‹ vom Adel, vom Großverleger und vom Porzellanfabrikanten bis zum letzten Starlett" habe in der letzten Wahl zwar für die Linke votiert, schreibt Armin Mohler, aber "der einfache Mann und vor allem die einfache Frau" hätten der CSU ihre Mehrheit erhalten, daraus könne der Parteiführer Strauß den Anspruch ableiten, "vom Wahlvolk einen besonderen Auftrag erhalten zu haben" ("Der bayerische Bumerang", Welt am Sonntag, 26.09.1965). In der Bundesrepublik gibt es zwar nur noch eine Handvoll überzeugter Kommunisten, aber die kommunistische Steuerung der "Weltlinken" ist für das scharfe Auge des Konservativen Schlamm unverkennbar: "Das Gewissen der Herren Böll, Richter und Enzensberger ist politisch trainiert. Es regt sich auf Kommando. Und das Kommando wird von Experten gegeben. Das Gewissen der Herren Böll, Richter und Enzensberger wird kompetent verwaltet. Es rührt sich nach Bedarf, nämlich nach dem Bedarf einer weltweiten Agitprop." Gewiß seien die Herren Böll, Enzensberger und Richter keine Kommunisten. "Sie sind nichts als Lautsprecher einer größenwahnsinnigen Publizität, die von kommunistischen Experten mit taktischer Kühle gesteuert wird. Diese Experten wissen, daß ein weltweiter Protest, um wirksam zu sein, nicht verzettelt werden darf. In diesem Augenblick geht alles gegen Amerika –basta! Zu dumm, daß Sukarnos Armee gerade in diesem Augenblick ›gründlich‹ macht." So sei Herr Böll "brav. Er protestiert, und er hält den Mund, wann immer es von den richtigen Leuten gewünscht wird. So ein humanistisches Gewissen ist überaus empfindsam – für Weisungen" (Schlamm, "Wann ist Mord ein Mord?", Welt am Sonntag, 06.11.1966).

5. Die Demokratie ist kein Selbstzweck

Der Ernstfall, der in der Zersetzung von links droht, erlaubt nicht, die Demokratie zum Selbstzweck zu machen. "Heute läßt sich kein vernünftiger Mensch mehr von der Sottise verwirren, eine Demokratie sei verpflichtet, demokratisch zugrunde zu gehen. Wir haben gelernt, daß die Freiheit der politischen Werbung nur denen zukommt, die diese Freiheit nicht aufheben wollen", meint William Schlamm. Die gedankliche Verwirrung käme nur von "gewissen Wortkünstlern und Meinungsmachern", deren Wirkung gerade darin läge, daß sie sich nicht mit den Kommunisten identifizieren ("Knüppel aus dem Sack ...", Welt am Sonntag, 14.11.1965). Die Vernünftigen seien heute durchaus bereit, "die Idee der Demokratie für einige Zeit leichten Herzens zu verabschieden, wenn es darum ginge, eine neue totalitäre Springflut abprallen zu lassen", schreibt Hans-Dietrich Sander ("Die legendäre Restauration", Welt, 23.04.1966). In den Köpfen der Linken, die sich gegen die Notstandsgesetze wendet, spuke ein falsches Bild von der Weimarer Republik, meint Hans Zehrer, denn "wenn es wirklich ernst wird, kann nur der Staat helfen" ("Das Nein des DGB", Welt am Sonntag, 15.05.1966). Die Übersteigerung des Freiheitsbegriffs bei Jaspers führe ins Chaos statt in die "Ausgewogenheit in der Bindung an staatliche Ordnung", mahnt Wilfried Hertz-Eichenrode ("Gespensterschau des Philosophen Jaspers", Welt, 19.03.1966). Die Opposition gegen die Notstandsgesetze, die für diesen Publizisten der ernsteste Schaden ist, "schürt in der Bevölkerung den Unmut gegenüber Bundestag und Bundesregierung, fördert die Staatsverdrossenheit und bietet den Kommunisten Ansätze, Einfluß zu gewinnen" ("Notstandsgesetze – Wer ist dagegen?", Welt, 28.10.1966). Es stelle sich ernsthaft die Frage nach dem "Verhältnis des Sozialisten, der Linken, zum Staat" ("Die innere Opposition", Welt, 26.04.1966). Mit dem konservativen Staatsrechtler Ernst Forsthoff erkennt Winfried Martini, daß die gegenwärtige innenpolitische Stabilität nichts mit der Verfassung zu tun habe, sondern "ausschließlich mit der Konjunktur, die den Volkssouverän zu einem radikalen Verhalten weder an der Urne noch auf der Straße veranlaßt". Nach Forsthoff bedürfe es heute nicht einmal einer dramatischen Wirtschaftskrise wie in der Weimarer Republik, um den Ernstfall eintreten zu lassen, "der vielmehr in unserem ›Sozialstaat‹ bereits mit einer Stagnation des Sozialprodukts gegeben sein könne. Dann aber [...] brauche dieser Staat gerade die ›Herrschaft und Autorität‹, die er, solange das Sozialprodukt steige, nicht aufkommen lasse. Es ist nicht zu sehen, welche Normen das Grundgesetz in einem solchen Falle der Regierung zur Verfügung stellt" ("Konstruktives Mißtrauen", Welt, 26.11.1966). Der "Mangel an seelischer Souveränität im Verhältnis zur Macht, zu deren waffentragender Repräsentanz im Staat", sei eine "alte Krankheit der deutschen Demokratie", bemerkt Walter Görlitz anläßlich der Bundeswehrkrise im Herbst 1966 ("Protest der Generäle", Welt, 20.08.1966). "Um dem Notstand zum Respekt zu verhelfen, kann die Exekutive der Hilfe der bewaffneten Macht nicht entraten. Wie aber wird diese sich verhalten, wenn ein Teil der Offiziere und Mannschaften von ihren Gewerkschaften Gegenorders erhalten?" geißelt Hans-Georg von Studnitz die Erlaubnis gewerkschaftlicher Betätigung der Soldaten, die der Linken gar Einbruch in die Armee verschafft. "Die Koalitionsfreiheit wird zum Absurdum, wenn sie die Koalition mit der Katastrophe ermöglicht. Das sollten wir eigentlich gelernt haben" ("Nun eine ›Gewerkschafts-Armee‹?", Welt am Sonntag, 14.08.1966). Es ist auch an der Zeit, wieder ein neues Verhältnis zu autoritärer Führung, zur großen Führergestalt zu gewinnen. Seit Adenauers hoher Zeit, rügt Hertz-Eichenrode, sei das Gefühl dafür verkümmert, daß "keine Staatsführung ohne Autorität Vertrauen gewinnen kann" ("Die Krise – eine Chance", Welt, 29.10.1966). "Die Angst vor dem starken Mann ist der Komplex dieser Leute", schreibt Hans-Dietrich Sander über die "psychoanalytischen Schriftgelehrten in einigen Fernseh-Redaktionsstuben", für die der Vater das gleiche sei wie für die "marxistischen Pharisäer die ausbeuterischen Klassen". "Politik ist Macht über Menschen, nicht Verwaltung von Sachen, wie man 150 Jahre lang mit Claude de Saint-Simon utopisch geträumt hat. Die Entwicklung der russischen Revolution sollte in diesem Punkt jedes Mißverständnis beseitigt haben" ("Die verteufelte Macht", Welt, 26.03.1966). Aus der Zeit der Jägerwäsche gelte in der modernen Demokratie immer noch der "sentimentale Denkfehler, daß ein rechtschaffener Politiker ein ›idealistischer‹ Asket zu sein habe", präzisiert Schlamm sein Bild von der neuen Führergestalt. Der "lebensfrohe, genußfähige, energiegeladene Mann" diene der "Vitalität seiner Nation" jedoch verläßlicher. Sein Prätendent ist auch Armin Mohlers: mit seinem politischen Wiederaufstieg habe Franz Josef Strauß nicht nur sich selber, sondern auch die deutsche Politik restauriert. "Hier war endlich ein deutscher Politiker, der die Hetzpresse als das versteht und behandelt, was sie ist – Makulatur. Er ist auch der einzige Politiker, der die deutsche ›Links-Intelligenz‹ als das versteht und behandelt, was sie ist – nämlich eine Schar von Neurasthenikern, die am Ende sehr realistisch weiß, auf welcher Seite ihr Brot gebuttert ist. Von nun an weiß man in Deutschland, daß auch die boshafteste Neurasthenie einem gesunden Mann nichts anhaben kann – und an dieser Erkenntnis könnte die deutsche Politik geradezu genesen." So wie es geborene Mordopfer gebe, so gebe es geborene Selbstmörder gerade in der "aufgeregten Meute. Es drängte sie zu Strauß, an ihm hingen sie, gerade weil er der Mann war, sie abzuschütteln" ("Bundesminister Strauß", Welt am Sonntag, 21.08.1966).

6. Politik läßt sich nicht rational betreiben, sie ist etwas Elementares

Dem von einer starken Führerpersönlichkeit geleiteten Volk enthüllt sich Politik wieder als etwas Elementares; es muß mit der Illusion aufgeräumt werden, daß sie rational zu verstehen und zu leiten sei, gar unter Beteiligung der Wissenschaft. "Am Grunde politischen Handelns", weiß Albrecht Günther Zehm, "walten keine rational gewonnenen Einsichten, sondern elementare Lebensinteressen." Der politische Rationalismus sei zur bloßen Anerkennung der politischen Tatsachen, zum "Tatsachenfetischismus" geworden ("Reaktionärer Katechismus", Welt, 26.03.1966). Der Irrlehre einer rationalen Politik huldigten vor allem die "geistige Führungsschicht im freien Teil Deutschlands, Linksintellektuelle und Linksprotestanten", die "im demokratischen Staat nichts als eine Institutionalisierung von Funktionsabläufen sehen", schreibt Wilfried Hertz-Eichenrode mit Heinz Burneleit. Burneleit habe den Mut, "im Zeitalter der Wissenschaftsgläubigkeit zu den schlichten, aber lebenswahren Aussagen über den Menschen und seine Umwelt zurückzukehren. Daß die Deutschen wieder lernen, auf natürliche Weise deutsch zu sein, ist sein Wunsch" ("Wieder lernen, auf natürliche Weise deutsch zu sein", Welt, 22.03.1967). Die politischen Aufklärer erklärten das Volk für dumm, um es dann in der Pose des Praeceptors aufklären zu können, meint Hans-Georg von Studnitz. "Solange es nur um die Babypille oder das Existenzrecht von Lustmördern geht, mag das hingehen. Lebensfragen des deutschen Volkes wie Wiedervereinigung und Ostgebiete, Sicherheit der Verteidigung und der Währung sollten zu hoch stehen, um in dieser Weise abgehandelt zu werden" ("Die Kirche hätte besser geschwiegen", Welt am Sonntag, 14.11.1965). Die "Lüge vom Triumph der Vernunft" zeige schon die UNO, meint William Schlamm. In rund der Hälfte der Mitgliedstaaten bestehe die Masse der Bevölkerung aus Analphabeten. Er wünsche "den armen Menschen in Ghana und Uganda wahrhaftig etwas mehr zu essen und etwas mehr Glück im Kral", aber die "schöpferischen Völker" würden sich das "Gewäsch von der UNO-Demokratie" wohl nur noch eine Weile gleichmütig anhören, bei der ersten ernsthafteren Krise würden sie zu ihrer "vernünftigen Selbstverfügung" zurückkehren ("Das Unheil der UNO", Welt am Sonntag, 13.03.1966). Wie der Politiker aus Instinkt handle, habe Adenauer gezeigt, als die "internationalen Schlaumeier" in Genf mitten während des deutschen Wahlkampfes das Abrüstungsgeschäft abzuschließen hofften: "Da stand ein Abgeordneter auf, ein Mann ohne jegliches Regierungsamt, und er griff der wahren deutschen Not mitten ins Herz. Er sprach aufrichtig und klar, mit der Klugheit des Alters und dem Feuer echter Jugendlichkeit. Es war selbstverständlich Adenauer." Mit ein paar hundert Worten habe der Mann, dem "Deutschlands arrogante Halbintellektuelle" einen Wortschatz von nur tausend Worten nachrechneten, "dem Westen eine rettende Strategie formuliert", die "geschichtsformende Wahrheit: Deutschland darf sich in Genf nicht verkaufen lassen. Und von diesem Augenblick an beginnt der hysterische ›Abrüstungs‹-Spuk zu zerrinnen" ("Die Überraschung: Der Alte", Welt am Sonntag, 05.09.1965). Freilich wolle der richtige Umgang mit der Macht "gekonnt sein", schreibt Pfarrer Evertz. "Otto von Bismarck war der Meinung, daß man ihn nicht lernen könne, sondern dafür begabt sein müsse. Er hat gesagt: ›Die Politik ist keine Wissenschaft, wie viele Herren Professoren sich einbilden, sie ist eine Kunst. Sie ist ebensowenig Wissenschaft wie das Malen und Bildhauen‹" ("Die Kirche darf nicht auf die Rechte des Volkes verzichten", Welt am Sonntag, 21.05.1967). Für die Deutschen kristallisiert sich das Elementare in der Politik vor allem um die Lebensfragen der Wiedervereinigung und der Rückgewinnung der deutschen Ostgebiete; hier Wissenschaftler für Analysen heranzuziehen führt zur Lähmung. Die von dem Forschungsbeirat zur Wiedervereinigung bisher vorgelegten vier Berichte, rügt Hans-Georg von Studnitz, "verraten durch ihren Mangel an klaren, Überzeugung ausstrahlenden Thesen Angst vor der eigenen Wiedervereinigungscourage. Sie machen klar, daß ein politisches Anliegen wie die Wiedervereinigung nicht Wissenschaftlern überlassen bleiben kann." Mit dem Vorschlag komplizierter "Übergangslösungen", die gar "bolschewistische Wirtschaftsmethoden Seite an Seite mit denen einer freien Wirtschaft für möglich halten", nähmen die Wissenschaftler einen Standpunkt ein, "der nicht scharf genug abgelehnt werden kann". Es sei höchste Zeit, daß der Bundestag ein politisches Programm entwickle, "mit dem die Bevölkerung in Mitteldeutschland etwas anfangen kann" ("Ein Dokument deutschen Kleinmuts", Welt am Sonntag, 20.06.1965). Der Teich ruhe nicht so still und friedlich, wie es den Anschein habe, prophezeit Hans Zehrer, "wir nähern uns heute offensichtlich mit schnellen Schritten dem Augenblick, wo die Unruhe unseres Volkes stärker zu werden beginnt. Es bedarf nur eines großen Anstoßes, um sie elementar zum Durchbruch kommen zu lassen" ("Deutsche Schwäche", Welt am Sonntag, 08.05.1966). "Die deutsche Unruhe hat sich Bahn gebrochen", schreibt er in einer seiner letzten Visionen, von der man allerdings nicht mehr recht weiß, was sie meint. Sie habe "die Dämme gesprengt und vieles mit sich fortgerissen. Sie bricht elementar in einer Jugend auf, die nicht mehr die unmittelbare Verantwortung für die dunkle Vergangenheit der deutschen Geschichte trägt, sondern leidenschaftlich nach der Zukunft ihrer Geschichte fragt" ("Der 17. Juni 1966", Welt am Sonntag, 19.06.1966).

7. Die Revision der Grenzen beruht auf Recht und ist nur eine Frage der Zeit

In der Rückgewinnung der deutschen Ostgebiete fließen von Gott gegebenes Recht auf Heimat und Politik als elementares Ereignis zusammen. Sie gibt der nach innen einigen und nach außen dynamischen deutschen Politik Ziel und Rechtfertigung. "Naturrecht will die Heimat so erhalten, wie sie uns als Kinderland ans Herz gewachsen ist", zitiert Wilfried Hertz-Eichenrode aus dem "Lexikon des katholischen Lebens". Der Verzichtthese der Ostdenkschrift der evangelischen Kirche setze der katholische Autor Golombek mit gleicher Integrität die These entgegen, "daß die verletzte Sittenordnung nur geheilt werden könne durch die Durchsetzung des Rechts und daß so auch der Friede gewonnen werde. Denn ›Friede ist Ruhe in der Ordnung‹." Daraus folgt nach Hertz-Eichenrode, daß "die Vertreibermächte für ihre rechtswidrige Willkür verantwortlich und gegenüber ihren Opfern wiederherstellungspflichtig sind. Sofort stellt sich dem Leser die Frage nach der Durchsetzbarkeit; doch hier endet der kirchliche Auftrag, hier beginnt die praktische Politik" ("Ein katholisches Wort zur Vertreibung", Welt, 24.06.1967). "Wie die Juden oder Polen" klagten die Sudetendeutschen die Vergangenheit an, schreibt der gleiche Autor in einem anderen Artikel, "und wie bei den Juden und Polen wollen die Wunden nicht heilen, die ihnen Gewalttat geschlagen hat. Doch während niemand Mitgefühl und menschliches Verständnis denjenigen verweigert, an denen Deutschland Unrecht getan hat, nimmt die Verhärtung gegenüber denen zu, die Unrecht erleiden mußten, weil sie Deutsche waren." Hier sammle sich Explosivstoff an, aus dem nur Unheil kommen könne. "Die Warnzeichen stehen am Horizont des Jahrestages eines Ereignisses, das der Welt Klarheit darüber gab, welcher Vulkan ein geteiltes Deutschland ist." Man fordere "die Aussöhnung nicht durch Verzicht, sondern durch Gerechtigkeit" ("Der 13. Jahrestag", Welt, 16.06.1966). Wohl habe der größte Staatsmann der deutschen Geschichte, Otto von Bismarck, aus seinem christlichen Gewissen heraus ausgesprochene Eroberungsfeldzüge in fremde Interessengebiete abgelehnt, schreibt Pfarrer Evertz, "aber nun dürfen wir nicht in das Gegenteil verfallen und einer reinen Liebes- und Versöhnungspolitik das Wort reden, die sogar bereit ist, auf die Rechte des eigenen Volkes zu verzichten". Es gehe um einen Ausgleich auf der Grundlage des Rechts, "weil sonst Unrecht und Gewalttat in ihrer Bosheit bestätigt und ermuntert werden. Versöhnungspolitik ohne Gerechtigkeit und Wahrheit ist eine üble Sache" ("Die Kirche darf nicht auf die Rechte des Volkes verzichten", Welt am Sonntag, 21.05.1967). Die evangelische Kirche, geht Studnitz mit der Ostdenkschrift ins Gericht, "überschätzt ihre Verankerung in der Bevölkerung, wenn sie unter Berufung auf Gott der Vertreibung Aspekte abzugewinnen sucht, die auch der geduldigste Christ nicht hinzunehmen vermag. Begrüßt worden ist die Denkschrift von all denen, die sich seit Jahr und Tag für einen Verzicht auf die Ostgebiete einsetzen, weil sie nichts dagegen haben, daß die Vertriebenen den Krieg bezahlen. Von den ›Ritterkreuz-Pietisten‹, wie Armin Mohler gewisse religiöse Schwärmer genannt hat, von in der Leberwurst-Philosophie verharrenden Opportunisten des Wirtschaftswunders, von den politisch Denkfaulen und den Berufsbesiegten" ("Die Evangelische Kirche und der deutsche Osten", Welt am Sonntag, 31.10.1965). Schon Bismarck habe die Neigung, sich für fremde Nationalbestrebungen auf Kosten des eigenen Vaterlandes zu begeistern, eine politische Krankheitsform genannt, die sich geographisch leider nur auf Deutschland beschränke, liest man an anderer Stelle aus Studnitz’ Feder. Kontakte mit Polen seien nur sinnvoll, "wenn über etwas Klarheit besteht: Für Deutsche, die es ehrlich mit Polen meinen, denen die Aussöhnung mit dem polnischen Volk mehr gilt als die Unterstützung der kommunistischen Herrschaft in Polen, ist die Oder-Neiße-Linie keine Friedensgrenze, sondern eine Konfliktsgrenze. Solange die deutsche Teilung nicht überwunden wird, wozu Polen einen Beitrag leisten könnte, besitzt keine Regierung eines deutschen Teilstaates das Mandat, über die Neugestaltung deutscher Grenzen zu verhandeln" ("Ostpolitik muß ›zweckgebunden‹ sein", Welt am Sonntag, 29.01.1967). Winfried Martini ist auch fraglich, ob die Grenzen von 1937 so wünschenswert überhaupt seien, "denn sie schlossen weder den polnischen Korridor noch die "Freie Stadt" Danzig ein. Beides aber trug den Keim zum zweiten Weltkrieg in sich, insofern, als beides zu dem Aufstieg Hitlers beigetragen hatte" ("Verzicht ist kein Ausweg", Kristall 1965/20). Wie diese weiträumigen Ziele einer endgültigen Friedensordnung nach deutscher Vorstellung und göttlichem Recht einmal zu erreichen sein werden, bleibt vorerst noch dunkel, läßt sich aber aus geschichtlichen Analogien erschließen. "Letzten Endes", schreibt Martini im gleichen Artikel, "ist die Frage der Wiedervereinigung und der deutschen Ostgrenzen nur eine Frage der Gelegenheit. Die Geschichte ist von jeher eine Geschichte der Grenzveränderungen gewesen. In Locarno hatten wir 1925 auf Elsaß-Lothringen feierlich verzichtet. Und 15 Jahre später gehörte es uns wieder. Denn die Gelegenheit – was auch immer man von ihr gerade in diesem Falle halten mag – war da. Kein noch so begründeter Anspruch hilft, wenn die Gelegenheit ausbleibt. Und wenn die Gelegenheit kommt, dann ist es gleichgültig, ob der Anspruch besteht und wie er begründet ist." Ahnlich äußert sich Studnitz, der zwischendurch auch mit dem Gedanken gespielt hat, der westdeutsche Staat solle sich durch Grundgesetzänderung ausdrücklich mit dem Deutschen Reich identifizieren und auf dieser "Rechtsgrundlage" die DDR als "ein deutsches Land behandeln, in dem die Reichsgewalt zur Zeit nicht ausgeübt werden kann, ähnlich wie die Bundesgewalt gegenwärtig in Westberlin Einschränkungen unterworfen bleibt" ("Rückkehr zur alten Reichsidee", Welt am Sonntag, 11.12.1966). Als Frankreich 1871 zur Abtretung von Elsaß-Lothringen gezwungen worden sei, meditiert er wie Martini, nur mit umgekehrtem Vorzeichen, "gab es keinen Franzosen, der diesem Muß innerlich zustimmte. Mit einer vorbildlichen Disziplin bekannten sich alle politischen Richtungen zu dem Grundsatz: Immer daran denken, niemals davon sprechen! Es bedeutet – politisch gesehen – nichts anderes, als geduldiges Warten auf eine Veränderung der europäischen Machtverhältnisse, die die Annullierung der Abtretung gestatten würde." Nach fünfzig Jahren habe die Haltung ihre "geschichtliche Frucht" getragen. Wer darum aus politischen Gründen den Verzicht fordere, zeige, "daß er politisch nicht zu denken vermag. In der Situation, in der sich die Bundesrepublik befindet, kann es in vielen Fragen nur eine Haltung geben: Schweigen! Geduldig zu verharren, bis die Göttin der Geschichte durch den Raum streift, und sie dann – um mit Bismarck zu sprechen – am Saum ihres Gewandes zu fassen" ("Die Kirche hätte besser geschwiegen", Welt am Sonntag, 14.11.1965). Mit dem Blitzsieg Israels im Nahostkrieg tauchten in den Vorstellungen der neukonservativen Theoretiker offenbar auch konkretere Denkmöglichkeiten für den "Fall der Fälle" auf, von denen allerdings noch nicht zu erkennen ist, ob sie eine rasche kriegerische Aktion in günstiger Konfliktsituation oder etwas anderes meinen. "Den Israelis ist die Freiheit nicht geschenkt worden. Und auch den Deutschen wird sie nicht geschenkt werden. Gerade weil wir die Freiheit und Einheit ganz Deutschlands friedlich erstreben, dürfen wir in unserer Aktivität nie erlahmen", schreibt Studnitz noch doppeldeutig. William Schlamm drückt sich schon deutlicher aus. Die Kombination von Israels Aktivität und Amerikas wohlwollender Passivität habe ein "neues Bewegungsgesetz" in die Weltpolitik eingeführt, dessen "Endergebnis eine geschichtsformende Umwälzung im engen Raum des Nahen Ostens" sei. Mit der entschlossenen Kraft eines kleinen, aber selbstbewußten Volkes habe General Dayan, ungestört vom Gleichgewicht der Atomgiganten, "Tatsachen gesetzt". Der "vielbesungene Status quo" sei nämlich "nur dann aufrechtzuerhalten, wenn er in fortgesetzter Bewegung bleibt". Die "tapfere Besinnung kleinerer Nationen auf ihr gutes und unbestreitbares Recht" sei ihr wahrer Beitrag zum Weltfrieden, "mit anderen Worten: Niemand hat von Israels Haltung mehr zu lernen als Deutschland." Ein "von der "Weltmeinung" hypnotisiertes und paralysiertes Deutschland" werde die Sowjetunion in kritischer Lage auf sich ziehen, ein Deutschland dagegen, "das sich mit ruhiger Courage für seine Lebensinteressen einsetzt, wird den Weltfrieden retten. In beiden Fällen kann Deutschland nur mit der wohlwollenden Passivität Amerikas rechnen" ("Dr. Benesch und General Dayan", Welt am Sonntag, 18.06.1967).

8. Die deutsche Wunde muß offengehalten werden, mit dem Todfeind Kommunismus gibt es keine Entspannung

Die Gefahr für jede recht verstandene deutsche Politik ist jedoch die Entspannung. Der kalte Krieg ist nach William Schlamms Einsicht "ein Tatbestand der politischen Natur", ihn abzusagen würde "zunächst einmal Deutschland preisgeben. Denn eine ›Verständigung‹ zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion (oder auch nur Frankreichs mit der Sowjetunion) ist bloß auf Kosten Deutschlands denkbar" ("Die armen Amerikaner", Welt am Sonntag, 30.10.1966). Sie wäre aber auch für die dynamische Wirkung des Feindbildes verheerend. "Die Atomwaffen Amerikas halten uns den Feind fern. Der Vorteil bedarf keiner Hervorhebung", beklagt Winfried Martini, aber "der Nachteil besteht darin, daß uns sogar der Anblick des Feindes erspart bleibt. Daher vermag bei uns die Freiheit keinen Elan mehr zu entbinden, ihr fehlt das Banner. Wir sind zur Offensive nicht mehr fähig, wir denken strategisch und politisch nur noch defensiv. Längst hat sich die theoretische Rechtfertigung eingestellt: nur die Defensive sei ›moralisch‹ vertretbar. So ließ man 1953 die Arbeiter, das Volk der Zone allein, obwohl damals angesichts der politischen und militärischen Lage ein aktives Eingreifen kaum zum Kriege geführt hätte." Der 17. Juni sei darum nicht zur Fahne geworden, wie es in der Weimarer Republik noch Sedan gewesen sei. "Statt uns selber darüber in feierlichen Reden zu belügen, sollten wir darüber nachdenken, warum es so ist. Vielleicht sogar am 17. Juni" ("Freiheit in der Defensive", Kristall 1965/13). Das Motto des Evangelischen Kirchentages 1967 "Der Friede ist unter uns" habe gezeigt, daß auch die Christen in "törichten Vernunftoptimismus und schwärmerische Fortschrittsgläubigkeit" zu verfallen drohten, rügt Pfarrer Evertz, man suche die biblische Friedensbotschaft in ein "christliches Weltfriedensprogramm" zu verwandeln, glaube gar, man könne "durch einen Appell zur Zusammenarbeit von Christen und Marxisten eine Verbrüderung aller Menschen herbeiführen. Gerade hier zeigt es sich erneut, daß man die biblische Botschaft nicht mehr ganz ernst nimmt" ("Dieses Motto war für mich peinlich!", Welt am Sonntag, 02.07.1967). Die Nation verlangt vielmehr, "dem Mauer-Kommunismus unbeirrt zu widerstehen und das christliche Gebot der Nächstenliebe zuerst an den Landsleuten in Mitteldeutschland zu erfüllen", erkennt Wilfried Hertz-Eichenrode. Eine Regierung, die für eine so verstandene nationale Politik der Deutschen die angemessene Sprache finde, "wird ein zu Opfern bereites Volk hinter sich haben" ("Neue Formeln genügen nicht", Welt, 31.12.1966). Die Kommunisten, schreibt Martini, deklarierten sich selber als unsere Todfeinde, "es ist nicht ganz zu verstehen, warum sie nicht wenigstens in dieser Beziehung Glauben verdienten" ("Die Illusion des Lächelns", Kristall 1965/15). Der friedenslose Zustand müsse um jeden Preis aufrechterhalten werden, das Begehren der SPD nach einem Friedensvertrag wecke "viele schlafende Hunde, die leicht des Bonner Hasen Tod werden könnten", warnt Hans-Georg von Studnitz, "die Katastrophe würde bereits mit dem Verhandlungsbeginn eintreten". Der Friede sei verloren, "bevor das erste Wort über seine Paraphierung zu Papier gebracht werden könnte. Mit dem Odium eines Vertrages belastet, der das Deutsche Reich von 1937 auf die Bundesrepublik reduzieren würde, hätte die Bonner Demokratie keine größeren Überlebenschancen als die Weimarer. 1945 hätte ein Friedensvertrag Deutschland ausgelöscht, 1955 eine Katastrophe bedeutet, 1965 untragbare Verhältnisse geschaffen. Ein Friedensvertrag im Jahre 2000 könnte zu einem Kompromiß führen. Der Frieden ist existent, solange nicht geschossen wird. Mit diesem Zustand sollten wir uns zufriedengeben!" ("Friedensvertrag – und dann?", Welt am Sonntag, 29.08.1965). Matthias Walden sieht den Endsieg optimistisch schon etwas näher, denn "es geht dem Kommunismus per Saldo gar nicht gut. Er ist von Altersleiden geplagt, sklerotisch, von Kreislaufschwächen ermattet und von der überlegenen Gesundheit des Westens traumatisch gehemmt. Wir haben allen Grund, uns davon endlich ermutigt zu fühlen, daraus Zuversicht und den Mut zu einer geistigen Aggression gegen ein an der Wirklichkeit zerbrochenes Dogma zu gewinnen." Aber die Bereitschaft dürfe nicht nachlassen. Wer "meint, die Schwäche des Kommunismus verharmlose ihn gleichzeitig, ist schlecht beraten. Aus den Zweifeln des politischen Ostens kann Verzweiflung werden. Jeder Großwildjäger weiß, daß er sich einem waidwunden Tier nur mit besonderer Vorsicht nähern darf. Und ohne die sentimentale Regung, das Wichtigste sei nun, das verletzte Raubwild unverzüglich gesundzupflegen" ("Der Kommunismus leidet an Altersschwäche", Welt, 07.02.1967). Von der schon einmal verpaßten Chance, dem Raubwild endgültig den Todesstoß zu versetzen, schreibt William Schlamm warnend. Als Amerikas größter Soldat, General MacArthur, 1951 in Korea die entscheidende Kraft zusammengeballt habe, um die chinesische Grenze am Yalu zu überschreiten und den Krieg mit dem Sieg zu krönen, habe ihn Präsident Truman "gefeuert". "Es gibt keinen Ersatz für Sieg", habe der große Soldat gesagt. "Es darf keinen Sieg mehr geben", habe ihn Truman belehrt. "Als MacArthur der Sieg verboten wurde, ging es wahrhaftig noch nicht um den Weltuntergang, sondern es wurde schlicht und einfach auf den Sieg über die Weltrevolution verzichtet: das ›establishment‹ hatte sich zur Koexistenz mit dem Kommunismus entschlossen, hatte feierlich eine neue Epoche der Weltgeschichte eröffnet. Und die absurde Theorie vom ›verbotenen Sieg‹ wurde selbstgerechter, weil die Weltrevolution ja nunmehr in den Besitz von Atomwaffen gelangt ist." So auch in Vietnam: Amerika dürfe heute zwar seine gewaltige militärische Kraft nach Vietnam entsenden, sie aber nicht wirklich benutzen, man dürfe "den Patienten wohl auf den Operationstisch binden, aber dann um Himmels willen nicht operieren. Das ist die Chirurgie der neuen Epoche. Sie ist natürlich nicht nur zutiefst verantwortungslos, sondern auch zutiefst sinnlos. Es ist Zeit, zur ursprünglichen Wahrheit zurückzukehren: Der Krieg ist zu ernst, um Politikern überlassen zu werden. Man fängt ihn entweder erst gar nicht an oder man muß ihn gewinnen wollen. Was dazwischen liegt, ist blutige Stümperei. Es gibt keinen Ersatz für Frieden, und es gibt keinen Ersatz für Sieg. Wer zur Waffe greift, muß mit ihr gewinnen wollen – oder er geht an seiner eigenen Sinnlosigkeit zugrunde" ("Darf man noch siegen?", Welt am Sonntag, 22.05.1966).

Reaktion der Leser

Die Reaktion der Leser auf die Dynamisierungen des Neuen Nationalismus läßt sich nur in der Leserbriefspalte der Welt am Sonntag ablesen. Auch hier ist Vorsicht geboten: einige Lesernamen kehren nach Art einer Claque immer wieder – Leser Wilhelm Hörnicke aus Berlin, Leser Arthur Boje aus Hamburg, Leser Helmut Rosenbusch aus Hannover zum Beispiel –, andere Zuschriften wirken in der knappen Zweisilbigkeit ihrer Verfasser – Kramer, Bode, Fischer – und dem stereotypen Wortlaut ihrer Lobpreisung wie die Empfehlungsschreiben von Haarwasserfabrikanten: "Die Ausführungen der Herren v. Studnitz und Schlamm stehen auf einer Höhe, zu der man dem Blatt nur gratulieren kann", "... der Mut des Herrn William S. Schlamm ist bewundernswert", "... die mutige Stellungnahme von Herrn W. Schlamm verdient Anerkennung", "... muß Sie wirklich beglückwünschen zu einem Mitarbeiter vom Format des Herrn Schlamm", "... herrlich der Artikel von Herrn Schlamm" usw.

Die Resonanz zeigt gleichwohl, daß der eingängige Stammtisch-Machiavellismus gut verkäuflich ist, vor allem mit Schlamms Aggressionen finden starke Identifizierungen statt. Die Zuschriften, sagt ein Konzernangehöriger, seien "erschütternd positiv". Sie mögen die Hartnäckigkeit der Zeitung erklären, jedes Wort des Kolumnisten abzudrucken, wie abgeschmackt und töricht es auch sein mag. Gäbe es nach dem Grundgesetz eine Volksbefragung, glaubt Leser Inter aus Berlin, "würde der Vorschlag des Herrn Schlamm, die atomare Sicherung der Bundesrepublik betreffend, mit Mehrheit angenommen werden". Ohne Atomwaffen "sind wir ein Nichts, ein Spielball im Kampf der Atommächte untereinander", stimmt Leser Schiebschick aus Bonn zu. Man solle Schlamms Atomartikel "Deutsche Schicksalsfragen" in Millionen Exemplaren drucken und bei der nächsten Wahl "erreichen, daß niemand sein Kreuz auf den Wahlzettel macht, bevor er diesen Artikel gelesen hat", schlägt Leser Sandmann aus Duisburg vor.

Leser Dr. Mühlbächer aus Berlin, auch ein häufiger Schreiber, erscheint Schlamm gar im mythischen Bilde des Retters, der im Gewand des Fremden auftritt, der geborene Österreicher und eingebürgerte Amerikaner, der "ein deutsches Herz hat". Reizworte wie "Verzicht" und "Linksintellektuelle" öffnen Schleusen des Volkszorns, hinter dem das alte Muster von der "überwältigenden" Mehrheit sichtbar wird, der eine winzige Minderheit von "Drahtziehern", "Wühlern", "Meinungsmachern" "an den Schalthebeln" die nationale Existenz vergiften und verderben will. So löste Schlamms vehementer Angriff gegen die Fernsehjournalisten die heftigsten Haßausbrüche aus, die auch das alte Vokabular wieder hochspülten: endlich habe einer "den Krebsschaden aufgezeigt", "in die überreife Eiterbeule hineingestochen", "das Handwerk gelegt", "auf die Pfoten geklopft", "die längst fällige Abfuhr erteilt". Unter den prominenten Volksvertretern, mit denen das Blatt seine Leserspalte gern würzt, meldete sich in diesem Falle auch Erik Blumenfeld, der den Volkszorn mit einer nationalen Wendung sogleich auf seine private Fernsehmühle leitete: der tiefere Schaden läge weniger in einigen Intendanten und Redakteuren, wenn auch das Fehlen von "echtem Humor und geistvoller Satire" zu beklagen sei; er läge vielmehr in der aus Besatzungszeiten stammenden Struktur des Rundfunkwesens, die er mit seinen politischen Freunden jetzt neu zu ordnen gedenke.

In den anderen Blättern des Konzerns zirkuliert der Neue Nationalismus schwächer. Daß sie ganz frei davon wären, kann man jedoch nicht behaupten. Die Kurzleitartikel der Bild-Zeitung etwa, meist von ihrem Chefredakteur Boenisch verfaßt, sind Meisterstücke in der Kunst, Machtzwecke mit scheinbar einfachen Worten vieldeutig zu verschleiern und nationale Gefühle unter dem Vorwand zu erregen, es seien Argumente des gesunden Menschenverstandes. Ob diese Lust an starken Worten, die zunächst mehr auf den Markt projizierte Ideologisierung der Macht, eines Tages ganz mit dem mehr spielerischen Machtinstinkt des Konzerneigentümers verwachsen wird oder gar schon verwachsen ist, ob er sie aus Lust und Laune eines Tages auch wieder desavouieren wird, wenn die Politik andere Wege geht, ist schwer vorauszusagen. Das Klima für den "Verkauf" politischer Ideen hat der Neue Nationalismus jedenfalls schon spürbar verändert. Man kann es an den Reden der Politiker ablesen, denen über dem wieder anschwellenden nationalen Pathos nicht entgangen sein kann, daß die Grundtatsachen der deutschen Politik die gleichen geblieben sind, die Liquidierung eines selbstverschuldeten Krieges und die Notwendigkeit eines neuen politischen Selbstverständnisses, das seine Proportionen auch nach Osten nur in einem befriedeten Europa finden kann, nicht in der Illusion einer neuen Machtpolitik, der politisch wie militärisch jeder Grund und Hebel fehlt.

Politische Aspekte des Neuen Nationalismus

Der so verkaufte Neue Nationalismus hat einen innenpolitischen und einen außenpolitischen Aspekt. Innenpolitisch wird er den Staat, der sich der neokonservativen Auslegung nicht erwehrt, endgültig zu einem Staat der Rechten machen und die Spaltung der Nation in einen rechten Teil, der den linken Teil seit Bismarcks "Gesetzen gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" permanent majorisierte, endgültig besiegeln, jene zählebige, unausrottbare Vercliquung der großen Machtapparate, die den Bankrott der rechten Politik 1918, 1933 und 1945 jedesmal erstaunlich gut überstanden und die parlamentarische Demokratie in Deutschland seit je zu einem Scheinwesen gemacht hat, das weder leben noch sterben konnte. Parlamentarische Demokratie, kann man zugespitzt sagen, wird in Deutschland erst sein, wenn die Linke über einen längeren Zeitraum allein regiert hat, wenn ein ordnungsgemäßer Wechsel der Regierungen nach der demokratischen Spielregel stattgefunden hat, daß eine verbrauchte Partei abtreten muß, wenn sie ihre Versprechungen nicht halten kann. Das Wiederaufleben des irrationalen, emotional gefärbten Nationalismus und seine Verbindung mit der neuen Mehrheitspresse, die in Bild nun gar die "Sprache des Volkes" spricht, macht solchen Wechsel klimatisch jedoch höchst unwahrscheinlich. Auch das Zwischenspiel der Großen Koalition kann die Sozialdemokraten nicht darüber hinwegtäuschen, daß dieses einverständige Arrangement der etablierten rechten Gruppen zwar nicht im Regieren, aber im Anschein von Regieren überlegen ist und mit Staatspomp und der Unterstützung der Mehrheitspresse auch die nächste Wahl gewinnen wird. Der Wähler, unmündig gelassen und mit politischen Märchen gefüttert, honoriert in seiner Mehrheit nicht die Argumente des politischen Verstandes, sondern nur die bedenkenlose Ausnutzung der Gefühle. Die überwältigende Wahl Kanzler Erhards auf dem Höhepunkt seiner politischen Mißerfolge war das letzte Beispiel solcher Wahl aus Gefühlen ohne politischen Inhalt.

So bleibt der Linken nur, sich auf langen Widerstand einzurichten und ihre Position diesmal teurer zu verkaufen als am Ende der Weimarer Republik. Lag Minister Lücke tatsächlich daran, für seine Notstandsgesetze einen Consensus zu finden, der das parlamentarische System erhält, dann hätte er keine schlimmeren Feinde finden können als seine neokonservativen Freunde, die mit ihrem Engagement gerade das beweisen, was sie mit einem demokratischen Wortschwall aus der Welt zu reden versuchen: daß sie im Notstandsinstrument primär ein Instrument der Rechten sehen. Ihre Adaption läßt auch den gemäßigten Kräften auf der Linken keine andere Wahl als erbitterten Widerstand, wie unhistorisch etatistisch denkende Sozialdemokraten heute auch glauben mögen, sie behielten Einfluß auf das Instrument, das sie jetzt schmieden helfen. Weimar widerlegt solchen Optimismus: es ist die große innenpolitische Fälschung der Neokonservativen, das Notstandsrecht vor allem als Heilmittel gegen Gefahren von rechts zu empfehlen. Nicht zu schwaches Ausnahmerecht oder Zaghaftigkeit hinderte die Reichswehrführung 1933 daran, die Truppe gegen Hitlers "nationale Erhebung" in Marsch zu setzen, sondern die nüchterne Lagebeurteilung ihres Chefs, des Generalobersten von Hammerstein-Equord, eines erbitterten Gegners der Nationalsozialisten, der solches Vorgehen nicht mehr für möglich hielt: in der Mehrzahl längst selber stark nach rechts tendierend, im mittleren und unteren Offizierskorps auf die gleichen innen- und außenpolitischen Ziele eingeschworen wie Hitler, sei die Truppe zu einer Auseinandersetzung mit der Rechten weder willens noch in der Lage. Die deutlichen Rechtstendenzen in der Bundeswehr, die nach Studnitz einmal dem Notstand "zum Respekt verhelfen" soll, ihre Umschmeichelung durch die neokonservativen Ideologen sind Symptome, die wenig ermutigen. Von Berufs wegen schon an ein einseitiges Feindbild fixiert, eher schlichte als reflektierende Gemüter, mögen vor allem die jüngeren Offiziere für eine zur reaktionären Ideologie geronnene Freund-Feind-Lehre, die einmal geistreiche Beobachtung des Politischen war, ehe sie zur vulgären Propagandadoktrin herabsank, besonders anfällig sein. Ein solches Feindbild eines Tages auch auf den inneren "Feind" zu übertragen, auf die Linke, die den Staat "zersetzt", ist nur ein logischer Schritt und in der Ideologie des Neuen Nationalismus schon vorweggenommen. Reideologisiert wünscht sich Chefideologe Schlamm die Deutschen vor allem, starke Männer mit großen Gefühlen und einfachen Gedanken, national gefestigte Streiter, die mit der intellektuellen Verweichlichung und Unentschiedenheit endlich aufräumen und Deutschland, der "zweitstärksten Macht des Westens und der drittstärksten der Welt", den Platz an der Sonne zurückerobern, ein Volk von Soldaten, nicht von "Händlern und Schiebern".

So erzeugt die nationale, demokratische Mehrheitspresse wieder ein Bild, das die Welt fürchten gelernt hat, das Bild des wilhelminischen Deutschen, des "häßlichen Deutschen": demokratisch nicht in freier Gesinnung, sondern in Reden von Demokratie, politisch nicht in praktischer Politik, sondern in kühnen Büchern, "wie Bismarck heute das Reich wiederherstellen würde", patriotisch nicht im Consensus, der die Konflikte austrägt, sondern in emsigem Eiferertum gegen Marxismus und "Linke", christlich nicht in der Freiheit von den Dingen, sondern in metaphysischer Bemäntelung der wohlverstandenen eigenen Machtzwecke, ein ordnungssüchtiger, von Macht träumender, selbstmitleidiger Schwärmer und Schwätzer, der, da die Realität seiner neuen Ideologie entschwindet, die alten Aufschwünge und Bewegungen ins Leere traumatisch wiederholt und seine Schwäche mit Worten von Stärke kompensiert: der Patriot als Antikommunist. "Es ist die Welt des deutschen Kleinbürgers, vollgestellt mit spießigen Idealen und verlogenen Sentimentalitäten, blutrünstig und sexlüstern immer im Mantel sittlicher Empörung, mißtrauisch bis feindselig gegenüber dem Intellekt und nationalistisch nicht gerade im Stil der NPD, aber ausreichend für den praktischen Hausgebrauch", charakterisiert die Züricher Weltwoche, kein linkes Blatt, das Bild des Deutschen in der neuen Mehrheitspresse.

Überscharf und vergröbernd liefert die Schweizer Stimme gleichwohl ein Indiz, wie der selbstmitleidige, nun wieder auf seine "unabdingbaren Rechte" pochende Deutsche nach außen wirkt. Außenpolitisch wird der Neue Nationalismus, ist seine alte Dynamik erst einmal erkannt und, von Krisenangst geschürt, in den Massen und in der Armee noch virulenter geworden, genau das herbeiführen, was er angeblich beseitigt: er wird die Position der Bundesrepublik empfindlich schwächen und den Staat östlich der Elbe, die Deutsche Demokratische Republik, rascher aufwerten, als es der wachsenden Wirtschaftsmacht und zähen diplomatischen Bemühung im anderen Teil Deutschlands je gelingen könnte. Denn mit einer Bundesrepublik, die sich als "zweitstärkste Macht des Westens und drittstärkste der Welt" fühlt, die "optimal gerüstet" im atomaren Bündnis mit Amerika oder auch mit eigenen Atomwaffen demnächst ihr Territorium östlich der Elbe zurückfordert, um dort wieder die "Reichsgewalt" auszuüben, die schon heute die Oder-Neiße-Linie als "Konfliktsgrenze" und auch die Grenzen von 1937 nicht als Friedensgrenze betrachtet, weil sie "den Keim zum Zweiten Weltkrieg in sich trugen", die in allen diesen Forderungen das göttliche Recht auf Heimat sieht, "wie sie als Kinderland ans Herz gewachsen ist", andernfalls sie sich "in einen Vulkan verwandelt", mit einer solchen Bundesrepublik möchte wohl kein Außenamt der Welt mehr rechnen, es sei denn in Formosa oder Südvietnam, wo man für die deutschen Dinge nicht eben viel tun kann. Solche Ideen, Adenauers Alptraum, werden den kommunistischen deutschen Staat, der keine territorialen Ansprüche stellt und die deutschen Grenzen als befriedet ansieht, den Völkern der Erde schon bald wert und teuer machen, ja, als einzige Klammer erscheinen lassen, die eine neue Explosion des deutschen Nationalismus auf die Dauer verläßlich verhindern kann. Geduldiges Abwarten, kluge Zurückhaltung in der Berlin-Frage sind die einzigen Mittel, deren sich die ostdeutsche Diplomatie zu bedienen braucht, um ihr heißersehntes Ziel, die internationale Aufwertung, zu erreichen: Dynamisierung und Rechtsentwicklung in der Bundesrepublik werden sie ihr als reife Frucht in den Schoß fallen lassen. Wie gering der Kredit einer eigenständigen "nationalen" deutschen Politik noch immer ist, wie groß das Mißtrauen bei jedem Unterton, der an die alte Katastrophenpolitik erinnert, kann jede auswärtige Mission berichten.

Auch hat der Neue Nationalismus die Logik gegen sich, denn die von den neukonservativen Ideologen beschworenen Grenzveränderungen kamen nicht, "als die Stunde da war", sondern waren Resultate blutiger Verwicklungen, aus denen neue Verwicklungen kamen. Der durch den Raum der Geschichte rauschende Mantel, dessen Saum Studnitz und Martini fassen wollen, ist nicht das Gewand der "Göttin der Geschichte", sondern der blutige Mantel des Gottes Mars. Darüber – welche Mittel und Hebel zu den versprochenen Zielen führen sollen – schweigen sich die neukonservativen Theoretiker, sonst so beredt, denn auch aus. Zieht man die Linien aus, so findet man am Ende keine andere Aushilfe als Gewalt, den Ausnahmezustand proklamierende autoritäre nach innen, auf Revision der Grenzen bedachte militärische nach außen. Die Irrealität solcher Machtpolitik ohne Grund und Boden hindert nicht, daß sie wieder geträumt wird und viele Tausend, wie der Markterfolg der neuen Stereotypen zeigt, sie offenbar schon wieder mitträumen.

Die Machtverschiebung in Europa als Folge des Kommunismus, nicht als Folge des explosiven deutschen Nationalismus zu interpretieren ist die große außenpolitische Fälschung der neuen Neokonservativen. Sie suggeriert, ein von Deutschland als Nation fast ausgelöschtes, um 4,2 Millionen Tote dezimiertes Polen, ein als Sklavenland fast bis zum Ural unterworfenes, von einem mächtigen Militär- und Beamtenapparat unterjochtes und ausgebeutetes Rußland, das sich die Freiheit nur um den Preis von 20 Millionen Toten erkaufen konnte, hätten nach dem Kriege unter nichtkommunistischer Führung wesentlich anders handeln können als unter kommunistischer. Sie erlaubt den Selbstbetrug, das, was machtpolitisch verspielt wurde, könne nun als von Gott gegebenes Recht wieder eingeklagt werden, der Ausgleich mit diesen Völkern anders gewonnen werden als in langwieriger Annäherung und geduldiger Aussöhnung, wie immer ihre Staatsform sein mag. Sie macht schließlich vergessen, daß die Explosion des deutschen Nationalismus unter dem Vorzeichen des Antikommunismus stattgefunden hat: nicht die Rassendoktrin brachte Hitler zur Macht, sondern sein militanter Antikommunismus, der in Bürgerangst und Freikorpsdenken, in den neokonservativen Sekten und Bünden, in Hugenbergs deutschnationaler Presse und den unverändert reaktionären Ideologien von Wirtschaft, Justiz und Armee längst seine apokalyptischen Vorläufer hatte, die nach dem Retter riefen und ihn fanden. So enthüllt der Neokonservativismus die Ursache seines gestörten Realitätsbewußtseins gerade dort, wo er die lautesten Ansprüche macht: in seinem Verhältnis zur Geschichte, im Paradox eines Konservativismus, der die Geschichte leugnen muß, um Konservativismus bleiben zu können. In einer auf spur- und folgenlosen Massenkonsum abgestellten Mehrheitspresse, die von ihren Anfängen 1947 bis heute zur Aufklärung der historischen Zusammenhänge außer Klischees und neuen Mythen nichts beigetragen hat, findet der geschichtsfeindliche Neukonservativismus seine genaue Entsprechung.

Der Neue Nationalismus als Symptom der Angst

Sucht man tiefer, so herrscht auf dem Grunde Angst, jene alte irrationale Angst, die seit Bismarcks Abgang zum beherrschenden Motiv der deutschen Politik geworden ist und ihr Heil zunehmend in den großen Apparaten suchte und den Ideologien, die sie verklärten: in Tirpitz’ Flottenapparat, Ludendorffs totaler Kriegsmaschine, Hugenbergs Presseapparat der nationalen Erneuerung gegen Marxismus und Zersetzung, der Masse der mächtigsten und besten Apparate der Welt, mit denen die Nationalsozialisten das Volk gewannen, weil sie endgültige Erlösung von allen Ängsten versprachen. Mit dem Sturz der großen Apparate in immer tiefere Schrecken und Verstümmelungen stürzend, blieb das Bewußtsein der Deutschen gleichwohl an sie fixiert. Nicht aus Konfrontation mit der eigenen Geschichte und innerer Befreiung, die den neugewonnenen freien Formen ihres politischen Lebens entsprochen hätte, bezogen sie nach dem Kriege ihr neues Selbstbewußtsein, sondern aus der Tüchtigkeit und dem "Wunder" ihres wirtschaftlichen Wiederaufbaus. Es war folgerichtig, daß die unbelehrte Gesellschaft, einmal restauriert, darangehen würde, nicht das Bewußtsein der Verfassung, sondern die Verfassung dem unveränderten Bewußtsein anzupassen. Über die Kümmerform des Bürgersinns gibt vor allem das Hauptargument der neokonservativen Verfassungsinterpreten Aufschluß: Armee, Staat, Wirtschaft, Universitäten müßten wieder "besser funktionieren". Noch symptomatischer, weil es den Kern von Angst und Erlösung im Glauben berührt, ist das Wiederaufleben des neuen Vaterlandschristentums, der umgekehrten Erweckungsbewegung, die den Geist nicht befreien und zu neuer Intensität steigern, sondern in die alten Institutionen zurücktreiben will: "Volk", "Staat", "Vaterland aller Deutschen", "Ordnung" als Prothesen eines Glaubens, der zu schwach und kindisch geworden ist, um die Welt zu ertragen und zu formen, wie sie ist, jene groteske Umdeutung des Christentums in eine vaterländische Ideologie, die in der "Glaubensbewegung deutscher Christen" schließlich folgerichtig dazu führte, den Dienst am "deutschen Nächsten" auf den Altar zu heben und Christus davon zu verbannen, den "palästinensischen religiösen Individualisten, der nur sich und seinen himmlischen Vater" kannte und im religiösen Egoismus das Heil der Seele höher stellte als sein Volk. Kein Wort ist für den Seelenzustand der deutschen Konservativen so aufschlußreich wie Walter Görlitz’ Satz von den Pastoren, die wieder in ein "anarchisches Urchristentum zu fallen drohen".

Möglich auch, daß die neue Rechte, bewußt oder unbewußt, in solchen Ängsten wieder das taugliche Mittel der Herrschaft sieht, das es schon einmal war. "Das Volk litt nicht am Verhältniswahlrecht, sondern an seiner Existenzangst", stellt Winfried Martini über das Ende der Weimarer Republik treffend fest, ohne allerdings zu erwähnen, wer sie durch Ideologisierung schürte und zu welchem Ende. Ernst Nolte beschreibt es in seinem großen Buch Der Faschismus in seiner Epoche präziser: "Die alte Rechte hatte ihre gesellschaftlichen Machtpositionen zwar im wesentlichen bewahrt, an politischem Einfluß aber außerordentlich verloren. Alles hing für sie davon ab, den Kontakt zum Volke und jene Furcht zu schaffen, die einzig ›das Volk‹ auf ihre Seite führen konnte. Freilich war diese Möglichkeit für sie fremd und in ihren Auswirkungen undurchschaubar." Es ist kein Zweifel, daß Hugenbergs Presseorganisation zu dieser Organisierung der Ängste und ihrer Kompensation durch einen neuen "deutschen Glauben" wesentlich beigetragen hat, ehe der überlegene Organisator der Massenängste sie ihm fortnahm.

Axel Springers neue Großorganisation der Presse ist nicht Hugenbergs. Daß sie jedoch an die alten Stereotypen anknüpft, politisch die alten Ängste nur reflektiert, ohne sie zu klären, Glück und Freiheit nur im Unpolitischen sucht, im Unverbindlichen und Folgenlosen also, daß sie die im Antikommunismus geronnene Angst wieder zum Hebel ihrer politischen Rechtfertigung macht, ist der tiefere Schaden, den sie unserer Gesellschaft zufügt. Das zeigt sich scharf vor allem dort, wo die Konzernpresse nach Meinung ihres Eigentümers ihre größten Verdienste hat: im "Brückenschlag" zu den Menschen im anderen Teil Deutschlands. Sieht man näher zu, so erweisen sich die Stereotypen von den "17 Millionen Brüdern und Schwestern im Osten", den "Nächsten in Magdeburg, Dresden, Rostock, Ostberlin", als gänzlich entleerte Formeln, hinter denen sich nichts mehr an konkreter Anschauung verbirgt. Außer Agitation und Redensarten teilen die Millionen Konzernblätter über die wirtschaftlichen, sozialen, psychologischen Verhältnisse, die Lebenswirklichkeit der Menschen im östlichen Teil Deutschlands so gut wie nichts mehr mit. Die "Zone" ist zum Rohstoff selbstgenügsamer Projektionen und Gefühlswallungen geworden, die mit der Autonomie jener Menschen, ihrem Eigenbewußtsein, der Organisationsform ihres gesellschaftlichen und politischen Lebens nichts mehr zu tun haben: mit ihren tausend Reporter- und Kameraaugen hat die große Bewußtseinsmaschine in der Frage der Wiedervereinigung nicht sehend, sondern nur noch blinder gemacht. Der Realitätsschwund wird sich spätestens herausstellen, wenn die Deutschen die "deutsche Frage" einmal selber lösen müssen.

Ähnlich unerprobt sind die Verdienste des Konzerns gegen den "Totalitarismus von rechts", etwa in der Aussöhnung mit den Juden. Sie trifft heute auf keinen Widerstand, denn die Juden sind in Deutschland kein politisches Problem mehr. Niemand kann sie noch mit den Existenzängsten des Volkes demagogisch in Verbindung bringen. Ihre Rolle als Minderheit haben die "zersetzenden Linken" eingenommen, "Kommunisten", "Verzichtpolitiker", "Berufsbesiegte" und "Anerkennungsparteiler". Wer scharf urteilt, mag in der Großherzigkeit, die Axel Springer in seiner Israelaktivität ohne Zweifel zu eigen ist, auch Spuren eines Alibi- und Loskaufdenkens entdecken, das die Wurzeln des Antisemitismus, den Haß gegen die Minderheit, die "anderen", die "Widersprecher", nicht nur nicht berührt, sondern eher noch konserviert. Die mühelose Verbindung von Israelbegeisterung und Volkszorn gegen die Minorität der Studenten in der Woche des Nahostkrieges in den Konzernblättern war ein Symptom dafür.

Eingängige Stereotypen, in denen nach der Richtigkeit der Sätze nicht mehr gefragt ist, legt sich der große Stereotypenerfinder auch für sein Eigenverständnis zurecht. Sein Haus, sagte Axel Springer kürzlich vor dem Übersee-Club in Hamburg in einer Auseinandersetzung mit seinen Gegnern, vertrete "die breite konservative Mitte – konservativ in dem Sinn, daß der Erhaltung des Wohlstandes und der bürgerlichen Freiheiten gedient wird und daß vom Bestehenden ausgehend alle friedlichen Wege verfolgt werden, die der Einheit Deutschlands dienen können". Diese Ziele seien legitim, "die Mittel, an die gedacht wird, sind friedlich, die Hoffnungen und Wünsche, die die Zeitungen des Springer-Hauses unterstützen, sagen jeder Maßlosigkeit ab". An der "unheilvollen Allianz von KPD und NSDAP" sei Weimar zugrunde gegangen, "linke und rechte Todfeinde der Demokratie" schlössen sich nun auch gegen ihn zusammen. Er, Axel Springer, sei zum Symbol der "verhaßten Gesellschaftsordnung" geworden, "die wir uns im freien Teil Deutschlands geschaffen haben". Er hoffe, daß die "Appeaser von heute nicht ebensoviel Unheil anrichten wie ihre Vorgänger vor dreißig Jahren". Keiner dieser Sätze ist ganz falsch, keiner ist richtig und von der historischen Wahrheit gedeckt: sie klingen gut. Insgesamt machen sie das Selbstverständnis des Konzerns undurchdringlich, offenbar unfähig, noch mit der Gesellschaft in ihrer Vielfalt und ihrem Widerspruch zu kommunizieren, etwas anderes in allem zu suchen als sich selbst und trügerische Harmonie. Vielleicht liegt hier die tiefere Ursache des schwindenden Realitätssinnes, der in der Verbindung von Mehrheitspresse, Neuem Nationalismus und Antikommunismus im Zeichen individueller und kollektiver Ängste seine bisher bedenklichste Form angenommen hat.

Die Maschine von morgen und der Geist von gestern

So wird die Maschine, die gesellschaftliche Wahrheiten verbreiten soll, zu einer Maschine, die mit der gesellschaftlichen Wahrheit ständig in Widerspruch gerät, weil sie nicht mehr Medium, sondern Subjekt dieser Gesellschaft ist, ein Subjekt, das Maß und Grenze am Ende nur in den Gesetzen der Massenproduktion von Stereotypen, dem Spiel von Angebot und Nachfrage am Markt und der Subjektivität ihres einen Eigentümers findet. Ihrer riesigen Ausdehnung nach Anspruch darauf erhebend, die pluralistische Gesellschaft zu verkörpern, ohne sie doch als pluralistische Gesellschaft zu spiegeln, ist sie zu einem wandelnden Widerspruch in sich geworden, zu einem Zwitterwesen, halb Kommunikationsapparat, halb Propagandainstrument im Dienste einer angstgesteuerten Ideologie, die heute Antikommunismus heißt und morgen anders heißen kann, zu einem gesellschaftlichen Monstrum, das in seiner Einmaligkeit und Konkurrenzlosigkeit in der Tat, wie Professor Hellmut Becker es formuliert hat, "im Grundgesetz nicht vorgesehen war". Für die Verfassungswirklichkeit in der Bundesrepublik muß ein solches Phänomen, wie immer Politiker und andere Interessierte es bagatellisieren mögen, beträchtliche Folgen haben.

Es ist dieser Aspekt, der die neue Großorganisation der Presse in Deutschland so unheimlich macht, nicht ihre industrielle Organisationsform. Mit Fortschreiten der Technik wird den Bedingungen der Kapitalkonzentration und Massenproduktion auch auf dem Gebiet der Kommunikation nicht zu entrinnen sein: keiner der das "System" bekämpfenden radikalen Kritiker hat bisher verraten, wie die Millionen sonst kommunizieren und sich Information verschaffen sollen (geschweige denn kleiden, nähren und am Leben erhalten). Die Großgebilde in England und Amerika, nach Eigenkapital und Umsatz ein Vielfaches größer als der Springer-Konzern, deuten an, wohin der Weg geht. Sie machen aber auch die Unterschiede im Bewußtseinsgrad deutlich. Nach Gründergeschichten, die zum Teil nicht minder abenteuerlich waren als Axel Springers, ist bei ihnen mit dem spätkapitalistischen Wachstum auch die spätkapitalistische Organisationsform gewachsen: Publikumszugang zum Kapital, Öffentlichkeit der Bilanzen, entsprechende kollektive Formen der Führung und Kontrolle, eine Koppelung von Geschäft und Aufklärung, die in den großen Zusammenschlüssen mit der elektronischen Industrie nicht mehr auf die Ausbeutung unterster Unterhaltungsbedürfnisse und kollektiver Ängste spekuliert, sondern auf die Erfindung und Produktion von Lehrmitteln und Lehrmaschinen, auf die errechenbare Zunahme des Anteils der Bildungsausgaben am Sozialprodukt. Eine ähnliche Mischung von Großfabrik und Feudalstruktur wie der Springer-Konzern weist keines dieser Gebilde mehr auf. Ihre annähernd gleiche Größe schafft zudem echten Wettbewerb und gleicht politische Einseitigkeiten aus.

Trotz solcher vergleichsweise glücklicheren Umstände blieb das politische Selbstverständnis dieser Länder mit funktionierenden parlamentarischen Systemen dem möglichen Mißbrauch der großen Kommunikationsmaschinen in Privatbesitz gegenüber mißtrauisch. Es hat die Kontrollen und Einschränkungen eher verschärft, in Amerika durch die rigorosen Bestimmungen des Antitrustgesetzes und die angestrebte Entflechtung von Presse- und Fernsehmonopolen in einer Hand an einem Ort, in England durch eindeutige Antimonopol-Bestimmungen auf dem Pressegebiet, die Abschnitte 8 bis 12 der neuen "Monopolies and Mergers Bill", die auf Grund der alarmierenden Ergebnisse der Royal Commission on the Press unter Lord Shawcross gegen den Druck der Presselobby vom Unter- und Oberhaus verabschiedet und durch königlichen Consens am 5. August 1965 zum Gesetz wurden.

In der von Axel Springer erfundenen, von einem fast schon paralysierten parlamentarischen System in ihrer schrankenlosen Ausdehnung geduldeten, ja geförderten Maschine scheint sich jedoch das alte deutsche Verhaltensmuster zu wiederholen, die Maschinen von morgen mit dem Geist von gestern zu bedienen. Es ist eine frühkapitalistische Gründergeschichte auf spätkapitalistischer Szene, eine Geschichte wie die Hearsts, der den Kubakrieg wollte und bekam, Alfred Harmsworth’, nachmals Lord Northcliffe, der dem Napoleonwahn verfiel und sich in sein Inital "N" verliebte, seines Bruders Harald Lord Rothermeres, der mit gewaltigen Finanztransaktionen auf dem festen Fundament seiner einträglichen Bilderblätter die gesamte Pressemacht in seiner Hand vereinigen und Regierungen "machen" wollte, der Skripp-Howards, Pulitzer und Beaverbrooks, mit dem Unterschied, daß auch hier immer mehrere Geschichten gleichzeitig spielten und sich dramatisch kontrapunktierten. Im geschwächten und verwirrten Deutschland nach dem Kriege ließ das politische Arrangement und das Genie des einen großen Unternehmerjournalisten jedoch nur die eine zu und steigerte sie zu solchem Ausmaß, daß der Erfinder am Ende den geschäftlichen Erfolg für etwas Höheres nahm, für Wink, Weisung, Bestätigung seiner Ideen bis zu jener atemberaubenden letzten, im Verkauf seiner Millionenblätter ein permanentes Plebiszit zu sehen: das "Volk" stimme quasi täglich demokratisch für ihn ab, habe ihm die politisch-publizistische Macht als "Lehen" verliehen. Darin mag, hintergründig und unfreiwillig, ein Stück Wahrheit über die wahre Verfassung unserer Gesellschaft liegen: die vollendete Anpassung an die Konsumbedürfnisse, die Perfektion des Verkaufsjournalismus als politisches Mandat.

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