Auszüge aus Guy Kirsch's und Klaus Mackenscheid's
"Staatsmann, Demagoge, Amtsinhaber"

Eine psychologische Ergänzung der ökonomischen Theorie der Politik

Die Theorie der Demokratie richtet den Blick gemeinhin auf die äußere Freiheit, ihre Sicherung und ihre Bedrohung. Die vorliegende Studie behandelt vornehmlich den Aspekt der inneren Souveränität der Bürger in einer Demokratie. Das Thema wird eingefangen in der Darstellung von drei Politikertypen:

  • der Demagoge – ein Verführer in neurotische Enge und Verneinung;

  • der Staatsmann – ein Therapeut im Dienst einer größeren inneren Freiheit;

  • der Amtsinhaber – ein Politiker, der die Geschäfte innerhalb jener Grenzen führt, die seine und seiner Mitbürger innere Souveränität abstecken.

Der flüssige Stil der Darstellung und ihr Verzicht auf unnötigen fachterminologischen Ballast sprechen auch den Nicht-Spezialisten an.

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Einleitung

Dieses Buch ist vom Engagement her ein politisches Buch. Es geht uns darum, die parlamentarische Demokratie als ein System vorzustellen, das ungemein anfällig ist für freiheitszerstörende Degenerationserscheinungen. Umgekehrt geht es uns auch darum, die Demokratie als ein System vorzustellen, das über starke heilmachende Kräfte verfügt. Die Demokratie ist durchaus freiheitsfördernd, kann aber sehr wohl auch freiheitszerstörend sein. Entscheidend dabei ist, daß man die freiheitsfördernde Kraft der Demokratie nur haben kann, wenn man die ihr inhärenten Risiken der Freiheitsgefährdung in Kauf nimmt. Dies zu beachten ist dann wichtig, wenn im Überschwang einer noch funktionierenden Demokratie jene Kräfte Gefahr laufen, übersehen zu werden, die schon die Zerstörung ankündigen. Umgekehrt soll unsere Analyse auch dazu beitragen, daß dann, wenn die freiheitszerstörenden Kräfte stärker geworden sind, die Niedergeschlagenheit nicht so groß wird, daß die Suche nach den heilmachenden Kräften unterbleibt.

Diese Mehrwertigkeit einer parlamentarischen Demokratie haben wir eingefangen in der Vorstellung von drei Politikertypen, dem Amtsinhaber, dem Staatsmann, dem Demagogen. Unter dem Amtsinhaber verstehen wir jenen Politiker, dessen Welterfahrung und Wertengagement in Ausmaß und Inhalt mit dem seiner Wähler identisch ist. Der Staatsmann ist jener Politiker, der kraft seiner inneren Souveränität seinen Wählern den Weg zu einer reicheren Weltbegegnung und einem reiferen Wertengagement eröffnet. Der Demagoge schließlich ist jener, der die Bürger zu seiner eigenen Enge und Ängstlichkeit verführt, in die arme Welt seiner eigenen Analyse und Wertung lockt. Anders ausgedrückt: Der Staatsmann eröffnet seinen Mitbürgern innere Freiheiten, der Demagoge führt sie in eine größere innere Unfreiheit, der Amtsinhaber schließlich führt die Geschäfte innerhalb der Grenzen, die seine und seiner Mitbürger innere Freiheit abstecken.

Der Leser wird schon verstanden haben, daß diese Art der Problemformulierung auf das Instrumentarium der Psychologie und der Psychoanalyse nicht verzichten kann: Eine zentrale Kategorie unserer Untersuchung der Demokratie ist der Begriff der Neurose. Wir meinen damit nicht, daß die Wähler und die Politiker in einer parlamentarischen Demokratie Neurotiker im klinischen Sinne sind. Vielmehr verstehen wir unter der Neurose nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine aus innerer Unfreiheit begrenzte Begegnungsfähigkeit des Menschen mit sich, mit anderen und mit den Dingen. Wenn also im Verlauf unserer Ausführungen die Demokratie auch als neurotisches Arrangement erscheint, so in dem Sinne, daß in ihr ein Ringen um die jeweils größere oder kleinere Souveränität der Weltbegegnung stattfindet.

Damit tritt ein Aspekt der Demokratie in den Vordergrund, der oft weniger Beachtung findet. Die Demokratie erweist sich jetzt als ein System, in dem nicht nur die äußeren Freiheiten gewonnen werden oder verlorengehen können; sie erweist sich auch als jener soziale Ort, wo ein Kampf um die innere Freiheit bzw. Unfreiheit ausgetragen wird; wo entschieden wird, ob die einzelnen in heiterer Souveränität der Welt begegnen können oder aber sich ihr verneinend, verstümmelnd und zerstörend entgegenstellen müssen.

Nicht als ob uns die Frage nach der äußeren Freiheit belanglos erschiene; im Gegenteil. Wir meinen aber, daß die äußere Freiheit innerlich unsouveräner Menschen von bestenfalls relativem Wert ist.

Es ist eine zentrale These dieses Buches, daß ein Staatswesen den Staatsmann und den Amtsinhaber braucht, wenn es dem Demagogen nicht verfallen soll.
Die herkömmliche, insbesondere die ökonomische Theorie der Politik hat in der Hauptsache den Amtsinhaber untersucht. Das war und ist nach wie vor wichtig. Es war auch verständlich, ist doch die Herrschaft des Amtsinhabers der Lösung jener Probleme gewidmet, die sich aus dem Verhältnis wohlfahrtshungriger Menschen mit den knappen Produktionsfaktoren ergeben. Der Amtsinhaber konnte die genuine Figur der ökonomischen Theorie der Politik werden, da er sich – wie diese – um das Verhältnis des Menschen zu den Dingen kümmert. Der Staatsmann und der Demagoge, die für jene Politikaspekte stehen, in denen der Mensch in Beziehung zu sich selbst und seinesgleichen tritt, mußten aus dem Untersuchungsfeld der ökonomischen Theorie der Politik fallen. Wo nur das Verhältnis des Menschen zu den Dingen auf den Begriff gebracht wird, kann das Verhältnis des Menschen zu sich selbst und den anderen nicht einmal gesehen werden. Die Frage nach diesem Verhältnis ist mit dem Problem der inneren Freiheit in der Demokratie deckungsgleich; so muß neben das Studium des Amtsinhabers die Analyse des Staatsmanns und des Demagogen treten. Begnügt man sich mit einer ökonomischen Theorie der Politik, sieht man nur den Amtsinhaber; dann wird man wohl das Problem der äußeren Freiheit angehen können; die innere Freiheit wird einem selbst als mögliches Problem entgehen.

Die innere Freiheit ist je mehr in Gefahr, desto fragloser das Problem der äußeren Freiheit gelöst scheint.

Bad Ragaz-Ettelscheid 1984-85

Die Demokratie – Ein System zwischen sachlichem Auftrag und personaler Beziehung

Die parlamentarische Demokratie ist zu einer derart selbstverständlichen Einrichtung geworden, daß auch jene, die sich zu ihr als Prinzip und Praxis bekennen, nicht mehr genötigt sind, sie als in jeder Beziehung problemlose Institution zu verherrlichen. Es ist möglich geworden, Fragen zu stellen, Unbehagen zu artikulieren, Kritik anzubringen, kurz: im nüchternen Diskurs des Analytikers, nicht aber in der leidenschaftlichen Rhetorik des Propagandisten über die Demokratie zu reden; entsprechend auch muß, wer sich nicht in der gedankenlosen Apologie ergehen will, nicht in die bedingungslose Ablehnung gezwungen werden.

Das Unbehagen, das sich in und an den westlichen Demokratien artikuliert, kreist um zwei Themen:

  • Einerseits wird – besonders von links – klagend und anklagend auf ein Partizipationsdefizit hingewiesen; der Wille der einzelnen Bürger, des Souveräns, schlage sich in den politischen Entscheidungen, wenn überhaupt, dann zuwenig und verzerrt nieder.
    Andererseits wird – besonders von rechts – moniert, daß die demokratischen Staatswesen besonders im Hinblick auf die zu lösenden Sachprobleme und in der Auseinandersetzung mit totalitären und autoritären Staaten, an einem bedrohlichen Führungsmangel litten.


  • Einerseits wird kritisiert, daß die Mitspracherechte der Bürger nicht hinreichend zum Zuge kommen;
    andererseits wird beklagt, daß die Vielstimmigkeit einer weitgehend niveaulosen Basis dazu führe, daß in der Demokratie – ziel- und konzeptionslos – vielleicht einiges geschehe, aber kaum etwas gemacht würde.


  • Die einen bedauern, daß die Bürger im Staat dorthin gehen müßten, wo sie im Zweifel nicht hinwollten;
    die anderen beklagen, daß die Bürger, weil niemand sie führe, dort ankämen, wo sie hingehen, aber nicht dorthin gehen, wo sich anzukommen lohnt.

Es wäre voreilig, diese aus zwei entgegengesetzten Polen kommende Kritik als den nicht weiter zu bedenkenden Ausdruck des Populismus einerseits, des Elitismus andererseits abzutun. Damit hätte man zwei Denkansätzen lediglich einen Namen gegeben, nicht aber die Engagements, die hinter ihnen stehen, einer Analyse nähergebracht; man hätte sie so um ihre Potenz gebracht, sie zum harmlosen Ausdruck einer bedauerlichen, aber im Kern zu vernachlässigenden Einseitigkeit mit je unterschiedlichem Akzent verniedlicht; jedenfalls hätte man auf diese Weise die hinter diesen Kritikansätzen stehenden Energien nicht konstruktiv genutzt. Es bliebe nichts anderes übrig, als festzustellen, daß das Führungsdefizit und der Partizipationsmangel zwei sich gegenseitig ausschließende Kritikpunkte sind, man sich also entscheiden muß, die Partizipationsmöglichkeiten auszubauen und so eine Verschärfung des Führungsdefizits hinzunehmen, oder aber dieses Defizit abzubauen und so die Mitsprache- und Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürger weiter zu beschneiden.

Es ist für die gegenwärtige Diskussion über die Demokratie kennzeichnend, daß viele ihrer Teilnehmer sich in diese Entweder-Oder-Situation haben hineindrängen lassen: Dem selten expliziten, doch häufig sehr realen Bonapartismus der konservativen Rechten entspricht nicht selten der Ruf nach der Basisdemokratie von der progressiven Linken.

Verwandt, wenn auch nicht völlig identisch mit diesem Gegensatz ist jene Kritik, die einerseits hervorhebt, daß die parlamentarische Demokratie nur sehr begrenzt in der Lage sei, sach- und zeitgerechte Entscheidungen zu treffen, die andererseits aber auch feststellt, daß der Mensch in den demokratischen Staatswesen des Westens emotional unbehaust sei. Einerseits wird kritisiert, daß das sachliche Kalkül von dem Strom der Emotionen und Affekte unterspült wird; andererseits wird bedauert, daß in der Politik mit der abgezirkelten Kühle ihrer Sachnotwendigkeiten für menschliches Gefühl und Geborgenheit kein Platz ist.

Auch hier möchte man versucht sein, dem Staats- und Demokratieversagen durch das Zurück- und Verdrängen des Menschlich-Allzumenschlichen zu begegnen, oder aber dem Menschen im Staat eine Heimstatt einzurichten, auch um den Preis einer wenigstens teilweisen Vernachlässigung der Sachnotwendigkeiten.

Auch hier ist – wenn auch mit einiger Vereinfachung – festzustellen, daß die öffentliche Auseinandersetzung über die parlamentarische Demokratie an einer Frontlinie stattfindet, auf deren linken Seite man eher bereit ist, die Gesetzlichkeit der Sachen im Hinblick auf die Beziehungen der Menschen zu verletzen, auf deren rechten Seite man eher gewillt ist, die menschlichen Beziehungen den Sachnotwendigkeiten zu opfern.

Man muß sich allerdings fragen, ob es nötig und wünschenswert ist, sich in eine Position hineinmanövrieren zu lassen, in der zwischen einer rechten und einer linken Demokratieanalyse und -kritik gewählt werden muß, indem also eine von beiden als nicht bedenkenswert fallengelassen wird. Könnte es nicht sein, daß beide – trotz aller oberflächlichen Unvereinbarkeit – gleichermaßen Beachtung verdienen, weil beide – dringt man erst einmal unter die Oberfläche – zwei Aspekte eines Problems ansprechen? Wir meinen, daß dies der Fall ist; auch scheint es uns, daß – greift man beide auf – gerade die zwischen ihnen bestehende Spannung konstruktiv genutzt werden kann.
Der Versuch, beide in einen Diskurs einzubeziehen, wird auch durch die Tatsache nahegelegt, daß die zwischen beiden bestehende Spannung in die Konstruktion der Verfassung vieler Demokratien, so auch des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, eingebaut worden ist: Einerseits lebt die parlamentarische Demokratie von der Überzeugung, daß die Politiker als die gewählten Vertreter der Bürger nicht nur für deren Rechnung, sondern auch in deren Sinn Entscheidungen treffen. Es sollen die Bürger, obschon ihre Partizipation an der kollektiven Willensbildung mittelbar, eben über die Politiker vermittelt ist, nicht nur betroffen, sondern auch in dem Sinne beteiligt sein, daß sich die Politik letztlich an ihren Vorstellungen ausrichtet und sich aus der Konformität mit den Präferenzen der Bürger die politische Legitimität herleitet. In dieser Optik haben die Politiker einen lediglich instrumentalen Wert; sie sollen Instrumente im Dienste des Wählerwillens sein; man greift auf gewählte Vertreter zurück, weil dies für die Bürger billiger ist als sich unmittelbar selbst um die zur Entscheidung anstehenden Probleme zu kümmern; doch sollen diese Vertreter, ohne eigene Initiative, gleichsam roboterhaft, vertreten, alles vertreten, was ihnen aufgetragen ist, aber nur vertreten, was ihnen aufgegeben ist. Sie sollen einen material definierten Vertretungsauftrag erfüllen, den ganzen Vertretungsauftrag, nichts als den Vertretungsauftrag erfüllen. Minister ist das lateinische Wort für Diener; Politiker haben Diener des Souveräns, einst des Monarchen, jetzt des souveränen Volkes zu sein.

Demgegenüber steht der Grundsatz, daß Abgeordnete an Aufträge nicht gebunden sind, nur ihrem Gewissen verantwortlich sind. Mag sich dieses Prinzip vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung leicht erklären und mit guten Gründen rechtfertigen lassen, so gilt doch: Es steht im Widerspruch zu der Ansicht, daß sich der gewählte Volksvertreter nur als Instrument rechtfertigen und legitimieren kann. Gewiß, auch dann, wenn der Politiker an Aufträge nicht gebunden und nur seinem Gewissen verpflichtet ist, besteht ein Verhältnis der Über- und Unterordnung. der Souveränität einerseits, der Abhängigkeit andererseits zwischen den Wählern und den Gewählten. Doch bezieht sich dieses Verhältnis nicht in erster Linie auf einen material definierten Vertretungsauftrag, sondern eher auf eine personal definierte Beziehung. Ein Politiker mag gewählt werden, damit er dies oder jenes tue, doch leitet sich seine Legitimität nicht daraus ab, weil er dies oder jenes, was er zu tun versprochen hat, auch wirklich tut. So gesehen dient ein Wahlkampf und die in ihm anzutreffende Mischung von sachlicher Diskussion und persönlicher Auseinandersetzung nicht dazu, einen material definierten Vertretungsauftrag zwischen Wählern und Gewählten vorzubereiten, sondern die Grundlage für ein personal bestimmtes Vertrauensverhältnis zwischen beiden zu schaffen – oder aber das Fehlen einer solchen Beziehung offenzulegen. Der Wahlkampf dient, in dieser Optik, an erster Stelle dazu, zu klären, ob für diesen oder jenen Bürger dieser oder jener Kandidat soweit vertrauenswürdig ist, daß er ihm das eigene Schicksal teilweise überantworten will; im politischen Prozeß soll der Bürger jene Personen identifizieren, von deren Entscheidungen er allgemein auch dann bereit ist, betroffen zu sein, wenn er im einzelnen unmittelbar nicht beteiligt ist.

Der Unterschied zwischen beiden Interpretationsansätzen und Legitimationsmustern der indirekten Demokratie ist demnach folgender: Jene, die Politikern einen lediglich instrumentalen Wert zubilligen, stellen auf den materialen Inhalt des Vertretungsauftrages ab. Jene, welche die Politiker von äußeren Aufträgen befreien und an ihr Gewissen binden, stellen auf die personale Qualität der Beziehung zwischen Wählern und Politikern ab.

Dieser Unterschied ist alles andere als zufällig und bedeutungslos: Er baut auf zwei sich scharf gegeneinander abhebenden, wenn auch – wie wir glauben – komplementären Menschen- und Gesellschaftsbildern auf und führt zu sowohl theoretisch interessanten als auch praktisch relevanten Folgen. So impliziert ein Demokratieverständnis, das einen inhaltlich definierten Vertretungsauftrag in den Mittelpunkt rückt, Wähler, die informiert und interessiert, nur auf den Beitrag von Sachentscheidungen für ihre eigene Wohlfahrt bedacht sind und – entsprechend – in den zur Wahl stehenden politischen Kandidaten nur die – von ihrer Person her austauschbaren – Erfüllungsgehilfen im Dienste eben dieser sachbedingten Wohlfahrt sehen. Die Politiker selbst erscheinen in dieser Demokratieanalyse als merkwürdig leblose Wesen, Marionetten, die sich bewegen, aber nach Gesetzmäßigkeiten, welche die ihren nicht sind, die Arbeiten ausführen, deren Sinn bzw. Sinnlosigkeit sie weder sehen können noch einsehen müssen, weil es die ihren ohnehin nicht sind, nicht zu sein brauchen und – falls sie sich vom Wählervolk unterscheiden sollten – nicht sein dürfen. Dabei mag völlig offenbleiben, ob die Politiker von sich aus willen- und initiativlose Handlanger zu sein bereit sind, oder aber derart in die politischen Auftrags- und Kontrollverfahren eingebunden sind, daß sie dies sein müssen. Es ist belanglos, was ein Roboter will und fühlt, solange er nach dem ihm von außen eingegebenen Programm funktioniert; ja, recht eigentlich erübrigt sich in diesem Fall die Frage, ob er überhaupt etwas denkt und fühlt.

Nun ist aber der Verdacht nicht unbegründet, daß ein Demokratieverständnis, das einseitig auf einen material definierten Vertretungsauftrag zwischen Bürgern und Politikern abstellt, in vielfältiger Hinsicht auf unrealistischen Prämissen aufbaut: Erstens werden die Bürger als Wähler in ihrer Rationalität und Sachbezogenheit überschätzt, in ihrer Emotionalität und in ihrer Personengebundenheit aber unterschätzt; zweitens werden entweder die Politiker in ihrer Eigeninitiative, in ihrer Lebendigkeit unterschätzt oder aber die politischen Verfahren der Auftragsvergabe und der Kontrolle werden überschätzt. Es hat also – jenseits der Kontingenz des historischen Augenblicks – einen guten Sinn, wenn die Väter des Grundgesetzes bei der Kodifizierung des Verhältnisses von Wählern und Abgeordneten nicht auf den materialen Inhalt eines Auftrages, sondern – wenn auch implizit – auf die personale Qualität eines Vertrages abgestellt haben. Die politische Diskussion über das, was getan werden soll, dient in erster Linie dazu, dem Bürger eine Entscheidung darüber zu erlauben, wer in einem politischen Amt etwas tun soll. Was der einzelne Kandidat in Zukunft zu tun verspricht und was er in der Vergangenheit getan hat, ist für den Bürger zu wissen in dem Maße wichtig, als er so in die Lage versetzt wird, die Vertrauenswürdigkeit des Politikers abzuschätzen. Es gilt aber auch: Mit der Entscheidung, wer als Politiker das Sagen haben soll, wird auch weitgehend bestimmt, was gesagt werden wird. Ein Demokratieverständnis, das hervorhebt, daß in der Politik Menschen miteinander interagieren und nicht nur Sachprobleme gelöst werden, mag realistisch sein, muß sich aber vor der Gefahr hüten, den Sachaspekt in der Politik in den Hintergrund zu drängen.

Vorerst ist – als eine erste Annäherung – festzuhalten, daß eine auf einen inhaltlich definierten Vertretungsauftrag der Wähler an die Politiker abstellende Demokratieinterpretation auf recht wirklichkeitsfremden Prämissen aufbaut, die Rationalität der involvierten Aktoren und die Funktionstüchtigkeit der Entscheidungs- und Kontrollmechanismen überschätzt, die Emotionalität der Aktoren aber unterschätzt. Gleichfalls ist vorerst festzuhalten, daß eine auf die personale Qualität eines Vertrages zwischen Politikern und Wählern ausgerichtete Demokratietheorie die Emotionalität in den Vordergrund rückt, die Rationalität der Aktoren aber kleinschreibt; in dieser Optik handelt es sich bei der Politik eher um einen affektiv aufgeladenen Austausch zwischen Menschen, weniger aber um einen entpersönlichten Diskurs über Sachen. Auch stellt dieses Demokratieverständnis weniger auf die am sachlichen Entscheidungsergebnis zu messende Funktionstüchtigkeit des Willensbildungsprozesses als auf seine Eigenschaft als Ritual, als legitimierendes Verfahren ab; hier ist die parlamentarische Demokratie weniger eine Entscheidungsmaschine als ein Verfahren, mittels dessen Menschen trotz unterschiedlicher, ja konträrer Bedürfnisse, Gefühle, Analysen, Weltsichten und Wertengagements auch dann noch miteinander auskommen, wenn sie – ohne direkt etwas ändern oder verhindern zu können – Dinge hinnehmen müssen, die ihnen so ohne weiteres nicht passen. Während die den sachlichen Vertretungsauftrag betonende Demokratietheorie fragt, wie etwa eine – an den Bürgerpräferenzen gemessen – gute Verteidigungspolitik zustandekommt, fragt die auf den personalen Vertrag ausgerichtete Theorie danach, wie entschieden werden muß, damit das Gemeinwesen Bestand hat, welches auch immer die Verteidigungspolitik sei, die im konkreten Fall als Resultante der kollektiven Willensbildung implementiert wird.

Man kann es auch so sagen: Für eine Theorie, die einen inhaltlich definierten Vertretungsauftrag der Wähler an die Politiker postuliert, sind im Extrem die menschlichen Beziehungen im Entscheidungsverfahren solange vernachlässigenswert, wie sie sich nicht bemerkbar, und das heißt hier: nicht störend bemerkbar machen. Hingegen sind für eine Theorie, die auf die personale Qualität eines Vertrages zwischen Wählern und Politikern ausgerichtet ist, die zwischenmenschlichen Beziehungen das Primäre, während Sachgesichtspunkte gleichsam Epiphänomene sind. Für eine Demokratietheorie, welche die Lösung von Sachproblemen in den Vordergrund stellt, sind Erscheinungen wie Treue, Loyalität, Ergebenheit, Aggressivität, Neid u.a. Dinge, mit denen man in einer Welt von Menschen leider rechnen muß und die das sachgerechte Funktionieren der politischen Entscheidungsmaschine bedauerlicherweise komplizieren. Für eine Demokratietheorie, welche die affektive Kohäsion des Gemeinwesens, die emotionale Einbindung des einzelnen betont, sind Sachprobleme ein Ärgernis, das der Entfaltung des emotionalen Reichtums in der Republik im Wege steht.

Trotz aller Liebe für die Demokratie als die bevorzugte Lebens- und Begegnungsform im gesellschaftlichen Umgang muß die Frage erlaubt bleiben, welche Demokratietheorien unser laufendes und aktuelles Verständnis vom gedeihlichen Zusammenleben miteinander speisen. Damit wird nicht die Absicht verkündet, eine Geschichte der Demokratieforschung von der griechischen Antike bis zur Gegenwart oder eine Synopse der Demokratieformen auszubreiten. Es geht uns nicht um die Beschreibung von Institutionen – eine Arbeit, deren Wert wir gar nicht in Frage stellen –, sondern um die Beobachtung von Inhalten und Verfahren, die nach Meinung einer bestimmten Theorie als typisch für eine Demokratie zu bezeichnen sind, ja geradezu ihr Funktionieren versinnbildlichen.

Das Erstaunliche ist nun, daß die Demokratie bei der Zulassung von Inhalten, also sowohl von politischen Zielen allgemeiner Natur als auch von besonderen Wünschen einzelner Gruppen, keine besonderen Grenzen kennt. Grenzen setzt die Verfassung, und manchmal erlischt eine politische Diskussion erst, wenn sich eine verfassungsgemäße Lösung als ausgeschlossen erwiesen hat. Im Prinzip ist aber die vorbehaltlose Offenheit für alle politischen Wünsche und Regelungsbedarfe als eine der grundlegenden Spielregeln der Demokratie anzusehen. Vehement abzulehnen wären dagegen alle Formen, bei denen politische Ideen zuvor einem Prüfungsprozeß zu unterwerfen wären, der entscheidet, ob bestimmte Inhalte jetzt nicht, noch nicht oder nicht mehr öffentlich in Parteien und Parlamenten zu diskutieren wären. Schon eine Institution, die dieses Vorprüfungsrecht hätte, würde nicht in die Vorstellung einer funktionierenden Demokratie passen. Noch weniger könnte man es als demokratisch auffassen, wenn man anfinge, bestimmte politische Inhalte zum Tabu zu erklären und als nicht diskussionswürdig abzustempeln. Nein, zur Demokratie gehört sachliche Offenheit!

Parallel und zweitens gehört zur Demokratie aber auch personale Indifferenz. Wer auch immer eine Idee vorträgt, der Idee selbst darf dadurch weder eine Bevorzugung noch eine Benachteiligung zuteil werden. Wenn ein Hochstehender in der Gesellschaft ein politisches Ziel vor Augen hat, so gilt das Ziel deshalb nicht schon als privilegiert. Das Ziel muß sich wie alle anderen eine Mehrheit suchen. Politische Ziele gewinnen in der Demokratie nur Anerkennung und gesellschaftlichen Rang, wenn sich Stimmen und damit Zustimmung darauf vereinigen lassen. Die demokratischen Verfahren von Wahl und Abstimmung ermöglichen den Einfluß von Personen und neutralisieren zugleich laufend die Unterschiede der individuellen Einflußmöglichkeiten. In der ökonomischen Theorie der Politik ist denn auch charakteristischerweise für Personen, für deren Leidenschaften, Ungeduld oder Zähigkeit und Freude oder Verdruß überhaupt kein Platz. Auch gibt es in dieser Theorie nicht die Möglichkeit, in der Gesellschaft existierende Bedürfnisse, Wertungen, Ziele nicht einzubringen. Der Idealtyp dieser Demokratietheorie ist ein streng an Sachen und redlichen Argumenten ausgerichtetes Diskussionsforum.

Ein Blick in die Wirklichkeit aber zeigt uns, daß in der parlamentarischen Demokratie Personen sehr wohl eine Rolle spielen und einzelne Wertbekenntnisse und Weltsichten sehr wohl nicht nur nicht angenommen werden, sondern offensiv nicht zugelassen werden. Und der Realtyp zeigt nicht selten eine Konfrontation von Personen, ein Gegeneinander konkurrierender Verführungen, Verzauberungen und Vergewaltigungen. Auch hier sollte man sich nun nicht vor die Notwendigkeit stellen lassen, zwischen dem Realtyp oder dem Idealtyp wählen zu müssen; es muß ein Weg gesucht werden, der weder in eine zynische Resignation noch in eine naive Weltvergessenheit führt.

Ein Weiteres ist wenigstens als plausible Annahme zu bedenken: Das relative Gewicht der Emotionalität bzw. der Rationalität, der Personenbezogenheit bzw. der Sachgebundenheit, wie es für einen bestimmten historischen Augenblick charakteristisch ist, muß nicht über die Zeit konstant sein; auch muß es zu einem gegebenen Zeitpunkt nicht für alle demokratischen Staatswesen gleich sein; schließlich kann zu einem bestimmten Zeitpunkt im selben Staatswesen für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen das rationale oder aber das emotionale Element ein größeres Gewicht haben. Entsprechend wird man – einmal mehr, einmal weniger – auf eine Analyse zurückgreifen, die einen inhaltlich definierten Vertretungsauftrag zum Gegenstand hat, oder aber auf eine solche rekurrieren, welche die personalen Beziehungen zwischen Wählern und Politikern in den Vordergrund rückt. Auch wird man nach den Bedingungen fragen, unter denen das rationale bzw. das emotionale Element ein größeres Gewicht hat. Auch ist die Frage von Interesse, in welchen Formen und mit welchen Folgen die parlamentarische Demokratie eher eine Entscheidungsmaschine zur Lösung von Sachfragen oder aber ein emotional aufgeheiztes Integrationsritual ist. Es ist zu fragen nach der Funktion der Sach- bzw. der Personenzentriertheit der Demokratie und nach der pathologischen Entartung als Folge einer Hyper- bzw. einer Hypotrophie der Rationalität bzw. der Emotionalität. Auf diese Weise sollte es möglich sein, die inzwischen steril und langweilig gewordene Frontstellung zwischen jenen, die einer am homo oeconomicus ausgerichteten ökonomischen Theorie der Politik das Wort reden, und jenen, die das Irrationale in der Politik hervorheben, zu überwinden. Alle sollten in diesem Geschäft gewinnen können, auch dann, wenn sie jene Bequemlichkeit verlieren, die nur ein bekannter und vertrauter Gegner zu verschaffen in der Lage ist.

Oben wurde der Idealtyp der Demokratie erwähnt. Für ihn gibt es eine gut ausgebaute und sehr leistungsfähige Theorie. Wie jede Theorie ist auch diese selektiv. Wohl vermag sie politische Prozesse – soweit es sich um Auseinandersetzungen um Sachentscheidungen handelt – hervorragend abzubilden, nicht aber ist sie in der Lage, jenen Teil der Politik, der im emotional aufgeheizten Zusammenstoß von Personen besteht, zu erfassen. Sie kennt keine Leidenschaften, nur Interessen. In ihr messen sich Argumente, nicht aber Gefühlsenergien. Sie stellt den politischen Prozeß als Mechanik quantifizierter Macht dar, nicht aber als die Dynamik sich begegnender und abstoßender Psychen. In ihr gibt es artikulierte Abmachung, aber nicht stumme Übereinkunft. In ihr finden sich die Gesellschaftsmitglieder bestenfalls im Interessenausgleich; Zuneigung und Abneigung sind ihr unbekannt.

Wenn nun aber der Realtyp der Demokratie, wie wir ihn oben skizziert haben, so stark vom Idealtypus der herrschenden Theorie abweicht, dann ist dies eine drängende Einladung, über diese Theorie hinauszugehen. Wohlgemerkt, es geht nicht darum, diese Theorie zu ersetzen, wohl aber, sie zu ergänzen. Es soll angestrebt, vielleicht gar erreicht werden, daß beide – die Theorie des Idealtypus und ihre Ergänzung – aus ihrer antithetischen Verkrampfung herausgelöst werden und so in ihrer spannungsgeladenen, aber nicht verspannten Komplementarität nutzbar gemacht werden. Konkret bedeutet dies: Die folgenden Seiten werden von der Hoffnung getragen, daß das dunkle Zerrbild von der Politik als einem schmutzigen Geschäft genauso überwunden werden kann, wie das lichte Zerrbild von der Politik als dem redlichen Bemühen um die richtige Entscheidung. Weder soll die Kühle des Sachlichen noch die Wärme der Emotionalität in ihrem jeweiligen Wert verkannt werden; doch soll ihre jeweilige Gefährlichkeit in voller Offenheit sichtbar werden.

Die ökonomische Theorie der Politik – was sie leistet und wo sie endet

Von der Entscheidungslogik in Kollektiven ...

Es ist zweckmäßig, es ist auch ein Gebot der Fairneß, von jener Theorie auszugehen, die man überwinden will. Es ist dies eine Reverenz an ihre Qualität und an ihre Leistungskraft. Auf ihren Wegen läßt sich am weitesten in das Unbekannte vorstoßen; von allen verfügbaren Theorien der Demokratie scheint sie uns diejenige zu sein, auf der man am weitesten und bequemsten fahren kann. Dort, wo sie nicht mehr weiterführt, werden wir auf ein weniger bequemes Gefährt umsteigen müssen.
Daß diese Theorie wertvoll ist und einen Fortschritt gegenüber Vorhergehendem darstellt, zeigt sich, wenn man sich vor Augen führt, wie dereinst der typische Wohlfahrtsökonom die Frage nach dem politischen Prozeß und der Rolle von Sachentscheidungen in den und durch die Wahlen beantwortet hat. Es gibt sie, weil es sie geben muß, doch ist dies sehr bedauerlich.

Angenehmer wäre es aus theoretischer und praktischer Sicht, wenn alle Einzelentscheidungen dem Marktmechanismus überlassen werden könnten. Nur, weil das nicht möglich ist und simulierte, den Tauschvorgängen am Markt nachgebildete Verfahren schon im Vorfeld der theoretischen Erörterung unfruchtbar bleiben, muß sich der Wohlfahrtsökonom dem Problem von Wahlen dann doch noch stellen. Charakteristisch für seinen Umgang mit Wahlen und Wahlverfahren ist nun zuerst die Tatsache, daß an der Person des Wählers überhaupt kein Interesse besteht. Er ist wie in der Tauschtheorie eine Rechenmaschine, deren Programm sich darin erschöpft, den Tangentialpunkt von Indifferenzkurve und Budgetgerade aufzusuchen. Für den Wohlfahrtsökonomen hat der Marktteilnehmer und der Wähler eine Psyche, die einer Psychologie entspricht, die nichts weiter als eine Entscheidungs- und Präferenztheorie ist. Die Theorie der Demokratie reduziert sich auf eine kollektive Entscheidungslogik. Die Persönlichkeit des Wählens besteht ausschließlich darin, Urteile über die von ihm gewünschte Rangfolge der öffentlichen Güter abgeben zu können: Auf Befragen hin müssen Wähler also in der Lage sein anzugeben, welches Gut sie einem anderen vorziehen und welches nicht. Programm A wird Programm B vorgezogen, Programm C wird Programm B vorgezogen, also wird Programm C auch Programm A vorgezogen. Für welches Urteil die Wähler sich auch immer entscheiden wollen, ist vollkommen gleichgültig. Es wird großer Wert darauf gelegt festzustellen, daß niemand gezwungen werden darf, so oder anders zu wählen – und es wird darüber hinaus hervorgehoben, daß nicht einmal irgend eine Urteilsart tabu sein kann oder auch nur unpassend erscheinen darf. Was die geäußerten Präferenzen angeht, so sind die Wähler absolut souverän.

Damit ist die Beschreibung des Wählers aber auch schon beendet; was den weiteren Fortgang unserer ökonomischen Analyse angeht, so beginnt jetzt erst die eigentliche Aufgabe. Sie besteht darin, leistungsfähige Wahlverfahren zu erdenken, die zu logisch eindeutigen Wahlergebnissen führen. Das Ganze führt zu kunstvollen und umfangreichen theoretischen Gedankengebäuden. Dies ist anderweitig überzeugend dargestellt worden und ist hier nicht unser Gegenstand.

Hier ist jedoch die Frage zu stellen, warum der Ökonom sich nicht zuvor mit der Person des Wählers beschäftigt, mit genau dem Menschen, der sich anschickt, ein Wahlurteil zu bilden und später seine Stimme abzugeben. Es ist für unser Anliegen von besonderem Interesse zu wissen, daß Ökonomen für diese Art der Frage nicht nur keine Sensibilität haben, sondern diese ihnen geradezu zuwider ist. Dazu folgendes: Auch bei der Entscheidung über öffentliche Güter sind nach herrschender ökonomischer Auffassung immer nur die Präferenzen von Individuen maßgeblich. Dem Politiker als solchem kommt keine übergeordnete, eigene Qualität zu. Nach Präferenzen des Staates oder auch nur einer Regierung zu suchen, muß von vornherein als verfehlt angesehen werden; man könnte sie nicht feststellen. Was man ermitteln kann und was allein empirisch von Wert ist, sind die Präferenzen von einzelnen Individuen. Wie bei privaten Gütern das Leitbild der Konsumentensouveränität gilt, so sollen auch bei öffentlichen Gütern strikter Individualismus und Selbstbestimmung maßgeblich sein. Dieser methodologische lndividualismus – als anerkanntes Prinzip für die Entscheidung über alle Arten von Gütern, den privaten sowohl als auch den öffentlichen – führt nun aber merkwürdigerweise nicht zu einer besonders intensiven Suche nach den Merkmalen und Ausprägungen der Person, die sich hinter den geoffenbarten und so erst in den Vordergrund gerückten individuellen Präferenzen verbirgt. Man gibt sich individualistisch, ist aber an der Person des Individuums gar nicht interessiert. Was Menschen bei Wahlentscheidungen im einzelnen wissen, wie sie sich informieren, bei wem sie Rat suchen, wen sie beraten, kurz, wie sie ihre Meinungen bilden und ändern – das alles wird vom Ökonomen nicht untersucht; er geht davon aus, daß Individuen informiert sind. Individuen wissen, was sie wollen und wie sie es erreichen können; dies sowohl in ihrer Eigenschaft als Marktteilnehmer als auch in ihrer Eigenschaft als Wähler. Es wird stillschweigend unterstellt, daß der Wähler sich in keiner besonderen Lage befindet, wenn er sich Informationen über öffentliche Güter oder öffentliche Angelegenheiten beschafft. Er muß sich und wird sich da zurechtfinden wie auch sonst in allen anderen Dingen seines Lebens; anders ausgedrückt: Das Wissen um die Wege zur Befriedigung öffentlicher Bedürfnisse ist von dem entsprechenden Wissen über die Befriedigung privater Güter nicht verschieden. Wie der einzelne dazu kommt, zu wissen, was er will und wie er es erreichen soll, ist vielleicht von privatem Interesse, braucht aber den Analytiker der Demokratie nach Ansicht des Wohlfahrtsökonomen nicht zu interessieren.

Es ist indessen ein Unterschied, ob Präferenzen gewonnen werden im Erproben des Konsums von privaten Gütern, die man wiederholt benutzt, oder in der Bewertung von öffentlichen Gütern, die man mehr aus der politischen Werbung als aus eigener Anschauung kennengelernt hat. Obwohl die Eigenart des Umgangs mit diesen beiden Güterarten unterschiedlich ist, machen die Ökonomen bewußt keinen Unterschied zwischen der Präferenzbildung bei öffentlichen und der bei privaten Gütern. Es ist vermutlich nicht unzutreffend, wenn man feststellt, daß für die Ökonomen das Vorbild jeglicher Präferenzbildung eben das Verhalten bei privaten Gütern darstellt, und lange Zeit legte man Wert darauf, dieses Vorbild in keiner Weise in Frage zu stellen. Der problemlose und ungehinderte Umgang mit Sachen, wie er für den Markt von den Ökonomen unterstellt wurde, sollte auch – in der Optik der Ökonomen – die Regel sein, nach der sich das politische Leben im Staat gestaltet.

In gewisser Weise ist so eine weitere Eigenart der ökonomischen Betrachtung des Wahlgeschehens leichter zu verstehen, – dies auch, wenn wir sie nicht akzeptieren. In der ökonomischen Wahltheorie sind alle Entscheidungsteilnehmer zunächst einmal gleich aktiv, gleich fähig und gleich informiert; niemand ragt durch irgendeine Eigenschaft heraus, keiner tritt aber auch zurück und überläßt etwas den anderen. Das Interesse und die Artikulationsmöglichkeiten an den Angelegenheiten des Gemeinwesens sind prinzipiell auf alle gleich verteilt. Das vermittelt den Eindruck von Chancengleichheit und allgemeiner Fairneß beim Wahlvorgang.

Der Eindruck ist jedoch nicht ganz richtig, denn die absolute Gleichbehandlung eines jeden Wählers ist allenfalls ein Nebenprodukt einer ganz anderen Absicht: Vorbild für die Chancengleichheit ist die Konsumentensouveränität bei privaten Gütern. Wie drückt sie sich bei privaten Gütern aus, und wie ist sie dort gesichert? Nun, indem der Konsument – freilich nach Maßgabe seines verfügbaren Einkommens, aber ansonsten völlig uneingeschränkt – aus dem Güterangebot wählt, wie es seiner Vorliebe entspricht. Kann er dieses Auswählen aus so vielem, was sich ihm bieten mag, überhaupt durchführen? Die Antwort lautet: Ohne weiteres, denn der Markt mit seinen vielen Produkten, Produktqualitäten, feinen Merkmalsabstufungen und vor allem den Preisen und den Preisunterschieden sendet und signalisiert pausenlos und kostenlos Informationen. Aus der Flut aller Einzelangaben sucht sich der Konsument aber nur das aus, was ihn im Augenblick interessiert. Nur eine winzige Anzahl der gewaltigen Menge an Informationen ist zu verarbeiten, wenn eine Kaufentscheidung durchdacht wird. Mehr noch, ist der Wettbewerb vollkommen, verdichtet sich die Information über die wirtschaftliche Welt, in der der Konsument agiert, zu einem einzigen Element: dem Preis des Gutes, das er nachfragen will. Dem Konsumenten steht es auch frei, sich lange vor dem Kauf sorgfältig zu unterrichten; er kann sich sogar aus Liebhaberei am Gegenstand dauerhaft unterrichten lassen, selbst wenn er gar nicht zum Kauf entschlossen ist. Das findet man typischerweise häufig bei wertvollen und dauerhaften Konsumgütern wie Autos, Photoapparaten oder Hifi-Geräten. Der Konsument kann so zum Experten und Ratgeber werden. Ein anderer verzichtet auf den für ihn eher mühseligen Erwerb von Kundigkeit und fragt derartige unabhängige Ratgeber aus seinem Bekanntenkreis. Hier wird die Information also aus fremder Erfahrung bezogen, aber es ist durchaus keine Verlegenheitslösung, sondern eine souverän beschlossene Sache. Schließlich ist es auch üblich, so z.B. bei einfachen und billigen Verbrauchsgütern, die Information über den Wert des Produkts über den Konsum zu gewinnen. Die Erfahrung wird also unmittelbar aus dem Gebrauch oder Verzehr eines Gutes abgeleitet. Die Freiheit, wie man sich informiert, ist also sehr groß. Die Souveränität der Informationsbeschaffung ist mindestens ebenso groß wie die Souveränität des Auswählens. Der Konsument privater, marktwirtschaftlicher Güter hat darüber hinaus die angenehme Freiheit, die Kosten der Informationsbeschaffung in angemessenem Verhältnis zum Nutzen zu halten, den ihm die Güter stiften. Auch wie er sich informiert, kann man getrost seiner Bequemlichkeit überlassen. Das Marktsystem stellt allen potentiellen Teilnehmern am Spiel von Angebot und Nachfrage die genauen Informationen permanent beliebig zur Verfügung; es behandelt – da haben die Ökonomen schon recht – prinzipiell alle Teilnehmer gleich. Das Spiel steht allen offen, und es ist jedem überlassen, ob und mit welchem Einsatz er an dem Spiel teilnehmen will.

Die Frage ist indes, ob man dieses Modell auf die Wahlentscheidung über öffentliche Güter übertragen kann und ob dieses Modell auch nur eine geringe Chance hat, die Realität bei Wahlen in öffentlichen Angelegenheiten wiederzugeben. Ist es wirklich so, daß der Mensch als Wähler so frei ist, sich dem politischen Spiel zu versagen oder an ihm teilzunehmen, seinen Einsatz so autonom zu bestimmen, wie er das als Marktteilnehmer kann? Trifft es zu, daß das Informationsproblem bei politischen Entscheidungen im Vergleich zur Kaufentscheidung am Markt keine spezifischen Schwierigkeiten aufweist? Es sind äußerste Zweifel angebracht, und das aus folgendem Grund:

Bei privaten Gütern ist es nicht nur so, daß man sich lediglich um die Informationen kümmern muß, die mit den aktuellen Güterbedürfnissen zu tun haben; man hat auch nichts mit anderen Menschen zu tun; die Konsequenzen eigenen Handelns schlagen sich nicht bei anderen nieder. Wer ein privates Gut genießt, schließt alle anderen vom Konsum aus, und: Es wird vom Konsum des Gutes ausgeschlossen, wer nicht zahlen will oder kann. Eben weil dies der Fall ist, ist es hinreichend, daß sich der einzelne mit den zur Auswahl stehenden Gütern und den Konsequenzen für sich selbst beschäftigt. Mehr ist aus seiner Sicht nicht notwendig und auch nicht zweckmäßig. Je vollständiger der Wettbewerb ist, desto überflüssiger ist es, einen vollständigen Überblick über das Gesamtangebot und die Gesamtnachfrage zu haben und zu beobachten, was andere tun. Der Snob-Effekt oder der Mitläufer-Effekt – beides Verhaltensweisen, die aus der Beobachtung geprägt sind, was andere zu tun pflegen – sind von den Markttheoretikern denn auch als atypisches und schon ein bißchen unsouveränes Kaufverhalten charakterisiert worden. Ob nun extravagantes Verhalten oder Modeströmungen viel häufiger sind als die reine Konsumtheorie meint, kann ziemlich gleichgültig sein, weil erfahrungsgemäß der Markt derartiges Verhalten gut und mit flexibler Reaktion verkraftet. Er stellt sich im Gegenteil so auf diese Strömungen ein, daß der einzelne Konsument mit möglichst geringem Informationsaufwand auch diese Art von Bedürfnissen angemessen befriedigen kann. Charakteristisch ist für Marktgüter nicht nur, daß der Konsument für sich entscheidet, sondern auch, daß er allein und aus seiner eigenen Situation heraus disponiert. Gewiß, wenn er sich erst Rat von Dritten holen muß, dann mag er am Ende auch von diesen beeinflußt worden sein, oder wenn er es gern hat, den modischen Trends zu folgen, dann wird er immer wieder von den Modeschöpfern beeinflußt werden. Aber immerhin, unser Konsument, der so seine Entscheidungsfindung vorzubereiten pflegt, wird doch nicht jemand anderem Verantwortung auferlegen, im Grundsatz bleibt er noch immer nur sich selbst verantwortlich. Ausschließlich dem Gesetz des eigenen Lebensentwurfs verpflichtet und nur für sich Verantwortung tragend, steht der einzelne als Marktteilnehmer frei und einsam, ungebunden und ungeborgen in einer verhältnismäßig leicht durchschaubaren Welt einzelner Dinge; dies jedenfalls nach Maßgabe der Vollkommenheit des Wettbewerbs.

Anders ist es bei öffentlichen Gütern, d.h. im Raum der Politik: Ist hier nur einer in der Gesellschaft in der Lage und willens, sich mit einem öffentlichen Gut zu versorgen, so hat er zugleich allen anderen die wirtschaftliche Nutzung dieses Gutes verschafft; oder stärker noch: Er kann es nicht verhindern, und selbst wenn er es wollte, daß andere mitversorgt sind. Wer für eine saubere Umwelt sorgt, der erbringt diese Leistung nicht nur für sich selbst, sondern er macht auch allen anderen dieses Gut zum Geschenk. Was auch bedeutet, daß wer nicht zahlen will oder kann, in den Genuß jener öffentlichen Güter kommt, die von anderen finanziert und bereitgestellt worden sind.

Man kann nun zweifellos zu Recht davon ausgehen, daß die Bürger Präferenzen für öffentliche Güter haben; entsprechend geht es zunächst darum, die Bürger ihre Präferenzen erklären zu lassen, um den öffentlichen Haushalt auf die Wünsche der Konsumenten öffentlicher Güter auszurichten. Dies aber setzt nicht nur voraus, daß die Bürger wissen, was sie wollen, also wissen, welche öffentlichen Güter als Bestandteil ihres Lebenskonzeptes zu realisieren sind; dies setzt auch voraus, daß die Bürger wahrheitsgemäß offenbaren, was sie an öffentlichen Gütern wünschen. Beides kann so ohne weiteres nicht erwartet werden. Wohl ist richtig: Da bei öffentlichen Gütern über den politischen Prozeß alle zwangsweise an der Finanzierung der öffentlichen Güter beteiligt werden, da darüber hinaus über den öffentlichen Prozeß für alle verbindlich festgelegt wird, welche öffentlichen Güter überhaupt hergestellt werden und wie die Finanzierung zu sichern ist, besteht für jeden einzelnen ein vordringliches Interesse, seine diesbezüglichen Vorstellungen in das Entscheidungsverfahren einzubringen. Tut man es nämlich nicht, dann begibt man sich der Möglichkeit, seine eigenen Präferenzen in den kollektiven Bewertungsprozeß mit hineinzugeben. Wer nicht mitbestimmt, wer nicht mitdenkt, wer nicht abwägt und bewertet, verzichtet auf den Anteil an Einfluß, der ihm zusteht. Anders als bei den privaten Gütern, wo man zwischen vollkommener Zurückgezogenheit und intensiver Marktbeobachtung wählen kann, ohne dabei seine Chancen der Konsumwahl auch nur spürbar zu verändern, muß man bei öffentlichen Gütern bei der regelmäßig wiederkehrenden Abstimmung dabei sein – in der Realität: wissen, daß man durch seinen gewählten Repräsentanten jetzt gut bei der Verabschiedung des Budgets vertreten ist –, wenn man nicht Gefahr laufen will, diesmal nun definitiv nicht mit den eigenen Präferenzen zum Zuge gekommen zu sein; und dies in dem klaren Wissen, wohlgemerkt, daß man sehr wohl zur Finanzierung über Steuern, Abgaben und Gebühren nach individuell errechenbaren Verfahren herangezogen wird. Da man bei öffentlichen Gütern in allen Entscheidungen betroffen ist, muß man sich auch in allen Einzelheiten bei der Entscheidung beteiligen. Das ist richtig, aber ist es die ganze Wahrheit? Wohl weiß der einzelne, daß das Budget in seinen Ausgaben und Einnahmen, daß die Politik in allen ihren Dimensionen für seine Wohlfahrt von Bedeutung ist. Er weiß auch, daß die politische Entscheidung die Resultante der Willensäußerung aller Bürger – also auch der seinen – ist, nur weiß er auch, daß sein Gewicht in diesem Verfahren für ihn in seinen Konsequenzen nicht fühlbar ist. Er ist betroffen, seine Beteiligung also wünschenswert, aber von ihrem Gewicht her ohne Sinn. Anders als auf dem Markt, ist er nicht frei, in das Spiel einzutreten und das Spiel zu verlassen. Auch ist er nicht frei, seinen Einsatz autonom zu bestimmen. Anders als auf dem Markt muß er auch erleben, daß sein Engagement im Spiel für ihn im Zweifel ohne Folgen ist. Während auf dem Markt der einzelne dann, wenn seinem Einsatz keine Aussicht auf Gewinn mehr entgegensteht, sich zurückziehen kann, muß er hier auch dann, wenn er verliert, mit von der Partie sein. Darüber hinaus: Während er auf dem Markt das für ihn relevante Spielfeld leicht überschauen kann, muß er hier partizipieren an einem Geschehen, dessen Elemente und Variablen er nicht überblickt. Es ist schon eine unheimliche Partie, in der man auch dann noch weiterspielen muß, wenn man nur noch verliert und/oder nichts mehr versteht.

Zugegeben, dies ist ein Zerr- und Schreckbild des politischen Prozesses; es ist eine Übertreibung, doch rechtfertigt diese sich als Kontrast zu jenem Idealbild, dessen Gesetzlichkeit in den Augen der Ökonomen auch die Gesetzlichkeit der Politik sein soll. War schon ihre Theorie des Marktes eine Vereinfachung, so droht ihre Theorie der Politik – bleibt sie allein – eine Verfälschung zu sein. Sehen wir uns den einzelnen Bürger im politischen Entscheidungsfeld an: Die Zusammensetzung eines privaten Budgets entsteht durch Entscheidungen eines einzelnen, die er nur für sich selbst trifft; beim öffentlichen Budget sind es die Entscheidungen vieler einzelner, und sie werden jeweils für alle gemacht. Die Souveränität, vor allem aber die Sicherheit, mit der der einzelne sein privates Budget planen und plangemäß gestalten kann, fehlt beim öffentlichen Budget. Allein diese Tatsache dürfte schon von Einfluß auf das Wahlverhalten sein. Man muß davon ausgehen, daß der einzelne sich des sozialen Bedingungsrahmens bewußt ist, in dem seine Entscheidung über die Regelung kollektiver Angelegenheit steht, und daß sich hieraus jedenfalls eine andere Abhängigkeit ergibt, als die eines Konsum- oder Investitionsaktes, selbst wenn man einräumt, daß auch marktwirtschaftliche Entscheidungen nicht ohne eine gewisse gesellschaftliche Orientierung fallen.
Wahlverhalten und Marktverhalten dürften zudem schon allein deshalb durch unterschiedliche Attitüden geprägt sein, weil das Reaktionsschema andere Formen zeigt. Entscheiden sich etwa einzelne oder mehrere dafür, ein bestimmtes individuelles Gut verstärkt nachzufragen, so reagiert der Markt normalerweise, indem von diesem Produkt mehr Einheiten, von einem anderen entsprechend weniger hergestellt werden. Von seinem Konstruktionsprinzip her gibt es auf dem Markt alle Güter, für die eine kaufkräftige Nachfrage besteht; und es gibt nur solche Güter, für die eine solche Nachfrage existiert. Bei kollektiven Gütern ist keine Sicherheit gegeben, daß eine Reaktion auf die im Votum geäußerten Wünsche stattfindet; wer eine Änderung in der Versorgung kollektiver Güter erreichen will, muß sich ungleich intensiver für seine persönlichen Ziele einsetzen und muß dabei im Zweifel erleben, daß seine Bemühungen ohne Erfolg bleiben. Leidenschaftliches Engagement und apathische Resignation liegen in der Politik sehr eng beieinander. Auf dem Markt sind die Übergänge zwischen Einsatz und Rückzug fließend. Es ist für den weiteren Verlauf unserer Überlegung von höchster Bedeutung, daß in der Politik der Impuls, die eigenen Angelegenheiten gestaltend in die Hände zu nehmen, auf die Einsicht stößt, daß es sich nicht lohnt. Und weil es im Staat kaum Rückzugsmöglichkeiten gibt und der Widerspruch kaum Aussicht auf Erfolg hat, wird auch der liberale Staat vom einzelnen als Herrschafts- und Zwangsinstrument erlebt. Natürlich mag der einzelne auf eine weitverbreitete Kongruenz der individuellen politischen Zielvorstellungen vertrauen. Doch auch dann hat er bei kollektiven Entscheidungen ein viel stärkeres Abhängigkeitsgefühl als bei individuellen Entscheidungen auf dem Markt. Ein weiterer Unterschied zwischen Markt und Politik scheint uns von Bedeutung zu sein: Auf dem Markt muß sich etwa ein Konsument nur für das interessieren, was er nachfragen kann und was er nachfragen will. Das Angebot und die Anbieter brauchen ihn nicht zu interessieren, seine Nachfrage ruft sie ins Leben. Entsprechend begrenzt ist seine Informations- und Entscheidungsaufgabe. Anders im Raum der Politik: Hier ist er nicht nur als Nachfrager, sondern auch als Anbieter gefordert und in beiden in der Regel überfordert. Er müßte sich in einem Ausmaß informieren, das seine Fähigkeiten übersteigt, das auch über das hinausgeht, was er angesichts seines verschwindend kleinen Einflusses sinnvollerweise anstreben wird. Er ist hin- und hergerissen zwischen dem Interesse, jene Elemente zu kennen, von denen sein Schicksal in der Politik abhängt, und der Einsicht in die Nutzlosigkeit dieses Wissens.

Es ist also festzuhalten: Der Konsument trifft seine Wahl unter tatsächlich existierenden Angeboten des Marktes, und er wird – falls der Markt funktioniert – stets zufriedengestellt; dagegen enthält jede Abstimmung über Kollektivgüter zunächst nur eine Reihe von Vorschlägen, und der Wähler muß stets – also auch unter günstigsten Bedingungen – damit rechnen, daß die von ihm präferierten Vorschläge nicht angenommen, andere, ihm weniger wichtig erscheinende dagegen angenommen und in die Tat umgesetzt werden. Theoretisch wäre es also nötig und im eigenen Interesse von vorrangiger Bedeutung, daß man sich eigene Präferenzen über die Reihenfolge bei der Bewertung aller öffentlichen Güter erarbeitet, während man bei den privaten Gütern vom Marktangebot vieles, ja das meiste, am Rande oder ganz beiseite lassen kann. Selbst wenn man bedenkt, daß es, mit Blick auf das gesamte Sozialprodukt, weniger öffentliche als private Güter gibt, bleibt die Bewertungsaufgabe bei öffentlichen Gütern eigentlich eine ungeheuerliche. Weil aber nichts außer acht gelassen werden dürfte, steigt auch der Informationsaufwand theoretisch ins Unermeßliche. Im Gegensatz zur Modellwelt, wie sie uns die Wohlfahrtsökonomen – ausgehend vom Markt auch für die Politik – vermitteln, ist der Entscheidungsteilnehmer bei der Wahl öffentlicher Güter in einer ganz anderen Ausgangssituation als ein Konsument privater Güter. Jener ist stärker gefordert, und es kommt darauf an, daß er alles überblickt.

Wir können also vorerst festhalten: Der Mensch geht bei der Aufstellung und Artikulation von Präferenzen für öffentliche Güter ganz andere Wege als bei der Gewinnung von Präferenzen für private Güter. Welche Wege das sind und auf welche Felder der Mensch dabei geführt wird, wird später in diesem Buch ausführlich zu erörtern sein. Daß die ökonomische Betrachtungsweise in der Folge dieser Erörterungen mehr und mehr verlassen wird und eine zutiefst psychologische Dimension ins Blickfeld gerät, ist dann durchaus beabsichtigt und kein Zufall. Man verstehe unsere Ausführungen an dieser Stelle richtig: Wir entdecken hier nicht nach x anderen die Kollektivgüter; wir verweisen aber sehr wohl darauf, daß in der Konfrontation des Menschen mit den Kollektivgütern in den Kollektiven eine Betrachtungsweise, die nur das rationale Kalkül berücksichtigt, unvollständig sein muß. Gerade die Charakteristika der Kollektivgüter zwingen den Menschen in eine Situation, in der Leidenschaft und Resignation, Kampfbereitschaft und Apathie, fanatischer Aktionismus und gelangweilte Indifferenz mögliche und wahrscheinliche Verhaltensmuster sind. Neben das Verhältnis des Menschen zu den knappen Gütern der Welt treten die Beziehungen des Menschen zu sich und den anderen. Doch zunächst soll noch eine Weile die ökonomische Denkweise Begleiter unserer Überlegungen sein; dies auch, um ihre Ergänzung – wie wir sie später vorstellen werden – in ihrer Eigenart sichtbar werden zu lassen.

Die Frage ist noch offen, wie es mit dem Prinzip der Verantwortlichkeit bei öffentlichen Gütern steht. Bei privaten Gütern, so ist ausgeführt worden, herrscht Alleinverantwortlichkeit. Obwohl man als einzelner Konsument mit seiner Nachfrageentscheidung dem Markt Anstöße gibt, so bleiben diese doch marginal. Auch wenn man als einzelner nicht nachfragt, gibt es auf dem Markt kein fühlbar anderes Angebot; man ist also als einzelner nicht verantwortlich zu machen für das, was am Markt geschieht. Umgekehrt auch verändert man die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht fühlbar, wenn man eine Nachfrage nach einem bestimmten Gut artikuliert und in der Folge ein entsprechendes Angebot induziert. Was auf dem Markt geschieht, berührt – abgesehen von externen Effekten – nur den, der es verursacht hat; und wenn er es verursacht, dann weil er es gewollt hat.

Bei der Wahlentscheidung über öffentliche Güter sieht das auf den ersten Blick ganz ähnlich aus: Wer keine Präferenzen bekanntgibt oder wer sich der Stimme enthält, vermag als einzelner das kollektiv zu beschließende Ergebnis nicht zu beeinflussen. Der Stimmenanteil eines einzelnen ist marginal. Allerdings: Anders als auf dem Markt kann es aber dem einzelnen bei der Abstimmung über öffentliche Güter keineswegs gleichgültig sein, was er will und wünscht und was demgegenüber andere wollen und wünschen. Denn schließlich wird über öffentliche Güter entschieden, die grundsätzlich allen zur Nutzung angeboten, vielleicht sogar aufgedrängt werden, und die durch die Erhebung von Zwangsbeiträgen finanziert werden. Das Interesse müßte also stark sein, seinen Einfluß geltend zu machen, seine Ansprüche durchzusetzen, seine Ziele verwirklicht zu sehen. Alles Debattieren und Argumentieren hilft nichts, nur was letztendlich im Haushaltsplan steht, wird im laufenden Jahr aktuell an öffentlichen Gütern angeboten. Der Stimmenanteil mag als marginal zu betrachten sein, das Interesse am Ergebnis der Abstimmung ist keineswegs marginal. Am besten wäre es für jeden einzelnen zweifellos, wenn die durch die Wahl entstandene kollektive Präferenzskala für die öffentlichen Güter genau mit seiner individuellen Präferenzskala übereinstimmen würde. Nur dann hätte er sich mit seinen Wunschvorstellungen maximal durchgesetzt. Das wäre natürlich Zufall, und es als Wunsch zu haben, ist ein Traum. Realistisch ist es hingegen, einen Kreis ähnlich Gesinnter hinsichtlich der Präferenzen für öffentliche Güter um sich herum zu wissen, damit die Stimmen für bestimmte Optionen vervielfacht werden können. Solche Bündelung von Stimmen vermehrt also den Einfluß. Man muß dabei aber vom allzu Individuellen Abstand nehmen, damit ein Kreis Gleichgesinnter überhaupt zustande kommt. So können sogar schließlich in einer Gruppe, die ein besonders wichtiges gemeinsames Ziel hat, schon mal die in anderen Bereichen öffentlicher Angelegenheiten durchaus unterschiedlichen Interessen zusammengeschlossen sein.

Um in der Politik zu erreichen, was er mit ihnen gemeinsam will, muß der einzelne im Zweifel in der Gruppe opfern, worin er sich von ihnen unterscheidet. Um seine Entfremdung im Staat in Grenzen zu halten, stimmt er seiner Alienation in der Gruppe zu. Um der sachlichen Vertretung seiner Interessen willen setzt er sich der emotional spannungsgeladenen Konfrontation mit anderen Menschen aus.

Dies ist weit mehr als eine intellektuelle Konstruktion; man betrachte nur das emotional aufgeheizte weite Spektrum ordnungs- und gesellschaftspolitischer Überzeugungen, die sich bei den Mitgliedern der ökologischen Bewegung finden. Die Mitgestaltungsmöglichkeit des gemeinsamen Schicksals wird erkauft durch die Zurücknahme von Teilen des individuellen Lebensentwurfes. Anders als auf dem Markt muß der einzelne jetzt entscheiden, ob er anderen Gesellschaftsmitgliedern offen verletzend oder empathisch rücksichtnehmend begegnet. Auf dem Markt lebt der einzelne in einer Welt der Dinge, die Politik ist primär ein Ort menschlicher Begegnung oder Konfrontation. Entsprechend ist der Grad der emotionalen Aufladung in der Politik weit höher als jener auf dem Markt. Ist der Markt vollkommen, so ist die emotionale Temperatur null; die Politik weist notwendigerweise Plus- oder Minusgrade auf.

Wer an Entscheidungen über öffentliche Güter teilnimmt, weiß einerseits, daß er sich grundsätzlich über alle Angebotsvarianten informieren muß und eine Rangordnung der Prioritäten nach seinen Präferenzen vorzunehmen hat. Andererseits ahnt er wenigstens, daß er die Flut an Informationen, die zu verarbeiten wären, gar nicht bewältigen kann. Wie weiß er, was ihn besonders interessieren sollte, wie sichert er ab, daß er an die richtigen Informationen herankommt, und in welchem Ausmaß soll er sich schließlich kundig machen? Um den Wert einer Information abschätzen zu können, müßte man zuvor informiert sein.

Das Gefühl, überfordert zu sein, und die Sorge, einer undurchsichtigen Mechanik ausgeliefert zu sein, mögen sich da schnell einstellen, wenn der einzelne ganz auf sich angewiesen bleiben soll. Einen Schutz bieten dagegen Bezug und Kontakt zu einer Gruppe. Es ist bequemer und vor allen Dingen verläßlicher, Informationen aus der Gruppe Gleichgesinnter beziehen zu können. Auf dem Markt mag man sich allein informieren, als Bürger, als Mitglied eines Kollektivs ist man in der Auseinandersetzung mit anderen informiert oder man ist nicht informiert. Der Marktteilnehmer informiert sich durch das Begreifen von Dingen; als Bürger informiert man sich durch die Begegnung mit Menschen. Über Dinge informiert man sich, indem man ihre Eigenschaften erfährt; mit Menschen informiert man sich, indem man sich ihren Argumenten und Affekten aussetzt.

Was im Markt durch eine Ökonomie der Dinge nicht erfaßt wird, muß in der Politik durch eine Psychologie der Menschen verstanden werden. Der Ökonomie noch ganz verwandt ist die Überlegung, daß innerhalb der Gruppe der Vorteil der Arbeitsteilung bei der Informationsbeschaffung und Entscheidungsvorbereitung genutzt wird. Ähnlich wie bei privaten Gütern kann man sich darauf beschränken, sachkundig nur für ausgewählte Bereiche zu sein und sich im übrigen auf den Rat von Experten zu verlassen. Daß es bei der Entscheidung über öffentliche Güter die Möglichkeit der Arbeitsteilung bei der Informationsbeschaffung gibt, erscheint viel wichtiger als bei privaten Gütern, weil einen bei diesen nur ein höchst individuelles Spektrum interessieren wird, während man bei jenen über alles Bescheid wissen müßte. Es ist deshalb auch keine Frage, daß in der Praxis von dieser Arbeitsteilung intensiv Gebrauch gemacht wird. Mag diese Arbeitsteilung ihren Grund im ökonomischen Kalkül der Kostenminderung haben, so wird sie hier – anders als auf dem Markt – mit Notwendigkeit zu einer begegnungsintensiven Interaktion. So ist es für die Arbeit etwa in den politischen Parteien ganz selbstverständlich, daß sich für die verschiedenartigen Sachgebiete wie Rentenversicherung, Wirtschaftspolitik, Justizwesen oder Familienpolitik einzelne Sprecher als Experten profilieren, deren Rat die anderen Parteimitglieder in der Regel folgen. Es entsteht ein Verhältnis von Partnern, die aufeinander angewiesen sind – eine Beziehungsdichte, die für die privaten Güter des Marktes völlig unüblich und unnötig ist.

Jedenfalls ist bei den öffentlichen Gütern eine ungleich stärkere und vor allem völlig andersartige affektive Herausforderung und emotionale Anspannung gegeben als bei privaten Gütern. Dies mußte, so war eigentlich längst zu erwarten, zu neuartigen Hypothesen oder vollständig neuen Theorien über Abstimmungsverfahren bei öffentlichen Gütern führen, die über die wohlfahrtsökonomischen Ansätze weit hinausgreifen.

... zu der ökonomischen Theorie der Politik ...

Die Wohlfahrtsökonomie ist keine Theorie des politischen Prozesses. Nun gibt es aber Politik. Downs – er steht für eine ganze Denkrichtung – hat dies gesehen und versucht, eine Theorie der Politik zu entwerfen. Dabei griff er auf das ökonomische Begriffsinstrumentarium zurück. Es ist ihm und seinen Nachfolgern gelungen, wichtige Aspekte des Politischen einzufangen. Die Wohlfahrtsökonomen hatten – verführt durch ihre Methode – den Gegenstand verpaßt. Downs versuchte, durch den gezielten Einsatz dieser Methoden den Gegenstand zu erfassen. Downs bedient sich sehr vieler ökonomischer Argumente; auch die Trennung zwischen privaten und öffentlichen Gütern erfolgt in der gleichen Art und Weise, wie in der ökonomischen Theorie. Sowohl das Anliegen wie auch die Techniken der neuen Theorie fügen sich also nahtlos in die bisherigen Überlegungen ein und können ein gutes Stück auf das gewünschte Ziel hinführen. Im Gegensatz zur wohlfahrtsökonomischen Theorie der Kollektiventscheidungen liefert Downs tatsächlich eine Theorie der Politik. Das Neue an dieser politischen Theorie ist, daß Entscheidungsteilnehmer an Abstimmungen unterschiedliche Aktivität entfalten, sich mehr oder weniger stark engagieren, verschiedenartige Rollen übernehmen, rivalisierende Positionen beziehen und dafür auch werben und vieles andere mehr. Entscheidungsteilnehmer an politischen Wahlen können jedenfalls nicht mehr wie Konsumenten eingeschätzt werden, die prinzipiell alle als gleichartig zu betrachten sind und die sich nur durch ihre je eigenständigen Präferenzen voneinander unterscheiden. Teilnehmer am politischen Leben unterscheiden sich zwar auch durch ihre Präferenzen, aber darüber hinaus noch durch weit mehr. Das Mindeste, das hier zu unterscheiden wäre, ist die Rolle und Funktion des Politikers einerseits und die des Wählers andererseits.

In den ersten Sätzen der Einleitung zur Oekonomischen Theorie der Demokratie stellt Downs mit Verwunderung fest:

In der ganzen Welt beherrschen Regierungen das wirtschaftliche Geschehen ... Dennoch ist die Rolle, die der Staat in der Welt der Wirtschaftstheorie spielt, dieser Vorherrschaft keineswegs angemessen.

So wie am Markt rationale Regeln für Produzenten und Konsumenten herrschen, möchte Downs rationale Regeln für Regierungen ausweisen und zeigen, wie sich Politiker und Wähler verhalten werden, wenn sie erfolgreich sein wollen. Verglichen mit der Wohlfahrtsökonomie entstehen jetzt erstmalig überhaupt ein Rollenspiel, aber auch – wie noch zu zeigen sein wird – Austausch, Wettbewerb und Dynamik. Denn es werden nun nicht mehr von dem von Wohlfahrtsökonomen niemals genau beschriebenen Koordinator Meinungen über öffentliche Angelegenheiten eingesammelt und zur gesellschaftlichen Wohlfahrtsfunktion verdichtet, sondern es gibt Personen, die Programme entwickeln und sich mit ihren Programmen bei anderen, den Wählern nämlich, bewähren wollen. Deutlicher Unterschied zu allem Bisherigen ist jedenfalls, daß es nun zwei verschiedene Rollen gibt, die Wähler auf der einen Seite und die Politiker auf der anderen.

Wenn man diesen entscheidenden Schritt erst einmal gedanklich vollzogen hat, kann man eine ganze Menge von Dingen in ihrer Eigenart wahrnehmen: Zunächst liegt es nahe, die Wähler selbst nicht mehr als vollkommen gleichartige Wesen zu betrachten, die sich durch nichts anderes als durch ihre Präferenzen unterscheiden. Man kann sie beispielsweise als unterschiedlich interessiert und informiert am politischen Leben einstufen. Man kann aber auch einen Teil von ihnen als besonders loyale Wähler erkennen, die mehr aus traditioneller Treue zu ihrer gewohnten Partei und deren Politikern stehen als nach reiflicher Überlegung über Vorteile und Nachteile bestimmter Parteiprogramme ihre Wahl treffen. Allein diese beiden Unterscheidungsmerkmale genügen, um darauf aufmerksam zu machen, daß einzelne Wähler in sehr unterschiedlichem Maße bemüht sein werden, Informationen zu nutzen und Wissen zu erwerben, wenn es um öffentliche Güter geht. Man muß davon ausgehen, daß sowohl die Präferenzintensität bei diesen verschiedenen Wählergruppen sehr unterschiedlich sein wird, als auch der Erwerb von Kenntnissen und die Bildung von Präferenzen. Unterschiedlich wird ebenfalls sein, was Wähler von Politikern erwarten und wie Wähler mit ihren Politikern umgehen; da mag die Spanne durchaus von Huldigung bis zu Gelangweiltheit oder sogar Verachtung gehen.

Es liegt nahe, die Vielfalt der so sichtbar werdenden Erscheinungen in Gruppen von Wählertypen zusammenzufassen. Hat man erst einmal plausible Hypothesen über Wählertypologien aufgestellt und ist auch eine gewisse empirische Bestätigung für die Bedeutung und den Umfang der Wähler in den einzelnen Gruppen vorhanden, dann läßt sich leichter überschauen und eventuell auch vorhersagen, was zwischen Wählern und Politikern passiert. So findet man schon bei Downs eine sehr differenziert abgestufte Wählertypologie. So kennt er einerseits Wähler, die sich intensiv dafür einsetzen, andere auf ihre Seite zu ziehen. Für die bevorzugte Partei werben sie mit allen Mitteln der Überredungskunst. Sie halten sich auf möglichst hohem Informationsniveau – wenn auch in selektiver Weise: Argumente, die die eigene Position stärken, werden ebenso bevorzugt wie Argumente, welche die gegnerische Positionen schwächen. Auf der anderen Seite der Skala stehen nach Downs apathische Wähler, die keinerlei Interesse haben, am politischen Leben teilzunehmen, keine Präferenzen für öffentliche Güter bilden und sich gewöhnlich der Stimme enthalten. Wieder andere Wählergruppen nennt Downs informiert oder schwach informiert, aber noch nicht entschieden; eine noch andere Gruppe bezeichnet er als ratlose Wähler. Die Wähler dieser verschiedenen Gruppen – davon ist Downs überzeugt – sind nun in sehr unterschiedlicher Weise der Beeinflussung zugänglich. Die einen, etwa die Loyalen, sind so gut wie überhaupt nicht für einen parteipolitischen Wechsel zu gewinnen; die anderen, etwa gut Informierte, aber noch Unentschiedene, kann man mit sachlich gut begründeten Argumenten überzeugen und für die Wahl der eigenen Partei gewinnen. Schlecht informierte und zur politischen Apathie neigende Bürger wird man hingegen kaum mit dem sachlich gut geführten und exakt plazierten Argument gewinnen können. Hier werden zweifellos andere Instrumente als Sachaussage und Logik zum Einsatz kommen. Die Differenzierung nach Wählertypen zeigt deutlich, daß weder die Präferenzbildung und Informationssuche nach einheitlichen Mustern ablaufen, noch die Interaktion zwischen Politikern und Wählern als stets gleichartiger – weil nur auf Sachen ausgerichteter – Ablauf verstanden werden kann.

Hinzu kommt nun noch eine zweite Differenzierung, die diesen Eindruck verstärken muß: Offensichtlich liegt es sehr auf der Hand, daß auch unterschiedliche Typen von Politikern mit ihrem unterschiedlichen Angebot auftreten können. Schon aus Symmetriegründen müßte man zu diesem Schluß gedrängt werden, aber auch schlicht aus einer Sensibilität für politische Dynamik und aus einer Aufgeschlossenheit gegenüber der Vielfalt menschlicher Charaktere und Führerpersönlichkeiten, die sich zu unterschiedlichen Zeiten mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten auf der Bühne des politischen Lebens vorstellen, bewähren und wieder verabschieden.

Um zunächst bei Downs zu bleiben: Er selbst hat keine Typologie der politischen Führer entworfen, was um so mehr verwundert, als er die Wähler in ihrer Unterschiedlichkeit durchaus gesehen hat. Zwar hat er sehr interessante Aussagen über Parteien gemacht, den Politiker hat er merkwürdig blaß gelassen. Downs hat beschrieben, wie Parteien Macht bekommen – genauer, wie man mit Parteiprogrammen Wählerstimmen gewinnen kann; er ist aber nicht daran interessiert gewesen, die politischen Köpfe in der Partei näher zu beschreiben und erst recht nicht zeigt er auch nur beispielsweise, wie es einem politischen Führer in einer Partei gelingt, das Zepter für die Machtausübung in die Hand zu bekommen. Downs hat nicht nur die Wählerschaft, sondern einzelne Wähler gesehen; auf der Angebotsseite hat er Parteien gesehen, nicht aber Politiker. Wohl spricht er von Politikern. doch stehen sie als individuell nicht differenzierte Chiffre für eine Parteiengesamtheit. Dies muß erstaunen. Da wird eine Theorie des Politischen gemacht, in der wohl die Nachfrage nach öffentlichen Leistungen in ihrer Unterschiedlichkeit gesehen wird, die Politiker in der Vielfalt ihrer Menschlichkeit jedoch nicht einmal am Rande vorkommen. Ist dies etwa überflüssig, oder war Downs von einer anderen Einsicht so geblendet, daß er diesen Teil der Wirklichkeit einfach nicht sehen konnte? – Wir sind der Meinung, daß letzteres der Fall ist. Der Erfolg des Anthony Downs in bestimmten Teilen erklärt und entschuldigt sein Versagen in anderen. Sein Erfolg begründet aber auch für seine Nachfolger die Notwendigkeit, sein Versagen aufzuarbeiten.

Sein Erfolg: Downs war von einer wichtigen Entdeckung so sehr beeindruckt, daß alle anderen Zusammenhänge über Parteien und Politiker und insbesondere das Verhältnis von politischen Führern und Wählern demgegenüber unbedeutend erscheinen mußten. Downs hatte erkannt, daß man ein sehr taugliches Modell der Demokratie entwickeln kann, wenn man das Eigennutz-Axiom, das sonst nur in der Tauschwelt der privaten Gütererstellung regiert, auch auf den Abstimmungsprozeß bei öffentlichen Gütern überträgt. Der Vorteil ist beträchtlich, weil man eigens für den politischen Prozeß keinen neuen Menschen einführen muß. Es reicht, die Chiffre des gewinnmaximierenden Unternehmers auf dem Markt als Chiffre des politischen Unternehmers zu nutzen. Der Politiker startet nicht anders als ein Unternehmer. Während dieser durch erfolgreiche Verkäufe seiner Produkte am Markt zunächst sein Einkommen mehrt und später Einfluß und vielleicht auch Macht hinzugewinnt, mehrt jener durch öffentliche Güterprogramme, die breitere Aufmerksamkeit erwecken, zunächst seinen Einfluß, später seine Gefolgschaft in der Partei, dann politische Macht und nicht zuletzt natürlich auch Einkommen. Mögen sich der Politiker und der Unternehmer auch darin unterscheiden, ob sie eher Einkommen oder eher Macht anstreben, so sind sie schließlich doch aus dem gleichen Holz geschnitzt, getragen von einer gleich großen Energie, getrieben durch den gleich großen Willen des Machens, geprägt von der gleichen Bereitschaft zur Innovation. Auf einen neuen Menschen, auf das spezifisch politische Motiv im Menschen, kann man bequemerweise verzichten und scheint darüber hinaus – wie insbesondere schon Schumpeter ausführlich beschrieben hatte – die Realität viel besser erklären zu können. Der Konkurrenzkampf der Politiker um Macht und Amt ist, wie Schumpeter es ausdrückt, wohl die Triebkraft allen politischen Handelns, einen Wesensunterschied zum Gewinnstreben gibt es nicht. Daß wohlmeinende, gereifte Menschen in der Rolle des Altruisten für des Bürgers Wohl sorgen wollten, ist in seinen Augen eine Rationalisierung des politischen Prozesses, die zwar sehr verlockend, aber gerade deshalb gefährlich ist. Im direkten wörtlichen Sinn ist nicht das Volk der Souverän, weil es nicht selbst herrscht. Nein: "Die Demokratie ist die Herrschaft des Politikers." – Dieser Satz dürfte Downs entzückt haben, zugleich würde er jedoch versöhnlich hinzugefügt haben: "Aber das Volk entscheidet, welchen Politiker es herrschen läßt."

In der Politik geschieht nichts Sonderbares und Geheimnisvolles; man könnte mit gleichmütiger Gelassenheit sagen, daß es nur darauf ankomme, die Regeln des Marktes gut verstanden zu haben, denn nach den gleichen Regeln wird auch im politischen Leben das Spiel begonnen und der Erfolg gewonnen. Es sind ihrer Natur nach die gleichen Motive, welche die Prozesse in Gang setzen, und es ist die gleiche Art Menschen, die die aktiven Rollen übernehmen. Nicht einmal der Inhalt des Motivs muß verschieden sein: Man kann versuchen, als Unternehmer oder als Politiker Geld zu machen. Hierzu Downs:

Aus dem Eigennutz-Axiom ergibt sich unsere Auffassung von den Motiven, denen die politischen Aktionen der Parteimitglieder entspringen. Wir nehmen an, daß sie nur handeln, um das Einkommen, das Prestige und die Macht zu erlangen, die mit öffentlichen Ämtern verbunden sind. Daher streben in unserem Modell die Politiker niemals ein öffentliches Amt an, weil es ihnen ermöglicht, bestimmte politische Konzepte zu verwirklichen; ihr einziges Ziel ist, die Vorteile zu genießen, die ein öffentliches Amt an sich bietet. Die Politiker verwenden politische Konzepte und Aktionen einzig und allein als Mittel zur Verfolgung ihrer privaten Ziele, die sie nur dadurch erreichen können, daß sie gewählt werden. – Auf dieser Überlegung beruht die Grundhypothese unseres ganzen Modells: Die Parteien treten mit politischen Konzepten hervor, um Wahlen zu gewinnen; sie gewinnen nicht die Wahlen, um mit politischen Konzepten hervortreten zu können.

Downs zitiert ausführlich Schumpeters Idee, daß nach Lage der Dinge das Angebot von öffentlichen Gütern bis hin zu den vielfältigen sozialen Leistungen des Staates ein Nebenprodukt des Eigennutzes der Politiker ist – so wie die Produktion privater Güter schließlich auch nur eine Nebenerscheinung beim Erzielen von Profiten ist. Schumpeters politischer Unternehmer ist das Vorbild des Parteipolitikers bei Downs geworden.

Man versteht nun, wieso diese Theorie zu Recht eine ökonomische Theorie der Demokratie genannt werden darf und warum die auf Downs aufbauende Richtung später etwas allgemeiner als ökonomische Theorie der Politik bezeichnet worden ist. Downs hat beim Aufbau seiner ökonomischen Theorie noch an anderen Stellen hin und wieder Bausteine aus der ökonomischen Theorie verwendet; so hat er beispielsweise seine Ideen über den Einfluß von Wählergrundgesamtheiten auf den Parteienwettbewerb sehr eindrucksvoll anhand eines bekannten Oligopolmodells von Hotelling erläutert; aber das Entscheidende ist für ihn – wie er selbst betont – die Wiederentdeckung des Schumpeterschen politischen Unternehmers.

So wichtig die Wiederbelebung der Schumpeterschen Idee für Downs selbst und die ganze auf seinem Werk aufbauende ökonomische Theorie der Politik gewesen ist, sie ist in dieser Form nicht ohne einen gewissen Preis an Entwicklungsoffenheit geblieben; schärfer ausgedrückt: Mit der Schumpeterschen Idee vom politischen Unternehmer vor Augen, war der Blick verstellt für andere Formen der Wahrnehmung über das Verhältnis von Politikern und Wählern, insbesondere für eine Art von Wahrnehmung, wie sie hier in unserer Analyse langsam vorbereitet wird. Deren wichtigster Punkt ist, daß der Erwerb von Erfahrungen über Güterqualitäten, das Gewinnen und Anreichern von Informationen über Güterprioritäten und die Auseinandersetzung über das für den einzelnen Nützliche und Bequeme bei privaten und bei öffentlichen Gütern nicht in gleicher Weise ablaufen, sondern spezifische Eigenheiten kennen, die es herauszuarbeiten gilt. Eine hervorragende Idee von Downs war unter diesem Aspekt, eine Wählertypologie zu entwickeln. Viele von den besonderen Eigenschaften, wie sie gegenüber der Entscheidungsteilnahme am Abstimmungsprozeß über öffentliche Güter existieren, hat Downs versucht, mit plausiblen Argumenten zu beschreiben. In welch verschiedenen Rollen der Bürger als Wähler gesehen werden kann, das hat Downs in glaubhaften Charakterisierungen durchaus differenziert wiedergegeben. Das gleiche für die Politiker zu tun – also eine Politikertypologie zu entwerfen –, war ihm hingegen versperrt.

Dazu schlug die Macht des Schumpeterschen Demokratiemodells viel zu stark durch. Wer käme schon auf die Idee, die Einzigartigkeit des erfolgreichen Marktunternehmers in eine Unternehmertypologie zu pressen? Wer sollte sich schon für Unternehmer interessieren, die irgendwann mit Elan den Start versucht haben, aber erfolglos geblieben sind? Der Marktanalytiker kann gelassen darüber hinwegsehen; er beobachtet existente Märkte und nicht, ob Phantasien von nichtbestehenden Märkten in irgendwelchen Hirnen existieren. Für das Marktgeschehen insgesamt schien es – jedenfalls zu Downs’ Zeiten – gleichgültig, ob ein bestimmter Unternehmer mittelmäßig ist oder großartige Fähigkeiten beweist. Um den Markt zu verstehen, gibt es keinen Bedarf an einer wie auch immer gestalteten Unternehmertypologie. An einem Vorbild für die Ausmalung einer Typologie für den politischen Führer mangelte es also entschieden. Mehr noch, gegen den Versuch, ein derartiges Vorhaben ganz ohne Vorbild dennoch zu starten, erwuchs aus Downs’ Engagement selbst ein Hindernis. Bestand nicht die Gefahr, daß man mit einer Typologie die neue Idee wieder preisgeben oder zumindest stark verwässern würde? Konnte nicht sehr schnell wieder der Politiker als Personifizierung des Gemeinwohles in einer derartigen Typologie auftreten? Die überkommene Demokratietheorie wäre dann nicht überwunden, sondern nur modifiziert worden. Downs mußte befürchten, daß eine Differenzierung des Politikers zu dessen Demontage und damit zur Verweichlichung seines eigenen Ansatzes führen würde. Wenn jemandem der Weg zu einer Differenzierung des Politikers in der ökonomischen Theorie der Politik versperrt war, dann ihm.

Wenn aber jemand den Weg zu einer Differenzierung des Politikers in der Theorie der Politik gehen muß, dann wir. Das sind wir nicht zuletzt Downs schuldig. Weil Downs Erfolg hatte, können wir weitergehen; wo Downs versagt hat, müssen wir weitergehen.

Es wäre nun sicher unfruchtbar und zwecklos, eine Politikertypologie ohne engsten Bezug zu den Wählern zu entwickeln. Die Politik ist ein Interaktionsspiel zwischen Menschen. Dieses Spiel weist vielfältigste Rollenzuweisungen auf. Es begegnet nicht Der Politiker Dem Wähler im sporadischen Wahlgang; es interagieren auf vielfältigste Weise kontinuierlich Menschen als Bürger und als Politiker. Es ist außerordentlich wichtig, sich klarzumachen, daß Politiker und Wähler sich nicht nur alle vier Jahre bei der Wahl begegnen, sondern daß eine dauernde Verwobenheit zwischen Politikern und Wählern besteht, die, mit immer neuen Anstößen von innen und außen, einem Netzwerk von Gutschriften und Lastschriften, Verpflichtungen und Belastungen gleicht – einem Netzwerk, das zwar in ständiger Bewegung ist, gleichwohl aber auch über festsitzende Bindungen verfügt. Politiker müssen gleichsam in andauernder Feinfühligkeit Anerkennung beim Wähler sammeln und dauernd, wie in einer Sisyphusarbeit, Lasten abtragen, die ihrem Aufstieg noch im Wege stehen. Im Vergleich zu diesem fortwährenden Abtasten ist der Wahltag beinahe nur ein oberflächlicher Test.

Dies Urteil mag auf den ersten Blick verzerrt erscheinen, man muß aber bedenken, daß es in der Demokratie nicht nur um die Funktion der demokratischen Kontrolle oder auch der Anreizfunktion, mit Programmen um Wählerstimmen zu werben, noch nur um die Mitsprache des Bürgers über den Wahlmechanismus geht, sondern auch um die Frage, von welcher Art die Beziehungen der Menschen als Politiker zu den Menschen als Bürger sind. Und dazu ist es in der Tat erforderlich, das ganze Klima und die dauernden Spannungen kennenzulernen. Die Wahl ist das Ergebnis eines Prozesses; worauf es ankommt ist, über den Prozeß selbst etwas in Erfahrung zu bringen. Um eine Typologie für Politiker in der Theorie der Politik zu erarbeiten, kann man also weder damit beginnen, Geschichten von typischen Politikerkarrieren zu sammeln, noch auf einen Versuch hoffen, mit der Analyse typischer Verhaltensweisen und Tätigkeiten zum Erfolg zu kommen. Was hingegen benötigt wird, sind Materialien, Beobachtungen und – selbstverständlich wie immer im Vorfeld einer Theorieausweitung – geeignete Hypothesen über typische Begegnungen von Politikern und Wählern. Eine Wählertypologie konnte damals Downs noch ad hoc entwickeln und als durchaus plausibles Muster vorstellen, eine Politikertypologie kann hingegen heute nicht isoliert und als solche modelliert werden. Sie entsteht nur, wenn die Interaktion zwischen Wählern und Politikern richtig erfaßt wird.

... und darüber hinaus

Bei der Erfassung dieser Interaktion – bei ihrer Beobachtung, vor allem aber bei der Suche nach Hypothesen darüber, was möglicherweise in den Kreis der Beobachtungen aufzunehmen ist – darf nun nicht zu engherzig verfahren werden. Man darf beispielsweise nicht für gesichert annehmen, daß die Politiker ausschließlich darin wetteifern, ihren Wählern immer besser auf deren Wünsche abgestimmte Programme an öffentlichen Gütern vorzulegen. Sicher, die Analogie zum privaten Unternehmer auf einem Markt mit intensivem Wettbewerb wäre perfekt, und die unsichtbare Hand würde dann nicht nur den Zustand in der privaten Güterversorgung, sondern auch in der öffentlichen Güterversorgung optimieren; aber in Wirklichkeit ist das ein Traum, eine utopische Welt, in der Politiker und Wähler mit einer Art vollkommener Information und Gewißheit über alle Wünsche, Ziele und Hoffnungen ausgestattet sind und sich in schrittweiser Anpassung dem Versorgungsoptimum nähern können.

Das genaue Gegenteil wäre eine fiktive Nation, die von Politikern beherrscht würde, die überhaupt keine Informationen über die Wünsche ihrer Bürger nach öffentlichen Gütern hätten. Trotzdem müßten sich auch diese Politiker, solange demokratische Spielregeln gelten, bei den Wählern um Mandate und Positionen bewerben. Auch sie müßten mit Worten und Gesten überzeugen, aber da niemand wüßte, was gewünscht wird, müßte man den Erfolg im möglichst Unverbindlichen und Rhetorischen suchen, die ohnehin loyalen Wähler mit Treuegelübden beschwören, den Schwankenden Zuversicht und Standfestigkeit als Prinzip anbieten, den Unsicheren und Uninteressierten das Gefühl der Könnerschaft und Einsatzbereitschaft vermitteln. Im Rahmen der Interaktion zwischen Wählern und Politikern würden dann als Botschaften nicht mehr öffentliche Güterprogramme, sondern Persönlichkeitselemente ausgetauscht; es würden Fragmente menschlicher Leidenschaften gehandelt und bewertet; nicht öffentliche Güter und politische Programme bildeten das Medium des Austausches zwischen Wählern und Politikern – das Materielle wäre ganz unbedeutend, da das Totale in immaterieller Gestalt sich nach vorne gedrängt hätte: Menschliche Sehnsüchte und Ängste wären beherrschend geworden. Wer die einen entfachen und die anderen beschwichtigen könnte, ginge als Sieger aus der Wahl hervor. Der Diskurs über Sachen wäre von der Begegnung von Menschen völlig verdrängt worden. An die Stelle sachlicher Rationalität wäre die personale Emotionalität getreten. Zugegeben: Das Gegenbild zu Downs ist, wie dessen Theorie, einseitig und vereinfachend. Doch unterscheiden sich beide darin, daß die Vision des Anthony Downs von beruhigender Transparenz ist, während ihr Gegenstück auf Kräfte verweist, die vorerst unheimlich sind. Umgekehrt ist es wohl auch angebracht, den Diskurs über Sachen in der Politik nicht aus den Augen zu verlieren. Mochte Downs in seiner Einseitigkeit entschuldbar sein, so wären jene, die auf diese Einseitigkeit reagieren und dabei in eine andere Einseitigkeit verfallen, wohl auch noch zu verstehen, aber nicht mehr zu entschuldigen.

Daß Sachargumente aus der Politik verdrängt werden können, sollte unterdessen nicht mehr in Zweifel stehen. Als während und nach dem Zweiten Weltkrieg die Reden faschistischer Agitatoren einer sozialwissenschaftlichen Analyse unterzogen wurden, stellte sich als eines der Hauptmerkmale heraus, daß sie so gut wie keine politischen Programme enthielten, die konkrete soziale oder ökonomische Anhaltspunkte für eine Auseinandersetzung hätten bieten können. Wurden Sachthemen genannt, wurden sie so enthusiastisch formuliert, daß sie einer rationalen Diskussion kaum standzuhalten vermochten. Offensichtlich bestand bei den Führern derartiger Bewegungen auch gar nicht das Ziel, Anhängerschaft durch das Aufstellen rationaler politischer Argumente zu finden. Ihre Fähigkeit, Anhänger zu gewinnen, beruhte vielmehr auf der Anwendung völlig anderer Techniken des Konsenses.

Das verbindende Glied zwischen faschistischen Führern und ihrer Gefolgschaft ist in einer beiden gemeinsamen Persönlichkeitsstruktur zu finden, und der Konsens scheint viel eher sozialpsychologischer als ökonomisch-rationaler Art zu sein. So führt Adorno aus, daß faschistische Führer ihre Anhänger aufgrund psychologischer Berechnung gewinnen, bestreitet aber, daß die Berechnung einem bewußten rationalen Kalkül entspringt, zumal den Führern selbst (Goebbels nicht ausgeschlossen) differenziertes methodisches Rüstzeug meist gar nicht verfügbar ist:

Für die vielberedete Beherrschung massenpsychologischer Techniken durch die Faschisten müssen wir deshalb andere Quellen als wissenschaftliche Belesenheit suchen. Der Führer kann die seelischen Bedürfnisse und Wünsche der für seine Propaganda Anfälligen erraten, weil er ihnen seelisch ähnlich ist, und was ihn von ihnen unterscheidet, ist nicht irgendeine echte Überlegenheit, sondern die Fähigkeit, das, was in ihnen latent ist, ohne ihre Hemmungen auszudrücken.

So gesehen ist es eigentlich falsch zu sagen, daß faschistische Führer Einfluß oder Gefolgschaft gewinnen; sie werden eher zum Bezugspunkt einer Idealisierungstendenz, die bei bestimmten Menschen vorherrscht, die permanent die Erfolglosigkeit spüren, Anforderungen, die die Gesellschaft an sie stellt, nicht erfüllen zu können. Wahrscheinlich dürfte der Nachweis nicht schwerfallen, daß die Anfälligkeit, faschistischen Ideen zu folgen, bei politisch apathischen Menschen besonders hoch ist. Indessen ist die potentielle Gefolgschaft keineswegs auf diese Gruppe beschränkt, da der Kern der Übertragung auf einen individualpsychologischen Konflikt zurückgeht, dem besonders in der Politik jeder Mensch unterworfen ist. Es ist interessant, daß der Führer nicht nur die Projektion eines von der persönlichen Erfolglosigkeit befreiten Selbstbildes ist, sondern daß er zugleich auch noch von Einfachheit und intellektueller Undifferenziertheit geprägt sein muß, damit eine kollektiv mitreißende Übertragung gelingt, indem die Massen ihn zu dem "Ihren" machen können und ihnen selbst genügend Spielraum bleibt, sich in ihm eigene Überlegenheit beweisen zu können. In diesem Interaktionsmechanismus muß die Diskussion rationaler Argumente störend, ja zersetzend wirken; die Heftigkeit, mit der sie zurückgewiesen wird, beweist das. Diese dem Downsschen Idealtypus der Demokratie fremde Zurückweisung von rationaler Diskussion, gepaart mit einer an ihre Stelle getretenen triebhaften Bereitschaft zur Übertragung, machen die Eigenart dieses Interaktionsprozesses aus:

Da es dem Faschismus unmöglich wäre, die Massen durch rationale Argumente zu gewinnen, muß seine Propaganda sich notgedrungen vom diskursiven Denken abwenden, um sich statt dessen psychologisch zu orientieren und irrationale, unbewußte, regressive Prozesse zu mobilisieren. Diese Aufgabe wird durch die seelische Verfassung all der Gesellschaftsschichten erleichtert, die unter sinnlosen Versagungen leiden und darum eine verkümmerte, irrationale Mentalität entwickeln. Vielleicht liegt das Geheimnis der faschistischen Propaganda darin, daß sie einfach die Menschen als das nimmt, was sie sind: echte, ihrer Selbständigkeit und Spontaneität weitgehend beraubte Kinder der heutigen standardisierten Massenkultur – und nicht Ziele aufstellt, deren Verwirklichung ebenso über den psychologischen wie über den gesellschaftlichen Status quo hinausginge.

Zugegeben: Die Gegenposition zu einem Modell der Demokratie, in der um nichts anderes als um die optimale Versorgungslage gerungen wird, ist außerordentlich deprimierend und düster. Die Versuchung ist groß, sie als pathologische Entartung des Downsschen Idealtypus zu verstehen und unmerklich und unbeabsichtigt eine der Intention nach empirische Theorie der Demokratie in eine normative umzuwandeln. Alles, was Politiker und Wähler veranlaßt, sich mit ihrem konkreten Verhalten in Richtung auf den Downsschen Sachdiskurs zu bewegen, kann dann als Fortschritt und Verbesserung bezeichnet werden: Dem politischen Prozeß wäre nun gleichsam der Weg gewiesen. Besonders Ökonomen können sich damit ganz wie zu Hause fühlen, bewegen sie sich doch auf gewohntem Terrain. So, wie die vollständige Konkurrenz auf allen Gütermärkten den Optimalzustand für die Versorgung mit privaten Gütern angibt und so, wie man der Wettbewerbspolitik somit den Auftrag geben kann, Abweichungen von diesem Optimalzustand zu verhindern und Hindernisse auf dem Weg dahin auszuräumen, so könnte man in vollkommener Analogie als Idealbild einer ökonomischen Theorie der Demokratie den vollständigen Wettbewerb der Politiker um öffentliche Güterprogramme auswählen, um auch hier der "Demokratiepolitik" den Auftrag zu geben, alle institutionellen Schranken und individuell wirkenden Barrieren zu beseitigen, die sich auf dem Wege zur Erreichung dieses Ziels als hinderlich erweisen.

Leider kann diese verlockende Analogie nicht anerkannt und daher auch nicht übernommen werden. Selbst wenn man davon absieht, daß es nicht angeht, eine positive Theorie normativ aufzuladen, steht einem solchen Vorgehen entgegen, daß die einseitige und ausschließliche Akzentuierung der sachlichen Rationalität in der Politik am Problem vorbeiführen muß. Das Optimum für Entscheidungsprozesse im Staat und beim öffentlichen Haushalt ganz in die Nähe des Optimums für Marktprozesse setzen zu wollen, ist also ein Irrtum und lenkt ab von der Aufgabe, nach neuen Ideen zu suchen.

Schließlich ist gegen ein Denken, das dem rationalen Diskurs die emotionale Verführung und Verzauberung polar entgegensetzt, der Vorwurf einer unzulässigen Vereinfachung zu machen. Ein gegenpoliges Modell der ökonomischen Theorie der Politik würde darauf hinauslaufen, zwischen dem guten und redlichen Politiker und dem verführerisch-gefährlichen Politiker zu unterscheiden: Wann immer Politiker den sachlich abgewogenen Ton in ihren Reden wählen und mit Information und Aufklärung den Bürger dabei Stück um Stück zu einem Mehr an Wissen und Souveränität führen, wird der Weg zum guten Ende eingeschlagen. Wenn Politiker dagegen anfangen, das Verführerisch-Gefällige, sachlich aber nicht genau Festgelegte und am Ende nicht Einlösbare in die Wahlpropaganda zu übernehmen, verlassen sie diesen Weg und bewegen sich in die Gegenrichtung – eine Richtung, an deren Ende der unmündig und unsouverän gehaltene Bürger angesiedelt ist.
Selbst wenn man nicht ausschließt, daß in der Realität die polaren Extrempunkte in Ausnahmesituationen angetroffen werden, bleibt, daß zwischen ihnen eine Variantenvielfalt existiert, der eine Theorie der Politik gerecht werden muß. Versuchte man dies nicht, so würde man in gewisser Weise sogar hinter Schumpeter zurückfallen, der sich selbst viel offener gegenüber der Frage gezeigt hat, wie die Führer in einer Demokratie beschaffen sein sollten, damit diese nicht untergeht. Schumpeter ist davon überzeugt, daß es eine Schicht von Menschen mit hoher Professionalität, Begabung und sogar Ethos geben muß, aus deren Bestand die politischen Führer in der Demokratie in ihre verschiedenen Ämter hin aufwachsen:

Die erste Bedingung ist, daß das Menschenmaterial der Politik – Leute, die die Parteimaschine bedienen, ins Parlament gewählt werden und zu Kabinettsposten aufsteigen – von hinreichend hoher Qualität ist. Das bedeutet mehr, als daß eine genügende Zahl von Individuen mit entsprechenden Fähigkeiten und sittlichem Charakter existieren müssen. Wie schon früher betont, trifft die demokratische Methode ihre Auswahl nicht einfach aus "der" Bevölkerung, sondern nur aus jenen Elementen der Bevölkerung, die für den politischen Beruf verfügbar sind oder, noch genauer, die sich zur Wahl offerieren.

Und:

Es dürfte viele Wege geben, auf denen Politiker von hinreichend hoher Qualität gewonnen werden können. Bis jetzt scheint immerhin die Erfahrung zu lehren, daß die einzig wirksame Gewähr in der Existenz einer sozialen Schicht liegt, die – selbst das Produkt eines strengen Auswahlprozesses – sich der Politik als einer Selbstverständlichkeit zuwendet. Wenn solch eine Schicht weder allzu exklusiv noch dem Außenseiter allzu leicht zugänglich ist und wenn sie stark genug ist, um die meisten Elemente, die sie laufend aufnimmt, auch zu assimilieren, dann wird sie für die politische Karriere nicht nur Produkte in Vorrat haben, die mit Erfolg manche Prüfungen auf anderen Gebieten bestanden (zum Beispiel eine Lehre im privaten Geschäftsleben absolviert) haben, sondern sie wird ihre Tauglichkeit noch steigern, indem sie ihnen erfahrungsgesättigte Traditionen, einen Berufskodex und einen gemeinsamen Fonds von Ansichten mitgibt.

Es ist interessant, daß Schumpeter es nicht dem Zufall überlassen will, wer von den Bürgern eines Landes in die Führungsposition hineinwächst. Demzufolge vertraut er sich seinem schichtspezifischen Modell an, wählt damit also einen soziologischen Ansatz. Man hat den Eindruck, daß die politischen Führer bei Schumpeter dadurch am Ende alle recht ähnliche politische Persönlichkeiten sind – selbstverständlich unangesehen ihrer höchst eigenen Leidenschaften und Abneigungen im privaten Leben; politisch gesehen scheinen diese schichtgeborenen Menschen jedoch recht ähnliche Charakterzüge zu zeigen. Alles in allem: Schumpeter, der eigentliche Schöpfer des Wettbewerbsmodells der Demokratie, ist auch der erste, der mit diesem Modell nicht zufrieden ist. Wohl gibt er es nicht auf, doch stützt er es von außen durch ad-hoc-Konstruktionen, die seinem Theoriegebäude eigentlich fremd sind. Es hat den Anschein, als ob seine Schöpferkraft gereicht hat, ein großartiges Modell zu entwerfen und dessen Brüchigkeit zu sehen, er aber nicht mehr in der Lage war – es auch nicht mehr sein konnte –, es durch ein anderes zu ersetzen.

Bei der Lektüre des Buches von Schumpeter und insbesondere des letzten Kapitels kann man sich des Eindrucks schwer erwehren, daß Schumpeter fürchtete, daß mit den Motivationen, die sein Wettbewerbsmodell abbilden konnte, auf die Dauer kein freiheitlicher Staat zu machen war. Um dieses liberalen Staates willen führte er als Forderung theoriefremde Postulate ein: sich selbstbeschränkende Politiker, eine funktionierende Bürokratie mit makelloser Dienstauffassung, mobilisierbares Expertenwissen und die exzellente Kultur einer politischen Rekrutierungsschicht. Man kann sich fragen, ob man dem Engagement Schumpeters für den liberalen Staat nicht ohne ad-hoc-Annahmen und normative Postulate gerecht werden kann. Ist es doch unelegant, theoriefremde Elemente als Stütze einer empirischen Theorie zu bemühen; und: Kann es doch Tagträumerei sein, Postulate aufzustellen, von denen man nicht weiß, ob ihnen Folge geleistet wird. Die Hoffnung ist nicht unbegründet, daß eine Theorie der Demokratie, die den Menschen nicht nur mit Sachen konfrontiert, sondern auch mit Menschen in Beziehung bringt, hier weiterhelfen kann.

Der innerlich souveräne und der neurotisch gebundene Mensch in der Politik

Vom Streit über Ressourcen zum Konflikt über Bedürfnisse

Individualneurosen im politischen Raum

Die Mechanik der hedonistischen Psychologie, wie sie als Präferenz- und Entscheidungstheorie zum integrierenden Bestandteil der ökonomischen Theorie geworden ist, würde dann völlig ausreichen, wenn der Mensch sich nur mit der Knappheit der Güter dieser Welt auseinandersetzen müßte. Dabei könnte der Mensch als ein Wesen angesehen werden, das nur ökonomische Interessen, aber keine menschlichen Leidenschaften hat. Die Wettbewerbsordnung des Marktes zwingt den Menschen dazu, nur ein Wirtschaftssubjekt zu sein – insofern reicht für die Analyse des Marktgeschehens diese reduzierte Psychologie. Wenn aber richtig ist, was wir oben gesehen haben, daß die Politik nicht nur eine Auseinandersetzung über Sachen, sondern auch eine Auseinandersetzung mit Menschen ist, muß auch die Psychologie reicher werden. Jetzt ist der Mensch nicht nur jemand, der Sachen haben will, sondern auch jemand, der an sich, an anderen und an Sachen leidet; es ist nicht nur jemand, der etwas haben will, sondern auch jemand, der etwas oder jemanden begehrt; er läßt nicht nur nach nüchternem Kalkül von dieser oder jener Sache ab, sondern er wendet sich auch im Affekt von sich, den anderen und den Dingen ab.

Ein sinnvoller Einstieg in die so erweiterte Betrachtung ist die Unterscheidung zwischen dem innerlich freien und dem neurotischen Menschen. Diesem Aspekt wollen wir uns im folgenden zuwenden, um dann in einem weiteren Schritt zu zeigen, wie diese Betrachtungsweise für die Analyse der Politik nutzbar gemacht werden kann.

Der souveräne, der innerlich freie unterscheidet sich von dem neurotischen Menschen dadurch, daß er seine Bedürfnisse erkennt, indem er sich zu ihnen bekennt, daß er die i.d.R. begrenzten Möglichkeiten, die ihm der Geiz der Welt zu deren Befriedigung läßt, realistisch einschätzt und nutzt, die Grenzen aber, die dem Ausleben seiner Lust entgegenstehen, weder wegleugnet noch enger zieht als sie ohnehin sind, sondern sie anerkennt; er bejaht sie und leidet daran; er leidet daran und bejaht sie, soweit wie er sie nicht sprengen kann. Der neurotische Mensch hingegen erlebt die Grenzen, die der Geiz der Welt der Befriedigung seiner Wünsche setzt, entweder als zu eng oder als zu weit: Er empfindet sie enger als sie sind, wenn die verfügbaren Möglichkeiten Wege offenlassen, die zu beschreiten innere Verbote, internalisierte Schranken zu begehen verwehren; was eine Möglichkeit sein könnte, wird zur Versuchung, d.h. zur Bedrohung eines inneren Gleichgewichtes; der Reichtum der Welt wird als Gefahr erlebt. Oder aber der neurotische Mensch empfindet die Grenzen, die die Knappheit der Mittel seinem Wohlfahrtsstreben setzt, in dem Sinne als zu eng, daß er sie nicht anerkennen kann; inneren Geboten, internalisierten Aufträgen folgend, kann er dort, wo er glaubt, weitergehen zu müssen, nicht sehen, daß der Weg nicht weiterführt. Weil er sich abmüht, wo kein Weg hinführt, kann er die Wege nicht beschreiten, die offenstehen.

Der entscheidende Unterschied zwischen dem innerlich freien und dem neurotischen Menschen besteht nicht darin, daß jener – gewissenlos – jeden Weg, der ihm offensteht, bis zum Ende geht, und jede Schranke, die ihn am Weiterkommen hindert, ohne weiteres bestehen läßt, während dieser – den Geboten und Verboten des Gewissens folgend –seinen Weg geht, nicht aber den Wegen folgt, die ihm die Welt gerade öffnet. Der entscheidende Unterschied zwischen dem innerlich freien und dem neurotischen Menschen besteht, mit anderen Worten, nicht darin, daß jener kein, dieser hingegen sehr wohl ein Gewissen hat. Vielmehr unterscheiden sich die beiden dadurch, daß der freie Mensch in der Lage ist, die Möglichkeiten der Welt zu erkennen und deren Grenzen, soweit sie unüberwindbar sind, als solche anzuerkennen, während der neurotische Mensch weder in der Lage ist, den Reichtum der Welt zu sehen, noch auch in der Lage ist, die Grenzen der Welt zu erkennen. Die beiden unterscheiden sich nicht in dem, was sie in souveräner Entscheidung wollen, sondern in dem, was sie erkennen können. Der innerlich freie Mensch mag den Imperativen seines Gewissens folgen, doch tut er dies in Kenntnis des Reichtums und der Grenzen der Welt; der neurotische Mensch bewegt sich im Rahmen der internalisierten Verbote und kann nicht einmal sehen, daß anderes möglich wäre, er anderes wollen könnte, wenn er nur wollen könnte; er folgt internalisierten Geboten und kann nicht einmal sehen, daß er sie nicht erfüllen kann; er läuft auch dann noch in eine bestimmte Richtung, wenn er sich immer wieder an der Mauer des Unmöglichen blutig schlägt.

In der Folge bedeutet dies: Der innerlich freie Mensch ist in der Lage, aus einer Vielfalt von Wegen jenen auszuwählen, den er glaubt, beschreiten zu sollen; nicht aber muß er, wie der neurotische Mensch, jenen gehen, den er als einzigen überhaupt wahrnehmen kann; auch gilt: Der innerlich freie Mensch kann, ohne vor sich schuldig zu werden, sich von jenem Wege abwenden, der nicht weiterführt, nicht aber muß er, wie der neurotische Mensch, nur deshalb seine Bemühungen fortsetzen, weil er die Unausweichlichkeit ihres Mißerfolges nicht sehen kann, weil er sie nicht einsehen darf. Der freie Mensch lebt nicht in einer durch internalisierte Verbote künstlich verödeten Welt, er lebt auch nicht in einer Welt, die durch internalisierte Gebote nur dem Schein nach reich ist.

Ein anderes kommt hinzu: Der freie Mensch unterscheidet sich von dem neurotischen Menschen dadurch, daß er die Wirklichkeit in ihren Möglichkeiten und in ihren Grenzen unabhängig von den Imperativen seines Gewissens sieht; d.h. der freie Mensch schließt nicht von den internalisierten Verboten und Geboten auf den Reichtum und auf den Geiz der Welt, sondern er ist in der Lage, unter Berücksichtigung des Reichtums und der Grenzen der Welt, so zu leben, wie ihm sein Gewissen zu leben vorschreibt. Dies aber heißt auch: Weil internalisierte Verbote und Gebote nicht geradezu mechanisch seine Weltsicht bestimmen, kann sich zwischen seinem Wissen über die Welt und seinem Gewissen in der Welt eine dynamisch-lebendige Beziehung entwickeln; seine kognitiven Bemühungen bekommen einen Sinn und eine Ausrichtung durch die Wertsetzung seines Gewissens; und: Die inhaltliche Definition der Normen seines Gewissens erfolgt auf der Grundlage seines Wissens über die Möglichkeiten und über die Grenzen der Welt. Recht eigentlich gilt: Ohne Wissen ist ein Gewissen nicht möglich, mag auch die neurotische Zwanghaftigkeit den oberflächlichen Anschein des Gewissens erwecken; und: Ohne ein Gewissen ist ein Wissen nicht möglich, mag auch die Ansammlung von Informationen den Anschein des Wissens erwecken. Die Erscheinungsform des lebendigen Zusammenhangs zwischen Wissen und Gewissen, zwischen kognitivem Bemühen und normativem Engagement nennt man wohl Weisheit; sie kennzeichnet die Art des innerlich freien Menschen, etwas über die Welt, d.h. auch über sich und die Mitmenschen zu wissen, und etwas in der Welt, d.h. auch für sich und für seine Mitmenschen zu wollen. Innerlich frei ist jener Mensch, der sich, den Menschen, den Dingen und den Werten gleichermaßen gerecht werden kann; weder verstellen Gebote und Verbote ihm den Blick für die Wirklichkeit, noch entbindet ihn sein Wissen über die Wirklichkeit von der Verpflichtung auf das Gewissen.

Auch hier gilt: Der innerlich freie und der neurotische Mensch sind – wie sie hier dargestellt worden sind – die beiden Extrempunkte einer Skala, auf der sich die einzelnen mehr diesem oder aber mehr jenem Pol annähern. Es ist also im konkreten Einzelfall zu klären, wo sich dieser oder jener einzelne befindet; die Frage nach der inneren Freiheit bzw. der neurotischen Zwanghaftigkeit ist also keine Frage von Mehr oder Weniger, nicht aber ist sie im Regelfall mit ja oder nein zu beantworten. Es ist durchaus möglich, daß jemand in einem Lebensbereich von neurotischer Zwanghaftigkeit ist, in anderen Lebensbereichen aber der Welt in souveräner Freiheit begegnet.

Doch, wo auch immer der einzelne zwischen neurotischem Zwang und innerer Freiheit angesiedelt ist, es dürfte gelten, daß ein enger wechselseitiger Zusammenhang besteht zwischen der inneren Freiheit und der Möglichkeit und Bereitschaft zu erkennen, zwischen der inneren Freiheit und der Möglichkeit und Bereitschaft zu werten: Ohne innere Freiheit werden sowohl das Wissen als auch das Gewissen unmöglich; ohne das Wissen und das Gewissen verkümmert die innere Freiheit. Die Frage ist nun: Wie steht es um die innere Freiheit des Menschen, um seine Möglichkeit und Bereitschaft zu Wissen und zu Werten als Bürger, d.h. als Wähler und als Politiker?

Diese Frage ist insofern ungewohnt, als die politische Theorie des Liberalismus mit der Zeit den Haupt-, wenn nicht gar den einzigen Akzent auf das Problem der äußeren Freiheit, der Freiheit von äußeren Zwängen und Einengungen gelegt hat; gerade so, als ob der Mensch nur auf jene Hindernisse treffe, die ihm seine natürliche und gesellschaftliche Umwelt entgegenstellt, nicht aber an innere Schranken stoße, die ihn auch dort am Weitergehen hindern, wo der Weg von äußeren Grenzen frei ist. Nun haben wir aber gesehen, daß dem nicht so ist, daß also nicht nur der Geiz der Welt, die Knappheit der Ressourcen und die Ansprüche des Stärkeren sowie die Gebote und Verbote in Gesellschaft und Staat den einzelnen in seiner Freiheit beschränken. Selbst die grenzenlose Ausweitung der äußeren Möglichkeiten würde dem nicht nützen, der sich von innen heraus nicht von der Stelle rühren kann.

Versucht man, den Aspekt der inneren Freiheit des Menschen in den politischen Diskurs aufzunehmen, dann empfiehlt es sich, von der einfachen, sehr plausiblen Annahme auszugehen, daß der einzelne Mensch das Forum der politischen Willensbildung – sei es als Wähler oder als Politiker – als ein innerlich mehr oder weniger freies, mehr oder weniger neurotisches Wesen betritt. Es ist damit Abschied zu nehmen von der Vorstellung, daß der Mensch in souveräner Freiheit, Wissen suchend und nutzend, sich an seinem Gewissen auch dann noch orientierend, wenn er dagegen verstößt, im politischen Prozeß denkt, sich entscheidet und handelt. Der Mensch tritt in das politische Geschäft ein als jemand, der sich in mehr oder weniger großem Ausmaß der Welt dort versagt, wo sie sich ihm nicht versagt; der sich auch jenseits seiner Möglichkeiten noch in die Pflicht genommen fühlt.

Man möchte nun versucht sein, die neurotische Unfreiheit des einzelnen als eine Privatangelegenheit anzusehen, die für die Politik ohne Bedeutung ist, oder richtiger: die für die Politik nur in dem Sinne wichtig ist, als sie als input in das Entscheidungsverfahren eingeht: Mag der einzelne, aus welchen Gründen auch immer, also auch aufgrund neurotischer Gebote, etwas Bestimmtes wollen und aufgrund neurotischer Verbote etwas Bestimmtes à tout prix7 nicht wollen, so gehen diese seine wie auch immer fundierten Ansichten als Eingangsvariable in die politische Willensbildung ein. Diese Ansicht ist nicht völlig falsch; in der Tat gehen diese Ansichten in den politischen Prozeß ein; doch ist es nicht richtig, daß neurotisch fundierte Ansichten, daß neurotisch eingeengte Präferenzen und neurotisch verpflichtende Wunschvorstellungen die Politik nur in ihrem Ergebnis beeinflussen. Auch für die Politik als Verfahren, für die parlamentarische Demokratie, ist es von Bedeutung, ob in ihr die Bürger in souveräner Freiheit dies oder jenes wollen oder aber in neurotischer Zwanghaftigkeit auf dieses oder jenes fixiert sind; es ist ein anderes, ob die Bürger in souveräner Freiheit dies oder jenes ablehnen oder aber durch ihre Phobien von diesem oder jenem zurückgestoßen werden. Es ist ein anderes, ob jemand sich einer Sache, einem Menschen zuwendet oder aber, ob er von ihnen nicht loskommt; es ist ein anderes, ob er sich mit einer Sache, einem Menschen verbindet oder aber an sie gebunden ist. Es ist auch ein anderes, ob jemand sich von einem Menschen oder von einer Sache abwendet oder aber von ihnen bis zum nicht mehr ertragbaren Ekel angewidert wird.

Nach dem oben Gesagten wird nicht überraschen, was für das Verständnis der Demokratie von entscheidender Bedeutung ist: Der Unterschied zwischen der inneren Freiheit und der neurotischen Unfreiheit besteht in der Blockierung der kognitiven Fähigkeiten und der Versteinerung des normativen Engagements im Falle der neurotischen Unfreiheit. Ehe wir uns aber der Bedeutung der neurotischen Unfreiheit der einzelnen für den politischen Prozeß zuwenden, wollen wir den einzelnen in seiner neurotischen Befindlichkeit noch etwas näher betrachten.

Der neurotische Mensch, dem innere Verbote den Zugang zu den Möglichkeiten der Welt versperren, empfindet diese Möglichkeiten als Bedrohung seiner selbst; in ihnen erschließt sich ihm nicht der Reichtum der Welt, in ihnen bietet sich vielmehr verlockend und gefährlich das Sesam zu jenen Räumen seiner selbst an, deren Zumauerung der uneingestandene Zweck der neurotischen Verbote ist. Für ihn bedeuten die sich eröffnenden Möglichkeiten nicht, daß er diesen oder jenen seiner Triebe nun in ein konkretes und erfüllbares Bedürfnis umsetzen kann, für ihn bedeuten sie vielmehr, daß nun Triebe, die er bislang unter größten Anstrengungen im Dunkeln gelassen hat, an die Oberfläche des Bewußtseins zu schießen drohen. Gerade dies aber ist es, was neurotische Verbote verhindern müssen. Mag das Gewissen gebieten, daß man sich diesem oder jenem versagt, was auf der Ebene des Bewußtseins durchaus verlockend und verführerisch ist, so zielen neurotische Verbote darauf ab, daß, was verlockend und verführerisch ist, in den dunklen Räumen des Unbewußten gehalten wird. Bieten sich nun aber im hellen Lichte der Erkenntnis Möglichkeiten an, die im Dunkeln angeketteten Triebe zu befriedigen, so wird es schwieriger, sie daran zu hindern, gleichfalls ans Licht zu treten; was im Dunkeln dahinmoderte, droht zu einer giftig-bunten Blüte heranzuwachsen. Weil dies aber verhindert werden muß, und weil dies schwierig, gar unmöglich wird, wenn die Möglichkeiten, die sich anbieten, erst einmal bewußt wahrgenommen worden sind, werden diese Möglichkeiten gar nicht erst gesehen. Damit das Wissen um die Möglichkeiten der Welt nicht die Wünsche aus dem Dunkeln des Unbewußtseins an das Licht des Bewußtseins hebt, breiten sich die Schatten des Unbewußtseins über jene Teile der Welt, in denen die verbotenen Triebe und Wünsche einen bewußten Ausdruck und ihre Erfüllung finden könnten. Die Verdrängung der Triebe führt zur Verneinung der Wirklichkeit; für das, was in den Schichten des Unbewußtseins auf Erfüllung drängt, auf der Ebene des Bewußtseins aber nicht nur nicht in Erfüllung gehen darf, sondern nicht einmal gewünscht werden darf, darf es auch kein Mittel der Erfüllung geben. Wo der gesellschaftliche Prozeß Freiheiten und Möglichkeiten anbietet, sucht, sieht und schafft der neurotische Mensch Unfreiheiten.

Ähnlich verhält es sich mit jenen Geboten, deren Fundierung nicht im bewußten Diskurs nachvollzogen werden kann, sondern in den Imperativen unbewußt internalisierter Autoritäten wurzelt. Diese Gebote sind zu erfüllen, und zwar auch dann, wenn dies von den äußeren Umständen her schlicht unmöglich ist. Da diese Aufträge ihre Verbindlichkeit aus den Weisungen unbewußter Autoritäten herleiten, kann ihnen nicht mit dem kognitiven, also auf der Ebene des Bewußtseins angesiedelten Argument begegnet werden, daß diesen Weisungen von den äußeren Gegebenheiten her nicht Folge geleistet werden kann. Mehr noch: Die Erkenntnis, daß es unmöglich ist, diesem oder jenem Auftrag nachzukommen, wird als frontaler Angriff auf jene Autorität erlebt, die um ihrer Unangreifbarkeit willen in dem unbetretbaren Heiligtum des Unbewußten thront. In dem Maße, wie diese Autorität ein Teil der Persönlichkeit jenes Menschen ist, sie ihn leitet und er von ihr lebt, wird der Angriff auf diese Autorität als Gefährdung des ganzen Menschen erlebt; jene Autorität, die für das psychische Gleichgewicht des Menschen eine zentrale Rolle spielt, insofern er von ihr Sinn und Richtung seines Lebens bezieht, wird in Frage gestellt durch die Erkenntnis, daß ihren Geboten nicht gefolgt werden kann. Es ist demnach nur zu verständlich, daß diese Erkenntnis negiert wird; damit die Autorität und damit ein für den Menschen wichtiger Teil seiner selbst erhalten bleibt, wird die Realität in Teilen geleugnet. Wir haben es mit folgender Situation zu tun: Weil das Wissen um die Realität die im Unbewußten thronende Autorität in Frage stellt, stellt die Autorität nach Kräften die Realität in Frage. Damit sich die Autorität nicht als überzogen erweise, wird die Realität in ihren Möglichkeiten überschätzt. Auch hier also ein Verlust an Welt, diesmal aber nicht im Sinne der wenigstens teilweisen Negation ihres Reichtums, sondern im Sinne der Aufblähung ihrer Größe. Was dies für den Realitätsbezug der Politik bedeuten mag, werden wir später sehen.
Diese Negation der Wirklichkeit im Auftrage und im Interesse einer unerbittlichen inneren Autorität ist nur unter hohem Energieaufwand möglich; das Nichtsehen der Möglichkeiten der Welt und das Übersehen der Grenzen der Welt lassen sich nur unter mehr oder weniger großen Anstrengungen durchhalten. Die hierzu nötigen Anstrengungen werden um so größer sein, je direkter sich die Wirklichkeit in ihrer tatsächlichen Potentialität zeigt, je unmittelbarer und nachhaltiger sich der Reichtum und die Grenzen der Welt in der Erfahrung dem einzelnen offenbaren. Auch wird der einzelne um so mehr gezwungen sein, die zur Negation von Teilen der Wirklichkeit notwendige Energie zu mobilisieren, je imperativer die Gebote und Verbote des unbewußten Gesetzgebers sind und je existenzgefährdender für den einzelnen jene Strafen erscheinen, mit denen die Nichtbeachtung dieser Gebote und Verbote geahndet wird.

Allerdings: In dem Maße, wie der einzelne glaubt, es sich leisten zu können, der urteilenden, verurteilenden und strafenden Autorität des Unbewußten den Gehorsam zu verweigern, ihre Gebote und Verbote also nicht zu beachten, wird er auch die Möglichkeiten und die Grenzen der Welt erkennen und anerkennen. Mit anderen Worten: In dem Maße, wie der einzelne glaubt, sich darauf verlassen zu können, daß die gebietende und verbietende Autorität in einen Austausch von Rede und Widerrede, von Argument und Gegenargument hineingezogen werden kann, er also nicht ohne Verteidigungsmöglichkeit von einer unerreichbaren und unerbittlichen Instanz verurteilt wird, sondern sich im rationalen Diskurs vor seinem Gewissen verantworten darf, in dem Maße, wie der einzelne um seines inneren Gleichgewichts willen nicht mehr jeder Diskussion, ja jeder Nennung entzogenen Verboten und Geboten folgen muß, in dem Ausmaß also, wie der einzelne aus der Unfreiheit seiner neurotischen Zwänge in die Freiheit der Gewissensverpflichtung hineinwächst, werden ihm die Möglichkeiten der Welt keine Bedrohung mehr sein.

Wir haben demnach ein Ensemble von verschiedenen Elementen vor uns; da ist als erstes die Macht der unbewußten Richter- und Befehlsinstanz; da ist auch der Umfang des Lebensgebietes, über das sich deren Ansprüche erstrecken. Mag die neurotische Unfreiheit auch höchst privat erlebt werden, mag sie auch häufig als privates Phänomen klinisch analysiert und therapeutisch angegangen werden, so ist sie doch ein gesellschaftspolitisch und – wie sich später zeigen wird – staatspolitisch relevanter Tatbestand. Da ist Adornos autoritäre Persönlichkeit, die den Zwängen unerbittlicher Gebote und Verbote, den Verfügungen einer im undurchdringlichen Dunkel des Unbewußten thronenden und unerreichbaren Gottheit ausgeliefert ist und – wie sich noch zeigen wird – ihre innere Unfreiheit nach außen als Hunger nach Unterwerfung unter andere und als Sehnsucht nach Unterwerfung anderer auslebt. Es ist Reichs in seinen Sexualtrieben geknechteter Mensch, der die eigene Unfreiheit in die Gesellschaft und in die Politik trägt. Da sind jene, die sich zu der in jedem latenten Homosexualität nicht bekennen dürfen und so jene, die ihre Homosexualität tatsächlich ausleben, zwingen, dies im Geheimen zu tun, d.h. sich so zu verhalten, daß das gleichgeschlechtliche Leben erst gar nicht als Teil der Wirklichkeit erscheint; oder aber es wird nach Kräften versucht, solche Voraussetzungen zu schaffen, daß das offene Ausleben der Homosexualität im Mißerfolg, im Scheitern des Lebens endet, also von daher unerwünscht ist; schließlich besteht noch die oft genutzte Möglichkeit, jene, die durch ihr Verhalten die Existenz der Homosexualität ans Licht bringen und so auf die latente Homosexualität bei den sog. Normalen verweisen, zu kriminalisieren. So wird es jenen möglich, die sich zu ihren eigenen in der Latenz gehaltenen Trieben nicht bekennen können und dürfen, in der Verurteilung der anderen ihre eigene uneingestandene Homosexualität zu bestrafen. Man entfernt den offen Homosexuellen von sich und aus der Gesellschaft, um Distanz zu Teilen seiner selbst zu halten. Was als Berührungsangst gegenüber dem anderen erscheint, ist die Angst, mit Teilen seiner selbst in Kontakt zu kommen.

Was hier am Beispiel der Gleichgeschlechtlichkeit besonders drastisch offenbar wird, läßt sich auch an anderen Beispielen nachweisen, so an der Aggressivität gegenüber der Möglichkeit, sein Leben nicht an erster Stelle als Arbeitsleben zu verstehen, seine eigene Identität nicht vornehmlich von seinem Beruf herzuleiten. Auch hier läßt sich zeigen, daß die Heftigkeit der Ablehnung der Hippies ihre Energie aus der uneingestandenen Versuchung herleitet, selbst das Zeug hinzuschmeißen, auszuflippen, kein Friseur, kein Beamter, sondern ein Mensch zu sein.

Es spricht sehr viel für die Hypothese, daß die Stigmatisierung, die Asozialisierung, die Kriminalisierung des anderen je heftiger sind und mit je größerer Energie betrieben werden, je größer die Angst der brav arbeitenden Familienväter ist, selbst zum Hippie zu werden. Je heftiger die Verurteilung des anderen, um so weniger ist er ein Andersartiger. Man agiert bewußt um so heftiger gegen etwas, desto heftiger man unbewußt für etwas ist, desto brüchiger auch die Macht der Verdrängung ist. Wozu die inneren Kräfte der Verdrängung nicht mehr reichen, das soll die äußere Macht der Repression leisten. Wo die unbewußten Triebe schwach und/oder die Autorität des Unbewußten nicht angeschlagen ist, dort ist es wenig wahrscheinlich, daß die innere Unfreiheit nach äußeren Zwängen ruft. Was aber auch heißt, daß eine Gesellschaft sich in dem offenbart, gegen das sie agiert; anders ausgedrückt: Jene Gesellschaftsmitglieder, die mit besonderer Verbissenheit in die Asozialität getrieben werden, stehen als Zeugen für das, was mit besonderer Eindringlichkeit in der Sozietät auf Entfaltung drängt. Im Vorgriff auf das, was später im einzelnen ausgeführt werden wird: Über eine Gesellschaft erfährt man nicht nur etwas in dem, was sie aktiv will, sondern auch in dem, was sie vor jeder Diskussion aktiv als politische Zielvorstellung ausschließt.

Es ist also vorerst festzuhalten: Sind die neurotischen Verbote und Gebote bescheiden und/oder sind die inneren Stützen dieser Imperative im Vergleich zur ihnen entgegendrängenden Triebenergie stark, so kann der einzelne jene Elemente seiner Umwelt, die einer Entfaltung der durch Verbote und Gebote unterdrückten oder doch kanalisierten Triebe entgegenkämen, wahrnehmen und gelten lassen: Sie stellen für ihn keine Gefahr dar. Er wird im Andersartigen schlimmstenfalls den Verführten, nicht aber den Verführer sehen; er wird in ihm schlimmstenfalls den Kranken, nicht aber den Krankmachenden, den aus der Norm Fallenden, nicht aber den die Norm zu Fall Bringenden sehen.

Dies gilt soweit und solange die aus der Verdrängung drängenden Triebe und die ihnen entgegenstehenden Gebote und Verbote dergestalt im Gleichgewicht sind, daß ein Zusammenbruch der neurotischen Zwänge und Phobien nicht befürchtet werden muß. Anders ist es, wenn die repressiven Energien oder die Sublimationsmöglichkeiten der eigenen Person nicht mehr reichen, die Möglichkeiten, die die Wirklichkeit verlockend vorführt, aufzuwiegen; jetzt muß der einzelne, da er nicht mehr auf seine Abwehrkräfte gegenüber der Wirklichkeit bauen kann, versuchen, den Reiz, den die Wirklichkeit ausübt, zu reduzieren. Wenn er der Wirklichkeit nicht widerstehen zu können in Gefahr ist, dann muß er – in der Hoffnung, daß die Wirklichkeit ihm nicht widerstehen kann – die Wirklichkeit angreifen. Es sei denn, es gelingt ihm, die überforderten inneren Zwänge durch äußere Zwänge zu unterstützen, gar zu ersetzen.

Ehe wir das Thema des Angriffs auf die Wirklichkeit wieder aufgreifen, einige Bemerkungen zu Letzterem.

Wir haben gesehen, daß die dem bewußten Diskurs unzugänglichen Verbote und Gebote des Unbewußten, daß die neurotischen Zwänge und Phobien ein Teil der Persönlichkeit des Menschen sind; sie stützen eine sonst vom Ungleichgewicht bedrohte Identität: Neurosen sind die immer nur teilweise und immer nur zeitweilig erfolgreichen, kostspieligen Versuche eines Menschen, sein inneres Gleichgewicht zu wahren. Mögen Neurosen ein einengendes Korsett sein, so sind sie doch auch ein stützendes Korsett. Wächst nun – weil die repressive Energie erlahmt oder weil der Triebdruck wächst oder weil die äußeren Umstände allzu verlockend werden – die Gefahr, daß das schützende und stützende Korsett der inneren Zwänge versagt, dann ist dies für das betreffende Individuum ein Augenblick höchster Gefahr und Gefährdung: Ein für das Gleichgewicht seiner Person wesentlicher Teil seiner Psyche droht zu zerbröckeln und zu zerfallen; eine Situation, die von dem Betroffenen nur als angstvoll erlebt werden kann. Es ist demnach nicht verwunderlich, daß dieser Mensch – wenn nicht gleichzeitig andererseits innere Strukturen aufgebaut werden, die das psychische Gleichgewicht erhalten, also ein Leben in innerer Freiheit, ohne neurotische Zwänge erlauben – versucht, die inneren Zwänge durch äußere Zwänge zu ersetzen. Jene Verbote, die ihm aus dem Dunkeln seines Unbewußten entgegendröhnen, und jene Gebote, die ihm auferlegt sind, ohne daß er sie diskutieren könnte, sollen befolgt werden, obschon dazu die innere Kraft nicht mehr ausreicht. Der einzelne soll und will nicht schuldig werden, auch dann, wenn er zum Gehorsam von sich aus nicht mehr fähig ist: An die Stelle der geschwächten bzw. überforderten Neurosefähigkeit tritt wenigstens teilweise der Rekurs auf äußere Zwänge. Zu dem, wozu sich der einzelne nicht oder kaum selbst zwingen kann, soll ihn im Extrem der Staat anhalten. Das innere Skelett der Neurosen wird ersetzt oder doch ergänzt durch den äußeren Panzer der staatlichen Gesetze und Dekrete; aus einem Wirbeltier wird ein Schalentier. Es handelt sich nicht um eine Flucht vor der Freiheit, sondern um die Flucht aus einer – der inneren – Unfreiheit in eine andere, die äußere, die des Staates. Es ist richtig, daß auch andere Träger äußeren Zwanges als der Staat diese Rolle übernehmen können; Vereine, Klöster, Militär, Ehen sind mögliche Beispiele. Paradigmatisch läßt sich der Vorgang an dem Mann illustrieren, dessen Tötungshemmungen dabei sind, im Laufe eines Streites von den Totschlagsgelüsten überspült zu werden und der in höchster Not die Umstehenden anruft, sie möchten ihn zurückhalten, damit er nicht ein Unheil anrichte.

Die Verneinung, Verstümmelung und Zerstörung

Wenn der einzelne den Reizen der Wirklichkeit nicht widerstehen kann, dann soll die Wirklichkeit selbst ihm nicht widerstehen; weil der einzelne glaubt, den Versuchungen der Realität gegenüber nicht Nein sagen zu können, verneint er diese Realität selbst, wenigstens in ihren für ihn verlockenden, also bedrohlichen Teilen. Diese Verneinung kann verschiedene Formen annehmen.

Als erstes ist hier der Versuch zu nennen, die Wirklichkeit – wenigstens in einigen ihrer Aspekte – zu ignorieren, sie – wenigstens in Teilen ihrer selbst – nicht wahrzunehmen: Es wird aktiv ignoriert, daß es ein dolce far niente gibt, also daß man sein Leben machen kann, ohne zu arbeiten; es wird aktiv nicht gesehen, daß es Homosexuelle gibt, also daß für einen selbst die Möglichkeit der Homosexualität existiert; es wird aktiv nicht wahrgenommen, daß Drogen ein gesellschaftsweit verbreitetes Phänomen sind, also daß man selbst Drogen konsumieren könnte; es wird nicht zur Kenntnis genommen, welche Möglichkeiten das Scheidungsrecht bietet, auf daß man als vernünftiger Mensch den Wunsch, sich von seiner Frau zu trennen, erst gar nicht haben kann.

Die Beispiele lassen sich beliebig vermehren; sie laufen alle auf die Tatsache hinaus, daß die Wirklichkeit in jenen Teilen nicht zur Kenntnis genommen wird, die Möglichkeiten eröffnen oder auch nur zu eröffnen scheinen, die aus dem Unbewußten tönenden Gebote und Verbote zu übertreten. "Daraus schloß er messerscharf, daß nicht sein kann, was nicht sein darf." Einer Versuchung, die überstark, so stark ist, daß man ihr unterliegen müßte, wird dadurch widerstanden, daß die Möglichkeiten, ihr nachzugeben, weggedacht werden, nicht zur Kenntnis genommen, weggeleugnet werden.

Man wird also – sowohl im Privaten, aber auch im Politischen – etwas erfahren können über das, was die Menschen wollen, indem man untersucht, was sie bewußt als Ziel angeben, aber auch indem man analysiert, welche Möglichkeiten, die die Realität bietet, sie nicht zur Kenntnis nehmen, und von diesen auf jene Ziele schließen, die sie unbewußt haben, zu denen sie aber bewußt nicht stehen können. Ist dies richtig, so wird wenigstens als Hypothese folgende Überlegung möglich: Die Deutschen haben von den Konzentrationslagern und der Judenvernichtung nach ihrem eigenen Zeugnis sehr wenig gewußt. Mag sein, daß sie tatsächlich, in subjektiver Ehrlichkeit nichts gesehen und nichts gehört haben, ihr "Nichtwissen" also nicht erlogen, eine Frucht der Feigheit, der Angst, des Opportunismus war. Allerdings: Sie wußten nichts, und dies kann als ein Indiz für jenen Judenhaß gedeutet werden, zu dem sie sich in ihrer großen Zahl bewußt nicht bekennen mochten. Es ist doch erstaunlich, daß jene, die bewußt keine Antisemiten waren, nichts wußten; man mag vermuten, daß sie den Holocaust als Tatsache negierten, um ihn nicht als Möglichkeit zum Ausleben des eigenen Antisemitismus sehen zu müssen und so vor jenen Haß und jene Bösartigkeit, vor jene Mordabsichten geführt zu werden, die an den Pforten des eigenen Unbewußten lärmten und tobten und nur mit Mühe daran gehindert werden konnten, in fürchterlicher Horde in die christlich-bürgerlich-humanistische Wohlanständigkeit des Bewußtseins einzubrechen.
Unsere Überlegungen sind, ihre Richtigkeit vorausgesetzt, für die politische Psychologie im allgemeinen, für die Psychologie der Demokratie im besonderen, von Bedeutung, insofern sie neben und unterhalb des offenen Diskurses auf eine stillschweigende Auseinandersetzung im Gemeinwesen verweisen, auf eine Auseinandersetzung, die auf der Ebene des Unbewußten der Individuen abläuft; es ist, als ob zum einen am offenen Tageslicht ein Strom sich seinen Weg durch das Gelände bahnt, zum anderen aber im Dunkeln des Gesteins ein unterirdischer Strom sich durch das Erdreich bohrt, vielleicht an einigen Stellen in Tümpeln und Teichen zutage tritt, vielleicht über verborgene Höhlen und tiefe Brunnenschächte mit der Oberwelt verbunden ist, im allgemeinen aber beharrlich und kraftvoll, doch ohne daß es von oben gesehen werden könnte, seinen Weg sucht.

Es ist richtig: Im einzelnen mag es – eben weil dieser Strom des Unbewußten unmittelbar nicht gesehen werden kann – schwierig sein, ihn zu identifizieren. So wird man auch im politischen Raum sich davor hüten müssen, jedesmal dann, wenn im politischen Diskurs ein Teil der Wirklichkeit nicht auftaucht, auf die Existenz verdrängter Triebe zu schließen. Es mag durchaus sein, daß die Teilnehmer an der politischen Auseinandersetzung diesen oder jenen Teil der Realität nur deshalb für uninteressant halten, weil er in keiner Weise ihre Interessen berührt. Allerdings, auch wenn man dies in Rechnung setzt, bleibt, daß dieses Desinteresse auf der Ebene des Bewußtseins das Indiz eines sehr starken, aber verbotenen Interesses auf der Ebene des Unbewußten sein kann. Ein eher verläßlicher Hinweis darauf, daß dies der Fall ist, dürfte darin zu sehen sein, wenn das Nichtwahrnehmen, das Ausklammern von Wirklichkeitsaspekten die Form des aktiven Wegleugnens, des aggressiven Verneinens annimmt. Man kann lässig-gelangweilt über dieses oder jenes hinwegsehen und – falls man darauf hingewiesen wird – es mit Gelassenheit als unwichtig, weil uninteressant abtun; man mag aber auch gereizt darauf reagieren, es mit mehr oder weniger großer Heftigkeit abschütteln, alle Anstrengungen unternehmen, es nicht zu sehen, krampfhaft die Augen schließen. Entscheidend ist demnach nicht nur, daß bestimmte Wirklichkeitssegmente nicht gesehen werden, sondern daß sie aktiv übersehen werden. Und hier spielen Ideologien eine große Rolle: Sie sind jene Instrumente, die es erlauben, Wirklichkeitsbilder aufzubauen, deren Selektivität nicht wahrgenommen wird. Auch Vorurteile sind hier zu nennen: Sie erlauben dem einzelnen, von der Realität nicht korrigierbare Wirklichkeitsbilder zu haben. Es ist demnach zu vermuten, daß die Bedeutung aus dem Unbewußtsein drängender Triebe je größer ist, daß die unbewußte Fundierung von Verboten und Geboten je brüchiger ist, je bedeutsamer die Rolle ist, welche Ideologien in der politischen Auseinandersetzung spielen, desto verbissener an bestimmten Vorurteilen festgehalten wird. Dies dürfte für den einzelnen Bürger, aber auch für das gesamte Gemeinwesen gelten: Jene Individuen, deren Meinung am stärksten ideologisch geprägt ist, dürften auch jene sein, die innerlich am wenigsten frei sind; gleichfalls dürften jene, die besonders verbissen an ihren Vorurteilen festhalten, jene sein, deren innere Freiheit am stärksten durch neurotische Verbote und Gebote, durch Phobien und Zwänge eingeengt ist.

Die Nichtwahrnehmung von Teilen der gesellschaftlichen Realität als Mittel zur Absicherung eines neurotisch gestützten inneren Gleichgewichts ist in der Regel mit Kosten verbunden; es bedarf eigener Anstrengungen, die Wirklichkeit wegzuleugnen; dies besonders dann, wenn sich die Realität in großer Durchsichtigkeit darbietet, also die zur Debatte stehenden Wirklichkeitsausschnitte wenig komplex sind; dies auch besonders dann, wenn die Wegleugnung von Aspekten der Wirklichkeit sich in ihren Konsequenzen für den einzelnen fühlbar und einsehbar rächt. Ist dies der Fall, so muß der einzelne einen immer größeren "sacrificium intellectus" bringen: Was sich ihm mit penetranter Klarheit, aus seiner Sicht in obszöner Nacktheit, als Wirklichkeit präsentiert, muß er unter immer größeren Anstrengungen als unwirklich abtun, muß er auch gegen steigende innere Widerstände wegleugnen: Man vergesse nicht, daß, was er bewußt nicht sehen will, auf der Ebene des Unbewußten für ihn besonders faszinierend ist. Hat er in dieser Situation nicht die Fähigkeit, nicht die Bereitschaft oder auch nicht die Möglichkeit, sich der Realität zu öffnen, so bleibt ihm nur, auf dem Wege der Verneinung fortzuschreiten.

Der nächste Schritt besteht in der Verstümmelung jenes Teils der Wirklichkeit, der sein neurotisches Gleichgewicht stört. Kann die Wirklichkeit nicht länger weggeleugnet werden, so soll sie weggeschafft werden; genauer: Sie soll als Versuchung aus der Welt geschafft werden. Dies kann dadurch geschehen, daß jene Aspekte der Realität, die nicht länger ignoriert werden können, um ihre Attraktivität gebracht werden, sie also erkannt und anerkannt werden, aber ihrer Faszination beraubt werden und so von daher keine Bedrohung für die vom Einsturz gefährdeten neurotischen Verbote und Gebote mehr darstellen. Es kann aber auch dadurch geschehen, daß jene Teile der Wirklichkeit, die nicht weiter ignoriert werden können und die weiter faszinierend, also gefährlich bleiben, schlicht in ihrer Existenz zerstört werden: Was aus dem Bewußtsein des einzelnen nicht verdrängt werden kann, was nicht von seiner libidinösen Besetzung befreit werden kann, soll physisch liquidiert werden: Was nicht besteht, kann keine Gelegenheit zur Sünde sein.

Wir wenden uns zuerst den Bemühungen zu, die darauf abstellen, die Faszination der nicht länger wegleugbaren Wirklichkeitsaspekte aufzuheben, sie als Verlockung und Versuchung auszuschalten, sie also als Gefahr für das neurotische Gleichgewicht durch Verstümmelung zu neutralisieren. Wenn hier davon die Rede ist, daß Teile und Aspekte der Wirklichkeit durch Verstümmelung um ihre Faszination gebracht werden sollen, so ist dies nicht so zu verstehen, daß der einzelne sich einredet, er wolle sie nicht; es ist vielmehr darauf abzustellen, daß der einzelne darauf hinwirkt, daß jene Möglichkeiten, die sich ihm anbieten und die er – um der unbewußten Verbote und Gebote willen – nicht wahrnehmen darf, mit solch unangenehmen Nebenwirkungen ausgestattet werden, daß es ihm wiederum leichterfällt, bewußt auf das zu verzichten, nach dem seine verbotenen Triebe unbewußt verlangen.

So dürften Asozialisierungsprozesse u.a. diesen Zweck haben: Jene, die anders sind, anders leben, also alternative Lebensentwürfe als möglich vorpraktizieren, werden in eine solche Situation gebracht, daß dieses Leben insgesamt wenig attraktiv erscheint. Wenn es gelingt, Aussteiger in eine Lage zu versetzen, die wenig anziehend ist, so wird das Aussteigen selbst für jene, die am Drinbleiben unbewußt wenig Lust haben, aber sich bewußt hierzu nicht bekennen dürfen, zu einer weniger verlockenden Versuchung.
Was hier zu beobachten ist, ist demnach nicht mehr nur eine Verleugnung der Wirklichkeit, sondern ihre – wenigstens teilweise – Verstümmelung. Es werden nicht mehr lediglich Möglichkeiten, die existieren, nicht gesehen, weggeleugnet oder doch unterschätzt, hier werden vielmehr Möglichkeiten um ihre Anziehungskraft gebracht.
Es ist möglich, noch einen, den dritten und letzten, Schritt in Richtung auf die Zerstörung der Wirklichkeit zu tun: Nicht mehr werden lediglich die sich anbietenden Möglichkeiten mit mehr oder weniger unliebsamen Zusatzeigenschaften versehen; es werden nunmehr diese Möglichkeiten selbst aus der Welt geschafft. Dies kann u.a. dadurch geschehen, daß jene, die diese Möglichkeiten vorleben, aus dem Blickfeld gebracht oder auch direkt umgebracht werden. Die Angst vor den aus der Verdrängung hervorbrechenden Trieben führt zur Zerstörung: Diese Zerstörung kann entweder in der physischen Destruktion bestehen, oder aber in dem sozialen Totmachen: Psychiatrisierung, Internierung, Kriminalisierung sind Möglichkeiten solcher Zerstörung.

Wir haben gesehen: Der neurotische Mensch begegnet der Welt, indem er sie wenigstens in einigen ihrer Teile nicht wahrnimmt, sie verkrüppelt und verstümmelt, sie zerstört. Wir haben auch gesehen: Die Wegleugnung, die Verstümmelung bzw. die Zerstörung von Teilen der Welt sind um so wahrscheinlicher und werden mit um so größerer Energie betrieben, um so stärker die verdrängten Triebe und um so brüchiger die eigenen, die Verdrängungen kompensierenden Mechanismen sind. Wo die Sublimation kaum noch möglich ist, wächst die Frustration und steigt die Aggression.

Dies gilt für die Privatsphäre des Menschen; dies ist aber auch richtig für das öffentliche Leben; der neurotische Mensch hört nicht auf, ein Neurotiker zu sein, wenn er in der Rolle des Bürgers agiert. Der Mensch trägt seine inneren Zwänge und Ängste, seine neurotisch verfestigten Verbote und Gebote auch in die Politik hinein. Dabei ist für unser Thema von Interesse, daß die Politik im allgemeinen, die parlamentarische Demokratie im besonderen für das Ausleben dieser neurotischen Zwänge und Phobien spezifische Bedingungen schaffen, also auch die Erscheinungsformen dieser inneren Unfreiheit beeinflussen.

Oben hieß es, das Nichtwahrnehmen von Möglichkeiten, die die Wirklichkeit bietet, sei ein Mittel, die Validität innerer Gebote und Verbote zu schützen. Nun ist das Nichtwahrnehmen von Möglichkeiten aber dann besonders leicht, wenn die Kenntnis der Wirklichkeit selbst schwierig, nur unter beträchtlichem Informations-, also auch unter beträchtlichem Kostenaufwand möglich ist, sich also die Realität nicht in wichtigen ihrer Aspekte gleichsam von selbst aufdrängt. Dies ist nun aber typischerweise für politische Entscheidungsgegenstände der Fall. Wie wir oben dargelegt haben, entspricht es dem rationalen Kalkül des Bürgers, sich über politische Fragen nicht oder doch nur wenig und eher zufällig zu informieren. Das Ergebnis ist, daß der Bürger im politischen Raum einer Realität gegenübersteht, die überdurchschnittlich komplex ist und die zu kennen er sich unterdurchschnittlich anstrengt. Entsprechend bietet sich die Politik geradezu als jener Raum an, wo der einzelne seine neurotischen Verbote und Gebote durch Nichtwahrnehmung der Wirklichkeit schützen kann. Je geringer der Informationsgrad in der Politik, desto freier die Bahn für das Ausleben von Neurosen; wo der Intellekt nicht hinreicht, haben die Affekte ein leichtes Spiel. Wer über das Verhältnis von Deutschland und Frankreich nichts weiß, wer über die Möglichkeiten nichts weiß, die ein einvernehmliches Verhältnis bieten würde, kann am Bilde des Erzfeindes festhalten. Wer sich in den soziologischen, psychologischen, juristischen, ökonomischen Implikationen dieser oder jener Regelung des Familienrechts nicht auskennt, kann sich gegen seine eigenen unbewußten Wünsche dadurch schützen, daß er die Möglichkeit der Scheidung als durchaus positive Lösung von Eheproblemen erst gar nicht zur Kenntnis nimmt. Die Beispiele lassen sich vermehren; sie laufen darauf hinaus, daß, was man nicht weiß, einen nicht heiß machen kann.

Doch nicht nur, daß vorhandene Möglichkeiten nicht wahrgenommen und so als Ursache der Versuchung ausgeschaltet werden; es können auch Möglichkeiten, die nicht vorhanden sind, weiterhin als existent angesehen werden, mit der Folge, daß neurotische Gebote weiterbestehen können und nicht an der Einsicht sterben müssen, daß ihnen nicht Folge geleistet werden kann, sie also schlicht unsinnig sind: Die Autorität des Unbewußten wird nicht dadurch in Frage gestellt, daß sie Unmögliches fordert. Im Gegenteil: Der einzelne wird, indem er ständig scheitert, gegenüber dieser Autorität schuldig, was diese in ihrer verurteilenden und strafenden Schrecklichkeit noch weiter aufbläht und – in den Augen ihres Opfers – stärkt.

Hinzu kommt, daß das fehlende oder doch lückenhafte Wissen über die zur politischen Entscheidung anstehenden Fragen einen recht großen Raum offenläßt für Wertungen, die – ganz im Sinne des Unbewußten – das Verbotene unattraktiv und das Gebotene attraktiv erscheinen lassen. So ist es dann möglich, daß auch ohne tatsächliche Verstümmelung der Welt diese dem einzelnen verstümmelt vorkommt, und: Was in der Phantasie mit Erfolg verstümmelt werden konnte, braucht nicht mehr wirklich verstümmelt zu werden, um seine Attraktivität zu verlieren.

Dies heißt nicht, daß im Bereich der Politik solche Verstümmelungen und Zerstörungen der Realität zum Schutz vom Einsturz bedrohter Neurosen nicht vorkommen. Im Gegenteil: Es hat sehr den Anschein, daß sie hier sehr häufig sind. Dies deshalb, weil es für den einzelnen hier schwierig ist, den Verstümmelungs- und Zerstörungsvorgang als solchen zu durchschauen. Dies aber auch deshalb, weil in der Politik die Verantwortung für die mit diesen Vorgängen verbundenen unliebsamen Nebenerscheinungen bis zur Unauffindbarkeit diffundieren, also auch niemand im einzelnen damit belastet werden kann. Man ist bewußt nicht gegen Ausländer, hat aber gute und durchaus legitime Gründe, ihnen keine Wohnung zu vermieten. Dies kann man noch verantworten, man braucht dabei nicht zu sehen, daß man auf diese Art seinen Beitrag zur Ghettoisierung und Asozialisierung leistet, die man unbewußt zur Stützung seines neurotischen Ichs sehr wohl braucht.

Auch die Sprache der Politik erlaubt es dem einzelnen, im politischen Raum seine Neurosen zu retten: Zum einen erlauben es ihm die Komplexität und die Mehrdeutigkeit des politischen Diskurses, eigene Interpretationen der Wirklichkeit einzuschieben, ja das politische Geschehen geradezu als Träger für die eigenen Vorstellungen, Bilder und Phantasien zu nehmen. Je informationsärmer die politische Rede ist, je gehaltloser der Austausch von Rede und Widerrede in der politischen Arena, anders ausgedrückt: je mehr geredet und je weniger gesagt wird, desto leichter ist es für den einzelnen, die hin- und hergeworfenen Worthülsen mit jenem Inhalt zu versehen, der seiner Befindlichkeit am bekömmlichsten ist, d.h. aber auch, ihnen jenen Inhalt zu geben, der das im Dunkeln läßt, was im Schutze des Unbewußten jeder Analyse entzogen bleiben soll. Man kann es auch so sagen: Die Möglichkeiten des einzelnen, in der politischen Rede eine Stütze für seine eigene Wirklichkeits- und Selbstflucht zu finden, sind um so größer, je leerformelhafter dieser Diskurs ist. Der Austausch von Wörtern wird zu jener Nebelwand, hinter welcher der einzelne jene Wirklichkeitsteile, die ihn ängstigen, verstecken kann und in deren wallenden Dunstschwaden er jenes hineinsehen kann, das er zur Ausstattung seiner Psyche braucht und das ein unverstellter Blick in der Welt nicht gesehen hätte.

Der politisch-demokratische Prozeß bietet dem einzelnen noch in anderer Hinsicht eine Hilfe in seiner angstvollen Abwehr der Wirklichkeit: Der Staat, auch der demokratisch verfaßte Staat, ist ein Zwangsinstrument; d.h. der Staat bietet dem einzelnen die Möglichkeit, darauf hinzuwirken, daß gleichsam per Dekret zum Verschwinden gebracht wird, was ihn stören würde, sei es, daß über den politischen Prozeß die Wahrnehmung bestimmter Wirklichkeitsaspekte ausgeklammert wird, sei es, daß über den politischen Prozeß bestimmte Teile der Wirklichkeit nicht nur aus dem Blickfeld verbannt werden, sondern schlicht physisch liquidiert werden. Ein Beispiel: Die Geisteskrankheit ist eine beim einzelnen tiefe Ängste anrührende und aufschreckende Erscheinung; über den politischen Prozeß ist es möglich, unter Hinweis auf deren und das Gemeinwohl, die psychisch Kranken zu internieren, also unsichtbar zu machen; man kann weitergehen, man kann sie sogar einschläfern. Noch ein Beispiel: Wenn es gelingt, etwa indirekt über die Arbeitslosen- und Sozialhilfegesetzgebung, der Arbeitslosigkeit ihren stigmatisierenden Charakter zu erhalten, dann wird auch erreicht, daß der einzelne Arbeitslose seine Situation verschleiert, sich versteckt und so den übrigen Gesellschaftsmitgliedern den Anblick eines erwachsenen Menschen erspart, der nicht arbeitet und doch lebt. Gelingt dies nicht ganz, d.h. werden Arbeitslose sichtbar, dann wird auf diese Weise wenigstens gewährleistet, daß die Arbeitslosen als nichtglückliche Menschen erscheinen; sie tragen auf diese Weise dazu bei, daß der Satz, nur in der Arbeit finde der Mensch seine Erfüllung, unangefochten bestehen bleibt.
Das Bild wäre unvollständig, wenn man nur auf die Chancen, nicht aber auch auf die Risiken hinwiese, die der demokratische Staat für die Absicherung der neurotischen Persönlichkeit seiner Bürger bietet: Die Öffentlichkeit des Staates bringt den Menschen in mehr oder weniger engen und in mehr oder weniger unvermeidbaren Kontakt mit anderen, andersartigen Lebens-, Denk- und Gefühlsmustern; d.h. der Kollektivcharakter der Politik konfrontiert den einzelnen mit der Andersartigkeit seiner Mitbürger. Sowohl in der politischen Auseinandersetzung vor Kollektiventscheidungen als auch in den Folgen dieser Entscheidungen offenbaren sich Wirklichkeitsdeutungen und Wertengagements, die von den seinen nicht nur verschieden sind, sondern ihnen im Zweifel auch in dem Sinn zuwiderlaufen, daß sie sein neurotisches Gleichgewicht gefährden. Die Politik stellt diesbezüglich für den einzelnen insofern ein besonderes Risiko dar, als er hier nicht so ohne weiteres in die Enge seiner Privatwelt flüchten kann, in der nur ist, was sein darf. Nach Maßgabe der Öffentlichkeit der politischen Auseinandersetzung dringen die Bilder, die Darstellungen, Apologien und Muster ihm fremder, ihn ängstigender und bedrohlicher Weltentwürfe und Wertmuster in die Intimität seines Wohnzimmers, breiten sich jene Dinge, denen er nicht einmal in der Abgeschiedenheit seines Herzens einen Namen geben will, im hellen Lichte des Marktplatzes aus. Auch muß er im Zweifel im Gesetzesblatt nachlesen, daß auch in seinem Namen für und über Dinge entschieden worden ist, deren Existenz er von sich aus nicht einmal anerkannt haben würde.

Diese Sicht der Dinge hebt sich auf geradezu dramatische Weise ab von einer Analyse der Politik, die auf das Streben des Menschen nach Freiheit und Selbstbestimmung abstellt und – entsprechend – fragt, wie dieser zur Freiheit berufene Mensch vor dem Zugriff des staatlichen Zwanges nach Möglichkeit geschützt und wie der Zwang, soweit er notwendig ist, legitimiert werden kann. Wohl bleibt diese Fragestellung erhalten; wohl ist sie nach wie vor wichtig. Doch tritt jetzt neben dieses Problem ein weiterer Aspekt: Der Mensch sucht nicht nur und unbedingt die Freiheit von äußerem Zwang, unter Umständen sucht er auch diesen Zwang; es ist also nicht nur so, daß die Freiheit des Menschen gegen die äußeren Zwänge des Staates zu verteidigen ist, es ist auch darauf zu achten, daß der freiheitliche Charakter des Staates nicht das Opfer der inneren Zwanghaftigkeit, der neurotischen Unfreiheit seiner Bürger wird. Die Freiheit der Bürger ist nicht nur gegen den Zwang des Staates zu schützen; die Liberalität des Staates darf auch kein Opfer der Zwanghaftigkeit seiner Bürger werden. Es darf nicht dazu kommen, daß der äußere Zwang die innere Freiheit abwürgt; es darf aber auch nicht dazu kommen, daß die äußere Freiheit der inneren Unfreiheit zum Opfer fällt.

Diese Sicht der Dinge setzt sich demnach von zwei Analyseentwürfen ab: Einmal geht sie über die Vorstellung hinaus, daß nur die äußere Unfreiheit als Problem die politische Theorie zu interessieren hätte, die innere Freiheitsunfähigkeit und -unlust aber vernachlässigt werden könnten. Auch unterscheidet sie sich von einer Theorie, die einseitig darauf abstellt, daß die gesellschaftliche Repression im allgemeinen, der staatliche Zwang im besonderen im Wege der inneren Kolonisierung den inneren Freiheitsraum beschneidet. Der hier skizzierte Gedankenansatz stellt auch darauf ab, daß die innere Unfreiheit – möglicherweise schon selbst ein Reflex äußeren Zwanges – die Liberalität des Staatswesens weiter schmälern kann. Es zeichnet sich das Bild eines Zirkels ab, in dem ein unliberaler Staat freiheitsunfähige und freiheitsunwillige Bürger herandressiert und in dem unfreie Bürger die letzten Elemente an Liberalität im Staat als störend empfinden und zerstören. Der demokratische Staat ist auf Demokraten angewiesen; und: Demokraten kann es auf die Dauer wohl nur in einem demokratischen Staatswesen geben.

Welches ist nun die Rolle von Politikern in dieser Konstellation? Geht es lediglich darum, die Politiker in ihren Entscheidungen und in ihrem Tun an das zu binden, was die Wähler in souveräner Freiheit wollen? Nach dem Gesagten ist offenkundig, daß die Frage mit Nein zu beantworten ist; vielmehr ist in Übereinstimmung mit den obigen Ausführungen davon auszugehen, daß dem Politiker auch eine wichtige Rolle zukommt bei dem Bemühen der Wähler, die innere Unfreiheit durch äußere Zwänge zu ersetzen, daß ihm aber auch eine große Bedeutung zukommt, wenn es darum geht, die Bürger aus den neurotischen Engen und Ängsten in die heitere Welt einer souveränen Wirklichkeitsbegegnung und Problembewältigung zu führen. Einerseits mögen also die Politiker dazu herhalten, den Bürgern jene Freiheit zu nehmen, zu der diese nicht fähig und/oder nicht bereit sind; andererseits mögen sie auch die Bürger an jene Freiheit heranführen, die diesen eher als eine Gefährdung erscheint. Ein Politiker kann für die Bürger jene Instanz sein, die von außen jene Enge schafft und aufrechterhält, die der einzelne Bürger selbst nicht (mehr) sicherstellen kann und ohne die er vorerst aus dem Gleichgewicht kommen müßte. Ein Politiker kann aber auch für die Bürger jene Instanz sein, die – ohne äußere Zwänge zu schaffen – dem einzelnen Bürger erlaubt, aus der Enge seiner Neurosen hervorzutreten, Verbote und Gebote, die er nicht verantwortet hat, hinter sich zu lassen, seinen Zwängen und Phobien zu entwachsen, mit anderen Worten: ein freier Mensch zu werden; das heißt aber auch, der Welt und sich selbst in heiterer Unbefangenheit begegnen zu können, die Wirklichkeit verantwortlich und sachgerecht zu gestalten und sie dort, wo sie jenseits seiner Gestaltungsmöglichkeiten liegt, in nüchterner Gelassenheit hinzunehmen.

Der äußere Zwang im Dienste der inneren Unfreiheit

Die Nachfrage nach Unfreiheit

Auf den folgenden Seiten wollen wir uns dem Politiker, wie er sich in seinem Verhältnis zu den Bürgern in vielfältiger Weise präsentiert, nähern. Nachdem wir auf den vorhergehenden Seiten den Menschen in seiner inneren Unfreiheit, im Kampf für und gegen seine Neurosen vorgestellt haben, möchten wir den Leser einladen, noch einmal in die Gefühlswelt der klassisch-ökonomischen Betrachtungsweise einzutreten. Es wird sich zeigen, daß hier der Mensch nur deshalb nicht an seinen Leidenschaften leiden kann, weil ihm jede Leidenschaft abgesprochen wird. Auf diese Weise sollte deutlicher werden, daß die oben beklagte Einseitigkeit der ökonomischen Theorie der Politik ihre Ursache in der Einseitigkeit der ökonomischen Theorie selbst hat.

Mit einer Selbstverständlichkeit, die auf Gedankenlosigkeit schließen läßt, gehen wir gemeinhin in unserem Denken, vermutlich noch mehr in unserem Fühlen, davon aus, daß sich die Konfrontation des Menschen mit dem Menschen an der Knappheit der Ressourcen dieser Welt entzündet; wir unterstellen, daß das zentrale, wenn nicht in letzter Analyse das einzige Problem des friedfertigen Zusammenlebens freier Menschen aus den potentiell unbegrenzten Bedürfnissen der einzelnen und den tatsächlich begrenzten Möglichkeiten zu ihrer Befriedigung resultiert. Als treu-pietätvolle Erben der liberalen Klassik arbeiten wir mit einem Menschenbild, das wohl ökonomische Interessen, aber keine menschlichen Leidenschaften aufweist. Der einzelne, dessen Glücksstreben sich in dieser Optik im gierigen Interesse an Produktionsfaktoren erschöpft, sieht im anderen lediglich jemanden. der gleichfalls an diesen Ressourcen interessiert ist und vor dessen Zugriff er einen möglichst großen Anteil für sich selbst in Sicherheit bringen muß; oder aber: Der einzelne sieht im anderen jemanden, den er nach Möglichkeit als Produktionsfaktor nutzen, im Extrem verschleißen kann. In dieser Perspektive bewegen sich die einzelnen in einer Welt der Dinge; dem Menschen begegnet hier der Mensch nur in dem Maße, wie der einzelne für den anderen zum Ding, zur Ressource, zum Instrument im Dienste der Befriedigung individueller Bedürfnisse geworden ist, oder aber als Konkurrent und Widersacher den Zugriff auf den materiellen Reichtum erschwert oder gar unmöglich macht.

Es ist schon paradox: In dieser Optik haben die Individuen nur gemeinsam, was sie trennt, das individuelle Interesse an den Dingen dieser Welt; der einzelne Mensch interessiert sich für den Mitmenschen lediglich, weil er nur ein Interesse an materiellen Ressourcen hat; der Mensch pflegt den wie auch immer gearteten Kontakt mit seinesgleichen nur, weil er sich im letzten nur mit Dingen umgeben will; er muß mit den Menschen umgehen, weil er mit den Dingen umgehen will; seine Gewalttätigkeit entspringt nicht der personenorientierten Bösartigkeit, sondern der sachorientierten Raff- und Besitzgier, und seine Kooperationsbereitschaft im Tausch ist nicht die Frucht des engagierten Interesses am anderen, sondern das Ergebnis der durch Gesetz und Ordnung in Schranken gehaltenen Gier nach den materiellen Reichtümern der Welt.
Es ist richtig: Adam Smith hatte noch nach den Bedingungen gefragt, unter denen "moral sentiments" aufblühen können, unter denen die Wohlfahrt des einen ein Herzensanliegen des anderen sein kann, unter denen der eine den anderen rühren und anrühren kann, weil zwischen ihnen nicht als Streitapfel jene Dinge liegen, nach denen beide verlangen. Doch ist, was Adam Smith bewegt hatte, in die Rumpelkammer des "soft ware", in das Depot der antiquierten Sentimentalitäten abgeschoben worden; geblieben sind Menschen, die sich nicht leidenschaftlich begegnen, die sich allenfalls mit ihren materiellen Interessen in die Quere kommen, oder aber – so die Umstände günstig sind – in der Kooperation den Erfolg ihrer materiellen Interessen suchen.

Hat man aber erst, und sei es nur im Modell, das Glücksstreben des Menschen auf ökonomische Interessen reduziert, dann reduziert sich auch die Frage, wie die Menschen in der Gesellschaft miteinander umgehen und umgehen sollen, auf das Problem, wie verhindert werden kann, daß die Gier des einzelnen nach den materiellen Reichtümern der Welt zu Mord und Totschlag führt, daß die Gesellschaft nach dem Gesetz des Stärkeren funktioniert und die individuelle Gewalt der Regelfall einer regellosen Welt ist. Hat man die menschlichen Leidenschaften ausgeklammert und sieht man im Menschen nur den Träger ökonomischer Interessen, dann verkürzt sich das Problem der gesellschaftlichen Ordnung auf die Frage, wie der Streit um die Dinge unter den Menschen zu regeln sei; die Theorie des Wettbewerbs auf dem Markt und die ökonomische Theorie der Demokratie konzentrieren sich auf dieses Thema.

Man kann es auch so sagen: In der Nachfolge der liberalen Klassik sehen wir die Haupt, wenn nicht die einzige Ursache für die Existenz regelungsbedürftiger Gegensätze zwischen den Menschen in der Tatsache, daß wegen der Begrenztheit der Ressourcen die Befriedigung der Bedürfnisse des einen für den anderen eine Beeinträchtigung der Bedürfnisbefriedigung darstellt; weil die Bedürfnisbefriedigung des einen ressourcenverschlingend ist, ist sie für den anderen von Belang; darüber hinaus berührt sie ihn nicht. Würde der eine seine Bedürfnisse stillen können und wollen, ohne den Ressourcenrahmen des anderen einzuengen, so würden beide sich herzlich ignorieren und in Frieden, wenn auch in völlig spannungsloser Indifferenz nebeneinander leben.
Es ist dies die Hoffnung all jener, die sich – von rechts bis links – als Folge des wirtschaftlichen Wachstums das Ende der sozialen Konflikte, den Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit erhoffen. Würde gar der eine, indem er der Befriedigung der Bedürfnisse des anderen dient, seine eigene materielle Wohlfahrt steigern, so würden sich beide nicht nur nicht in feindlicher Lauerstellung gegenüberliegen bzw. mit ausgefahrenen Krallen übereinander herfallen, sie würden sich nicht nur nicht jenen "benign neglect" entgegenbringen, wie er aus dem totalen Desinteresse fließt; sie würden vielmehr kooperationsbereit und leistungsmotiviert wohl ihr eigenes Interesse suchen, aber eben nicht gegen, sondern im Dienste des anderen. Es ist dies die Überzeugung jener, die in der Institution des wettbewerblich organisierten Marktes eine Vorkehrung sehen, um die Gesellschaft aus einer Null-Summen-Situation in ein Nicht-Null-Summen-Spiel zu transformieren und so die materielle Wohlfahrt des einen an die Wohlfahrtssteigerung, nicht aber an die Wohlfahrtsminderung des anderen zu binden; so soll erreicht werden, daß was als Konflikt nach dem Gesetz der Stärke ausgetragen werden müßte, als Wettbewerb nach dem Gesetz der Leistung ausgetragen werden kann.

Es ist sicher zuzugeben: Ein Großteil der gesellschaftlichen Auseinandersetzung geht darum, wer wieviel von welchen Ressourcen zur Befriedigung seiner Bedürfnisse nutzen kann; die üblichen Verteilungskonflikte drehen sich um eben diesen Punkt; entsprechend darf von jeder Vermehrung der zu verteilenden Reichtümer erwartet werden, daß sie zu einer Entschärfung des Konfliktes beiträgt. Auch im Bereich des Staates besteht der politische Konflikt über weite Strecken in der Auseinandersetzung, zu welchem Zweck die knappen Mittel eingesetzt werden.

In dem Maße, wie der gesellschaftliche Konflikt darin seine Ursache hat, daß die einzelnen Bedürfnisse und damit auch ihre Träger untereinander in Konflikt stehen, daß sie die gleichen knappen Ressourcen beanspruchen, ist es gerechtfertigt, darauf abzustellen, daß die einzelnen mit aufmerksamem Interesse verfolgen, welche Menge von Produktionsfaktoren die anderen für sich in Anspruch nehmen, nicht aber darauf achten, welche Bedürfnisse sie befriedigen. Es interessiert an der Bedürfnisbefriedigung des jeweils anderen nicht das Bedürfnis, nicht einmal die Bedürfnisbefriedigung, sondern ausschließlich der mit dieser Bedürfnisbefriedigung verbundene Ressourcenverzehr. Der Streit geht um Ressourcen, nicht aber um Bedürfnisse. Nicht einmal mehr gesehen werden kann in dieser Perspektive ein gesellschaftlicher Konflikt, der darin seine Ursache hat, daß das einzelne Individuum Bedürfnisse hat und befriedigen will, die von anderen als Herausforderung und Ärgernis, als Übel auch dann empfunden werden, wenn die Befriedigung dieser Bedürfnisse ihren eigenen Ressourcenrahmen nicht einengt, sie also von daher in der Befriedigung ihrer Bedürfnisse nicht beeinträchtigt.

Nun weiß man aber, daß der gesellschaftliche Konflikt nicht nur darin seine Ursache hat, daß die einzelnen Individuen in ihrer Bedürfnisbefriedigung um die knappen Produktionsfaktoren konkurrieren, sondern auch, daß Bedürfnisse, die die einzelnen Gesellschaftsmitglieder haben, für die jeweils anderen ein Übel darstellen können. Ist dies aber der Fall, dann dreht sich die gesellschaftliche Auseinandersetzung nicht mehr nur um die Verteilung und um den Einsatz der Ressourcen, sondern auch um die Bedürfnisse, die die einzelnen haben; ist dies der Fall, dann hat neben das Allokations- und Distributionsproblem der herkömmlichen Wirtschaftswissenschaft und -politik eine Fragestellung zu treten, die auf den Konflikt über die Bedürfnisse selbst – also nicht nur über den mit ihrer Befriedigung einhergehenden Ressourcenverzehr – zielt.
Es ist also nötig, den Denkrahmen der Ökonomie nicht in die Ecke zu stellen, wohl aber, ihn zu öffnen. Es soll nicht nur der Streit um die knappen Ressourcen, mit denen man Bedürfnisse befriedigen kann, sondern auch der Konflikt über die Bedürfnisse, die man haben kann, als Problem der Analyse, aber auch der gesellschaftspolitischen Gestaltung aufgegriffen werden.

Damit können und müssen wir an das anschließen, was wir oben dargelegt haben: Die innere Freiheit des Menschen bzw. – gegenläufig – seine neurotische Enge mögen mehr oder weniger ausgeprägt sein. Der einzelne mag innerlich mehr oder weniger frei sein, aus der Vielzahl und aus der Vielfalt der möglichen Begegnungsformen mit sich, den Menschen und den Dingen jene auszuwählen, die seinem Glück am förderlichsten und der Realität des Augenblicks am angemessensten sind; er mag aber auch in mehr oder weniger großem Ausmaß durch Gebote und Verbote, die seiner Wertung entzogen sind, durch Zwänge und Phobien auf bestimmte Begegnungsformen festgelegt oder von bestimmten Begegnungsformen ausgeschlossen sein. Der Mensch mag mehr oder weniger frei sein, das ihn als Mängelwesen stets begleitende Unbehagen in jene Bedürfnisse umzusetzen, deren Befriedigung nach dem Stand des verfügbaren Instrumentalwissens über die Welt ein Höchstmaß an Reduzierung des Unbehagens in Aussicht stellt; er mag aber auch in der Umsetzung dieses seines Unbehagens in dem Sinne beschränkt sein, daß er die Befriedigung bestimmter Bedürfnisse anstreben muß und die Befriedigung bestimmter Bedürfnisse nicht anstreben darf. Unter Rückgriff auf Sigmund Freuds Einsicht, daß das Veränderlichste an den Trieben ihr Objekt ist, läßt sich auch sagen: Der Mensch mag mehr oder weniger frei sein in der Wahl jener Objekte, an die er seine Triebe binden und von denen er seine Triebe lösen will; oder aber: Bestimmte Objekte mögen ihm für die Verankerung seiner Triebe unzugänglich sein, während er an andere mit unauflösbaren Ketten gefesselt ist.

Es ist für unser Problem von entscheidender Bedeutung, daß das Ausmaß und der Inhalt der neurotischen Fixierung von Mensch zu Mensch verschiedene, individuell spezifische Erscheinungen sind. Dies schließt nicht aus, daß die neurotisch abgeschirmten und eingezäunten Lebens-, Erlebens-, Empfindungs- und Erkenntnisräume der einzelnen Individuen sich in einer bestimmten Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt in mehr oder weniger großem Ausmaß überschneiden; es ist sogar wahrscheinlich, daß dies der Fall ist; dies deshalb, weil die individuellen neurotischen Zwänge und Verbote auch im Wege der Sozialisation aller Gesellschaftsmitglieder mit einigem Nachdruck angeboten, wenn nicht gar aufgedrängt werden: Was im Ergebnis individuelle Enge und Ängstlichkeit ist, ist über mehr oder weniger weite Strecken von der Ursache her ein gesellschaftliches Phänomen; in dem Maße, wie die neurotischen Imperative der Niederschlag der "inneren Kolonisation" (J. Habermas) des Menschen sind, ist die Wahrscheinlichkeit groß, daß der einzelne in den seinem Urteil entzogenen Verboten und Geboten den übrigen Gesellschaftsmitgliedern nahesteht. Wo er neurotisch fixiert ist, sind die übrigen nicht frei; wo er nichts sehen kann, weil er nichts sehen darf, sind auch die übrigen blind; was für ihn fraglos ist und sein muß, wird auch von den anderen nicht in Frage gestellt.

Doch, da sich der Mensch, abgesehen von seinen Anlagen, auch in den ihn prägenden Erfahrungen von seinen Mitmenschen unterscheidet, muß davon ausgegangen werden, daß der einzelne sich auch in dem, wo er neurotisch unfrei, aber auch in dem, wo er innerlich souverän ist, von den übrigen Gesellschaftsmitgliedern unterscheidet. Er kann sich und der Welt in einigen Lebensbereichen in Formen begegnen, die sich andere nicht einmal vorstellen dürfen; in anderen aber muß er zwanghaft wünschen und tun, was andere frei sind zu unterlassen und zu vernachlässigen; er kann dort sehen und wahrnehmen, erkennen und anerkennen, wo andere wegleugnen, verstümmeln und zerstören müssen; allerdings gilt auch, daß er Geboten und Verboten ausgeliefert ist, denen sich andere entziehen können, daß er verneinen muß, was andere gelten lassen können.
Wenn aber richtig ist, daß sich die individuellen Räume der neurotischen Unfreiheit nur teilweise überschneiden, nicht aber vollständig decken, dann treten sich in der Gesellschaft allgemein, in der politischen Entscheidungsfindung im besonderen, Individuen gegenüber, die sich gegenseitig als Herausforderung und als Bedrohung erleben, die aber auch, eines für das andere, eine Chance der Befreiung, der Ausweitung der individuellen inneren Freiräume sind. Damit entsteht das Bild einer Gesellschaft, in der nicht unbedingt einige Weise – geradezu erleuchtet, in innerer Freiheit – einer Herde von unfreien Wesen gegenüberstehen; vielmehr zeigt sich wenigstens die Möglichkeit, daß in der Gesellschaft der eine für den anderen in jeweils anderen Lebensbereichen eine Bedrohung darstellt oder eine Chance zur inneren Befreiung anbietet.

Es ist wohl richtig: In jenen Ängsten, Zwängen und Phobien, die sie gemeinsam haben, stützen sie sich; einer ist für den anderen nicht nur keine Bedrohung und Beunruhigung, sondern eine Bestätigung seines Wahnes, eine Verschleierung seiner Grenzen: Wer will schon an sich zweifeln, wenn er fühlt, denkt, erkennt und anerkennt, will und meidet, was alle um ihn herum fühlen, denken, erkennen, anerkennen, wollen und meiden. Die Gesellschaft als neurotisches Arrangement: ihre Institutionen, Gebräuche, Sitten und Gesetze im Dienste einer Kollektivneurose.

Doch: Begegnet in der Gesellschaft, in der politischen Auseinandersetzung der einzelne in der Person des anderen Lebens- und Erlebensmöglichkeiten, die von den ihm zugänglichen verschieden sind, so bedeutet diese Begegnung ihm im Zweifel nicht das emotional neutrale Zusammentreffen mit dem anderen, dem Andersartigen, sondern ein emotional hochwertiger Zusammenstoß mit dem, was ihm in den Tiefen des Unbewußten sehr zu eigen ist und das es gilt, vor der analysierenden Unerbittlichkeit des Bewußtseins zu bewahren. Ist dies aber der Fall, d.h. trifft der einzelne in der Andersartigkeit des anderen auf verdrängte Teile seiner selbst, lebt der andere aus, was neurotische Verbote ihm selbst als Wunschvorstellung tabuieren, vernachlässigt der andere, was er zwanghaft verrichten muß, sieht der andere, was er wegleugnet, baut der andere auf und aus, was er verstümmelt und zerstört, so muß dieser andere mit Notwendigkeit als Bedrohung, als Angreifer erlebt werden; es muß in diesem Fall dieser andere als jemand erlebt werden, der von außen jenes innere Gleichgewicht in Frage stellt, das von innen durch jene Kräfte bedroht wird, die aus der Verdrängung auszubrechen drohen und durch Neurosen mühsam genug in Schach gehalten werden. Der andere wird als ein Bundesgenosse jener Guerilla angesehen, die im Innern mühsam genug unterdrückt wird.

Doch, mag auch der andere vom einzelnen als Bedrohung jener Neurosen angesehen werden, die ein stützendes Element seiner eigenen Identität sind, so bietet dieser andere auch insofern eine Chance, als er auf jene Zwänge und Grenzen hinweist, die die innere Freiheit des einzelnen einengen. Doch ist wohl richtig, daß es bestimmter Voraussetzungen bedarf, damit diese Chance genutzt werden kann und die neurotische Panzerung aufgebrochen und eine neue Bewegungs- und Begegnungsfreiheit gewonnen werden kann; so muß – was so ohne weiteres kaum der Fall sein dürfte – sichergestellt sein, daß die Angst, wie sie die Begegnung mit der eigenen Verdrängung in der Person des anderen begleitet, ertragbar gemacht wird; gelingt dies nicht, dann muß, was als Chance der eigenen inneren Befreiung begriffen werden könnte, ungenutzt bleiben und als Bedrohung abgewehrt werden. Wenn die Angst, welche vorerst unweigerlich mit dem Einsturz neurotischer Übertragung verbunden ist, nicht ertragbar gemacht wird, dann kann es nicht ausbleiben, daß jenen, die diesen Einsturz herbeiführen könnten, und dem, für was sie stehen, Widerstände entgegengesetzt werden. So, wie in der Psychotherapie der Widerstand des Patienten in dem Maße wächst, wie sich Analytiker und Analysand dem neurotischen Knoten nähern, so muß auch auf der Ebene der gesellschaftlichen Begegnung damit gerechnet werden, daß der Widerstand des einen gegenüber dem anderen um so erbitterter sein wird, wie dieser andere in dem, was er ist, denkt, fühlt und vorlebt, den verdrängten Wünschen und Trieben des ersten nahekommt. Erfährt der einzelne dann in seiner Angst und in seiner Existenznot keine Hilfe und keine Unterstützung, dann ist der Widerstand um so größer und um so heftiger, je größer die Chance der Befreiung ist und je näher man an jene schmerzlich empfindsamen Punkte gelangt, die dort entstehen, wo sich die in das Unbewußte abgedrängten Triebe und die Kräfte der inneren Repression aneinander wundscheuern.

Es ist demnach festzuhalten: Der einzelne erfährt in der Begegnung mit dem anderen bewußt jene Teile seiner selbst, die er in das Unbewußte abgedrängt hat und von denen er aus dem Unbewußtsein heraus wenigstens teilweise beherrscht wird, ohne daß er die Möglichkeit hätte, diese Teile selbst zu beherrschen. Auf diese Konfrontation mit Teilen seiner selbst im Vollzug der Begegnung mit dem anderen reagiert er vorerst mit Angst und – entsprechend – mit Widerstand in verschiedenen Formen. Kann diese Angst erträglich gemacht werden, kann also im gesellschaftlichen Umgang das bewerkstelligt werden, was in jeder Psychotherapie angestrebt wird, so kann die Chance der inneren Befreiung, des Gewinns an innerer Souveränität realisiert werden; mit anderen Worten: Ist die Gesellschaft eine Anstalt, in der einer des anderen Therapeut sein kann und sein will, dann muß der eine des anderen Verschiedenheit nicht als bedrohliche Andersartigkeit erleben, sondern er kann in ihr den vorgelebten Ausdruck jener Möglichkeiten der Weltbegegnung entdecken, nach denen er sich selbst im Tiefsten sehnt, ohne bislang den Mut und die Kraft gehabt zu haben, sich zu diesem seinem Verlangen zu bekennen. Damit sind wir unmittelbar bei der Politik angelangt.

Das Angebot des Zwanges

Es wird später noch zu zeigen sein, daß unter gewissen Voraussetzungen der gesellschaftliche Umgang und die politische Partizipation für den einzelnen eine therapeutische Qualität haben können, ihn zu einer größeren inneren Freiheit führen können. An dieser Stelle schon aber ist festzuhalten, daß diese günstigen Voraussetzungen recht restriktiv sind, also damit gerechnet werden muß, daß jenseits dieser Prämissen die Begegnung des einzelnen mit der Verschiedenheit des anderen weniger befreiend als angst-, demnach auch aggressionsauslösend zu sein verspricht. Noch einmal: Wenn im folgenden vorerst auf diesen Aspekt abgestellt wird, so ist dies nicht so zu verstehen, daß die Hoffnung, die Demokratie sei eine therapeutische Anstalt, wie sie sich etwa in McPhersons Demokratietheorie artikuliert, völlig ohne Grund ist; ganz zu schweigen davon, daß – neben den Institutionen und Organen des demokratischen Staates – in der Gesellschaft andere Einrichtungen, etwa Vereine, Familien, Kirchen, Nachbarschaften, therapeutische Funktionen erfüllen können und wohl auch nicht selten erfüllen.

Es ist vorerst davon auszugehen, daß das Zusammentreffen des einzelnen mit Gesellschaftsmitgliedern, die in ihrem Reden und Handeln Lebens- und Erlebensformen darstellen, denen sich der einzelne, den Imperativen des Unbewußten folgend, versagen muß, für diesen angstauslösend ist. Kann diese Angst nicht therapeutisch aufgefangen werden, so muß der einzelne, um der eigenen Identitätssicherung willen, die ihm so angebotenen – oder aus seiner Sicht: die sich ihm dergestalt aufdrängenden Lebens- und Erlebensformen – abwehren. Davon war weiter oben schon die Rede.

Betrachten wir nicht nur den gesellschaftlichen Umgang, sondern insbesondere auch die politische Entscheidungsfindung, so zeigt sich folgendes: Während die herkömmliche Theorie der parlamentarischen Demokratie – mit gutem Grund – dem Problem nachgeht, wie die individuellen Teilnehmer an der demokratischen Willensbildung einzeln oder vereint versuchen, ihre Ansichten zur politisch verbindlichen Norm zu machen, ihre Bedürfnisse zum Orientierungsmaßstab der Politik, ihre Wünsche und Ziele zum Richtmaß des staatlichen Handelns zu machen, tritt nun – wie wir inzwischen erfahren haben – als zusätzliches Element die Frage hinzu, wie die Menschen über die staatliche Willensbildung versuchen, jene sie in ihrem neurotischen Ego bedrohenden Lebens- und Erlebensmuster der anderen abzuwehren.

An dieser Stelle ist auf ein Mißverständnis hinzuweisen, das leicht entstehen mag, aber nicht entstehen darf. Es geht hier nicht darum, daß die Bürger versuchen, ihre eigenen Bedürfnisse im Kollektiv des Staates möglichst weitgehend zu befriedigen, und sie sich so, wegen der Knappheit der Ressourcen, notgedrungen gegen die Befriedigung der konkurrierenden Bedürfnisse der anderen Gesellschaftsmitglieder stellen müssen; was hier zur Diskussion steht, ist vielmehr folgendes: Dem in seiner neurotisch gestützten Identität bedrohten Menschen geht es nicht primär darum, daß, wenn andere ihre Bedürfnisse im Kollektiv befriedigen, für die Befriedigung seiner Bedürfnisse weniger Mittel zur Verfügung stehen; ihm geht es in erster Linie darum, daß, weil andere bestimmte Bedürfnisse im Kollektiv zur Befriedigung anmelden, seine Phobien und Zwänge in Bedrängnis geraten. Mit anderen Worten: Ihm geht es nicht darum, daß, wenn andere Bürger bestimmte Bedürfnisse im Staat befriedigen, er die seinen nicht oder nur in geringerem Ausmaß befriedigen kann; ihm ist es darum zu tun, daß, weil andere für ihn sichtbar und erkennbar bestimmte Bedürfnisse haben, er bestimmte Bedürfnisse nicht nicht haben kann, also seine neurotischen Verbote zu kollabieren drohen; ihm ist es darum zu tun, daß, weil andere bestimmte Bedürfnisse nicht haben, er bestimmte Bedürfnisse nicht nicht haben muß, also seine neurotischen Gebote ins Wanken geraten. Dies aber bedeutet, daß die politische Auseinandersetzung in einer Demokratie nicht nur um den Punkt kreist, wie die knappen Mittel für die Befriedigung welcher Bedürfnisse welcher Bürger eingesetzt werden sollen, sondern auch, welche Bedürfnisse zu haben in der Gesellschaft erlaubt ist, bzw. welche Bedürfnisse zu haben in der Gesellschaft zwingend vorgeschrieben ist. Es geht also nicht nur darum, welche Bedürfnisse im Kollektiv befriedigt werden sollen, sondern auch, welche Bedürfnisse überhaupt an der Auseinandersetzung um die Ausrichtung der Politik teilnehmen können, bzw. welche Bedürfnisse an dieser Auseinandersetzung teilnehmen müssen; anders formuliert: Es geht darum, welche Themen Elemente der politischen Diskussion sein müssen und welche Themen in dieser Diskussion nicht zugelassen sind.

Was sich hier zeigt, ist eine, wie uns scheint, nicht unwichtige Ergänzung der Analyse der Demokratie: Nicht nur findet die Auseinandersetzung auf der Ebene des bewußt Gewollten statt, vielmehr findet sie auch auf der Ebene des unbewußt Gebotenen und Verbotenen, der neurotischen Zwänge und Phobien statt. Der einzelne trägt nicht nur das in den politischen Prozeß hinein, für was er sich in souveräner Freiheit entschieden hat, er trägt auch in die demokratische Willensbildung hinein, was er in neurotischer Unfreiheit wollen muß bzw. nicht wollen darf. Es ist kaum eine Überzeichnung, wenn man feststellt: Der einzelne versucht, durchaus aus Not und Existenzangst, jene neurotischen Zwänge und Phobien, die sein psychisches Gleichgewicht stützen, in den politischen Raum hineinzutragen; er versucht, jenen Verboten und Geboten, denen er ohne Möglichkeit der Begründung und Berufung ausgeliefert ist, im politischen Raum Geltung zu verschaffen; jener unerbittlichen Autorität, die im Dunkeln seines Unbewußtseins thront, soll ein Thron im Staat errichtet werden; die Enge der Wahrnehmung und die Ängstlichkeit der Wertung, wie sie für sein individuelles Leben kennzeichnend sind, sollen zum Charakteristikum der politischen Diskussion und des staatlichen Handelns werden; was er nicht sieht, soll auch im öffentlichen Diskurs ohne Existenz sein; was für ihn – unabhängig von jeder Überprüfung – eine Realität darstellt, soll auch in der Politik als Wirklichkeit gehandelt werden und in seiner Faktizität nicht in Frage gestellt werden dürfen; mehr noch: Wo er die ihn beunruhigende Realität verstümmeln und zerstören will, soll die Politik die hierzu notwendigen Instrumente zur Verfügung stellen.

Es ist also nicht nur so, daß – wie dies eine gängige Anwendung Freudscher Einsichten auf politische und gesellschaftliche Tatbestände lehrt – der einzelne unter dem Sozialisations- und Domestizierungsdruck der Gesellschaft seine Triebe verdrängt und so jenen Grund fruchtbar macht, auf dem dann neurotische Störungen erblühen. Es ist auch zu beachten, daß dieser so in die Neurose getriebene einzelne jene Unfreiheit, die er von außen nach innen verlegt hat, wiederum nach Kräften versucht, von innen nach außen zu tragen. Mögen die innere Kolonisierung und die Verankerung äußerer Gebote und Verbote im Unbewußten die Notwendigkeit der äußeren Repression mindern, so ist doch zu erwarten, daß die neurotische Unfreiheit der einzelnen darauf drängt, im äußeren Zwang eine Stütze und Entlastung der inneren, wohl einengenden, aber auch tragenden Panzerung zu schaffen.

In dieser Sicht erweist sich die politische Auseinandersetzung auch als die Auseinandersetzung miteinander im Streit liegender Neurosen unterschiedlichen Inhalts. Und so, wie es in der Auseinandersetzung über die im Kollektiv zu befriedigenden Bedürfnisse (teilweise) Sieger und (teilweise) Unterlegene gibt, so gibt es auch hier Gewinner und Verlierer. Howard S. Becker hat in seiner Studie Outsiders im Detail die Mechanismen beschrieben, über welche dieser Konflikt abläuft. Insbesondere hat er gezeigt, daß – oben haben wir den gleichen Tatbestand von der individualanalytischen Seite angehend angesprochen – die Auseinandersetzung darum geht, welche Themen auf dem Agendenkatalog der Politik figurieren dürfen und welche nicht; auch hat er gezeigt, daß – unten wird noch davon zu reden sein – Politiker ihre Karriere darauf aufbauen, daß sie ihren Wählern glaubwürdig in Aussicht stellen, daß sie bestimmte Themen aus der politischen Diskussion heraushalten werden, sie also in Aussicht stellen, die neurotischen Verbote und Gebote, die Phobien und Zwänge, die Phantasievorstellungen und Wahnbilder ihrer Wählerschaft zu tragenden Elementen der Politik des Staates zu machen.

Demnach ist der politische Prozeß auch eine Auseinandersetzung konkurrierender Neurosen, miteinander im Wettbewerb stehender Ängste und gegeneinander gerichteter Aggressionen. Es entspricht der Natur dieser im Unbewußten der einzelnen Gesellschaftsmitglieder wurzelnden, miteinander im Wettstreit liegenden neurotischen Imperative, daß diese Auseinandersetzung nicht in artikulierter Form ausgetragen wird. Damit sie dies würde, müßte ihr Gegenstand, eben diese Gebote und Verbote, auf den Begriff gebracht werden, artikuliert, mit einem Namen versehen worden sein; was aber auch heißt: Damit diese Auseinandersetzung in artikulierter Form stattfinden könnte, müßten die in den Höhlen des Unbewußten hausenden Autoritäten in das helle Licht des Bewußtseins gelockt worden sein, wogegen sie sich – es wurde oben hinlänglich gezeigt, warum und wie – zur Wehr setzen. Im übrigen: Könnten diese Gebote und Verbote zu Gegenständen des artikulierten politischen Diskurses gemacht werden, wären also aus Phobien und Zwängen verantwortbare Werturteile und Wertengagements geworden, dann würden sie einen Großteil ihrer übergroßen Macht über die einzelnen verloren haben. Man kann dem Märchen getrost Glauben schenken: Rumpelstilzchen verlor seine magischen Kräfte tatsächlich in dem Augenblick, als jemand seinen Namen erfuhr.

Daß diese Auseinandersetzung um die im politischen Diskurs zulässigen Themen unterschwellig stattfindet, mag einer der Gründe dafür sein, daß die Theorie der Politik ihr – abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen – keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt hat. Auch gibt es bei den Theoretikern der Politik selbst Widerstände, ein Problem anzugehen, das auf die dunklen Abgründe ihrer eigenen Psyche verweist; das Thema ist – wie wir bereit sind zuzugeben – auch für uns angstauslösend. Es kommt hinzu, daß es recht schwierig, wenn auch nicht unmöglich ist, mit den Methoden der empirischen Sozialforschung Vorgänge nachzuweisen, die sich in Räumen abspielen, die noch am ehesten mit den klinischen Methoden der Individualanalyse ausgeleuchtet werden können. Dies um so mehr, als die Aktoren in der politischen Auseinandersetzung sich und anderen für ihr Verhalten harmlose und plausible Gründe angeben, die tatsächlichen Gründe aber vor sich und den anderen im Schatten des Unbewußten verborgen halten. Wo die wirklichen Gründe unbewußt bleiben sollen, werden eingestehbare Gründe vorgeschoben. Die Rationalisierung erleichtert nicht gerade den empirischen Zugang zu den Kräften, die die politische Auseinandersetzung der konkurrierenden Neurosen in Gang halten. Beispiele für diese Art von Rationalisierung sind leicht zu finden und wohl auch so lange für die meisten von uns plausibel, solange wir nicht persönlich in der konkreten Situation mit ihnen konfrontiert sind: So wird man gegen "arbeitsscheues Gesindel", Drückeberger, Hippies, Landstreicher sein, weil sie anderen Leuten auf der Tasche liegen, weil sie stehlen, weil sie Krankheiten verbreiten, kleine Kinder ent- und verführen usw.; nur eines wird man in dieser Liste nicht aufführen: Weil diese Menschen vorleben, daß man ohne geregelte Arbeit durchkommen kann, stellen sie eine Gefahr erster Ordnung für ein schon vielleicht anderweitig angeknackstes leistungsneurotisches Selbstverständnis dar. Es ist recht wahrscheinlich, daß die Heftigkeit des Ressentiments gegen diese randständigen Gesellschaftsmitglieder hier ihre Energien herleitet.

Die politische Auseinandersetzung darüber, welche individualneurotischen Gebote und Verbote auch im Staat zu alle Mitglieder bindenden Geboten und Verboten werden sollen, die dem artikulierten Diskurs entzogen sind, findet also unterschwellig statt; dies heißt nicht, daß sie nicht stattfindet. Der Ausdruck von der "schweigenden Mehrheit" ist in diesem Zusammenhang nicht ohne Interesse, weist er doch darauf hin, daß es einer politisch gewichtigen Bevölkerungsgruppe gelingt, ohne zu reden, schweigend, ohne sich zu artikulieren, den Lauf der Politik zu beeinflussen. Daß dann im gleichen Atemzug gemeinhin darauf hingewiesen wird, daß diese "schweigende Mehrheit" das "gesunde Volksempfinden", die "nation profunde" darstellt, ist gleichfalls symptomatisch: Wo mit solchem Nachdruck auf die Gesundheit gepocht wird, muß man Krankheit vermuten; und wo die Tiefen der Nation beschworen werden, kann vermutet werden, daß man an der Oberfläche bleiben will.

Die Auseinandersetzung der in einer Gesellschaft gegeneinander stehenden Neurosen um politische Bedeutung unterscheidet sich von dem Konflikt um die zu befriedigenden Bedürfnisse aber nicht nur dadurch, daß jene unterschwellig, unartikuliert, dieser aber offen und explizit ausgetragen wird. Ein weiterer Unterschied zwischen beiden besteht auch darin, daß jene sich einer Regelung weitgehend entzieht, dieser aber nicht; die Folge ist, daß es kaum eine Wettbewerbsordnung für widerstreitende Neurosen gibt, die diesbezügliche Auseinandersetzung also weitgehend ungehindert durch Gesetze und Vorschriften abläuft, was auch heißt, daß das Recht des Stärkeren sich mit großer Brutalität durchzusetzen tendiert. Man mag Gesetze gegen Diskriminierung und Rassismus erlassen, sie vermögen – wie die Erfahrung lehrt – wenig gegen das alltäglich-banale Abwehren jener, die da geschützt werden sollen; sie vermögen wenig gegen die verborgen-verschämte, uneingestandene, aber sehr reale Zurückweisung jener, die für das stehen, zu was man sich bekennen möchte, aber nicht bekennen darf.

Schließlich unterscheidet sich die Auseinandersetzung über die Bedürfnisse, die man in einer Gesellschaft haben darf bzw. haben muß, von dem Konflikt über die Bedürfnisse, die in einer Gesellschaft befriedigt werden sollen, dadurch, daß es in letzterem zeitweilig Unterlegene, aber keine Besiegten, also Verworfenen und Unterworfenen gibt. Die aus dem Unbewußten gespeiste Emotionalität, mit welcher die Auseinandersetzung über die Bedürfnisse, die man haben muß bzw. haben darf, ausgetragen wird, ist sicher eine der Hauptursachen für die Unerbittlichkeit dieser Auseinandersetzung. Dies wird plausibel, wenn man sich in Erinnerung ruft, was oben ausgeführt worden ist: Die Andersartigkeit des Lebensentwurfs des Gegners stellt eine Gefahr für den Bestand jener neurotischen Abwehr dar, mit der ein anderweitig vom Einsturz bedrohtes Ich geschützt werden soll; entsprechend ist es nicht überraschend, daß dieser Gegner als existenzbedrohend empfunden wird; entsprechend ist es auch nicht überraschend, daß ihm mit destruktiver Heftigkeit entgegengetreten wird: In einem Kampf, den man glaubt, auf Leben und Tod führen zu müssen, schließt man keine Kompromisse; in einem solchen Kampf gewährt man dem am Boden liegenden Gegner kein Pardon und gönnt ihm nach der ersten keine zweite Runde.

Richten wir nun unsere Aufmerksamkeit auf das Ergebnis dieser Auseinandersetzung, wie es sich in einem bestimmten historischen Augenblick darstellt, so zeigt sich: Die Asozialen, die an den Rand der Gesellschaft Abgedrängten sind jene, denen es nicht gelungen ist, ihre Neurosen den übrigen aufzudrängen, die vielmehr in ihrem Lebensentwurf und in ihrer Lebenspraxis für etwas stehen, das zu den zur staatlich geschützten Norm gewordenen neurotischen Geboten und Verboten der übrigen in Widerspruch steht. Es ist zu beachten: Die Asozialen können, müssen aber nicht minoritär sein; entscheidend ist, daß sie gegen die Enge und die Ängste der übrigen Gesellschaftsmitglieder nicht angekommen sind, die – aus welchem Grund auch immer – die Möglichkeit hatten, das Zentrum des gesellschaftlichen Raumes zu behaupten und den Rahmen des gesellschaftlich Zulässigen und Geforderten abzustecken.

Ist unsere Analyse zutreffend, dann erscheinen die in die Asozialität und in die Devianz abgedrängten Gesellschaftsmitglieder als die unfreiwilligen Zeugen jener dunklen Wünsche und Triebe, Bedürfnisse und Ziele, Phantasien und Bilder, derer sich die übrigen Gesellschaftsmitglieder nur mit großer Anstrengung erwehren können. So sehr sich auch das gesunde Volksempfinden von ihnen distanzieren mag, so sehr sie die öffentliche Meinung verurteilen mag, so sehr sie Opfer der alltäglichen Intoleranz, der banalen Unduldsamkeit werden mögen, so sehr auch stehen sie für das, was im Kern der übrigen Gesellschaftsmitglieder auf Entfaltung pocht und nicht ausgelebt werden darf. Je heftiger ihre Verurteilung ist, je verbissener ihre Asozialisierung betrieben wird, je emotionaler ihre Ablehnung ist, je randständiger sie gemacht werden, desto zentraler sind sie. Je mehr die übrigen Gesellschaftsmitglieder auf Distanz dringen, desto näher ist ihnen der Lebensentwurf und das Welterleben, für welche die Asozialen stehen.

Man empfindet Berührungsangst nur vor dem, was man nicht umarmen darf und von dem man doch nicht lassen kann.

Im übrigen: Es ist nicht gerade ein Zufall, daß auch hier, was verboten ist, einen eigentümlichen Reiz, eine geradezu unwiderstehliche Anziehungskraft ausübt. Bezeichnend ist hier das geradezu voyeuristische Interesse, das solide Bürger den – wie sie es nennen – kriminellen und perversen Exzentrizitäten jener Bevölkerungsgruppen entgegenbringen, die sie verurteilen: Man wendet sich schaudernd und mit allen Zeichen der Ablehnung und Entrüstung von dem ab, was man fasziniert und gebannt anstarrt. Ganze Literatur- und Pressegattungen leben hiervon. Diese Erscheinung wäre nicht zu erklären, wenn nicht jenen, die im bewußten Diskurs verurteilt werden, im Unbewußten durch jene, die sie verurteilen, die Zustimmung sicher wäre. Die Ambivalenz des Verhaltens ist ein Reflex der Ambivalenz der Einstellung; und: Die Verurteilung und Distanzierung kann artikuliert und öffentlich sein, weil sie auf der Ebene des Bewußten stattfindet; hingegen erliegt der einzelne der Faszination verstohlen und versteckt, in verschleierter Form, oft nicht einmal sich selbst eingestehend, daß er ihr erliegt, weil er hier den ins Unbewußte abgedrängten Wünschen folgt.

Es sieht demnach sehr danach aus, als entspreche das Abdrängen bestimmter Gesellschaftsmitglieder in die Asozialität dem Verdrängen bestimmter Wünsche in das Unbewußte. Das bedeutet, daß die Asozialisierungsbemühungen ein Niederschlag der Verdrängungsanstrengungen sind; es bedeutet aber auch, daß dann die Asozialisierungsbemühungen schwächer werden, wenn entweder die Abwehrmechanismen sich nicht im gesellschaftspolitischen Raum entfalten müssen, weil sie im privaten Raum als Phobien und Zwänge ausgelebt werden können, und/oder weil die Verdrängungsanstrengungen nachlassen.

Letzteres mag darauf zurückzuführen sein, daß die Kraft des einzelnen hierzu nicht mehr ausreicht, in welchem Fall sein neurotisches Ich einstürzt, ein Vorgang, den Emile Durkheim in seinen individuellen und gesellschaftlichen Erscheinungen und Formen unter dem Stichwort der "Anomie" – wenn auch in anderen Kategorien – analysiert hat. Das Nachlassen der Verdrängungsanstrengungen mag aber auch darauf zurückzuführen sein, daß die Herausforderungen, die Verlockungen und Versuchungen, wie sie von außen an die einzelnen herangetragen werden, nachlassen, die Bedrohung des neurotischen Ichs schwächer geworden ist. Es mag das Abklingen der Asozialisierungsbemühungen als Folge einer sich aus der Erstarrung lösenden Abwehrhaltung aber auch darauf zurückgeführt werden können, daß die neurotische Unfreiheit der einzelnen – aus Gründen, die wir weiter unten aufgreifen wollen, – abnimmt, daß, was in Phobien und Zwängen fixiert war, dem abwägenden Urteil zugänglich wird, daß der Raum der inneren Freiheit sich ausweitet: Weil dem einzelnen im bewußten Diskurs Teile seiner selbst zugänglich werden, die bislang ins Unbewußte abgedrängt waren, kann er es sich leisten, einzelne Mitglieder seiner Gesellschaft nicht in jenen Raum der Asozialität abzudrängen, wo sie weder ihm noch er ihnen zugänglich sein sollen.
In einem gegebenen historischen Augenblick ist die politische Auseinandersetzung also nicht nur gekennzeichnet durch den expliziten und artikulierten Diskurs über Sachen, sondern auch durch die unartikulierte Konfrontation von Emotionen, von Verdammungsängsten und Erlösungshoffnungen. Je nachdem, ob eher die Befriedigung von Bedürfnissen oder die politische Dominanz von Neurosen im Zentrum des politischen Konfliktes steht, wird dieser mehr durch die zur Diskussion stehenden Sachthemen oder mehr durch die aufeinanderstoßenden Emotionen beherrscht.

Der Emotionalitätsgrad, die emotionale Aufgeheiztheit der politischen Diskussion in einem bestimmten historischen Augenblick dürften tatsächlich ein Indikator für das Ausmaß der inneren Unfreiheit sein, mit der die Gesellschaftsmitglieder auf die Herausforderungen dieser konkreten Situation reagieren. Umgekehrt kann die Sachlichkeit des Austausches von Argument und Gegenargument, von Rede und Widerrede als ein gutes Zeichen für die Souveränität angesehen werden, mit welcher die Bürger den Problemen des Augenblicks begegnen. Gegenseitige Verdächtigungen, das gegenseitige Unterschieben von üblen Absichten, die Dämonisierung des politischen Gegners, die Verklärung des eigenen Standpunktes bis hin zur angeblich unangreifbaren Perfektion, die Dramatisierung der Auseinandersetzung zur Konfrontation des "empire of evil" mit den "Kindern des Lichts", das dogmatische Verkünden von Wahrheiten und Überzeugungen, die Unfähigkeit zum Zuhören, das Vorschieben von Argumenten und das Fehlen von Gegenargumenten, die Lautstärke des Vortrages, dies alles sind Zeichen für eine Situation, in der innerlich unfreie Menschen ängstlich und aggressiv aufeinanderstoßen. Gleichfalls in diese Richtung deutet eine Praxis, die nicht im Austausch von Wörtern, sondern von Tätlichkeiten den politischen Konflikt austrägt; wo Molotowcocktails gegen Polizeiknüppel stehen, kann man davon ausgehen, daß es nicht in erster Linie darum geht, welche Bedürfnisse kollektiv befriedigt werden sollen, sondern welche Bedürfnisse auf dem Forum der Politik für ihre Befriedigung werben können, welche Bedürfnisse man im Staat haben kann und darf.

Es ist richtig: So, wie auf der Ebene der Individualpsychologie die innere Freiheit und die neurotische Unfreiheit Extrempunkte einer Skala sind, auf welcher der einzelne sich mehr in der Nähe dieses oder jenes Punktes ansiedeln kann, zwischen denen der einzelne sich im Laufe seines Lebens hin- und herbewegen mag, so sind auch die Sachlichkeit einerseits, die emotionale Aufladung andererseits zwei polare Extrempunkte, zwischen denen das politische Klima einer Gesellschaft in einem bestimmten Augenblick definiert ist, zwischen denen das politische Klima im Ablauf der Zeit schwanken mag. Die neurotische Anspannung der Gesellschaftsmitglieder mag im Laufe der Entwicklung zunehmen, ihre innere Gelassenheit mag abnehmen oder umgekehrt.

Ob die neurotische Verkrampfung zunimmt oder aber die innere Freiheit wächst, hängt von vielen Faktoren ab. Von großer Bedeutung sind in dieser Hinsicht die Politiker. Von ihnen soll im folgenden eingehend die Rede sein. So soll erreicht werden, was Downs verpaßt hat: Die Welt der Politiker in ihrer Differenziertheit sichtbar werden zu lassen.

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