Auszüge aus Charles Wright Mills's
"Menschen im Büro"

Ein Beitrag zur Soziologie der Angestellten

Wer könnte ahnen, daß eine Zeit nahte ... wo der, der keinen Einsatz wagte, immerfort und mit noch größerer Sicherheit verlieren würde als selbst der Spieler. Charles Péguy

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Vorwort zur deutschen Ausgabe von Heinz Maus

Von einem Manne, der sich seit mehr als 25 Jahren mit Angestelltenstatistik befaßt, und der darum als Fachmann gilt, ist gegen das Buch des amerikanischen Soziologen C. Wright Mills eingewandt worden, es bringe kaum "neue Fakten"; es erinnere nur an die Erörterungen, die in der Weimarer Republik über die gesellschaftliche Situation der Angestellten und ihre Ideologie geführt worden seien, und sei in seinen Behauptungen von der gleichen Leichtfertigkeit. Nun ist nicht zu leugnen, daß Mills die deutsche Literatur jener Jahre, die angeblich "mangels einer objektiven wissenschaftlichen Analyse von ... mehr oder weniger geistreichen journalistischen Formulierungen beherrscht" gewesen sein soll, recht gut kennt. Sie verhalf ihm dazu, eine Veränderung im bürgerlich-kapitalistischen System zu bemerken, die sich herkömmlichen Begriffen zu entziehen scheint. Es ist nicht verwunderlich, daß sich dort, wo dieses System am weitesten fortgeschritten ist, nämlich in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, die gleichen Erscheinungen zeigen, die damals schon in Deutschland beobachtet wurden. Denn hier wie dort hat ihr Entstehen den gleichen Grund: Im Übergang vom liberalen zum Monopolkapitalismus ist an die Stelle der privaten Initiative der Wirtschaftssubjekte in immer stärkerem Ausmaße ein anonymes Geflecht von Entscheidungsgründen der Verwaltung getreten, das von den einzelnen, sei’s horizontal, sei’s vertikal abhängigen Unternehmungen immer seltener durchbrochen oder entscheidend beeinflußt werden kann.

Die Auswirkungen dieser gesellschaftlichen Strukturveränderung haben sich der gesamten bürgerlichen Welt aufgeprägt, so daß deren Ordnung, Arbeitsverfassung und Kultur als die einer Welt von Angestellten erscheinen, die übrigens das Bewußtsein, die halbautomatischen Reaktionsweisen, die Einstellungen, das Denken selbst bestimmt. Mills vermeidet es, diese Welt der Angestellten in eine Definition zusammenzupressen, die administrativ zu hantieren wäre. Und er nimmt Stellung. Das hat ihm den Vorwurf zugezogen, er befleißige sich nicht der wissenschaftlichen Objektivität, zu der die Soziologie verpflichtet sei. Mit dieser Objektivität hat es indessen eine eigene Bewandtnis. Auf der einen Seite wird sie auf die Statistik eingeschränkt, als ob sich die gesellschaftliche Wirklichkeit einzig als quantifizierte nachweisen ließe; auf der anderen Seite wird als unbezweifelbar hingenommen, was die Angestellten über sich selbst äußern. Gewiß bringt auch Mills Zahlen und Äußerungen, aber beides ist ihm zu Recht noch keineswegs die Realität, die es zu begreifen gilt. Während noch vor dreißig Jahren darüber diskutiert wurde, ob es den Angestellten vorbehalten sei, als freilich unselbständiger "neuer Mittelstand" vor dem Schicksal bewahrt zu bleiben, ins Proletariat abzusinken, wird heute das Schlagwort von der Verbürgerlichung der Arbeiter bereits für bare Münze genommen.

Wurde damals die Gesellschaftstheorie allzu mechanistisch verstanden, so soll der bloße Augenschein heute gegen sie zeugen. Sie besteht darauf, die Entwicklung der modernen Gesellschaft von den Produktivkräften her zu erklären. Die technische Rationalität, die die Industriegesellschaft kennzeichnet, ist jedoch mitsamt ihren Folgen, wie es für Perioden des Übergangs charakteristisch ist, noch zwielichtig. Das freie Wirtschaftssubjekt, das einmal mit der Individualität sich gleichzusetzen glaubte, hat sich zum Objekt der umfassenden Organisation und der Koordination entwickelt, die individuelle Tüchtigkeit hat sich in genormte Leistung verwandelt. Der Produktions- und Verteilungsapparat wurde weithin dermaßen rationalisiert, daß der festgehaltene Unterschied zwischen ausübenden und anordnendem Tun in immer geringerem Grade auf wesentlichen Unterschieden der Fähigkeit und Einsicht beruht und in immer höherem auf vererbter Macht oder einer Berufsschulung, der sich jedermann unterziehen kann; die Kluft wird nur mehr mit politischen Mitteln aufrechterhalten, als daß sie, wie einst, aus der Arbeitsteilung selbst hervorgehen müßte. Die Normung in Produktion und Konsum, die Mechanisierung der Arbeit, die fortschreitende Verbesserung von Transport und Verkehr, die allgemeine Verbreitung des (gewiß zumeist bloß technischen) Wissens, die Gewöhnung an die Verwaltung – all dies scheint die Austauschbarkeit von Funktionen zu erleichtern, die einmal gesellschaftliches Prestige verliehen; die Demokratisierung ist nicht aufzuhalten. Sie ist keine "Nivellierung", es sei denn im Sinn einer Erhöhung des Kulturniveaus der Allgemeinheit. Freilich stehen dieser Tendenz ebenso robust wie subtil die mannigfachen Versuche entgegen, Arbeiter und Angestellte nicht zum vollen Bewußtsein ihrer gemeinsamen Lage kommen zu lassen, obgleich sie doch längst, und ungerührt von aller Ideologie, gleichermaßen als "Arbeitnehmer" gezählt werden.

Mills verfehlt nicht, darauf hinzuweisen, daß sich auch in Amerika die Differenzen zwischen Arbeitern und Angestellten im gemeinsamen Kampf ums tägliche Brot immer mehr ausgleichen. Zwar sehen sie auch die gleichen Filme, unterliegen sie der gleichen Manipulation durch die mächtigen Mittel der Massenbeeinflussung, und richten sich danach, wie bei uns. Aber ihre Gewerkschaften sind eine Macht, die zu verstehen gibt, daß die Bedeutung, die in der Gegenwart ihrer gemeinsamen Aktion zukommt, sich nicht mehr wegdisputieren läßt. Die Gesellschaft schickt sich an, in den arbeitenden Menschen, welche Funktion immer sie ausüben, ihr Schwergewicht zu erhalten. Dieser Wandel muß notwendig einem Denken entgehen, das sich daran genug tut, die Schichtungen in der Arbeitswelt zu klassifizieren und die Reflexe des Bestehenden im subjektiven Bewußtsein für die ganze Wahrheit zu nehmen. Die neue Gesellschaft läßt sich allerdings nicht im vornhinein auskonstruieren. Es mag sein, daß die Verkümmerungen und Versagungen, denen Arbeiter und Angestellte heute ausgesetzt sind, Wundmale hinterlassen, die immer wieder aufbrechen. Aber es mag auch sein, daß dann die Freizeit, die gegenwärtig so resolut an die Arbeit angeschlossen ist, als sei sie bloß deren Verlängerung, wirklich zu der Freiheit wird, um die es der Arbeiterbewegung von Anfang an zu tun gewesen ist.

Mills verzichtet darauf, eine Theorie der Angestellten zu geben, die von der gesamtgesellschaftlichen Situation Amerikas absieht, und sein Bild ist in mancher Hinsicht düster, ja beklemmend genug. Ihm darum Leichtfertigkeit vorzuhalten, weil er dem Zweckoptimismus der Propaganda die Huldigung versagt, erscheint daher wohl nicht angebracht. Mills geht nicht auf Dummenfang aus. Sein Buch, äußerst unterhaltsam geschrieben, ist jedoch nicht nur Unterhaltung, sondern auch eine Mahnung, daß wir uns in einer sich verändernden Welt befinden. Ob sie sich zum Schlechten oder zum Besseren verändert, hängt davon ab, ob die, die bereits die Mehrheit bilden, erkennen, was an der Zeit ist, und danach handeln.

Einführung

Unauffällig und leise nahmen die Angestellten ihren Platz in der modernen Gesellschaft ein. Falls dabei überhaupt von einer geschichtlichen Entwicklung die Rede sein kann, so verlief sie jedenfalls ohne bemerkenswerte Ereignisse. Etwa vorhandene gemeinsame Interessen bewirkten kein geschlossenes Vorgehen, und die Zukunft der Angestellten, ganz gleich wie sie aussehen mag, wird jedenfalls nicht ihr eigenes Werk sein. Wenn sie überhaupt etwas erstreben, dann höchstens einen Mittelweg in einer Zeit, die keine Mittelwege mehr offengelassen hat. Sie jagen in einer nur in ihrer Einbildung vorhandenen Gesellschaftsordnung einem Phantom nach. Als Gruppe innerlich gespalten und zersplittert und nach außen hin von stärkeren Mächten abhängig, würden sie selbst dann keine Bewegung zustande bringen, wenn sie wirklich einmal den Willen zur Tat fänden. Unorganisiert wie sie sind, würde ihnen höchstens ein Wirrwarr zusammenhangloser Einzelkämpfe gelingen. Als Gruppe bedrohen sie niemanden, als einzelne führen sie kein unabhängiges Leben. So ist es nicht verwunderlich, daß man diese Menschen von Anfang an als vertraute Typen der großstädtischen Masse hingenommen hat, noch ehe man sich eine rechte Meinung über sie bilden konnte.

Und doch findet man gerade in der Welt der Gehaltsempfänger viele der für unser Jahrhundert charakteristischen Züge. Die zahlenmäßige Bedeutung, die die Angestellten heute erlangt haben, hat die im vergangenen Jahrhundert weitverbreitete These, wonach sich die Gesellschaft in Unternehmer und Lohnarbeiter aufteilen werde, völlig über den Haufen geworfen.

Der Lebensstil der Angestelltenmassen hat die besonderen Eigentümlichkeiten der amerikanischen Lebensführung grundlegend gewandelt, und sie sind auf höchst aufschlußreiche Weise zum Träger vieler seelischer Züge geworden, die für unser Zeitalter kennzeichnend sind. Keine allgemeine Theorie über die Hauptströmungen der Gegenwart konnte an ihnen vorbeigehen, denn mit dem Angestellten steht ein ganz neuer Typ auf der Bühne unserer Zeit, dessen Rolle aus dem Alltag der heutigen Gesellschaft nicht mehr wegzudenken ist.

Ganz oben in der Welt der Angestellten hat der Generaldirektor der Aktiengesellschaft die Aufgaben übernommen, die vorher der "Industrie-Kapitän" alten Schlages wahrgenommen hat. Neben dem redegewandten Berufspolitiker ist der besoldete Bürokrat mit Aktentasche und Rechenschieber im politischen Blickfeld aufgetaucht, und diese Leute an der Spitze herrschen über ganze Hierarchien von namenlosen Unterdirektoren, Abteilungs- und Werksleitern, Aufsichtspersonen und juristisch ausgebildetem Verwaltungspersonal.

Ärzte, Rechtsanwälte, Architekten und Ingenieure waren einst selbständige Leute, die ihr eigenes Namensschild führten. In der heutigen amerikanischen Gesellschaft sind die angestellten Spezialisten der Krankenhäuser, die im Monatsgehalt stehenden Mitarbeiter der großen Anwaltsfirmen und die bei Großunternehmen als Angestellte beschäftigten Werksarchitekten und -ingenieure auf dem besten Wege, ihren noch freiberuflich tätigen Kollegen die Führung streitig zu machen. Noch stehen Ärzte und Rechtsanwälte als klassische Vertreter dieser Gruppe an der Spitze der sogenannten freien Berufe. Aber sie sind bereits umringt von neuartigen Fachleuten, die nachdrängen. Es gibt schon ein Dutzend Arten von Personalexperten, Sozialbetreuern, Refa-Fachleuten, Spezialtechnikern und -ingenieuren, eine Unzahl wissenschaftlich-technischer Assistenten und Assistentinnen, Zeichner, Statistiker, Laboranten, Krankenschwestern und Fürsorger.

In der Geschäftswelt, die manchmal Spiegelbild der modernen Gesellschaft als Ganzes zu sein scheint, gibt es die an das Ladenlokal gebundenen, sozusagen stationären, Verkäuferinnen, sodann die nichtstationären Verkäufer, wie Reisende oder Versicherungsvertreter, und, als unsichtbare Verkäufer, die die anderen aus der Ferne beim Verkauf unterstützen, die Werbefachleute. An der Spitze stehen die Primadonnen: die stellvertretenden Vorstandsmitglieder, die Direktoren und die Verkaufsleiter, die behaupten, sie seien "auch nur Verkäufer, wenn auch vielleicht etwas einfallsreicher und schöpferischer als andere". Und ganz unten stehen die kleinen Verkäuferinnen der Einheitspreisgeschäfte, die von der Hoffnung leben, ihren Arbeitsplatz bald mit der Ehe vertauschen zu können.

In den Riesenbetrieben der Büros, in den Sälen der Kalkulationsabteilungen, ersetzen ungezählte Buchhalter und Einkäufer den Mann, der einst seine geschäftlichen Unternehmen selbst plante und durchführte. Und auf den unteren Stufen der Angestelltenwelt plagen sich die Hilfskräfte der Büros damit, die unersättlichen Akten, Ablagekörbe und Registraturschränke zu füllen und zu leeren. Da gibt es Sekretärinnen und Schreibkräfte, Kontoristen und Korrespondenten – tausend Arten kaufmännischer Angestellter; dazu das Bedienungspersonal für alle möglichen Büromaschinen und Apparate, wie Rechenmaschinen, Adressiermaschinen und Diktiergeräte, und schließlich die Empfangsdamen, die, je nachdem, den Besucher freundlich empfangen oder abwimmeln müssen. Schilderungen solcher Angestelltentypen gehören heute in allen bedeutenden Industriestaaten zum festen Bestandteil der Literatur. In Deutschland schuf, ehe Hitler an die Macht kam, Hans Fallada die Pinnebergs. Johannes Pinneberg, ein Buchhalter, landet durch Inflation und Wirtschaftskrise mit seiner schwangeren Frau auf der Straße, wo er vergeblich eine Antwort auf die Frage Kleiner Mann, was nun? sucht. Sein einziger Halt ist seine noch im echten proletarischen Milieu verwurzelte Frau.

In der Angestelltenwelt Londons fand J. B. Priestley die Vorbilder jener in Unsicherheit lebenden, gequälten Geschöpfe, die er in seiner Engelsgasse schildert. Und George Orwells Verkäufer in Coming up for Air, Mr. Bowling, scheint für alle zu sprechen, wenn er erklärt:

Über die sogenannten Leiden der Arbeiterklasse wird ziemlich viel Blödsinn dahergeredet! Ich hab’ mit den Proleten nicht viel Mitleid, ... denn der Prolet hat zwar körperlich was auszustehen, aber wenigstens ist er nach Feierabend sein freier Mann! Die armen Schweine dagegen, die da abends in ihren kleinen Wohnungen sitzen, sind niemals wirklich frei, außer vielleicht, wenn sie fest schlafen und träumen, sie würden ihrem Chef mal zufällig in einem stockdunklen Hausflur begegnen und könnten ihm mal zeigen, was ne Harke ist! Der Fehler bei Leuten wie uns ist, daß wir uns immer einbilden, wir hätten etwas zu verlieren!

Der diesen europäischen Schilderungen vielleicht am nächsten kommende amerikanische Roman ist Kitty Foyle. Aber wie ganz anders ist die Heldin dieses Buches! In Amerika ist, im Gegensatz zu Europa, das Schicksal der Angestellten noch nicht geklärt. Kitty Foyle ist eine modernisierte Figur der alten Kitschliteratur nach Schablone "sozialer Aufstieg", die an Alice Adams erinnert. Sie "strebt nach Höherem". Das Buch endet damit, daß Kitty, die – trotz einer gerade herrschenden Wirtschaftskrise – 3000 Dollar im Jahr verdient, sich vornimmt, Aktien ihrer Firma zu erwerben und Skrupel empfindet, einen Arzt zu heiraten, weil dieser zufällig Jude ist. Während in Deutschland Herr Pinneberg, allerdings zu spät, erkennt, daß seine proletarische Frau sein Lebensschicksal und zugleich seine politische Chance ist, ist Kitty Foyle noch eifrig dabei, in der kosmetischen Branche eine Karriere nach amerikanischer Art zu machen. Fünfundzwanzig Jahre später jedoch, während der amerikanischen Hochkonjunktur nach dem letzten Kriege, taucht Willy Loman auf, der Held des Stückes Der Tod des Handlungsreisenden, ein kleiner Angestellter, dessen Leben gerade durch den bescheidenen geschäftlichen Erfolg, den er erringt, völlig scheitert. Frederic Wertham schrieb über den Traum Willy Lomans:

Mit diesem Traum erzielt er seine Erfolge, er scheitert damit und er stirbt daran. Aber warum hatte er diesen Traum? Stimmt es vielleicht nicht, daß er in unserer Gesellschaft einfach einen falschen Traum träumen mußte?

Die Farmer und Geschäftsleute des vergangenen Jahrhunderts galten allgemein als entschiedene Individualisten. Jeder von ihnen war sein eigener Herr und konnte es in kürzester Frist fast ebenso weit bringen wie irgendein anderer. Der Angestellte unseres Jahrhunderts hat nie die Unabhängigkeit besessen, die einst jeder Bauer hatte, noch hat er jemals Hoffnung auf eine wirklich große Chance hegen können, wie einst jeder Geschäftsmann. Er ist nie sein eigener Herr, sondern untersteht immer anderen: sei es dem Unternehmen, dem Staat oder der Armee, und man betrachtet ihn als einen Menschen, für den ein wirklicher Aufstieg nicht in Frage kommt. Der Niedergang des freien Unternehmertums und das Aufkommen einer abhängigen Angestelltenschaft fand im Bewußtsein des Amerikaners eine Parallele: den Abstieg des selbständigen Einzelnen und seine Ablösung durch den "Kleinen Mann In einer Welt wie der unseren, die voller Widerwärtigkeiten ist, schreibt man dem Angestellten bereitwilligst all die angeblichen Tugenden des kleinen Mannes zu. Mag er auch gesellschaftlich noch so tief stehen, man stellt doch gleichzeitig erfreut fest, daß man ihn noch zum Mittelstand rechnen kann. Es ist ebenso leicht wie ungefährlich, etwas Mitleid mit ihm zu haben, denn er kann wenig oder nichts an seiner Lage ändern. Andere Gruppen der Gesellschaft drohen, mächtig und aggressiv zu werden, aus selbstsüchtigen Motiven heraus zu handeln und sich sogar in die Politik einzumischen. Großkapitalisten betreiben ihre üblichen Geschäfte im normalen Rhythmus von Krise-Krieg-Konjunktur. Ein Stirnrunzeln der Gewerkschaftsbosse genügt, das Wirtschaftsleben des Landes so lange zu lähmen, bis ihre Forderungen durchgesetzt sind. Und die Großagrarier nehmen Einfluß auf die Senatoren, damit auch ja der Großgrundbesitz das Seine erhält. Der Angestellte dagegen tut nichts dergleichen.

Kollektiv gesehen ist er eher eine traurige als eine tragische Figur, wie er gegen die unpersönliche Inflation ankämpft, wie das schleichende Elend seine Sehnsucht nach einem raschen "amerikanischen" Aufstieg langsam erstickt. Er wird von Mächten getrieben, auf die er keinen Einfluß hat, in Bewegungen hineingezogen, die er nicht begreift; er gerät in Situationen, denen er völlig hilflos gegenübersteht. Der kleine Angestellte verkörpert den Helden als Opfer; er ist das schwache Geschöpf, das nicht selbst handelt, sondern immer Objekt fremder Handlungen bleibt, ein Mensch, der im Büro oder im Geschäft eines anderen unbemerkt seine Arbeit verrichtet, niemals laut spricht, keine Widerrede führt, keine eigene Meinung hat.

Wenn man jedoch, statt des kleinen Mannes im allgemeinen, bestimmte Angestelltentypen herausgreift, denen man im täglichen Leben begegnet, so ist der Eindruck, den man empfängt, uneinheitlich und nicht immer sympathisch. Aber selbst etwa empfundene Sympathie äußert sich häufig nur in der Form gönnerhaften Wohlwollens. Der Bezeichnung "Buchhalter" geht meist ein "nur" voraus, von der Schreibkraft heißt es: "Nur ein Tippfräulein." Und wer unterhält sich schon gern mit dem Versicherungsvertreter? Wer läßt den "Inkasso-Bevollmächtigten", also "den Mann mit der Rechnung" gern in seine Wohnung herein? Die Leute sagen: "Man weiß doch, wie frech und ungezogen solche Ladenmädel sein können." Die Lehrerin ist eine stehende Witzfigur drastischer Geschichten, die amerikanische Geschäftsleute einander erzählen. Hausfrauen haben selten eine gute Meinung von Privatsekretärinnen, und die meisten Angestelltenromane schlagen eifrig Kapital aus dieser Feindschaft der "Ehefrau zu Hause" gegen die "Ehefrau im Büro".

So sehen die einzelnen Angestelltentypen aus, wenn man sie "von oben her" betrachtet. Jedoch von unten sieht es sich anders an: seit zwei Generationen haben die Söhne und Töchter der Armen sehnsüchtig danach gestrebt, "nur ein Buchhalter" oder "bloß ein Tippfräulein" zu werden. Die Eltern brachten viele Opfer, damit wenigstens eines der Kinder die höhere Schule, die Handelsschule oder gar das College besuchen konnte, nur um später einmal Briefe einzuordnen, an der Schreibmaschine zu sitzen, auf einem Büro oder Amt zu arbeiten, irgendeine Fertigkeit zu erlernen, kurz: "um etwas Besseres" werden zu können. In der ernsthaften Literatur werden solche Angestelltentypen häufig als beklagenswerte Menschen dargestellt; in volkstümlichen Heftchen und Kitschromanen sind sie dagegen oft Ziele der Sehnsucht.
Die Vorstellungen von den verschiedenen Typen formten sich bislang nicht aus der sorgfältigen Auswertung lebendiger Erfahrungen, vielmehr bildeten sie sich in Amerika, wie anderswo auch, teils aus überlieferten Anschauungen, teils aus Schulbüchern, teils aus den ersten, oberflächlichen Eindrücken des noch unkritischen Verstandes. Diese Vorstellungen wurden dann durch die Massenbeeinflussungsmittel noch verstärkt; im Zeitalter der Angestellten wurden sie sogar oft erst durch Presse, Radio und Kino geschaffen. Die von berufsmäßigen Produzenten geformten populären Vorstellungsbilder beeinflussen die Meinung deshalb so stark, weil das Publikum ja all die Leute, über die es gern reden oder denen es gleichen möchte, meist nicht persönlich kennt und auch gar nicht kennen kann, jedoch ein unbewußtes Verlangen danach hat, an das Vorhandensein bestimmter Vorbilder zu glauben.

Von diesem Wunsch erfüllt, klammert sich das unerfahrene Publikum an die flüchtigen Eindrücke, die Radio, Kino, Fernsehen, Sonntagszeitungen und Fünfgroschenromane von gewissen Menschentypen vermitteln, weil diese Typen nach Klischees gestaltet werden, die dem Weltbild des Publikums entsprechen. Selbst wenn dann der Einzelne einmal den Menschen aus Fleisch und Blut, die sich hinter diesen Klischees verbergen, persönlich begegnet, so trüben ihm häufig frühere, stark gefühlsgebundene Eindrücke den Blick für die Wirklichkeit. Die Erfahrung wird von falschen Vorstellungen gehemmt, und manchmal scheint die Wirklichkeit selbst den rosaroten Kitsch eines schlechten Films oder die lächerlichen Übertreibungen einer Reklnmesendung zu imitieren.

Vielleicht sind selbst die mit größter Liebe gehegten nationalen Vorstellungsbilder nichts anderes als sentimentale Gestaltungen historischer Typen, die es nicht mehr gibt, falls es sie überhaupt je gegeben hat. Viele dieser genormten Wunschbilder des Amerikaners beruhen auf dem Mythos von der langen Bindung an den Boden, wie der bedeutende Historiker A. M. Schlesinger sen. es ausdrückt, die ihm "Mut, schöpferische Kraft und Findigkeit ..." gab. Diese Vorstellung, die so ganz offensichtlich aus dem neunzehnten Jahrhundert stammt, schreibt dem Amerikaner eine geradezu magische Unabhängigkeit zu sowie Geschicklichkeit, Findigkeit, Mutterwitz und enormes Arbeitsvermögen. Und alle diese Tugenden soll er bei der Bezwingung des weiten amerikanischen Kontinents erworben haben.

Vor hundert Jahren, als die Bevölkerung Amerikas noch zu drei Vierteln aus Farmern bestand, konnte man vielleicht noch mit gewisser Berechtigung ein solches Bild entwerfen und es "der Amerikaner" nennen. Aber seitdem ist der Anteil der Farmer an der erwerbstätigen Gesamtbevölkerung auf fast ein Zehntel zurückgegangen, und es sind neue Schichten von Lohn- und Gehaltsempfängern entstanden. Tiefgreifende historische Wandlungen haben eine große Mannigfaltigkeit der Typen geschaffen und es damit amerikanischen Geschichtsschreibern seit langem schwer gemacht, sich an "den Amerikaner" als Einheitstyp, als eines jeder Lebenslage gewachsenen Farmers und Handwerkers zu klammern. Soweit es überhaupt irgendwelche einheitlichen Züge im Leben und im Charakter der Amerikaner gibt, sind sie jedenfalls weniger auf eine "gemeinsame Bindung an die Scholle" als auf die nivellierenden Einflüsse zurückzuführen, die jede Großstadt-Zivilisation und vor allem jede genormte Massenherstellung und Massenbeeinflussung zur Folge hat.

Nach der ökonomischen Theorie sind die Amerikaner die Nation der gerissenen Händler und wagemutigen Gründer. Nach dem Wildwestmythos sind sie die Nation der skrupellosen Draufgänger und hartgesottenen Pioniere, die Land und Vieh nehmen, wo sie es finden. Sie sind weder das eine noch das andere, und die, zu Recht oder Unrecht, solch historischen Typen zugeschriebenen Eigenschaften lassen sich bei der heutigen Bevölkerung nur schwerlich finden. Das freie Privatunternehmertum bildet nur einen Bruchteil der amerikanischen Bevölkerung, denn es gibt heute viermal soviel Lohn- und Gehaltsempfänger als selbständige Unternehmer. "Der Kampf ums Dasein", schrieb William Dean Howells in den neunziger Jahren, "hat sich aus einem Ringen der Einzelnen in einen Zusammenprall geballter Kräfte gewandelt, und die wenigen noch übriggebliebenen Einzelkämpfer werden dabei aufgerieben ..."

Wenn es heißt, die heutigen Angestellten seien so etwas wie direkte Nachfolger der alten mittelständischen Unternehmer, dann sollte man nicht vergessen hinzuzufügen, daß der Mittelstand schon seit hundert Jahren langsam enteignet wird und daß er nun schon seit zwanzig Jahren auch das Gespenst der Arbeitslosigkeit kennengelernt hat. Denn beides beruht auf Tatsachen, obwohl der Mittelstand diese Tatsachen nicht als doppeltes Unglück erfuhr. Die Eigentumsfrage ist für den heutigen Mittelstand ohne Bedeutung, denn der Kampf um das Eigentum wurde schon vor dem ersten Weltkrieg vom alten Mittelstand ausgetragen – und verloren. Die Zusammenballung von Kleineigentum in den Händen weniger ist ein Vorgang, der sich schon seit Urgroßväterzeiten in jeder Generation abspielte und seinen Höhepunkt während der sogenannten "Fortschrittlichen Epoche" erreichte, also unter den Präsidenten Theodore Roosevelt und Wilson. Diese ein Jahrhundert umfassende Entwicklung ging viel zu langsam vonstatten, als daß sie von den Männern und Frauen des Mittelstandes als eine ständige Krise hätte empfunden werden können, wobei noch bei vielen das Interesse an Gebrauchsgütern größer geworden zu sein scheint als der Wunsch, Vermögenswerte zu erwerben. Geschichtliche Vorgänge spielen sich jedoch auch dann ab, wenn sie dem Menschen gar nicht bewußt werden. Auch wenn die Enteignung nicht als Krise empfunden wird, so bleibt sie dennoch ein für die Lebensweise und für die Zielsetzung des neuen Mittelstandes entscheidender Faktor. Was aber die Arbeitslosigkeit angeht, so wird sie durchaus als eine ständige Drohung empfunden, die die Welt der Angestellten überschattet.

Untersucht man die heutige Lebensweise der amerikanischen Angestellten einmal näher, so wird man möglicherweise eine bessere Vorstellung davon bekommen, was einmal "typischer amerikanisch" zu werden verspricht, als es der Pionier des Wilden Westens wahrscheinlich je gewesen ist. Man muß sich dazu die heutige Gesellschaft als ein riesiges Warenhaus, als eine gigantische Registratur, einen Gehirntrust, als eine dem Managertum und der künstlichen Beeinflussung völlig ausgelieferte neue Welt vorstellen. Wenn man diese verschiedenen Bereiche des Angestelltendaseins erkennt, wird einem auch die Form und Bedeutung unserer modernen Gesellschaft als Ganzes verständlicher werden. Man wird auch eher die bescheidenen Hoffnungen und erdrückenden Sorgen aller der kleinen Leute begreifen, die sich in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts für kümmerlichen Lohn abrackern.

Die Sorgen, die auf dem Angestellten von heute lasten, sind die Sorgen aller im zwanzigsten Jahrhundert lebenden Menschen, und wenn es der "neue Mittelstand" besonders schwer zu haben scheint, so sieht das vielleicht nur deshalb so aus, weil sich diese Menschen für eine kurze Zeitspanne einbildeten, sie seien gegen alle Sorgen gefeit.

Vor dem ersten Weltkrieg gab es weniger kleine Angestellte als heute, und die Monopolstellung, die sie auf Grund ihrer besseren Schulbildung vorübergehend besaßen, schützte sie vor manchen bitteren Begleiterscheinungen des fortschreitenden Kapitalismus. Sie konnten sich noch großen Illusionen hingeben, sowohl was ihre persönlichen Fähigkeiten als auch was die allgemeine Zuverlässigkeit des kapitalistischen Systems betraf.

Je größer jedoch die Zahl der Angestellten wurde, desto mehr glichen sich ihre Lebensbedingungen denen der Lohnarbeiter an, und die große Weltwirtschaftskrise, die 1929 begann, stellte sie dann endgültig vor die altbekannten Probleme der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, die ihnen bis dahin erspart geblieben waren. Krisen- und Kriegszeiten und selbst die Jahre der Hochkonjunktur haben ihnen übel mitgespielt. Sie haben gelernt, wie völlig unpersönlich die Arbeitslosigkeit in Krisenjahren und das Sterben im Zeitalter des mechanisierten Krieges geworden ist. Und in guten Jahren wurde ihnen das Geld, das sie zu verdienen glaubten, heimlich wieder abgenommen, weil ja die Preise dann immer viel rascher in die Höhe kletterten als die Gehälter.

Den materiellen Nöten des Industriearbeiters des neunzehnten Jahrhunderts entsprechen im zwanzigsten Jahrhundert die seelischen Nöte der kleinen Angestellten. Der kleine Mann von heute scheint nirgendwo einen festen Halt zu haben, nichts woran er sich klammern könnte, um seinem Leben Ziel und Inhalt zu geben. Seine geschichtliche Entwicklung ist ebenso kurz wie unheroisch, und er ist sich darum auch gar nicht bewußt, eine Vergangenheit zu haben. Er hat kein Goldenes Zeitalter erlebt, an das er sich in Notzeiten erinnern könnte. Er weiß nicht einmal, wohin sein Weg ihn eigentlich führt, und vielleicht ist das auch der Grund, weshalb er es immer so furchtbar eilig hat. Lähmende Angst erfüllt ihn, und dies um so mehr, als er die Ursachen dieser Angst nicht zu erkennen vermag. Daß er sich vor Angst nicht zu rühren wagt, zeigt sich ganz besonders deutlich auf politischem Gebiet und hat zur Folge, daß er sich so völlig apathisch verhält wie heutzutage niemand sonst. Die ständige Angst und Unruhe, an der unsere Zeit krankt, beruht auf einer grundlegenden Tatsache: in Politik und Wirtschaft, im Familienleben, auf religiösem Gebiet – in praktisch jeder Sphäre unseres Daseins ist alles, was im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert noch als sicher und unumstößlich gelten konnte, zerstört und zerronnen, ohne daß für die neuen Formen unseres Lebens, denen wir uns anzupassen haben, schon irgendwo eine Berechtigung oder Bestätigung zu erblicken wäre. Also werden diese neuen Formen weder gebilligt noch abgelehnt, sie erfüllen uns weder mit glühendem Optimismus noch mit Gefühlen nicht mehr zu bändigender Rebellion. Das Leben verläuft planlos.

Diese Zeitkrankheit hat die Angestelltenschaft besonders stark erfaßt, denn das Fehlen jeglichen Glaubens hat dem Angestellten als einzelnen die moralische Schutzwehr und als Gruppe jeden politischen Einfluß genommen. Es sind rauhe Zeiten, in die der Angestellte als Neuling hineingeraten ist, und er kann sich dabei auf keine überlieferte Kultur stützen. Vielmehr muß er sich an die Äußerlichkeiten der Massengesellschaft klammern, die ihn formte und die ihn zu fremden Zwecken zu mißbrauchen trachtet. Aus Gründen der eigenen Sicherheit muß er sich bemühen, irgendwo Anschluß zu finden. Aber eine Organisation oder eine Gemeinschaft, die er wirklich seine eigene nennen könnte, scheint es nicht zu geben. Diese isolierte Stellung bringt es mit sich, daß er sich durch Kitschromane, Boulevardblätter, Kino, Radio und Fernsehen leicht beeinflussen und im Sinne einer billigen Scheinkultur formen läßt. Als Großstadtmensch ist er besonders stark dem konzentrischen Ansturm künstlicher Zerstreuungen und verlogener Appelle an das Gefühl oder an das Gewissen ausgesetzt. Er gehört zu jenen Ärmsten, die in einer Welt leben müssen, die nicht ihr Werk ist und mit der sie nicht fertig werden können.

Der Angestellte ist seiner Arbeit noch stärker entfremdet als selbst der Lohnarbeiter. Damit nähert er sich beträchtlich der von Kafka beschriebenen völligen Loslösung.
Der Angestellte produziert nichts, obwohl vielleicht viele Dinge durch seine Hände gehen, die er sich sehnlichst wünscht, die er sich aber nicht leisten kann. Die Freude am Entstehen und handwerklichen Gelingen eines Stückes ist ihm versagt. Da er seiner Arbeit völlig entfremdet ist und jahrein, jahraus den immer gleichen Papierkrieg führen muß, stürzt er sich in seiner Freizeit um so williger auf die angebotenen künstlichen Sensationen und all die kümmerlichen Ersatzzerstreuungen, die ihm weder innere Ruhe noch echte Befriedigung geben können. Er langweilt sich bei der Arbeit, ist ruhelos in seiner Freizeit, und zwischen diesen beiden entsetzlichen, ständig abwechselnden Zuständen reibt er sich nach und nach völlig auf.

Sein Beruf bringt es mit sich, daß er häufig mit Kunden oder Vorgesetzten Ärger und Meinungsverschiedenheiten hat. In solchen Fällen ist ihm die Rolle genau vorgeschrieben, an die er sich zu halten hat: er hat selbstverständlich im Unrecht zu sein und das freundlich lächelnd zuzugeben; er hat sich höflich zu entschuldigen und geduldig zu bleiben, ob er nun hinter dem Ladentisch steht oder im Vorzimmer des Chefs wartet. In vielen Angestelltenberufen sind so persönliche Eigenschaften wie Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit und Ritterlichkeit inzwischen zu völlig unpersönlichen Berufserfordernissen geworden. Zur Arbeitsentfremdung ist die Selbstentfremdung hinzugekommen.

Ein Angestellter verkauft seiner Firma nicht nur seine Zeit und seine Arbeitskraft, sondern dazu auch noch seine ganze Persönlichkeit. Sein Lächeln und seine kleinen freundlichen Gesten sind im Gehalt genauso einbegriffen wie das Unterdrücken von Widerspruch und Ärger. Diese persönlichen Dinge sind von kommerziellem Wert und werden benötigt, damit Waren und Dienste besser oder mit größerem Nutzen zur Verteilung kommen können. Wie moderne Machiavellis im Kleinformat stellen die modernen Angestellten ihr Geschick im Umgang mit Menschen gegen kleines Entgelt in den Dienst anderer, damit diese daraus ihren Nutzen ziehen können; aber die Regeln dieses Verfahrens haben nicht sie, sondern ihre Vorgesetzten festgelegt.

Im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert wurde Vernunft gleichgesetzt mit Freiheit. Sigmund Freuds Vorstellungen von der Einzelpersönlichkeit, ebenso die Gesellschaftstheorien von Karl Marx wurden von der Annahme gestützt, daß Vernunft und Freiheit miteinander übereinstimmten. Die Vernunft scheint jedoch neuerdings eine andere Gestalt angenommen zu haben. Sie verkörpert sich nicht mehr im einzelnen Menschen, sondern in gesellschaftlichen Einrichtungen, die sich mittels ihrer bürokratischen Methoden und ihrer mathematisch genauen Vorausplanung alle Vernunft und Freiheit des einzelnen kleinen Mannes anmaßen, sobald sie ihn einmal "erfaßt" haben. Ob im Warenhauskonzern oder im großen Industrieunternehmen, in den Büros oder in den Dienststellen der Staatsverwaltung – überall wird der immer gleich eintönig graue Arbeitstag und das dem Einzelnen eben noch zugebilligte Maß an Initiative von oben herunter genauestens berechnet und diktiert. In diesem riesigen System bürokratischer Anmaßung von Freiheit und Vernunft stellen die Angestellten die auswechselbaren Glieder der Kette dar, mit der die menschliche Gesellschaft gefesselt und zusammengehalten wird, und die man als "Autorität" bezeichnet.

Die Angestelltenschaft, deren verschiedene Typen zwar immer sichtbar sind, aber meist geflissentlich übersehen werden, ist unfähig, sich in der Politik Gehör zu verschaffen. Gelegentlich nennt sie irgendein parteiloser politischer Außenseiter, den es in die Arena des Wahlkampfes verschlagen hat, in einem Atem mit Geschäftsleuten, Farmern und Industriearbeitern, um auf diese Weise möglichst breite Wählerschichten anzusprechen. Aber keine der beiden großen Parteien Amerikas hat es bislang für nötig gehalten, in ihrem Wahlprogramm der Angestellten einmal unmittelbar zu gedenken. Wer sollte sich schließlich auch vor einem Buchhalter, einer Kontoristin oder einem Verkäufer groß fürchten? Und weder Alice Adams noch Kitty Foyle konnte für die "kleinen Leute im Mülleimer der Geschäftswelt" das sein, was Früchte des Zorns für die kleinen Pächter von Texas bedeutet.

Aber während die noch immer in den Ideologien des neunzehnten Jahrhunderts befangenen Realpolitiker dem neuen Mittelstand kaum irgendwelche Aufmerksamkeit schenkten, erblickten die Theoretiker der politischen Linken im Angestellten schon den künftigen Proletarier, den sie energisch für sich beanspruchten, und die Theoretiker der Rechten und der Mitte priesen ihn gleichzeitig als leuchtendes Beispiel für die bleibende Kraft und Größe des bürgerlichen Mittelstandes. Einzelne Abtrünnige beider Lager kamen sogar von Zeit zu Zeit auf den Gedanken, daß von der Oberschicht der heutigen Mittelklasse möglicherweise die Initiative zu neuen politischen Strömungen ausgehen könnte. In Deutschland gehörte das "Stehkragen-Proletariat" zu den Gruppen, deren Unterstützung sich Hitler mit geschickten Mitteln zu verschaffen wußte, um an die Macht zu gelangen. In England soll die Arbeiterpartei den Wahlsieg von 1945 nur den Stimmen der in den Vorstädten lebenden kleinen Angestellten zu verdanken gehabt haben.

Auf die Frage nach der künftigen politischen Orientierung des neuen Mittelstandes lassen sich ebenso viele Antworten finden, wie es politische Theoretiker gibt. Für den aufmerksamen Beobachter amerikanischer Verhältnisse liegt das Problem weniger in der politischen Richtung, die der hauptsächlich von Angestellten gebildete Mittelstand einschlagen wird, als vielmehr in der Frage, ob diese Leute sich überhaupt je zu irgendeiner politischen Einstellung aufschwingen werden.

Zwischen dem Bewußtsein des kleinen Mannes und den wesentlichen Faktoren unseres Zeitalters scheint eine Nebelwand völliger Gleichgültigkeit zu liegen. Sein Wille scheint gelähmt, seine Haltung dünkt uns kläglich. Man findet zwar auch bei Menschen anderer Schichten politische Gleichgültigkeit, aber ihnen werden doch wenigstens hin und wieder Wahlsiege zugeschrieben und sie haben unermüdliche Interessenverbände und flammende Verfechter ihrer Belange, die überall dort, wo Entscheidungen fallen, von früh bis spät anzutreffen sind, und auf die sie ihre eigene Begeisterung für Fragen der Allgemeinheit gleichsam übertragen zu haben scheinen. Die Angestellten aber sind überall, wo es um Einfluß und Macht geht, nur fünftes Rad am Wagen. Niemand kann für sie Begeisterung aufbringen, und sie selbst gleichen politischen Eunuchen, die kraftlos und gleichgültig der zwingenden Notwendigkeit eines politischen Machtkampfes gegenüberstehen.

Der Gemeinschaft und Gesellschaft entfremdet, leben sie in Mißtrauen und Strebertum dahin. Ihre Arbeit kann ihnen keine Befriedigung geben. Ihre Persönlichkeit haben sie zu Markte getragen und verkauft. Selbständiges Denken hat man ihnen abgewöhnt, und politisch sind sie in völlige Gleichgültigkeit verfallen. So steht es um die kleinen Leute von heute, der Avantgarde wider Willen der modernen Gesellschaft. So etwa ist die Situation, und sie sind, bei aller ihnen hoffnungsvoll mitgegebenen Schul- und Ausbildung, völlig unfähig, sie zu meistern.

Woran der Mensch Interesse hat, ist nicht immer das, was seinen Interessen dient. Die Schwierigkeiten, deren er sich bewußt wird, sind nicht immer nur die eigenen Sorgen. Es wäre wirklich zuviel verlangt, wollte man annehmen, daß bei echter "Demokratie" die Menschen ihre eigenen Interessen immer sofort genau zu erkennen vermöchten und sich stets völlig im klaren seien, welche innere und äußere Faktoren ihrem Glück im Wege stehen und all ihre Anstrengungen scheitern lassen. Denn Interessen ergeben sich nicht nur aus erfühlten Werten, sondern auch aus einem gewissen Empfinden für die Möglichkeiten ihrer Verwirklichung. Durch bloße Selbstbetrachtung kann der einzelne weder Klarheit über seine Werte noch Mittel und Wege zu ihrer Verwirklichung finden. Vertieftes Bewußtsein allein ist nicht genug, denn der Mensch ist sich nicht nur seiner Lage oftmals überhaupt nicht bewußt, er hat auch häufig von ihr ganz und gar falsche Vorstellungen. Um einen mehr der Wahrheit entsprechenden Begriff seiner selbst zu bekommen, müßte der Angestellte erst einmal erkennen, daß er im heutigen Amerika eine neue Gesellschaftsschicht mit neuen Arbeits- und Lebensformen bildet. Um seine Schwierigkeiten soweit wie irgend möglich erkennen und verstehen zu können, müßte er im Rahmen der gesellschaftlichen Vorgänge das, was ihn interessiert, mit dem, was in seinem Interesse liegt, zu verbinden trachten.

Obwohl der neue Mittelstand – und wenn es auch nur auf Grund seines zahlenmäßigen Anwachsens wäre – ein beachtliches politisches und gesellschaftliches Potential darstellt, gibt es doch mehr systematisches Wissen über die Farmer, Lohnarbeiter, Neger, ja selbst über die Verbrecher, als über die Männer und Frauen der mannigfachen Angestelltenberufe. Sogar die sonst jede statistisch interessante Einzelheit berücksichtigenden amtlichen Volkszählungen der USA bieten heute keine rechte Möglichkeit, die Anzahl der zum neuen Mittelstand gehörenden Menschen in etwa genau festzustellen. Es ist sinnlos geworden, Theorien über den Mittelstand auf Grund inzwischen völlig veralteten Tatsachenmaterials aufzustellen, und brauchbare Zusammenstellungen modernen Materials gibt es nicht. Dabei wird die menschliche und politische Bedeutung der neuen Mittelschicht täglich größer und bedrohlicher.

Der Liberalismus war, seinen Idealen nach, ganz auf den Bereich des Kleineigentums zugeschnitten, der Marxismus auf eine dem Menschen noch nicht entfremdete Arbeit. Beide Weltanschauungen können die moderne Gesellschaft heute nur noch negativ beurteilen; denn inzwischen hat das Kleineigentum aufgehört, die Verankerung von Freiheit und Sicherheit zu sein, und überall hat eine völlige Entfremdung des Menschen von seiner Arbeit um sich gegriffen. Weder Liberalismus noch Marxismus können deshalb der heutigen gesellschaftlichen Struktur begrifflich gerecht werden. Wir müssen darum John Stuart Mill und Karl Marx den Vorwurf machen, ihre Gedanken schon vor hundert Jahren zu Papier gebracht zu haben. Was sich seitdem ereignet hat, kann nicht einfach als die Zerstörung der Welt des neunzehnten Jahrhunderts bezeichnet werden; das reicht nicht aus. Um uns her beginnen sich die Umrisse einer neuen Gesellschaft abzuzeichnen, deren grundlegende Einrichtungen das vergangene Jahrhundert überhaupt nicht kannte. Wenn nun hier dem Gedanken eines neuen Mittelstandes Ausdruck gegeben wird, so ist dies bei aller Verschwommenheit und bei der gleichzeitigen Mannigfaltigkeit des Begriffs ein Versuch, die jüngste Entwicklung der gesellschaftlichen Struktur und des menschlichen Charakters verständlich zu machen.

Gesellschaftspolitisch ausgedrückt, geht dieses Buch von der Annahme aus, daß das liberale Ethos, wie es in den ersten beiden Jahrzehnten unseres Jahrhunderts von Männern wie Beard, Dewey und Holmes entwickelt wurde, heute oft belanglos geworden ist, während die in den dreißiger Jahren in Amerika so populären marxistischen Anschauungen der heutigen Situation nicht mehr angemessen erscheinen. So bedeutsam und anregend beide als Ausgangspunkte auch sind – sie setzen uns nicht in die Lage, das für unsere Zeit Entscheidende zu erkennen.

Zur Charakterisierung der amerikanischen Gesellschaft unserer Tage, also Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, bedarf es eher psychologischer Begriffe, denn die uns heute am meisten berührenden Probleme grenzen schon an das Gebiet der Psychiatrie. Es ist die große Aufgabe der heutigen Gesellschaftsforschung, die politische und wirtschaftliche Gesamtsituation vom Standpunkt ihrer Auswirkung auf die seelische Verfassung und die äußere, berufliche und gesellschaftliche Laufbahn des Einzelnen darzustellen und dabei zu berücksichtigen, daß der einzelne Mensch oft falsche oder überhaupt keine Vorstellungen von seiner und von der allgemeinen Situation hat.
Es gilt durch den Wirrwarr der alltäglichen Erlebnisse des Einzelnen die Struktur der modernen Gesellschaft zu erkennen und erst in ihrem Rahmen die Psychologie des kleinen Mannes zu betreiben.

Die moderne Sozialforschung hat erkannt, daß der Einzelne weder seine eigenen Erlebnisse begreifen noch sein eigenes Schicksal ermessen kann, wenn er sie nicht im richtigen Zusammenhang mit den Strömungen seines Zeitalters und mit dem Gesamtschicksal aller Menschen seiner gesellschaftlichen Schicht zu sehen versteht. Will man den neuen Mittelstand in allen Einzelheiten genau untersuchen, so muß man zunächst die Gesellschaftsstruktur, zu der er gehört, wenigstens in ihren Umrissen skizzieren. Denn ein großer Teil der Eigenarten jeder Schicht ergibt sich aus der Art ihrer Beziehungen – oder deren Fehlen – zu den Schichten unmittelbar darüber und darunter; Besonderheiten zeigen sich am deutlichsten in den Unterschieden, die sich aus einem Vergleich mit anderen Schichten ergeben. Die Situation des neuen Mittelstandes weist Lebensbedingungen und Lebensstile auf, die von den neuen Unter- und Oberschichten stark beeinflußt sind, und kann so als Symptom und Symbol der modernen Gesellschaft als Ganzes aufgefaßt werden.

Die Manager als Halbgötter

Überall in der Gesellschaft nimmt mit der Ausdehnung und Zentralisierung der Verwaltungen die Zahl der leitenden Angestellten, der Manager, zu, und diese Manager spielen innerhalb der gesellschaftlichen Gesamtstruktur eine immer größere Rolle.

Diese neuen Männer an der Spitze sind aus einem hundertjährigen Verschiebungsprozeß der oberen Schichten hervorgegangen. Ihr Tätigkeitsfeld liegt im Bereich der neuen Bürokratien, als deren Auslese sie ihre Stellungen erlangen und die ihr ganzes Wesen formen. Ihre Rolle innerhalb dieser Bürokratien und deren Bedeutung für die Gesamtgesellschaft bestimmen den Wirkungsbereich und -grad ihrer Tätigkeit, die man mit der Tätigkeit von Demiurgen vergleichen kann.

Diesen bürokratischen Lebensformen läßt sich kaum ausweichen. Sie durchdringen alles. Leitende Männer alten Schlages müssen sich daher entweder in ihrem Wesen und in ihrer Arbeit dem Managertum anpassen oder sich mit einer zweitrangigen Stellung begnügen.

In ihrem gemeinsamen Bemühen, alle übrigen Bürger ihrer Macht und ihrem Einfluß unterzuordnen, haben sich die Manager der Staatsverwaltung und der Wirtschaft in Ausschüssen und Interessengruppen zusammengefunden; sie sind durch politische Parteien und Wirtschaftsverbände miteinander verbunden. In bestimmten Phasen des Konjunkturablaufs und der gewerkschaftlichen Entwicklung vereinigen sich mit ihnen, jedoch nur langsam und zögernd, auch die Führer der Arbeiterschaft, deren Verhalten oft Rätsel aufgibt.

Der wachsende Einfluß eines gottähnlichen Managertums bedeutet mehr, als nur die "Erfassung" und Reglementierung des Berufs- und Privatlebens immer größerer Teile der Bevölkerung durch die Bürokratien der Wirtschaft, des Staates und der Gewerkschaften. Er bedeutet, daß die Spitzen der Gesellschaft in staatlichen und privaten Hierarchien auf eine beunruhigende Weise miteinander verzahnt sind, und daß die übrige Bevölkerung immer mehr bürokratischer Verwaltung unterworfen und zum Spielball von Machenschaften wird.

Die Vereinigten Staaten sind noch keineswegs völlig bürokratisiert. Noch beschränkt sich die Herrschaft der Bürokratie auf Teilgebiete, obwohl der einzelne Bürger meist mehreren bürokratischen Apparaten gleichzeitig ausgeliefert ist. Im ganzen gesehen werden jedoch, vor allem in Kriegszeiten, überall die lockeren Bande der liberalen durch die straffen Zügel einer fast korporativ zu nennenden Gesellschaft ersetzt.

Die Bürokratien

Als Bezeichnung für die kostspielige Umständlichkeit, die Pedanterie, den Leerlauf und den Schlendrian des Staatsapparats ist das Wort "Bürokratie" ein Überbleibsel aus der heroischen Zeit des Kapitalismus, als das mittelständische Unternehmertum gegen die Vorrechte der Handelsgesellschaften und der dynastischen Gewalten rebellierte. Diese Zeit ist längst vergangen, das Wort ist jedoch geblieben und hat heute die verschiedensten Inhalte.

In seiner gegenwärtigen Bedeutung ist es aus dreierlei Gründen ungenau und irreführend:

Erstens, weil ein sich über die "Bürokratie" beschwerender Direktor eines großen Unternehmens damit natürlich immer den staatlichen Apparat meint und den auch nur, soweit er den Interessen seiner eigenen privaten Geschäftsbürokratie abträglich zu sein scheint.

Zweitens, weil gerade die Verschwendung, der Leerlauf und der Schlendrian, die man üblicherweise mit dem Begriff "Bürokratie" verbindet, in Wirklichkeit meist auf einen Mangel an Bürokratie, auf ungenaue und unvollständige bürokratische Organisationsmethoden zurückzuführen sind. Die Schlamperei und bestimmt die Korruption, die bei der amerikanischen Armeeverwaltung anzutreffen sind, rühren eher von der Beharrlichkeit her, mit der das Verwaltungspersonal an alten Unternehmerstandpunkten festhält, als von den bürokratischen Methoden an sich. Der Begriff "Bürokratie" bedeutet eigentlich eine Hierarchie von Ämtern und Büros, von denen jedes einen ganz bestimmten Tätigkeitsbereich und für diesen Tätigkeitsbereich wiederum einen Stab bewährter Fachleute hat. So verstanden stellt die Bürokratie die leistungsfähigste aller bekannten Organisationsformen dar.

Drittens sind die staatlichen Bürokratien zum großen Teil nur die Folgen der bürokratischen Entwicklung in der privaten Wirtschaft, die, durch Zusammenballung von Vermögenswerten und Betriebsmitteln, zum Schrittmacher der allgemeinen Bürokratisierung wurde. In allen Gesellschaftsbereichen erzwingt allein der Umfang der modernen Großbetriebe, wo die technischen wie die kaufmännischen Entscheidungen zugleich getroffen und durchgeführt werden, eine zentrale Organisation nach strengen Regeln und eine rationelle Unterteilung. Das gilt ganz besonders für die öffentliche Verwaltung. In der Wirtschaft "erfaßt" der sich ausdehnende Produktionsbetrieb auch verwaltungsmäßig immer mehr Menschen. Eine immer kleinere Zahl von Betrieben beschäftigt eine immer größere Zahl von Arbeitern. Schon ehe der Konzentrationsprozeß des zweiten Weltkrieges einsetzte, beschäftigten ein Prozent der Werke der Vereinigten Staaten mehr als die Hälfte der gesamten Arbeiterschaft. Diese großen Werke sind verwaltungsmäßig in Zentralbüros zusammengefaßt oder bilden Bestandteile eines Großunternehmens. Weniger als 6000 solcher Großunternehmen beherrschen Betriebe, die etwa die Hälfte der gesamten Arbeiterschaft beschäftigten. Ihr Produktionswert liegt 760%, ihre Produktion je Arbeiter 19,5% über den Vergleichszahlen der unabhängigen Betriebe. Bei den Konzernen wie bei den selbständigen Einzelbetrieben ist zu beobachten, daß sie immer dichter zusammenrücken und sich auf die verschiedenste Art und Weise verschmelzen.

Zur Zeit der großen Wirtschaftskrise, Anfang der dreißiger Jahre, war etwa die Hälfte des gesamten Industrievermögens der Vereinigten Staaten im Besitz der zweihundert größten Unternehmen. Diese Großunternehmen sind durch Wirtschaftsverbände und Aufsichtsräte eng miteinander verbunden. Wichtige Entscheidungen werden durch mannigfach verflochtene Direktionsgremien aufeinander abgestimmt. Mitte der dreißiger Jahre nahmen rund vierhundert Männer mehr als ein Drittel der 3544 wichtigsten Posten der 250 größten Unternehmen ein. Den Gesellschaften übergeordnete Wirtschaftsverbände werden, nach den Worten Robert Bradys, zu "Kennzeichen der modernen Monopole"; sie bringen den konkurrierenden Unternehmen wirtschaftliche Stabilität und Rationalisierung, sie dienen all den Halbgöttern ähnlichen Managern des privaten Reichtums als politisches Sprachrohr und vertreten deren Interessen gegenüber Regierung und Parlament.

Der Rhythmus Krise–Krieg–Konjunktur fördert das Wachstum der Bürokratie in der Wirtschaft. Während der Wirtschaftskrisen geraten Einzelunternehmen in die eng verflochtene Welt der Konzerne, die die Beziehungen zwischen den Großunternehmen und der Regierung regeln. Je größer und bürokratischer die Wirtschaft wird, desto mehr bemüht sich die Bundesregierung, diese Entwicklung unter Kontrolle zu halten. Zu diesem Zweck erweitert auch sie dauernd ihren Apparat. Die Wirtschaft antwortet darauf mit noch rationellerer Organisation. Die Wirtschaftsbürokratien sind bemüht, die Kontrollorgane der Regierung zu zersetzen, eigene Leute in die Ausschüsse und Ämter des Staates zu schieben, der Regierung Fachleute durch bessere Angebote wegzulocken und ausgeklügelte Methoden zu entwickeln, um ihre Geschäftsgeheimnisse zu verbergen. Am Verhandlungstisch sitzen die Bürokratien von Wirtschaft und Staat zwar einander gegenüber. Aber unter dem Tisch "füßeln" sie heimlich miteinander, und erstaunlich viele geheime Verbindungen laufen da kreuz und quer von einer Seite zur anderen.

Der staatliche Verwaltungsapparat Amerikas ist vergrößert worden. Man hat ihn straffer zentralisiert und ihn in personeller und sachlicher Hinsicht leistungsfähiger gemacht. Die Präsidenten, Gouverneure, Bürgermeister und Stadtdirektoren halten alle Fäden in ihren Händen; sie können nach freiem Ermessen Stellen besetzen; sie können überall eingreifen. Diese Funktionäre sind heute nicht bloß Politiker, die hauptsächlich mit den gesetzgebenden Körperschaften zu tun haben, sondern Generaldirektoren und oberste Chefs von Verwaltungshierarchien, und sie befassen sich im wesentlichen mit der Erteilung von Weisungen an ihre Untergebenen. Die moderne Staatsverwaltung ist dynamisch geworden; sie erweitert ihre Aufgaben und ihr Personal ständig auf Kosten der gesetzgebenden Gewalt und der Rechtsprechung. Im Jahre 1929 waren 18% aller staatlichen Zivilangestellten in der Bundesverwaltung tätig; im Jahre 1947, nach einem Höchststand während des Krieges, betrug ihr Anteil 37%.

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