Auszüge aus Charles Wright Mills's
"Person und Gesellschaft"

Die Psychologie sozialer Institutionen

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Vorwort

I

Die Erschütterung durch die Weltereignisse hat die Sozialwissenschaften schwerer getroffen, als manche von ihnen es selbst wahrhaben wollen. In den meisten Gebieten der Erde wurden jedermann, der sehen wollte, geschichtliche Veränderungen deutlich; wenn sie von Journalisten mehr beachtet wurden als von Sozialwissenschaftlern, dann zum Nachteil der Sozialwissenschaften. Während der letzten 50 Jahre fanden zwei Weltkriege und in Europa verschiedene politische Umwälzungen statt. Die Sozialstrukturen Rußlands und Osteuropas wurden von Grund auf revolutioniert; große Wandlungsvorgänge erschüttern immer noch Asien, Afrika und Südamerika. Daß die Bevölkerung der USA den erregenden Geist einer Revolution nicht kennenlernte, mag darauf zurückzuführen sein, daß hier ohne Unterbrechung Wahlen innerhalb eines über 150 Jahre alten politischen Systems stattgefunden haben. Mittlerweile wurden die USA zum Gläubiger für die halbe Welt und zum Beschützer zu Wasser und zu Land für alle ihre Schuldner. Es wäre demzufolge provinzlerisch von den Amerikanern, wenn sie nicht über die verschiedenen, in allen modernen Sozialstrukturen latent vorhandenen Möglichkeiten nachdächten. Durch den Krieg hat sich unser Horizont geweitet, und jetzt liegt die ganze Welt im Spannungsfeld von UdSSR und USA offen vor uns. Angesichts solcher Weltereignisse, wie wir sie kennengelernt haben, kann die Unsicherheit über angemessene Betrachtungsweise und Handwerkszeug des Sozialwissenschaftlers nicht überraschen.

Der zweite Weltkrieg und seine Nachwirkungen zwangen Denker in den USA zu einer umfassenderen Sicht der verschiedenartigen Lebensbedingungen der Menschheit. Wohl oder übel erfolgte diese Besinnung im Schlepptau von Heer und Marine. Mitglieder akademischer Institutionen, welche bis dahin Europa oder Asien niemals im Zusammenhang mit ihren jeweiligen soziologischen Studien betrachtet hatten, mußten jetzt Unterrichtskurse über die Völker und die Lebensbedingungen dieser Länder abhalten. Den Sozialwissenschaftlern wurden Fragen gestellt, die sie nicht beantworten konnten, und mancher von ihnen stellte sich, wie jeder nachdenkliche Mensch, auch selbst solche Fragen.

Zusammen mit den geschichtlichen Umwandlungen ganzer Gesellschaften ist etwas, was als soziale Unsicherheit und tiefsitzende Malaise charakterisiert werden muß, in das öffentliche Leben der westlichen Demokratien eingedrungen. Man erlebt diese Malaise, was auch immer die sozialgeschichtlichen Grundlagen sein mögen, erfahrungsgemäß sicherlich auf der psychologischen Ebene. So glauben z.B. viele, daß die theoretischen Krisen des Sozialismus mehr auf psychologischen Fehlurteilen als auf einer falschen Beurteilung wirtschaftlicher Prozesse beruhen. Die Radikalen und die Liberalen im heutigen Amerika interessieren sich häufig mehr für die psychische als für die materielle Ausbeutung, mehr für die Probleme der "soap opera" als für die der Kinderarbeit.

Teilweise verursacht durch den Aufstieg totalitärer Gesellschaften sind wir deutlich Muster des äußeren Zwangs gewahr geworden, welche in einem Spannungsverhältnis zu den Impulsen des Menschen als eines willensbegabten Lebewesens stehen. Verschiedene soziologische Schulen sehen den Menschen als einen Mechanismus, der sich an alle möglichen übermächtigen "Umgebungen" und "Bedingungen" (Umweltverhältnisse) anpaßt oder anzupassen versucht. Positivistische Psychologen dagegen neigen in zunehmendem Maße dazu, den einzelnen Menschen als in einem weiteren sozialen und geschichtlichen Zusammenhang Handelnden aus dem Blickfeld zu verlieren. Die Schulen der Psychologie, vor allem Gestaltpsychologie und Psychoanalyse, die mit Nachdruck den Menschen als verstehbar Handelnden in den Brennpunkt zu rücken versuchen, sind nicht primär an soziologischen Problemen interessiert. Ihre Aussagen sind jedoch für den Sozialwissenschaftler, der an die menschlichen Freiheiten denkt, während er sich mit sozialen Zwängen beschäftigt, sehr anregend.

Fragen nach der Art der menschlichen Natur werden dann am dringlichsten, wenn das normale Alltagsleben einer Gesellschaft gestört ist, wenn die Menschen so sehr ihrer bisherigen sozialen Rolle entfremdet werden, daß sie sich neuen Einsichten öffnen müssen. Solange die sozialen Belange reibungslos verlaufen, scheint sich die "menschliche Natur" der traditionellen Routine anzupassen. Jeder weiß, was er vom anderen erwarten kann; das Vokabular für verschiedene Gefühle und die stereotypisierten Motive werden für selbstverständlich gehalten und scheinen allen gemeinsam zu sein. Wenn aber die Gesellschaft in tiefgreifenden Veränderungen begriffen ist und die Menschen zu Angelpunkten des geschichtlichen Wandels werden, zweifelt jeder an den gängigen Interpretationen des Verhaltens.

Einige psychologische Richtungen des 20. Jahrhunderts entstanden im konfliktgeplagten Mitteleuropa und konzentrierten sich auf Untersuchungen der Gestalt oder des Unbewußten, auf Körperbautypen oder auf projektive Tests von Spezialisten wie Rorschach. Wichtig ist auch das philosophische Erbe von Kierkegaard und Nietzsche, das im psychiatrischen Werk von Karl Jaspers und Ludwig Binswanger weiterlebt. Nietzsche – in einem gewissen Sinne ein Vorläufer Freuds – fühlte sich selbst dem psychologischen Essayismus französischer Denker wie Montaigne und La Bruyère, La Rochefoucauld und Pascal, die die Menschen und ihre Lebensweisen ebenfalls in Perioden gleich tiefgreifender Veränderungen beobachtet hatten, geistig verwandt. Wir dürfen auch nicht vergessen, daß die Sozialpsychologie eines Mannes wie Le Bon das revolutionäre Handeln des Menschen in der Masse zum Thema hat.

II

In unserer gegenwärtigen geschichtlichen Situation hat der "Zwitter" Sozialpsychologie mehr und mehr bei denen Anklang gefunden, die darauf brennen zu verstehen, in welcher Weise soziale Strukturen die Persönlichkeit des Individuums prägen.

Der Hintergrund des Interesses an der Sozialpsychologie ist der Wunsch nach einer Antwort auf scheinbar einfache, jedoch gewichtige Fragen wie:

Viele der neueren Anstrengungen und Fragestellungen der Sozialwissenschaften scheinen uns fruchtbar zu werden in einer Psychologie, welche sich hauptsächlich mit dem Ablauf der Geschichte und den verschiedenen Typen von Sozialstrukturen beschäftigt.

Die Herausforderung durch die Sozialpsychologie und ihre große Anziehungskraft auf die modernen Gelehrten liegt darin, daß sie in einer Zeit der intellektuellen Spezialisierung und der sozialen und politischen Desintegration eine Sicht des Menschen als eines in geschichtlichen Krisen Handelnden und als einer Einheit verspricht. Diese Versprechungen und Herausforderungen werden um so dringlicher, als das soziale Leben sich in eine Reihe von hochspezialisierten Tätigkeiten auflöst und so die verschiedenen Autoritatsträger dazu veranlassen könnte, die Führung der Massen in Krieg und Frieden an sich zu reißen. In solch einem Zusammenhang ist es eine der Hauptaufgaben des Sozialpsychologen, immer wieder das fachliche Auseinanderklaffen zu überbrücken, das unglücklicherweise die Versuche von Psychologie und Soziologie, sich einander zu nähern, behindert.

Unser Hauptanliegen ist die Erforschung der menschlichen Persönlichkeit im Zusammenhang mit den Typen der jeweiligen geschichtlich bedingten Sozialstruktur. Wir wollen Verhalten und Persönlichkeit durch ein Verständnis der Motivationen der Menschen, die verschiedene Positionen innerhalb verschiedener Sozialstrukturen innehaben, analysieren. Ferner gilt es zu lernen, inwieweit Glaubensvorstellungen und Symbole zu den Motivationen beitragen, die für das Ausfüllen von vorgegebenen Rollen durch Personen innerhalb institutioneller Strukturen benötigt werden.

III

Wie wir uns auch dem Gebiet der Sozialpsychologie nähern, wir können der Vorstellung nicht entrinnen, daß hier alle bedeutenden zeitgenössischen Arbeiten auf der einen oder der anderen der zwei Schulen fußen: auf der von Freud auf der Seite der Persönlichkeitsstruktur, der von Marx (einschließlich des frühen Marx der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts) auf der Seite der Sozialstruktur. Beide, "Freud" und "Marx" brauchen wir ja als Adjektive, welche sich eher auf die großen Perspektiven und die Substanz des Werkes beziehen als lediglich auf die Bücher von Freud und Marx. Sollte der Leser lieber die Namen George H. Mead und Max Weber verwenden, haben wir dagegen nichts einzuwenden, obwohl sie sich natürlich von Freud und Marx in vielen wichtigen Punkten unterscheiden.

Der Grund, warum wir uns immer wieder auf Sigmund Freud und George H. Mead berufen, ist, daß sie uns wirksamer als andere den Menschen als jemand, der als ganzer handelt, und nicht als eine Ansammlung von Charakterzügen oder ein Bündel von Reflexen, dargestellt haben. Es war Freuds Verdienst, die Frage nach der Beschaffenheit der menschlichen Natur in einen größeren Bezugsrahmen zu stellen. Das ist auch der Grund, warum wir uns – aus soziologischer Sicht – immer wieder auf Leute wie Marx und Max Weber berufen, welche nichts Geringeres wollten, als eine Gesellschaft als ein Ganzes innerhalb einer historischen Epoche zu begreifen.

Beide, der Struktursoziologe wie der Tiefenpsychologe, versprechen uns Hilfe für die Einordnung des modernen Menschen – und damit von uns selbst als geschichtlich handelnden Wesen. Dieses Versprechen leitet die modernen Tiefenpsychologen, deren gegenwärtige theoretische Aufgabe durch die Zugänglichkeit dieser beiden Perspektiven – der Persönlichkeit und der Sozialstruktur – sowie durch ihr persönliches Anliegen bestimmt ist, den Menschen bis ins Innerste zu erforschen, aber dennoch ihn als geschichtlich handelndes Wesen zu erfassen. Wenn es ihre theoretische Aufgabe ist, diese zwei Perspektiven zu erweitern und aufeinander abzustimmen, muß die theoretische Verbindlichkeit neuer Werke auf diesem Gebiet entsprechend beurteilt werden: gründliche Forschung muß als ein Beitrag zu einer dieser beiden Konzeptionen angesehen werden und zunehmend dazu führen, sie zu einem Arbeitsmodell von Mensch und Gesellschaft zu verbinden.

IV

Die Erklärungen, die in der kurzen Geschichte unserer Disziplin auf psychologischer Seite Bedeutung erlangten, zerfallen in zwei Haupttypen: einerseits den Versuch, die sozialen Regelmäßigkeiten auf allgemeine Konstanten zurückzuführen, irgendwie wurzelnd in der Vorstellung vom Menschen als Mensch, und andererseits menschliches Verhalten und menschliche Natur mit den sozialen Rollen, die der Mensch ausfüllt, zu verbinden.

Die Vorstellung von einer gewissen Konstante, die hinter dem Verhalten und in des Menschen universeller menschlicher Natur liegt, ist der häufigste und hartnäckigste Irrtum der Psychologie gewesen, Freud eingeschlossen. Es ist, als hätte diese Frage nach irgendeinem konstanten Bestandteil als Kompensation für die ungeheuer große Relativität der menschlichen Natur, wie sie Anthropologie und Weltgeschichte so evident machen, gedient. Sie spukt durch die älteren rationalistischen Psychologien des 18. und 19. Jahrhunderts und erreicht ihren Höhepunkt in der Instinktschule. In Amerika hat unsere junge Disziplin die Hälfte der Zeit damit verbracht, den Instinkt-Begriff in all seinen verschiedenen Verkleidungsformen zu diskutieren.

Gegenwärtig jedoch verliert die Vorstellung von unveränderlichen biologischen Elementen als Erklärungsgrund geschichtlich-sozialen Handelns an Boden und stellt nicht länger ein Problem dar, das all unsere Kräfte in Anspruch nimmt. Wir haben dieses Problem nicht gelöst, wir sind ihm entwachsen. Untersucht man den Menschen nur als biologisches Lebewesen, d.h. also entblößt aller technischen Hilfsmittel, kann man allenfalls seine Begrenzungen kennenlernen. Verfügen wir über Phantasie, so lernen wir auch, daß seine "Dispositionen" offen und entwicklungsfähig sind. Wir finden, daß seine "menschliche Natur" ihm nicht ein für allemal gegeben ist, sondern sich aus einer fortdauernden Folge von Aufgaben ergibt. Die Klarstellung der Realität der sozialen, formbaren Natur des Menschen ist eine besondere Leistung der amerikanischen Sozialpsychologie.

Die Funktion des amerikanischen Behaviorismus in der Geschichte unserer Disziplin kann man darin sehen, daß er den Weg zu den Problemen der menschlichen Natur erschloß, indem er Einblick in die große Plastizität des Menschen gewährte. Er machte uns zu Erklärungen fähig, die keine tautologischen Sackgassen sind. Allerdings liegt das Bild des Behavioristen vom Menschen, der sich allen möglichen überwältigenden Lebensumständen "anpaßt", auf der gleichen Linie wie heute die moderne Neigung derer, die, ohne tiefere Einsicht zu haben, manipulieren möchten. Der Behaviorismus, wie er von John Watson und in neuerer Zeit von der Eysenck-Schule vorgetragen wurde, überwand zwar die Instinkte, doch verleitete er die Sozialpsychologie in der Folge oftmals zu einer oberflächlichen Behandlung ihrer Probleme; denn als ein Denk-Modell verminderte der Behaviorismus die Möglichkeit, Motivationen zu verstehen. Sein fruchtbarstes Ergebnis war das Werk von George H. Mead, besonders dessen kühnes Bemühen, gerade das persönliche Bewußtsein im sozialen Prozeß zu verankern.

Meads Begriff vom "generalisierten Anderen" und Freuds "über-Ich" – ihr engster Berührungspunkt – ermöglichen es uns, das Private und das Öffentliche zu verbinden und das innerste Geschehen im Individuum mit den ausgedehntesten sozialen Phänomenen zu verknüpfen. Von einem logischen, aber ungeschichtlichen Blickpunkt aus kann Freuds Werk als Klarlegung des sozialen und individualgeschichtlichen Standorts des "generalisierten Anderen" erscheinen. Denn er hat gezeigt, wie bedeutsam die Familie im Frühstadium der Entwicklung für die soziale Verankerung des Gewissens ist, und hat somit die grundlegende Verschränkung von Liebe und Autorität aufgedeckt.

Verschiedene philosophische Annahmen, die sich in Freuds Werk eingeschlichen hatten, wurden unter geringem oder überhaupt keinem Schaden für das, was als brauchbares Erbe übrig bleibt, entfernt. Von größerer Bedeutung ist es, daß Freuds Vorstellungen durch die Arbeiten eines Bronislaw Malinowski, Abram Kardiner, Karen Horney und Erich Fromm einen sozialen Bezug erhielten. Sie faßten die Instinkte formal als "Energie" auf, um besser verstehen zu können, wie verschiedene Verhaltensziele unter sozialen Einflüssen fixiert und verändert werden. Eben deshalb glauben wir, daß Kardiners und Fromms Arbeiten ebenso gut wie die von Harry Stack Sullivan über den "signifikanten und den autoritativen Anderen" im vielversprechendsten Fahrwasser innerhalb der heutigen Sozialpsychologie liegen. In der Tat sind es gerade die Werke über das "Über-Ich" oder den "generalisierten Anderen", die uns jetzt an einem fortgeschritteneren Punkt unserer Studien dazu befähigen, Eigenschaften tief im Innern des Individuums mit Fakten zu verbinden, die in einer weitgefaßten soziologischen Perspektive liegen.

G. H. Mead hatte keine angemessene Vorstellung von den Emotionen und Motivationen, keine dynamische Theorie des menschlichen Gefühlslebens. Auf der anderen Seite neigen Freuds Ansichten über die menschliche Persönlichkeit sicher dazu, sozial inflexibel zu sein. Weder Freud noch Mead bieten eine Theorie der Sozialstruktur, die einen inhärenten unmittelbaren Bezug zu psychologischen Problemen hat.

Nichtsdestoweniger wurden auf dem Gebiet der Tiefenpsychologie und dem der Mechanismen der Persönlichkeitsbildung und des Persönlichkeitswandels außerordentliche Fortschritte gemacht. Freud und Mead liefern, wenn sie angemessen integriert und systematisiert werden, ein gut gegliedertes zusammenhängendes Modell der Persönlichkeitsstruktur und damit eine Reihe der fruchtbarsten Ideen, die in den modernen Sozialwissenschaften verfügbar sind. Es ist unser Bestreben, besonders in Teil I und II dieses Buches, ein Modell der Persönlichkeitsstruktur zu konstruieren, das uns befähigt, einige dieser Ideen zu systematisieren und sie für einen in soziologischer Hinsicht relevanteren Gebrauch verfügbar zu machen.

V

Auf der anderen Seite ist auf dem Gebiet der strukturellen, vergleichenden und historischen Soziologie in letzter Zeit trotz bemerkenswerter Ausnahmen nicht viel zustande gebracht worden. Die Tradition von Marx, Sombart und Weber ebenso wie auch die Karl Mannheims sind nicht in dem Maße fortgeführt worden, wie es wünschenswert wäre. Der Anstoß hingegen, große soziale Einheiten in ihren geschichtlichen Zeitabständen miteinander zu vergleichen, ist eines der Vermächtnisse der Gründer der modernen Soziologie – Auguste Comtes und Herbert Spencers – nicht weniger als von Marx und Weber.

Abgesehen von der Frage, wie viele und welche Teile ihrer Werke von nur historischem Interesse sind, sollte der Impuls und die Erweiterung des Blickfeldes durch solche Forscher nicht in der sonst legitimen und notwendigen Kritik ihrer Werke verloren gehen. In unserem Bestreben, das neuerwachte Interesse an der vergleichenden Untersuchung von Gesellschaften zu schüren, wollen wir die herausragenden Werke von Theoretikern wie Arnold Toynbee, A. L. Kroeber und P. A. Sorokin betrachten.

Wenn es als ein Mangel vieler ausgezeichneter Europäer erscheint, daß sie an gewissen Stellen ihrer Werke sich absolutistisch gebärden, so ist es ein bemerkenswerter Beitrag der amerikanischen Pragmatisten, das soziologische Denken von solchen Starrheiten zu säubern und unsere Aufmerksamkeit auf die Erforschung der Realität zu lenken. Wie Karl Mannheim geschrieben hat

... gab es kaum je zwei so verschiedene Betrachtungsweisen, die in der Lage sind, ihre Mängel gegenseitig auszugleichen, wie die deutsche und die amerikanische Soziologie.

Wir halten es für eine außerordentliche Gefahr für die weitere Entwicklung der Sozialpsychologie, daß in vielen sonst guten Arbeiten auf diesem Gebiet inadäquate Begriffsbestimmungen von "Gesellschaft" benutzt werden. Anstatt Sozialstruktur pflegen manche Forscher den Begriff "Kultur" zu gebrauchen, der eines der schillerndsten Wörter in der Sozialwissenschaft ist, obgleich er vielleicht gerade deshalb in den Händen eines Fachmannes außerordentlich nützlich sein kann. Der Begriff Kultur bezieht sich eher auf das soziale Milieu als auf eine adäquate Vorstellung von Sozialstruktur. Dennoch haben Kulturanthropologen ungeachtet ihrer Erkenntnis dieser Komplexität und der methodologischen Schwierigkeiten sich bemüht, die gegenseitige Abhängigkeit primitiver Kultureinheiten zu erfassen.

Um eine derartige Arbeit brauchbarer zu machen, bedarf es einer Konzeption von Sozialstruktur in Form einer Gliederung der verschiedenen institutionellen Ordnungen und Funktionen; es gilt, jedes Segment einer Sozialstruktur psychologisch zu untersuchen, so wie Freud die Verwandtschaftsinstitutionen der höheren Schichten einiger westlicher Gesellschaften untersucht hat. Wir benötigen eine Untersuchung des Menschen in seinem Rollenverhalten in politischen, ökonomischen und religiösen Institutionen in verschiedenen Gesellschaften; Theorien über die verschiedene Verankerung der Persönlichkeitstypen in jeder dieser institutionellen Ordnungen auf der einen Seite, auf der andern über die verschiedenartigen Kombinationen dieser institutionellen Ordnungen selbst, wie sie sich zu historischen Typen von Sozialstrukturen zusammenfügen. Wir werden in diesem Buch ein allgemeines Modell von Sozialstruktur entwickeln, das uns behilflich sein wird, diese Vorhaben auszuführen.

VI

Im wissenschaftlichen Bereich wurde die Sozialpsychologie zum zentralen Berührungspunkt für die entscheidenden geistigen Strömungen unserer Zeit; im öffentlichen Bereich ist dieses Feld entscheidend, weil jetzt, wenn tiefgreifende Krisen die Menschheit erschüttern, ein vorwiegendes Interesse an den weiteren Problemen des Menschen und der Gesellschaft ein Verständnis des Menschen als eines geschichtlichen Wesens erfordert.

Die strukturellen und geschichtlichen Merkmale der modernen Gesellschaft müssen mit den individuellen Merkmalen verknüpft werden, und das ist es, worum es in der Sozialpsychologie überhaupt geht. Wie wir meinen, kann dies aber nicht allein auf dem Wege mikroskopischer Beobachtungen erreicht werden. Wenn es je ein Gebiet gab, das vor allen anderen einer schöpferischen Theorie bedarf, so ist dieses Gebiet die amerikanische Sozialpsychologie heute. Nur durch eine solche Arbeit können wir eher als durch das Forschen in nicht verwandten Spezialgebieten unmittelbar unsere geistigen Möglichkeiten ausnutzen und eine Zersplitterung unseres Menschenbildes vermeiden.
Unser Buch soll Zugänge zur zentralen Streitfrage der Sozialpsychologie anbieten. Wir lassen vorläufig die Diskussion von zahlreichen Nebenproblemen beiseite und versuchen nicht, eine enzyklopädische Information zu liefern, die ein Band nicht enthalten kann, nicht einmal eine einbändige Enzyklopädie. Wir möchten lehren und uns nicht in ablehnenden oder zustimmenden Kommentaren über das, was andere geschrieben oder zu schreiben unterlassen haben, ergehen. Wir bieten keine Geschichte von Ideen und Begriffen und haben folglich unsere Seiten nicht überladen mit geschichtlichen Belegen zur theoretischen Literatur, denn die Fachleute kennen sie bereits und der Laie benötigt sie meist nicht. In aller Bescheidenheit hoffen wir, nicht zu verunklären, sondern einem in Entwicklung befindlichen Werk weiterzuhelfen.

Wir machen in unserer Arbeit keine formalen Unterschiede zwischen den verschiedenen Sozialwissenschaften oder ihren verschiedenen nationalen Ausprägungen. Wir haben immer wieder das Bedürfnis empfunden, die verschiedenen Probleme mit Hilfe aller Gesichtspunkte, die von einiger Gültigkeit zu sein schienen, durchzudenken, ohne auf deren Ursprung hinsichtlich der Disziplin oder der Nationalität zu achten. Dies bedeutet nicht, daß es unsere Absicht wäre, zu zeigen, wie die Begriffe der verschiedenen sozialen Disziplinen theoretisch zueinander in Beziehung gebracht werden können oder wie ihre Forschungsgebiete zu integrieren wären. Wir versuchen dagegen, über konkrete Probleme von Sozialstruktur und Persönlichkeit mit Hilfe einer Reihe von Perspektiven, die wir aus verschiedenen Sozialwissenschaften gewonnen haben, wirklich nachzudenken. Ein solches Denken ist notwendig, wenn wir uns den Fragen stellen wollen, mit denen wir konfrontiert werden.

Der Umfang der Daten, mit welchen wir diese Fragen zu beantworten versuchen, reicht daher über die westliche Gesellschaft sowie die entlegenen primitiven Gruppierungen hinaus. Die Beispiele umfassen eine Zeitspanne vom alten China bis zum modernen Rußland, erstrecken sich geographisch über Japan und Lateinamerika, die USA und einige europäische Länder. Unser Hauptziel ist es, ein operationales Modell zu formulieren, innerhalb dessen wir die Daten der Weltgeschichte und die Perspektiven der Sozialwissenschaften und psychologischen Richtungen benutzen können, uns die Typen menschlicher Daseinsweise verständlich zu machen, die sich in den verschiedenen Arten von Sozialstruktur herausgebildet haben.

Unser Buch ist in vier Teile gegliedert. Der erste enthält einen allgemeinen Grundriß unserer Betrachtungsweise und legt vorbereitend die Hauptkomponenten unseres operationalen Modells von Persönlichkeit und Sozialstruktur dar.

Im zweiten Teil analysieren wir den Begriff der Persönlichkeitsstruktur, indem wir ihn in seine Elemente zerlegen und jedes von ihnen erörtern und aufzeigen, wie verschiedenartig eines mit dem andern verbunden ist. In diesem Zusammenhang widmen wir den Problemen der Motivation wie auch denen der Entwicklung der Persönlichkeitsstruktur als ganzes unsere besondere Aufmerksamkeit.

Im dritten Teil wenden wir uns der Sozialstruktur zu, betrachten zuerst die allgemeinen Mechanismen, durch welche Personen und Institutionen miteinander verbunden sind, und prüfen dann der Reihe nach die Ausdehnung der Institutionen im politischen, ökonomischen, militärischen, religiösen, familiären und erzieherischen Bereich einer Gesellschaft. Nach der Betrachtung der Beziehung dieser Institutionen zu den Systemen der sozialen Schichtung zeigen und erläutern wir verschiedene Möglichkeiten, wie Institutionen zu gängigen Sozialstrukturen integriert werden können.

Im vierten Teil befassen wir uns mit dem sozialgeschichtlichen Wandel, indem wir darlegen, wie unsere Vorstellung von Sozialstruktur uns dazu führt, ein Modell sozialen Wandels zu konstruieren, und wie innerhalb dieses Modells solche dynamischen Kräfte wie Führerschaft und die verschiedenen Formen des Kollektivverhaltens einschließlich derjenigen von Massen und Publikum, Bewegungen und Parteien eingeordnet werden können.

Die soziale Relativität des "generalisierten Anderen"

Da der "generalisierte Andere" zu jenen Anderen in Bezug steht, die für ein Individuum wichtig sind oder waren, kann jeder Bereich des menschlichen Lebens zu seinem Inhalt beitragen. Dem ist so, gleichgültig, ob die Bewertungen in einer Folge von interpersonellen Situationen oder in verschiedenen Sekundärsymbolen wie Film, Theater und Büchern dargestellt wurden. Der Inhalt des "generalisierten Anderen" ändert sich mit Verschiebungen in der Karriere einer Person und mit Wandlungen der Normen derjenigen Institutionen, in denen die Person lebt und handelt.

Wir können uns bestimmte Rollensequenzen vorstellen, die keinen "generalisierten Anderen" schaffen, und ganz abgesehen von solchen Konstruktionen gibt es historische Gesellschaften, in denen der "generalisierte Andere" so wenig ausgeprägt ist, daß seine Wirkungen außer acht gelassen werden können. Die Bedingungen, die für die Entwicklungsmöglichkeiten eines starken oder schwachen "generalisierten Anderen" ausschlaggebend sind, können in einer angemessenen soziologischen Weise verstanden werden:

I.       Die bedeutendste Bedingung, die die Entstehungschancen eines wirksamen "generalisierten Anderen" fördert, findet sich in der Kindheit und in der Jugendphase des Lebens. Um die beteiligten Mechanismen zu betrachten, müssen wir sowohl die Entwicklung der Person als auch den Reifeprozeß ihrer psychischen Struktur betrachten; denn das Kleinkind und das Kind sind in beiden Bereichen ihrer sich entwickelnden Persönlichkeitsstruktur recht hilflos.

Das Disziplinieren der kindlichen Impulse durch die Bewertungen "autoritativer Anderer" kann in Form von internalisierten Erwartungen geschehen, durch die das Kind seine eigenen Impulse kontrollieren lernt. Obwohl normalerweise die psychische Struktur sozial integriert ist, kann ihre Sozialisierung nicht alle verfügbaren Impulse erfassen, und dementsprechend sind einige vom Bewußtsein des Kindes ausgeschlossen. In diesem Fall braucht im Laufe der Zeit keine Spannung zwischen psychischer Struktur und Person zu entstehen. Aber wenn die Integration nicht gelingt und "autoritative Andere" fortfahren, die Verwirklichung von Impulsen zu verbieten, führt die Spannung zwischen der Person des Kindes und seiner psychischen Struktur im Laufe der Zeit zu der Erfahrung eines repressiven "generalisierten Anderen".

Dazu läßt sich sagen: in einer Gesellschaft, in der den Impulsen des Kindes weitgehend freies Spiel gewährt oder sogar erlaubt wird, das Verhalten anderer ihm gegenüber zu bestimmen, sind die Chancen für die Entwicklung eines "generalisierten Anderen" minimal, und die Wirkungen des "generalisierten Anderen", die sich überhaupt ablagern, sind ihrerseits minimal, oder um es in einer Weise auszudrücken, die über die Kindheit hinausführt: wenn das Verhältnis von "autoritativen Anderen" zu der Gesamtheit der "signifikanten Anderen" hoch ist, steigen die Chancen für die Entwicklung eines maximalen "generalisierten Anderen".

II.      Ein "generalisierter Anderer" entsteht nur unter großen Schwierigkeiten, wenn an die Person viele widersprüchliche Erwartungen gestellt werden, denn unter solchen Bedingungen wird eine gegebene Handlung von den verschiedenen "signifikanten" oder "autoritativen Anderen" ganz verschieden beurteilt werden. Wenn Erwartungen und Bewertungen auf diese Weise miteinander konfligieren, kann die Person zwischen Alternativen wählen – oder beide zurückweisen. Im letzteren Fall kann sie einen neuen "generalisierten Anderen" im Namen von neuen und größeren Gruppen – seien sie eingebildet oder real – projektieren, oder sie kann sich von der größeren Gesellschaft in kriminelles Verhalten zurückziehen oder im Fall von extremen Spannungen und Wertkonflikten in eine privatisierte Welt von gestörtem Verhalten, das wir als pathologisch bezeichnen.

III.    Andererseits beinhaltet der "generalisierte Andere" einen Grad von Individuation, der seinerseits eine Loslösung von Rollen fordert, eine Distanz zu den Erwartungen, die andere fordern, wenn wir diese Rollen ausfüllen. Eine solche Loslösung und Individuation entsteht, wenn im Laufe unseres Lebens oder gegenwärtig im Kreise unserer "signifikanten Anderen" konfligierende Erwartungen auftreten. Die Individuation des Selbst resultiert aus der Verschiedenartigkeit und der Reichweite der freiwilligen Handlungen, die wir unternehmen. Sie beinhaltet die Wirklichkeit individueller Entscheidung und der Verantwortlichkeit für persönliche Wahl.

Persönliche oder Gruppenverantwortlichkeit wird sozial existent, wenn das Individuum als Individuum oder als Gruppenmitglied zur Rechenschaft für seine Taten gezogen wird, kurz, wenn seine Handlungen ihm oder seiner Gruppe zugeschrieben werden. In einer Gesellschaft, in der die Rollen ziemlich sterotypisiert sind, kann diese Realität der Alternativen und Begriffe wie eine persönliche Verantwortlichkeit nicht bestehen. Nur wenn sie besteht, kann sich das Individuum in einem Versuch dazu anschicken, Konsistenz und Einheit des Selbstbildes auf der Basis von Selbsterwartungen zu sichern. Es muß einen Bereich freiwilliger Handlung geben, der normalerweise die Erkenntnis offener Alternativen oder konfligierender Erwartungen einschließt. Die Chancen, daß ein Individuum entsteht, das sich an einem "generalisierten Anderen" kontrolliert, sind um so kleiner, je mehr die Verschiedenheit freiwilliger Wahlmöglichkeiten und Entscheidungen abnimmt, mit denen eine Person konfrontiert wird.

In einer Gesellschaft, in der die Rollen, die bestimmte Personen ausfüllen, konsistent sind und wo wenig Auswahl bleibt, ist das Problem der Konsistenz des Selbst sozial gelöst. Denn dann unternimmt es keine Person, eine individuelle Integration des Selbst zu erreichen. Aber in einer Gesellschaft, in der inkonsistente Erwartungen an eine Person herantreten und somit Alternativen geboten werden, muß jedermann eine individuelle Konsistenz und Einheit des Selbst zu erreichen suchen. In diesem Prozeß individualisiert sich der Mensch, und diese Individuation beinhaltet den Aufbau eines "generalisierten Anderen" aus den konfligierenden Erwartungen der "signifikanten Anderen".

IV.    Eine Person kann sich mit einer anderen zusammentun, weil beide fühlen, daß sie zusammengehören. Diese Art der Beziehung kann man "gemeinschaftlich" nennen, aber sie können sich auch verbinden, weil sie meinen, daß ihre besonderen Interessen durch Zusammenarbeit gefördert werden – ihre individuellen Absichten werden jeweils durch den anderen gefördert, und jeder braucht den anderen. Diese Art von Beziehung kann man "gesellschaftlich" nennen. Nationen und Familien, religiöse Orden und Spielgruppen sind im allgemeinen gemeinschaftlich, Großunternehmen und Organisationen mit bestimmter Zielsetzung dagegen gesellschaftlich. Natürlich können Elemente des einen Typs in Erscheinungsformen des anderen vorhanden sein.

Wenn nun eine Gesellschaft vorherrschend aus gemeinschaftlichen Beziehungen besteht, so daß die interpersonellen Integrationen innerhalb des Lebens einer Person gemeinschaftlich sind, besteht eine geringere Chance, zu einem "generalisierten Anderen" zu kommen, als wenn der Entwicklungsverlauf zuerst gemeinschaftliche und zu einem späteren Zeitpunkt gesellschaftliche Integrationen enthält. Die Mechanismen, die bei dieser letzteren biographischen Abfolge am Werk sind, sind die folgenden:

Das Leben einer Person besteht zunächst aus "signifikanten Anderen", mit denen sie gemeinschaftlich integriert ist, ihre harmonischen Erwartungen stimmen mit ihren Rollen überein, und jede Person ist ihr eigenes Ziel und ihr eigenes Mittel. Das Zentrum des Selbst stimmt mit zentralen sozialen Erwartungen überein, aber in einem späteren Stadium ihres Lebens muß die Person ihr so aufgebautes Selbst mit gesellschaftlichen anderen integrieren, und in diesen gesellschaftlichen Integrationen muß sie diese anderen für ihre eigenen Zwecke benutzen – sicher unter erzwingbaren Regeln – und sie wiederum wird von anderen für deren Zwecke benutzt. Dementsprechend ist die Möglichkeit für Konflikte zwischen den Erwartungen anderer und den Zwecken des Selbst größer. Aus den Kalkulationen, die bei einer erfolgreichen Bewältigung dieser Konflikte angestellt werden, und aus den Unterschieden zwischen den gesellschaftlichen Integrationen und den voll integrierten gemeinschaftlichen Rollen kann ein "generalisierter Anderer" entstehen.

V.      Alle interpersonellen Bedingungen, die ihrerseits die Möglichkeiten der "generalisierten Anderen" heben oder senken, werden erleichtert oder behindert durch weitere Bedingungen der Sozialstruktur. Wenn z.B. der Grad des sozialen Wandels so gering ist, daß sich während ihres Lebens die Mitglieder einer Generation keines bedeutsamen Wandels bewußt werden, ändern sich die Lebensmuster der Personen nicht wesentlich. Daher werden keine konfligierenden Erwartungen erlebt, die sich aus sich ändernden Lebensabläufen ergeben. In solch stabilen Gesellschaften dauern gemeinschaftliche Beziehungen mit größerer Wahrscheinlichkeit fort.

Es ist ebenfalls wahr, daß, wenn alle Personen auf einem sehr ähnlichen ökonomischen, politischen und sozialen Niveau leben, das Individuum nicht leicht die drastische Deflation und Inflation des Selbstbildes erleben kann, wie sie bei einem raschen sozialen Auf- und Abstieg auftreten. Da alle Positionen ähnliche Achtung genießen, gibt es keinen Wettkampf um Statuspositionen. Auf der anderen Seite treten in Hinsicht auf unser Problem ähnliche persönliche Konsequenzen auf, wenn eine sehr starre Schichtung vorherrscht, denn wenn die Positionen ziemlich gleich sind (keine wesentliche Schichtung) oder durch Vererbung geschlossen und endogam sind (geschlossene Schichtung), ist das Leben aller Personen wahrscheinlich festgelegt und bekannt. In keinem Fall gibt es Wettkampf um Positionen oder Statusalternativen zwischen verschiedenen Lebensabläufen. Sobald die Person alt genug ist, zu denken, weiß sie, wie ihre Zukunft sein wird, und so ist es mit allen anderen. Daher sind die Erwartungen, die verschiedene andere von ihr haben, homogen und stimmen mit ihrem realisierten oder angestrebten Selbstbild überein.

Wo die Schichtung offen genug ist, Auf- und Abstieg zu ermöglichen, steigen die Entwicklungsmöglichkeiten für einen "generalisierten Anderen", denn dann gibt es Alternativen zwischen den konfligierenden Erwartungen verschiedener "signifikanter Anderer" entlang der verschiedenen Lebensabläufe, die dem einzelnen offenstehen und mit denen er bei der Wahl von Positionen, nach denen er strebt, konfrontiert wird. Es wird dann nötig, das Erfolgsstreben zu kontrollieren und beim Versagen zu üben, ein guter Verlierer zu sein.

Wenn die Gesamtgesellschaft so stabil ist und der soziale Wandel so langsam, daß die Mitglieder einer Generation ihn nicht bemerken, wenn es keine Schichten in der Gesellschaft gibt oder die Schichten absolut starr und durch die Geburt festgelegt sind – dann sind die Verhaltensnormen wahrscheinlich festgelegt und die anerkannten Tugenden spezialisiert. Dies ist der Fall in der indischen Hindugesellschaft, bei vererblichen Kasten und in einigen Perioden des feudalen Europa mit seinen gesetzlich privilegierten Statusgruppen, seinen christlichen Heiligen, seinen Fürsten und Edelleuten, seinen christlichen Bürgern und Bauern bis hinunter zu den ehrenwerten Prostituierten und christlichen Henkern. Hier gibt es daher wenig Möglichkeit für ein beliebiges Individuum, Aufstiegsstreben, Unannehmlichkeiten des Abstiegs oder die Unsicherheit, die beides mit sich bringt, ins Auge zu fassen. Das Bild der Aspiration stimmt mit dem erreichten Bild überein, und in der Tat ist man sich einer solchen Unterscheidung nur wenig bewußt. Auguste Comte im Frankreich des 19. Jahrhunderts bewunderte die indische Kastengesellschaft wegen ihrer ausgezeichneten Integration, ihres Zusammenhalts und ihrer bewundernswerten Stabilität.

Fassen wir zusammen: ein ausgeprägter "generalisierter Anderer" entsteht wahrscheinlich dann, wenn die Gruppenkontrollen eher kontinuierlich als sporadisch sind, und wenn sie sich über den gesamten Lebensweg und nicht nur über einige Segmente erstrecken. Dies ist höchstwahrscheinlich auch der Fall, wenn die Gruppenmitglieder im Alltagsleben dicht aufeinander leben und sich wie in einer kleinen Gemeinde gut kennen. Es ist wahrscheinlich auch der Fall, wenn die Zugehörigkeit zur Gruppe für das Mitglied Prestige bringt oder sonst erstrebenswert ist wie z.B. für den Ehemann, ein guter Familienvater, oder für den Geschäftsmann, kreditwürdig zu sein. Für eine Person ist es eine Frage der Bewährung, ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft zu sein. Sie wird z.B. nur nach Überprüfung ihrer Persönlichkeit und ihrer Vergangenheit zugelassen und ist bei mangelhafter Befolgung des Kodex mit Ausschluß bedroht. Darüber hinaus muß sie den Respekt der Gruppenmitglieder durch Befolgung des Kodex in allen ihren Rollen erwerben, d.h. der Kodex muß allumfassend sein. Dazu werden alle ihre in verschiedenen Rollen erworbenen Erfolge und Mißerfolge von den anderen Mitgliedern der Rolle des Mitgliedes in dieser Gruppe zugeschrieben werden, und diese Hauptrolle koordiniert ihre Motive und Ausführung von Rollen in anderen sozialen Bereichen. Die kollektiven Aspirationen dieser koordinierten Gruppe, die den Bezugsrahmen für den starken "generalisierten Anderen" des Mitgliedes bildet, unterwerfen den Rest der Welt ihren Maßstäben. Obwohl sie daher exklusiv ist, muß sie aktiv ermahnend oder mindestens exemplarisch sein und versuchen, ihre Jurisdiktion auszudehnen oder sich auf einen beispielhaften Perfektionismus zurückzuziehen.

Wir können daher über die typologischen Bedingungen des "generalisierten Anderen" spekulieren, aber wir verfügen nicht über die Art von breiter Feldarbeit oder klinischer Beobachtung, die für eine ins einzelne gehende Diskussion der Materie für jede beliebige Gesellschaft nötig wäre. Wir können natürlich in einem Versuch allgemeine Bedingungen und Mechanismen auf verschiedene Gesellschaften anwenden, um zu sehen, wie sie sich den typischen Bedingungen annähern.

Einige der Bedingungen für die Partikularisierung des "generalisierten Anderen" scheinen im alten chinesischen Bauerndorf vorhanden gewesen zu sein. Wir behaupten nicht, daß der chinesische Dorfbewohner keinen "generalisierten Anderen" gehabt habe, aber wir vermuten, daß die Entwicklungsmöglichkeiten über die erweiterte Verwandtschaftsgruppe hinaus durch die Rollen, die seine Gesellschaft für ihn vorsah, drastisch gekürzt waren und daß sein "generalisierter Anderer", wenn er einen entwickelt hatte, kein führender Persönlichkeitszug seines Wesens war.

Der Bauer des klassischen China war so rollengebunden, so eng an starr konventionalisierte Situationen geknüpft, daß die Frage nach dem Zentrum der Selbsterwartungen, die die Basis für ein individualisiertes Selbst bildeten, typischerweise nicht auftrat. So erlebte der Chinese niemals eine prophetische Erlöserreligion, die ihn zu persönlicher Reue oder persönlichen Schuldgefühlen hätte führen können. Er fühlte niemals die Notwendigkeit, die "Welt zu erlösen, weil die Zeit schlecht" war. Das Erwachen eines individualisierten "generalisierten Anderen" im Abendland war in sehr hohem Ausmaß das Ergebnis christlichen Bemühens.

Der chinesische Bauer erlebte natürlich berufliche, soziale und lokale Mobilität, aber er erlebte keine Prophezeiung der Erlösung, weder der Erlösung der individuellen Seele noch des leidenden Volkes. Deshalb erschütterte kein ethischer Kodex die magischen Praktiken und die Ahnenverehrung. Er war für immer seiner Großfamilie verbunden, wo immer und wie hoch auch immer er steigen mochte. Seine Erfolge und Mißerfolge, gleichgültig, in welchem kompetitiven Ausmaß sie erworben waren, wurden nie seiner Rechtschaffenheit, sondern der Ehre oder der Schande seines Familiennamens zugeschrieben. Die Vielheit der funktionalen Götter und die ritualistischen magischen Techniken, die professionell auf dem Markt gegen Bezahlung angeboten wurden, bildeten keinen zentralen und einheitlichen Angelpunkt für einen ethischen Kodex.
Wesentlich für unser Problem sind auch die Bedingungen, unter denen der "generalisierte Andere" von der Kindheitsphase des Bauern, seine ausgedehnte Verwandtschaftsgruppe bis zu seinem Tode unter seinen "signifikanten Anderen" vorherrschend blieben. Diese Kontinuität homogener Erwartungen durch sein ganzes Leben hindurch wurde durch den Ahnenkult noch verstärkt. Ausgefeilte Höflichkeit und die konventionelle Lüge waren sozial gesicherte und erzwungene Verhaltensmuster, sie verstärkten die Stabilität und die Harmonie der von ihnen geforderten Erwartungen. Sie hinderten die Menschen daran, einander zu beschämen, d.h. einem andern ein Selbstbild zu präsentieren, das mit dessen Selbstbild konfligieren könnte. Das Verhalten einer Person wurde also durch Vorsicht und durch Furcht bestimmt und nicht durch die verinnerlichten Selbsterwartungen, die wir als "generalisierten Anderen" bezeichnen.

Ein Mensch könnte einen anderen nur als "signifikanten Anderen" akzeptieren, wenn dieser andere ein Mitglied seiner Sippe oder örtlichen Eigengruppe war. Menschen außerhalb dieser Kreise wie z.B. ein kaiserlicher Steuereinnehmer mußten ihre Arbeit ohne den Vorteil der Steuermoral seitens der Bauern durchführen. Steuereinziehen war verbunden mit Überfällen und Prügeln.

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Die Theorie von Belohnungen und Persönlichkeitszügen

Der Hauptmechanismus, durch den Personen von Institutionen geformt werden, hängt mit der Art zusammen, in der Personentypen durch die Kombination der verschiedenen Rollen, aus denen sie sich zusammensetzen, "aufgebaut" sind und durch ihre kumulativen Reaktionen auf diese Rollen. Sowohl in Kapitel 4 als auch im vorliegenden Kapitel haben wir einige der relevanten Mechanismen erörtert, wie diese das Bild vom Selbst und vom "generalisierten Anderen" enthalten. In diesem Abschnitt wollen wir einen weiteren Weg aufzeigen, durch den individuelle Phänomene – spezifische Eigenschaften der Persönlichkeitsstruktur des Individuums – mit institutionellen Kontexten verbunden sein können.

Eigenschaften des Individuums klassifiziert man nützlicherweise mit Hilfe des Bereichs der Gelegenheiten, bei denen eine solche Eigenschaft auftritt, und mit Hilfe der Zone oder den Zonen der Persönlichkeitsstruktur, in welche die Eigenschaft integriert ist. Diese beiden Beobachtungsweisen können kombiniert werden. Wenn z.B. eine Eigenschaft organisch verankert ist, kann ihr Auftreten mit der Erscheinung des Individuums koinzidieren, und sie kann auf die eine oder andere Weise in alle Zonen der Persönlichkeitsstruktur integriert werden. So sind die Rollen, die einem Buckligen zugänglich sind, beschränkt, und sowohl die Art, in der er diese Rollen verbindet und auf sie reagiert, als auch das Selbstbild, das sich in ihnen ausdrückt, sind modifiziert. Diese Gegebenheiten für seine Rollen und sein Selbst können ihrerseits den Sozialisierungsprozeß gegebener Komponenten der psychischen Struktur beeinflussen, wodurch die organische Eigenschaft des Buckels mit Eigenschaften in allen Zonen seiner Persönlichkeitsstruktur integriert sein kann. Solche Eigenschaften können ein Muster anderer Eigenschaften in anderen Zonen der Persönlichkeit bilden und jegliche Eigenschaft, die Teil der vollständigen Persönlichkeit werden soll, begrenzen und formen.

Es gibt kein allgemeines Prinzip der Persönlichkeitsstruktur, nach dem eine Eigenschaft immer zur Auswahl anderer Eigenschaften führt. Der Grund hierfür ist, daß sich Persönlichkeitszüge durch das und im Medium interpersoneller Beziehungen zeigen; die meisten Eigenschaften sind bedingt durch die institutionellen und anderen interpersonellen Zusammenhänge, in denen sie dargestellt werden. Die Eigenschaften einer Person sollten daher nicht nur dieser einen Person zugeschrieben werden, als ob sie ein Truthahn sei, gefüllt mit verschiedenen Eigenschaften. Was für den einen Personenkreis "Selbstsucht" ist, kann für den anderen "Initiative" heißen, oder diese Eigenschaft kann für jeden der Kreise Selbstsucht oder Initiative sein, je nachdem, wann, wie und wo sie auftritt.

Dabei sind zwei Überlegungen anzustellen: erstens der Zusammenhang, in dem die Eigenschaft auftritt, und zweitens die unterschiedliche Art oder die Arten, in der sie von den verschiedenen Personen gewertet werden. Solche Eigenschaften, die beim Ausführen einer begrenzten Anzahl von Rollen auftreten, kann man spezifische Eigenschaften nennen; solche, die sich in einer großen Vielfalt von Rollen, die eine Person ausfüllt, zeigen, können allgemeine Eigenschaften genannt werden. Wird eine Eigenschaft von "signifikanten Anderen" positiv bewertet, kann man sagen, daß eine Belohnung auf ihre Entwicklung und Ausübung ausgesetzt ist. Wenn die Eigenschaft negativ bewertet wird oder wenn die Person auf irgendeine Weise daran gehindert ist, sie zu zeigen, können wir sagen, daß die Eigenschaft tabuiert ist.

Belohnung oder Tabu selbst können allgemein oder spezifisch gebraucht werden. So bedeutet, wenn Selbstsucht allgemein tabuiert ist, daß alle ihre Erscheinungsformen als Selbstsucht interpretiert und tabuiert werden. Wenn sie spezifisch tabuiert ist, ist sie nur in bestimmten Rollen tabuiert.

Auf gleiche Weise kann eine Eigenschaft allgemein oder spezifisch "belohnt" sein, d.h. eine Belohnung ist auf sie gesetzt, gleich wann, wo oder von wem sie gezeigt wird, oder eine Belohnung kann nur dann gewährt werden, wenn die Eigenschaft bei bestimmten Personen, die bei bestimmten Gelegenheiten bestimmte Rollen ausüben, sichtbar wird.

Tabus und Belohnungen können zwangsweise durchgeführt werden – durch tatsächliche Beschränkung der körperlichen Bewegungen, die bei der Manifestation der Eigenschaft beteiligt sind, durch soziale Kooperation bei der Durchführung oder deren Unterlassung; durch Gesten – Lächeln, Stirnrunzeln, Blinzeln – um die Äußerung der Eigenschaft zu fördern oder zu beschränken; oder dadurch, daß man Wörter gebraucht, die die betreffende Eigenschaft in positiver oder negativer Hinsicht bestimmen. Systeme von Belohnungen und Tabus müssen nicht verbalisiert sein, aber wenn sie sprachlich festgelegt werden, kann diese Tatsache das System stabilisieren und seine Verbreitung von spezifischer zu allgemeiner Anwendung vereinfachen. Ein lobender Begriff für irgendeine Eigenschaft kann so die Chancen vergrößern, daß die Menschen sie billigen.

Es gibt keine allgemeinen psychischen Eigenschaften, die als Universalia, unabhängig von spezifischen Zusammenhängen, in der Persönlichkeitsstruktur existieren. Die einzige Bedeutung, die wir der "allgemeinen Eigenschaft" geben können, ist, daß sie in allen oder den meisten Kontexten verwendet wird. Wir können dann fragen: welche soziologischen Bedingungen unterstützen die Entwicklung von allgemeinen Eigenschaften in Personen? Und entgegengesetzt, unter welchen Bedingungen können wir erwarten, daß spezifische Eigenschaften entwickelt werden?

Wir müssen diese Spezialisierung der Persönlichkeitszüge so nachdrücklich betonen, weil eine nichtsoziologische Psychologie und eine idealistische Betonung der "Harmonie" des menschlichen Charakters manche Forscher veranlaßt hat, sie zu gering zu schätzen, wenn nicht gar, sie zu übersehen. Persönlichkeitszüge sind keine Universalia in einer Persönlichkeitsstruktur; sie müssen von dem Sozialpsychologen immer als gebunden an gegebene Bereiche sozialer Situationen gesehen und verstanden werden.

Die Kontroverse, ob eine Person "allgemeine Eigenschaften" hat oder nur "besondere Eigenschaften", kann mit Hilfe der Begriffe, die wir aufgezeigt haben, gelöst werden. Verallgemeinerte Eigenschaften werden eher entwickelt, wenn die Rollen, die eine Person in sich inkorporiert, alle einander ähnlich sind. Und die Tatsache solcher Ähnlichkeit ist selbstverständlich abhängig von der Art der Gesellschaft, in der die Person lebt, und von ihrer Wahl der Rollen aus den vorhandenen zu jeder gegebenen Zeit.

Wo eine Mehrzahl der institutionellen Rollen, die eine Gesellschaft ausmachen, einem ähnlichen Prinzip folgt, haben die Persönlichkeitszüge, die in einem Kontext geformt wurden, die Möglichkeit, in einem anderen wirksam zu werden. So weit ist die Chance für die Entwicklung allgemeiner Eigenschaften in Personen maximiert. In vielen Kontexten ist jedoch solch eine Verallgemeinerung von Eigenschaften sozial nicht möglich.

Wenn die Rollen, die eine Sozialstruktur bilden, in mehr oder weniger autonome Institutionen aufgespalten sind, werden die Eigenschaften der Menschen eher aufgeschachtelt und spezifisch sein. Ein Mann mag seine Frau betrügen, aber nicht seinen Geschäftspartner, oder umgekehrt. Auf dem Sportplatz kann der Fußballspieler ein rücksichtsloser Angreifer sein, im Tanzsaal dagegen ein linkischer Partner und ängstlicher Liebhaber.

Wegen solcher Tatsachen ist eine allgemeine Diskussion vermeintlich universaler Eigenschaften der isoliert betrachteten Person nicht sinnvoll. In jeder Gesellschaft und mit Bezug auf gegebene Typen der Persönlichkeitsstruktur gehört es zum Bereich der empirischen Forschung, festzustellen, wie weit Eigenschaften verallgemeinert und wie weit sie gemäß dem jeweiligen Zusammenhang in ihrer Geltung beschränkt sind. Wir können jedoch die Hilfsmittel erweitern, die für solche Arbeiten nützlich sind, indem wir verschiedene Arten individueller Eigenschaften betrachten, wie sie von anderen dargestellt und bewertet werden.

I.       Eine allgemeine Eigenschaft, die durchgängig belohnt wird, hat eine große Chance, von der Person auch weiterhin manifestiert und fest in ihre Persönlichkeit integriert zu werden. Eine Person, die in einer Gesellschaft mit festgefügten Belohnungen vorherrschend aus solchen Eigenschaften besteht, wird wahrscheinlich einheitlich werden – und statisch.

II.      Eine spezifische Eigenschaft, die durchgängig belohnt wird, wird dazu tendieren, sich auszubreiten, eine allgemeine Eigenschaft zu werden. Eine Person, die hauptsächlich mit solchen Eigenschaften ausgestattet ist, wird in einer Gesellschaft, die großzügig hohe Belohnungen verteilt, in die Lage versetzt, sich zu entwickeln und zu wachsen, obgleich sie unter den Spannungen ihres Wachstums leiden kann.
Belohnungen haben ihr eigenes Leben, ihre eigene Dynamik, durch die sie weniger allgemein und schließlich zu spezifischen Belohnungen werden oder sich sogar in spezifische oder allgemeine Tabus verwandeln.

III.    Eine allgemeine Eigenschaft, die spezifisch belohnt wird, wird dahin tendieren, eine spezifische Eigenschaft zu werden, oder, wenn sie allgemein bleibt, dahin, in allen Zusammenhängen mit Ausnahme derer, in denen sie spezifisch belohnt wird, abgewandelt oder verdeckt zu werden. Wenn eine Person in allen Rollen Eigenschaften zeigt, die als selbstsüchtig gewertet werden, wird das Fehlen der Belohnung sie dazu bringen, die Manifestierung dieser Eigenschaften auf eine oder zwei Rollen zu beschränken, wie z.B. auf das Geschäftsverhalten, mit der Chance spezifischer Belohnung.

Eine Person, die hauptsächlich aus allgemeinen Eigenschaften besteht, die spezifisch belohnt werden, ist wie "ein Elefant im Porzellanladen". Sie hat noch nicht gelernt, die Darstellung ihrer Eigenschaften an angemessene Zusammenhänge zu binden. Sie tut zu viel von dem, was am richtigen Ort gut sein könnte.

IV.    Eine spezifische Eigenschaft, die spezifisch belohnt wird, wird dahin tendieren, sich zu stabilisieren. Eine Person, die überwiegend solche Eigenschaften aufweist, ist ein Situationsspezialist.

Ein ähnliches Schema sozialer Tendenzen von persönlichen Eigenschaften ist möglich im Hinblick auf Tabus:

I.       Die Chancen einer allgemeinen Eigenschaft, die allgemein tabuiert ist, sich in der Person zu entwickeln, sind sehr niedrig, und wenn sie entwickelt ist, sind ihre Chancen, zu verschwinden, sehr hoch.

II.      Eine spezifische Eigenschaft, die allgemein tabuiert ist, wird dahin tendieren, in ihrem spezifischen Zusammenhang aufgegeben zu werden und sich nicht auf andere Zusammenhänge auszudehnen.

III.    Eine allgemeine Eigenschaft, die spezifisch tabuiert ist, wird dahin tendieren, weniger allgemein oder sogar eine spezifische Eigenschaft zu werden.

IV.    Eine spezifische Eigenschaft, die spezifisch tabuiert ist, wird dahin tendieren, in dem spezifisch tabuierten Zusammenhang unterdrückt zu werden. Wenn sie fest in die Person integriert ist, wird diese versuchen, sie in anderen Zusammenhängen zu verwirklichen.

So weit haben wir in unserer Diskussion der Soziologie individueller Eigenschaften die Person im Auge gehabt und dabei absichtlich die Beachtung anderer Zonen der Persönlichkeit weggelassen. Wir haben mehrere allgemeine Vorschläge gemacht unter der Voraussetzung, daß "andere Dinge gleich sind". Wir müssen nun hinter diese "anderen Dinge" sehen, denn in Wirklichkeit sind andere Dinge, wogegen auch die Nationalökonomen nichts einzuwenden haben, nicht "gleich".

Ungeachtet der Eigenschaften, die sichtbare Erscheinungsformen der organischen Konstitution sind, scheint es drei allgemeine Faktoren zu geben, die Eigenschaften in einer gegebenen Persönlichkeitsstruktur auswählen und ändern. Um zu verstehen, wie eine gegebene Eigenschaft Teil der Persönlichkeitsstruktur wird, muß man diese Faktoren beachten.

I.       Soziale Belohnungen und Tabus werden durch gerade gültige "signifikante Andere" auf Eigenschaften angewandt, die, indem sie auf sie reagieren, ihre Bedeutung festlegen und, wie es scheint, die Eigenschaften sozial verändern. Die Belohnungen und Tabus, die durch diese "signifikanten Anderen" angewandt werden, mögen stabil oder unstabil sein, und sie können in Gegensatz stehen oder in Harmonie.

Wo die Einheit einer Sozialstruktur in Auflösung begriffen ist, läßt der Griff der Institutionen auf die Menschen nach, was bedeutet, daß kein allgemeines harmonisches und stabiles System von Belohnungen und Tabus wirksam ist. Die Reaktionen und die Eigenschaften der Menschen sind daher weniger vorhersehbar, denn dann ist ein größerer Bereich für die Entwicklung von Eigenschaften offen, und experimentierende Persönlichkeitstypen können auftauchen. Einige dieser Typen mögen später ein neues System von Prämien und Tabus errichten, das dann seinerseits die Entwicklung und Manifestierung von Eigenschaften in anderen Personen auswählt und verändert.

II.      Die Belohnungen und Tabus, die von gerade gültigen "signifikanten Anderen" angewandt werden, sind nicht die einzigen, die bei der Erklärung des Herkommens verschiedener Eigenschaften in Betracht gezogen werden müssen, denn Gesellschaften haben Geschichte, Personen haben Biographien. Wir müssen die spezifischen Belohnungen und Tabus beachten, denen Personen durch vorhergehende Andere während ihres Lebens ausgesetzt waren. Diese früher internalisierten Tabus und Belohnungen wählen jene aus, die im Augenblick wirksam sein können und prägen sie. Wir weisen auf diese Tatsache hin und bezeichnen sie als eine biographische Veränderung der Eigenschaften, denn es bringt eine gewisse Tiefe in unsere Betrachtungen, die Tiefe der Biographie der Person.

III.    Es gibt einen weiteren Tiefenfaktor, der die Reifung der psychischen Struktur und ihre Integration in die Person betrifft. In dem Zusammenspiel von sozialer Karriere und psychischer Reife werden gewisse Eigenschaften, die belohnt wurden, und andere, die tabuiert waren, eine mehr oder weniger stabile Konfiguration. Die psychische Struktur kann auch eine gewisse eigene Dynamik haben, die an der Auswahl und der Veränderung der Eigenschaften beteiligt ist. Auf jeden Fall wählen und akzentuieren die Belohnungen und Tabus, die auf die Person angewandt worden sind, gewisse Komponenten sowohl ihrer psychischen Struktur als auch ihrer Person. So müssen wir sowohl die psychische als auch die soziale und biographische Veränderung der Eigenschaften in Betracht ziehen. Wenn der Sozialpsychologe eine spezifische Persönlichkeitsstruktur analysiert, versucht er, ihre Formierung aus dem Prozeß der Annahme einzelner Eigenschaften in ihren verschiedenen institutionellen Zusammenhängen zu verstehen und aufzuzeigen, was mit diesen Eigenschaften geschieht, wenn sie in diese besondere Persönlichkeitsstruktur integriert werden.

Wenn es in Erziehungsinstitutionen eine Belohnung für erfolgreiche Examenskonkurrenz gibt, als Mittel, Studenten auszuwählen und zu bewerten, dann können sich ehrgeizige und individualistische Eigenschaften im Studenten entwickeln. Herrscht aber Gruppen- und Teamarbeit vor und sind Belohnungen auf solche Eigenschaften der Zusammenarbeit ausgesetzt, wird der Student ermutigt, seinen Mitstudenten gegenüber hilfsbereit zu sein. Erziehungsinstitutionen können so individuellen Wettstreit oder kooperative Zusammenarbeit fördern. Solche Belohnungen und Tabus brauchen nicht als explizite Regeln ausgesprochen zu sein, jedoch wird eine erfolgreiche Anpassung an die Spielregeln Eigenschaften des auf Grund der objektiven institutionellen Gegebenheiten und der wirkenden Belohnungen und Tabus erwünschten Typs erfordern.

Wenn eine Person die gängigen Belohnungen und Tabus internalisiert, mag sie sich nicht bewußt sein, welche Einwirkung diese auf ihre personale und psychische Struktur haben. Sie kann ein sehr selbstbewußter Wettkämpfer sein, während sie sich nicht bewußt ist, wie sie so wurde, oder etwa auch, daß sie so ist. Intensiver Wettbewerb ist geeignet, Ängste in der ihm ausgesetzten Person hervorzurufen. Dann können Belohnungen für solche Eigenschaften wie Generosität, Optimismus und "immer Lächeln" in ihrem Anwendungsbereich verringert oder von einer angsterfüllten Person sogar in Tabus umgewandelt werden. So stabilisieren Belohnungen die Eigenschaften in der Person sowie in den dynamischen Trends ihrer Persönlichkeit.

Um zu verstehen, was mit einer sozial vorhandenen Eigenschaft während ihrer Internalisierung und Integrierung in die Persönlichkeitsstruktur geschieht, müssen wir ihren Grad der Umwandlung erfassen im Hinblick auf die Biographie gegebener Personen und ihre psychischen Strukturen, denn diese modifizieren die Eigenschaften, die sozial zur Verfügung stehen. Die autonome Dynamik sowohl der psychischen Struktur als auch der Person kann so auswählen aus dem, was sozial belohnt wird, und es dann in einen inneren Zusammenhang bringen.

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Angst und Sozialstruktur

Wir haben bislang einige allgemeine Arten erörtert, auf die Institutionen Personen auswählen und formen mittels der Rollen, die die Personen ausüben und die Eigenschaften, die sie internalisieren. Personen sind jedoch noch in anderer Weise mit Sozialstrukturen und besonderen institutionellen Ordnungen verbunden, und zwar handelt es sich dabei um das, was wir Symbolsphären genannt haben oder allgemeine Kommunikationsprozesse als Ganzes.

Wir werden jetzt im folgenden einen Emotionstyp untersuchen – Angst und Furcht – um zu illustrieren, wie psychologische Zustände, die sowohl die psychische Struktur als auch die Person betreffen, nicht ohne Beziehung zu dem institutionellen Rahmen verstanden werden können, in dem sie auftreten, und im besonderen in kommunikativen Prozessen, die sie oft definieren.

Mit Freud wollen wir eher von Angst als von Furcht sprechen, wenn die Furcht jede vernünftige Relation zu dem gegebenen Objekt oder der sie hervorrufenden Ursache vermissen läßt. In pathologisch extremen Fällen sprechen die Psychologen von "Phobien", die nach Objekt oder Anlaß klassifiziert sind. So bezieht sich Klaustrophobie auf übermäßige Angst vor geschlossenen Räumen. Wo kein konkretes Objekt oder kein konkreter Anlaß festzustellen ist, kann man von "freischwebenden Ängsten" sprechen. Öffentliche Kommunikation kann als psychologisch relevant für Angst durch die sich verändernden Definitionen von Loyalitäten und Definitionen sozialer Realität gesehen werden.

Soweit es sich um Personen handelt, läßt sich ihr psychologisches Sicherheitsgefühl im Hinblick auf die betroffenen institutionellen Bereiche und die Intervalle, in denen es auftritt, klassifizieren. Die Bereiche im Leben einer Person, in denen sie sicher ist, sind weitgespannt, wenn sie in allen ihren Rollen sicher ist. Wenn sie "ihren Weg weiß" und ihre Lage kennt. Sie sind eng, wenn sie eine adäquate Definition ihrer Lage und deren weiterem Zusammenhang nur in wenigen ihrer Rollen hat. Ähnlich mag das Intervall der Sicherheit kürzer oder länger sein. Die Person kann jederzeit sicher sein oder die Sicherheit, die sie erfährt, kann zeitweise unterbrochen sein.
Klassifiziert man diese Bereiche und Intervalle der Sicherheit, ergeben sich vier Möglichkeiten:

Völlig sichere Menschen sind in allen ihren Rollen allezeit sicher oder wenigstens über lange Zeiträume hinweg. Am entgegengesetzten Ende der Skala stehen jene, deren Bereich der Sicherheit eng oder sogar ganz unterbrochen ist – was, wie wir annehmen möchten, das psychologische Gegenstück zu Hobbes’ Naturzustand ist, in dem das Leben "häßlich, brutal und kurz" ist. Es gibt auch Personen, deren Sicherheit auf einem engen Bereich ihrer Rollen beruht, innerhalb dessen aber die Sicherheit von Dauer ist ("wenigstens darum brauche ich mich nicht zu sorgen"). Und in der entgegengesetzten Lage sind Personen, die in jeder Hinsicht sicher sind, aber nur für kurze Zeit.

Diese einfache Klassifizierung der Arten von Sicherheit erscheint uns brauchbar, aber selbstverständlich stellt sie in sich selbst keine Verbindung zwischen Sicherheit oder Angst und Sozialstruktur her. Beginnt man das, was man mit "Bereichen der Sicherheit" meint, näher zu untersuchen und die Emotion selbst explizit zu erörtern, ergeben sich erhebliche Schwierigkeiten, wenn man die Erörterung nicht mit den gegebenen institutionellen Zusammenhängen verbindet. Emotionen wie Angst können nicht sinnvoll von ihren Objekten getrennt werden – davon, wovor man sich fürchtet – und diese Objekte, bezogen auf die sich ändernden Ängste der Menschen, sind historisch vorgegeben und sozial erlernt. "Die Angst des Menschen ist", wie Kurt Riezler gesagt hat, "Angst vor etwas oder Angst für etwas, vor Krankheit, Geldverlust, Entehrung, für seine Gesundheit, Familie, seinen sozialen Status".

Einige Soziologen, z.B. Herbert Spencer, definieren Religion als Angst vor den Toten. Andere Denker, z.B. Freud, haben mehr die Angst vor dem schlechten Gewissen und dem Tod selbst betont. Die Symbolsphären einiger Religionen scheinen jedoch sowohl mit Hoffnung als auch mit Angst zu tun zu haben. In der Realität sind beide in religiösen Symbolen und im institutionellen Leben oft miteinander verbunden.

Wenn religiöse Institutionen eine dominierende Ordnung in der Sozialstruktur bilden und wenn die Menschen fromm sind, mögen alle ihre Befürchtungen und Ängste, gleichgültig, woher sie sich ableiten, – in die religiöse Ordnung und ihre Symbole münden.

Obgleich manche glauben mögen, man brauchte nichts zu fürchten außer die Furcht, haben die meisten Menschen, betrachten wir den Verlauf der Weltgeschichte, bessere Gründe für ihre Angst gehabt. In vorindustriellen Zeiten gab die noch unbesiegte Natur mit den daraus resultierenden Schwierigkeiten manchen Anlaß zur Angst. In modernen Gesellschaften haben die Ängste ihre Quellen eher in den ungewissen und unvorhersehbaren Veränderungen der Sozialstruktur und den ähnlich unstabilen Dynamiken interpersoneller Beziehungen.

So wie soziale Bedingungen als Ursache für Ängste in Frage kommen, kanalisieren sie auch die Kompensationen für diese Ängste. Eine Anzahl typischer Mechanismen für solche Kompensationen, die Karen Horney "Begierden" genannt hat, sollen herausgehoben werden: eine Person kann ihre Ängste dadurch kompensieren, daß sie ein Perfektionist wird, bestrebt, ihre Rollen so auszufüllen, daß sie sich nie der Kritik aussetzt. Demgemäß mag sie Eigenschaften von Pedanterie entwickeln. Angst kann auch persönlich durch erhöhte Begierde nach Liebe und Zuneigung durchbrochen werden sowie durch die Entwicklung der Eigenschaften einer übermäßig herzlichen Person. In dieser Begierde kann die Person sich "um der Liebe willen" ausbeuten lassen, dadurch aber in Wirklichkeit sich selbst in anderen Rollen schädigen. Sie mag nach Zuneigung um jeden Preis streben, um Schutz zu erlangen nach dem Motto "solange du mich liebst, wirst du mich nicht verletzen".

Eng verbunden mit diesem Typ ist der "Konformist", der zwanghaft unterwürfig ist und jedem Wunsch des anderen zustimmt, scheinbar "selbstlos", um nicht zu riskieren, verletzt zu werden. Er entzieht sich jeder aktiven Mitwirkung bei der Rollengestaltung in einer institutionellen Ordnung, indem er alle psychischen Ansprüche aufgibt. Auch kann er nach Macht streben, damit er von niemandem etwas zu befürchten braucht. In extremen Fällen halten wir es für Größenwahn, aber gewöhnliche Berufsangst mag zu einer übermäßigen Entwicklung des Machtstrebens in der Familie führen, und solche begleitenden Eigenschaften können von der Person entwickelt und belohnt werden.

Diese kompensierenden Mechanismen können selbstverständlich auf verschiedene Arten kombiniert sein. Z.B. können übermäßige Begierde nach Macht und die dazu gehörenden Eigenschaften als Weg aus der Angst eng mit übermäßiger Begierde nach Liebe verbunden sein. In der Liebe öffnet man sich der Macht des anderen. In der Macht will man über den unterwürfigen anderen dominieren. Ein Individuum, das zwischen solchen gegenteiligen Tendenzen und den sie begleitenden Eigenschaften schwankt, wird im allgemeinen ambivalent genannt. Was sich logisch ausschließt, muß sich nicht psychologisch ausschließen.

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