Auszüge aus Françoise Dolto's
"Über das Begehren"

Die Anfänge der menschlichen Kommunikation

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Vorwort

In diesem Buch finden Sie zehn psychoanalytische Essays in jeweils sehr eigenem Stil: Sie sind das Ergebnis meiner dreißigjährigen Tätigkeit (1946-1978).
Hier sind noch einmal bereits früher erschienene Artikel, Untersuchungen und Vorträge zusammengefaßt, da die Fachzeitschriften, in denen sie ursprünglich veröffentlicht wurden, großenteils nicht mehr auffindbar sind. Jeder einzelne Artikel wurde überarbeitet und auf den neuesten Stand gebracht; man wundere sich also nicht, wenn die Themen manchmal breiter ausgeführt sind als in der ursprünglichen Version.

Manche meiner Arbeiten fehlen in diesem Band: meine Veröffentlichung über die Regression (1958), über die weibliche Libido (1960), über die Todestriebe (nicht erschienen) und über die Entwicklung des Narzißmus von der Geburt bis ins Alter (nicht erschienen).

Der Essay über Personologie und Körperbild ist der 1961 erschienene erste Entwurf zu einer theoretischen und klinischen Arbeit über Körperbild und Körperschema; ich habe das Thema weiterverfolgt und werde die Ergebnisse demnächst veröffentlichen.

So spiegeln sich denn in den hier gesammelten Aufsätzen und Aufzeichnungen meiner Seminare die Fragestellungen wider, auf die ich in meinem Beruf als Psychoanalytikern immer wieder gestoßen bin; und ich leite hiermit meine Fragen und Überlegungen an meine Kollegen, die Psychoanalytiker, weiter.

Empfindungen von Behagen oder Unbehagen als Ursprung der Schuldgefühle

Im Verlauf dieser Tagung wurde das Gefühl des schuldhaften Versagens, also das (bewußte) Schuldgefühl, in seinen verschiedenen Erscheinungen behandelt und in engen Zusammenhang mit dem gestellt, was die Psychoanalytiker, mangels eines besseren Ausdrucks, als unbewußtes Schuldgefühl bezeichnen. Es wurden im weiteren die Beziehungen zwischen ihm, dem Mißerfolgszwang und den zum Minderwertigkeitskomplex zugerechneten Gefühlen herausgearbeitet. Dr. Laforgue hat darauf hingewiesen, daß die Religionen, insbesondere die katholische, bei ihren Gläubigen dieses unbewußte Schuldgefühl zu mildern vermögen. Ich möchte meinerseits nun als Kinderpsychoanalytikerin einen bescheidenen Beitrag zu diesen Untersuchungen leisten, indem ich von einigen klinischen Beobachtungen ausgehe, die das erste Auftreten von Schuldgefühl zum Gegenstand haben.

Wenn das Kind mit Hilfe der Bestimmungswörter "gut" und "böse", "artig" oder "unartig" moralische Urteile über seine Handlungen (oder die der anderen) auszudrücken beginnt, sind diese Urteile stets mit einer offenen oder verschlossenen Mimik, einem Gesichtsausdruck der Zustimmung oder Ablehnung beziehungsweise Empörung verbunden. Das legt den Schluß nahe, daß das Kind zum einen über den Begriff einer Wahlfreiheit verfügt (es glaubt zu wissen, daß es möglich gewesen wäre, etwas nicht zu tun), und daß es sich andererseits um eine Bestätigung des von ihm gefällten Urteils durch einen anderen bemüht. Dieser andere kann ein Älterer oder Erwachsener sein, vorzugsweise aber ein Elternteil, den es liebt, weil sein Wohlergehen von ihm abhängt, und zu dem es daher a priori Vertrauen hat. Wirkt der Erwachsene "zufrieden" oder "unzufrieden"? Darauf kommt es an. Wenn der Erwachsene zufrieden ist, ist das gut, und das Kind fühlt sich artig; wenn nicht, ist das böse, und es fühlt sich unartig.
Umgekehrt läßt sich aber erstaunlicherweise feststellen, daß ein Kind den Erwachsenen niemals um Rat fragt, wenn es darum geht, ein Ding als "gut" oder "schlecht" zu beurteilen. Von den ästhetischen, Geschmacks- oder Sinnesurteilen der Erwachsenen kann es durchaus abweichen, es kann sie sogar ohne Schaden ablehnen (außer im Falle einer Erziehung, die der Freiheit des Individuums sehr geringen Wert beimißt). Die Werteinteilung "gut/böse" wird offenbar in der Psyche nicht nach denselben Regeln ausgearbeitet wie die Werteinteilungen "gut/schlecht", angenehm/unangenehm" oder "schön/ häßlich".

Bei den Geschmacksempfindungen handelt es sich um unmittelbare Wahrnehmungen, die mit unseren individuellen Eigenheiten zusammenhängen und die wir daher absolut, das heißt ohne Bezug zum anderen, empfinden. Die Biologen behaupten sogar, manche Geschmacksempfindungen seien atavistisch.

Das Gefühl von Gut oder Böse, das mit jeder Handlung einhergeht, bezeichnet also den Durchbruch einer Werteinteilung, die sich im Kontakt mit der Umgebung aufbaut. Diese Einteilung entwickelt sich in jedem von uns in einer Folge sprachlicher, manchmal zugleich auch sinnlich-experimenteller Erfahrungen.

Auf jeden Fall werden diese im Kontakt mit den anderen erlebt, das heißt in der Beziehung zum vorgefundenen sozialen Milieu, der Umwelt. Das Kind ist nie sicher, was gut oder böse ist; nur darüber, was ihm Gutes oder Schlechtes im Leben widerfährt; das heißt, nur was in ihm gute oder schlechte Empfindungen auslöst, verschafft ihm Gewißheit, und diese Empfindungen werden experimentell gemacht. Gut und Böse lassen sich dagegen nur über den sprachlichen Ausdruck vermitteln, der das Experimentieren hemmt; eine Sprache, die das Kind daran hindert, diese oder jene Erfahrung zu machen oder zu wiederholen.

Ein Kind, das von Gut und Böse zu sprechen beginnt, ist jedenfalls kein Neugeborenes mehr, sondern bereits ein hochkomplexes Wesen. Wir müssen also, nachdem wir die Unterschiede herausgestellt haben, die wir zwischen den beiden Werteinteilungen "gut/schlecht" und "gut/böse" sehen, auf deren Wechselbeziehung zurückkommen. Wir werden dazu die Entwicklungsstufen der Gut/Schlecht-Unterscheidung des Kindes von der Geburt bis zur Bildung der ersten bewußten Urteile über Gut und Böse verfolgen. Zum Beispiel, wie weit es sich um Urteile aus dem Mund anderer handelt, die es mit anhört, oder um Urteile, die es sich selbst aus eigener Erfahrung bildet, jedoch erst ab 12 bis 18 Monaten zu äußern vermag, und schließlich um solche, die es in den Worten anderer ausdrückt, was ihm aber erst ab dem Alter von zweieinhalb bis drei Jahren möglich ist.

Beobachten kann hier immer nur heißen: Verhaltensweisen beobachten. Die Psychologie des Kindes und Kleinkindes beruht einzig auf den Kriterien der Mimik und der kindlichen Gestik, weil sich das Menschenwesen in diesem Alter nicht anders auszudrücken vermag. Das Kind geht auf Dinge und Wesen zu, wenn es ihnen gegenüber von vornherein positiv eingestellt ist, das heißt, wenn sie ihm Appetit machen und anziehend auf es wirken. Wendet es sich jedoch von etwas ab, darf man nicht vorschnell schließen, es würde davon nicht angezogen – abgesehen von dem Fall, daß ihm etwas gegen seinen Willen aufgezwungen wird, das es nicht lieben kann. In diesem Falle wehrt sich das Kind eine Zeitlang. Manche Kinder werden daraufhin ihr Leben lang gehorsam. Andere fügen sich nur widerwillig und lehnen sich früher oder später auf. Allgemeiner gesprochen: Wenn sich ein Kind von etwas abwendet, kann dies das Zeichen eines starken Anreizes sein, der von dem Gegenstand ausgeht, aber mit Furcht vor Unannehmlichkeiten verschiedenster Art vermischt ist, zu denen eine Handlung führen könnte, die in anderem Kontext schon einmal unangenehme Folgen nach sich zog (sensorische Einwirkungen, Schelte, Verstimmung oder Aggressivität seitens der Erwachsenen).

In Gegenwart einer Sache oder Person, die ihm gut scheint, weil sie in einem bekannten, also beruhigenden Assoziationskontext steht, fühlt sich das Kind wohl und zeigt einen entspannten, breiten, offenen und ruhigen Gesichtsausdruck. Im Gegensatz dazu bereitet ihm das, was ihm schlecht scheint, Unbehagen und ruft eine gespannte, verschlossene, verzogene, erregte, durch Unruhe oder Abwendung des Blicks unstete Miene bei ihm hervor. Wenn das Kind über die entsprechende Gestik schon verfügt, wird es zugleich mit den Händen abwehrende Bewegungen machen.

Alle diese Beobachtungen laufen jedoch auf die folgende Feststellung hinaus: Das Gefühl der Schuld, ob bewußt oder unbewußt, beruht beim Erwachsenen wie beim Kinde auf Furcht; auf der Furcht, ein Übel, eine imaginierte Verletzung oder einen Schmerz zu erleiden; auf der Furcht vor einer eingebildeten Gefahr und einem Unbehagen, das an der klaren oder wirren Vorstellung der Konsequenzen haftet, die schon das Begehren gewisser Handlungen nach sich zieht. Die Risiken dieser Handlungen werden dabei vom Subjekt mit seinem ganzen Körper erinnert. Es ist also wichtig, die Lebensäußerungen eines menschlichen Wesens sowie die Beziehungen zu untersuchen, die sich bei ihm zwischen diesen Äußerungen und den Zuständen von Wohlbefinden und Unbehagen herstellen. Allein solchen klinischen Untersuchungen zur Genese der unbewußten Zustände von Wohlbefinden und Unbehagen auf frühester Entwicklungsstufe werden wir die Kenntnis der psychosomatischen Elemente verdanken, die im unbewußten Schuldgefühl eine Rolle spielen (die Angst und ihre individuellen organischen Äußerungsformen).

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Personologie und Körperbild

Wie alle anderen seiner Leser und Hörer möchte auch ich Doktor Lagache für seine meisterhafte Studie über die Entwicklung der Persönlichkeitsstruktur im Werk von Freud danken.

Lagache hat uns einen Freud gezeigt, der als Kliniker deskriptiv Verhaltensweisen und Charakterzüge seiner Patienten exakt zu erfassen und durch Schlußfolgerungen und Vergleiche ihre vermutliche Motivation zu ermitteln versuchte. Für Freud (wie auch für viele der ersten Analytiker) war die Mitteilung der Theorie an die Patienten ein Mittel, diesen zu helfen, sich als Menschen zu verstehen und zu sehen, das heißt als Wesen, die ohne ihr Wissen – über emotionale Erschütterungen, die für sie wie für alle anderen bar jeder Logik waren – von einer in sich zusammenhängenden und zu entschlüsselnden Logik bestimmt wurden. Der rationalen und bewußten Logik fügt Freud als Ergänzung eine neue Logik hinzu, die Logik der affektiven und irrationalen Dynamik. Die Untersuchung des Unbewußten beim Menschen konnte mit der Untersuchung unterirdischer Wassersysteme verglichen werden und den Gedanken nahelegen, daß die verborgenen Quellen der oberirdischen Ströme sich ebensogut erklären lassen wie die Merkmale der Vegetation.

Schon immer hatte eine solche Erforschung den Menschen gelockt, und jede Kultur hat ihre eigene Erklärung vorgelegt. Bis zur Zeit Freuds suchte der wissenschaftlich forschende Mensch die Motivation seines Handelns einerseits nur in kosmischen und geographischen Einflüssen, andererseits in seinen gedanklichen Reflexionen und klaren Gefühlen, nicht aber in seinen Träumen; diese gehörten wegen ihrer Bildersprache und ihren Auswirkungen in den Bereich des Magischen und wurden daher den Wahrsagern überlassen. Vor Freud ging man nicht den bildhaften Vorstellungen nach, die sich eine "gesunde" Person von sich selbst und der Welt machte, solange sich ihr Körper nicht aktiv verhielt, also im Schlaf oder in Augenblicken verminderter Kontrolle. Das war nichts als dummes Zeug und Schelmerei oder gehörte in den Bereich des Übersinnlichen. Freud zog dem Menschen die brüchige Maske des mit Gliedern versehenen moralischen Roboters vom Gesicht, der mehr oder weniger an seine Aufgaben angepaßt ist und sich ihrer beim Aufwachen brüstet; an ihre Stelle setzte er die packende Wahrheit der ungestillten Wünsche, deren Ruf im Schweigen der Träume ertönt. Er half diesem Menschen, der glaubte, sich genausogut – und oft noch mehr – im Schlafzustand wie auch im Wachzustand zu befinden, sein wahres Gesicht zu akzeptieren, wie es in seinem unbeherrschten und unkontrollierten Gehabe zum Ausdruck kommt, welches das Zucken und Verrutschen der Maske erklärt. Der aufrechte Mann hatte den Mut, seinen Mitmenschen jenen respektvollen Umgang mit Neurotikern nahezulegen, der ihn zur Ausarbeitung einer dynamischen Theorie des Menschen brachte, in der Gesten eine dem Bewußtsein unbekannte Wahrheit ausdrücken, die auch die gesprochene Sprache (ein spezifisches Merkmal der Gattung) dem Subjekt nur durch Worte vermitteln kann, die Zeugen nicht überwundener Erregungszustände als Folge erlebter Erfahrungen sind.

Lagache hat uns gezeigt, wie die an eine bestimmte Epoche und an eine bestimmte Sprache gebundene Begriffsbildung bei Freud, deren Übersetzung ins Französische nicht immer leicht ist, auch mit einer richtigeren Auffassung von der Medizin und einem viel tieferen Verständnis des Menschen durch den Menschen verknüpft war.
Freuds Personologie gelang es, so scheint uns, die Abszissen der Topik mit den Koordinaten der Dynamik zu kreuzen und damit jener Frage einen kurvenförmigen Verlauf zu geben, welche jeder Mensch an seinen Mitmenschen stellt (an sich selbst auch, und der persönliche Test verläuft hier noch schlimmer als bei den anderen); diese Frage stellt er sich und anderen von der Geburt bis zu seinem Tod, d.h. solange sein Verhältnis zur Welt andauert. Wie immer man die Frage formuliert, sie bleibt von der Zeugung bis zum Ende jeglicher Kommunikation die gleiche: "Von woher bekomme ich mein Sein?" Jeder Mensch ist insofern "gesund", als er durch die bloße Fragestellung den Mut zu leben findet und hofft, die Frage zu lösen, wobei er die Antwort nicht bei sich, sondern anderswo sucht. "Krank" ist jeder Mensch, bei dem die erschöpft wirkende Suche die Echtheit der Frage oder das echte Warten auf die Antwort verfälscht. Die Kurve gehört hier zur Libido: Diesen Verlauf nimmt die Frage eines fleischgewordenen menschlichen Wesens, das seine komplementäre Ergänzung sucht. Ja, der von Freuds Topik und Dynamik nicht ausdrücklich erwähnte Körper des Menschen ist ständig latent im Unbewußten bei jeder zwischenmenschlichen Kommunikation anwesend. Sobald man sich in Worten ausdrücken kann und die Worte von einer anderen Person verstanden werden, kann man annehmen, daß beide Personen sich in authentischer Weise verständigen, weil sie sich zu verstehen scheinen. Freud vergaß die Sprache des Körpers nicht und legte überzeugende klinische Beispiele vor.

Kann also diese Frage sprachlich ausgedrückt werden, dann kommt sie auch in jener präverbalen und paraverbalen Sprache vor, welche die Körpersprache ist. Freud hat uns gezeigt, wie die Libido bei ihrer nie dauerhaft befriedigten Suche nach komplementärer Ergänzung die Strukturen von Mann und Frau – Körper, Herz und Geist, wie man so sagt – festlegt und sie in ihrer Form und Funktion hierarchisch gliedert. Die Hierarchie dauert nur kurze Zeit, kann stets verändert werden und wird von den spezifischen Gattungsbedingungen und den zufälligen Gegebenheiten der menschlichen Umwelt erzwungen, d.h. den symbolischen Beziehungen, denen der Mensch schon vom Augenblick seiner Empfängnis an durch seine Umwelt unterworfen wird.

Mann und Frau sind als Lebewesen um so menschlicher (und mit Blick auf bedeutende Personen kann man hinzusetzen, menschlich um so unvergleichlicher), je ungewöhnlicher ihre Verstandesklarheit und je unerträglicher ihre Not ist. Das meint: Ein Mensch ist um so entwickelter, je größer seine Angst ist und je weniger er sie verschweigen kann, so daß er über den Körper hinaus, der zuerst zwischen ihm und der Welt vermittelt hat, nach Tönen, Gesten, Zeichen und vermittelnden Sprachformen sucht, um seine Angst zu zeigen und sie gleichzeitig in einen wahrnehmbaren Ausdruck zu transzendieren, damit er mit anderen in Kommunikation treten kann und um Spuren zur Information der Nachkommen zu hinterlassen.

Seine Lebenslust als Quelle seiner Suche nach einer komplementären, dynamisch wirkenden Ergänzung belehrt ihn, daß es ein tödlicher Vorgang ist, wenn die Erregung der bevorstehenden Befriedigung in die orgastische Begegnung mündet, die ihn nur vorübergehend vom Druck des Lebens befreit. Wiederholt macht er die Erfahrung, daß die komplementäre Ergänzung zu seinem Körperbild anziehend und erregend wirkt; aber in der spannungslindernden Vereinigung geht verloren, was er in seinem Körper verspürt hatte, und es tritt ein sensorischer Verlust seines Körperbildes ein, wie es vor dem Akt da war.

Da er sich das abwesende komplementäre Objekt im Gedächtnis eingeprägt hat (nachdem das Körperbild und das, worauf es sich bis zur tödlichen Befriedigung des Begehrens stützte, auseinanderbrach), drängt es ihn in einer rein imaginären Hoffnung, sich außerhalb seiner Zeit und seines Raums einem anderen zuzuwenden, der nie aufhören soll, ihn zu befriedigen. Die Suche nach hierogamer Vervollständigung bringt Begeisterung hervor, führt den Menschen aber immer von der Freude zur Trauer, denn danach – und es gibt ein danach – stößt er in schmerzlicher Weise wieder auf sein Bewußtsein, das an einen Körper gebunden ist, der einen Augenblick lang vergessen wurde und kein Gewicht mehr hatte; aber er stößt ebenso auch auf die Qual seiner Unvollständigkeit, auf seine Stummheit und grenzenlose Einsamkeit: Er lebt nämlich in einem rhythmisch pulsierenden Wechsel von absurder Monotonie, der lächerlicherweise noch Sicherheit gibt, und er bleibt ausweglos in sein fleischliches Gefängnis eingemauert.

Wir können immer die gleichen Vorgänge beim Menschen aufdecken, ob wir ihn nun früher oder später im Verlauf seines Lebens beobachten, ob seine Körperlichkeit beeindruckend oder armselig ist. Vereinzelte, kaum wahrnehmbare Befriedigungen, die ständig aufgesucht werden, ermöglichen wiederholt das spezifische, minimale Erlebnis einer Lösung der im Körper lokalisierten Spannungen. Der schwerer gewordene Körper befindet sich dort, wo die einzigartige Frage – "Von woher bekomme ich mein Sein?" – gestellt wird, in Spannung; sein Empfinden verändert sich durch die Anziehung, die von dem Objekt ausgeht, mit dem der Körper sich bald zu vereinen hofft: Die Wahrnehmung der früheren Schwere wird ersetzt durch die Wahrnehmung der Form, welche zugleich mit dem Grund der Veränderung auftritt, und das Bild dieser Form tritt nun an die Stelle des früheren Ziels des Körpers. Wir nennen es leben, wenn bei der befriedigenden Vereinigung die sensorische Wahrnehmung momentan ausfällt und sich das Empfinden durch einen partiellen oder totalen Verlust des Körpers, der diese Frage vermittelt, verändert; genau genommen handelt es sich jedoch um das Sterben.
Was wir nämlich sterben nennen, bedeutet nur, daß es keine Möglichkeit mehr gibt, imaginär auf den Träger des Begehrens zurückzugreifen: Seit der Geburt stehen wir alle im Bannkreis des Verlustes des Körperbildes; der Verlust zieht uns in so unüberwindlicher Weise an, daß wir ihn durch unsere Suche nach komplementärer Ergänzung vollziehen, und zwar jenseits aller vorstellbaren Körpergrenzen.

Wenn Freud erst in seiner Lebensmitte den Menschen die Entdeckung des von ihm so genannten Todestriebes mitteilen konnte, so nicht deshalb, weil er körperlich älter wurde, d.h. weil seine Kräfte und sein Weitblick nachließen. Als Freud wie Moses müde vom langen Warten war, entdeckte er den Sinn des Wartens. Für alle, die wiederholt die strukturbildenden Erfahrungen eines bestimmten Wahrnehmungsniveaus voll durchgemacht haben, genügt der mit diesem Niveau verbundene Narzißmus nicht mehr, und eine auf die erworbene Reife folgende Veränderung wird dann notwendig: Der Tod wird zum Mittel der Wahl für eine Strukturveränderung.

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