Auszüge aus Viktor E. Frankl's
"
Das Leiden am sinnlosen Leben"

Psychotherapie für heute

Victor E. Frankl, Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Universität Wien, Begründer der "Logotherapie". Professuren an zahlreichen Universitäten. Frankls 32 Bücher sind in 27 Sprachen übersetzt worden. 29 Universitäten verliehen ihm Ehrendoktorate.

Das Leiden an einer tiefen Sinnlosigkeit und lähmenden Leere ist die Krankheit unserer Zeit. Viktor E. Frankl hat ein therapeutisches Konzept entwickelt, mit dem er dieses existentielle Vakuum erfolgreich behandelt. Hier gewährt er einen Eindruck in seine Praxis. Der weltbekannte Logotherapeut zeigt an vielen Beispielen, wie das Leiden am sinnlosen Leben heilbar wird.

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Einleitung: Das Leiden am sinnlosen Leben

Nach Vorträgen, gehalten in Warschau auf Einladung der Polnischen Gesellschaft für Psychiatrie, in der Aula der Universität Zürich auf Einladung der Limmat-Stiftung und in München auf Einladung der Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung.

Der Einleitung wurde der Titel "Das Leiden am sinnlosen Leben" zugedacht, da sie sich auf weite Strecken an zwei Vorträge mit demselben Titel hält, deren erster, gehalten in der Aula der Universität Zürich, in Form von Videotapes und Audiotapes von der Limmat-Stiftung (Rosenbühlstraße 32, CH-8044 Zürich) zur Verfügung gestellt wird, während der zweite in Form von Kassetten von der Österreichischen Phonothek (Webgasse 2 a, A-1060 Wien) – einer Dienststelle des Wissenschaftsministeriums – angeboten wird. Durch die Limmat-Stiftung sind auch Sonderdrucke eines in der Schweizerischen Akademiker- und Studenten-Zeitung erschienenen Aufsatzes "Das Leiden am sinnlosen Leben" zu beziehen, dem eine unveränderte Niederschrift der Tonbandaufnahme zugrunde liegt.

Jede Zeit hat ihre Neurose – und jede Zeit braucht ihre Psychotherapie.

Tatsächlich sind wir heute nicht mehr wie zur Zeit von Freud mit einer sexuellen, sondern mit einer existentiellen Frustration konfrontiert. Und der typische Patient von heute leidet nicht mehr so sehr wie zur Zeit von Adler an einem Minderwertigkeitsgefühl, sondern an einem abgründigen Sinnlosigkeitsgefühl, das mit einem Leeregefühl vergesellschaftet ist – weshalb ich von einem existentiellen Vakuum spreche.

Nehmen wir einen Brief her, den mir ein amerikanischer Student geschrieben hat und aus dem ich hier bloß zwei Sätze zitieren möchte – in deutscher Übertragung:
Ringsum bin ich hier in Amerika umgeben von jungen Leuten meines Alters, die verzweifelt nach einem Sinn ihres Daseins suchen. Einer meiner besten Freunde starb unlängst, weil er eben einen solchen Sinn nicht hatte finden können.

Und meine Erfahrungen an amerikanischen Universitäten – immerhin sind es bisher 129 allein innerhalb der USA, an denen ich Vorträge zu halten und so denn auch mit den Studenten Kontakt zu gewinnen Gelegenheit hatte –, diese Erfahrungen sprechen dafür, daß die zitierte Briefstelle repräsentativ ist, soweit es um die Grundstimmung und das Lebensgefühl geht, von denen die akademische Jugend heute beherrscht ist.

Aber nicht nur etwa sie. Hinsichtlich der Generation der Erwachsenen beschränke ich mich darauf, auf das Ergebnis von Untersuchungen hinzuweisen, die Rolf von Eckartsberg an Absolventen der Harvard University durchführen konnte: 20 Jahre nach ihrer Graduierung klagte ein erheblicher Prozentsatz dieser Leute – die inzwischen entsprechend Karriere gemacht hatten, aber auch darüber hinaus ein nach außen hin durchaus geordnetes und glückliches Leben führten – über ein abgründiges Gefühl letztlicher Sinnlosigkeit.

Und es mehren sich die Anzeichen dafür, daß sich das Sinnlosigkeitsgefühl immer mehr ausbreitet. Seine Präsenz wird heute bereits auch von den rein psychoanalytisch ausgerichteten Kollegen ebenso wie von marxistischer Seite bestätigt. So wurde auf einem internationalen Treffen der Anhänger von Freud vor kurzem erst übereinstimmend hervorgehoben, daß sie immer mehr mit Patienten konfrontiert werden, deren Beschwerden im wesentlichen in einem Gefühl totaler Inhaltslosigkeit, ihr Leben betreffend, bestehen. Ja, die Kollegen gingen so weit, daß sie vermuteten, in nicht wenigen Fällen sogenannter unabschließbarer Analysen sei eben die psychoanalytische Behandlung an sich und als solche, faute de mieux sozusagen, zum alleinigen Lebensinhalt geworden.

Was die marxistischen Kreise anlangt, sei nur Vymetal, der seinerzeitige Chef der Psychiatrischen Universitätsklinik von Olmütz (ČSSR) genannt, der – im Anschluß an andere Autoren aus der Tschechoslowakei sowie der Deutschen Demokratischen Republik – auf die Präsenz der existentiellen Frustration in kommunistischen Ländern ausdrücklich aufmerksam machte und, um diesem Phänomen beikommen zu können, auch die Forderung nach neuen therapeutischen Ansätzen erhob.

Schließlich wäre auch Klitzke hier anzuführen, ein amerikanischer Gastprofessor an einer afrikanischen Universität, der erst kürzlich in einem im American Journal of Humanistic Psychology erschienenen Bericht (Students in Emerging Africa – Logotherapy in Tanzania) bestätigen konnte, daß in der dritten Welt das existentielle Vakuum, zumal und zumindest in der akademischen Jugend, sich deutlich bemerkbar und geltend macht. Einen analogen Hinweis verdanken wir Joseph L. Philbrick (A Cross-Cultural Study of Frankl’s Theory of Meaning-in-Life).

Wenn ich gefragt werde, wie ich mir die Heraufkunft dieses existentiellen Vakuums erkläre, dann pflege ich die folgende Kurzformel anzubieten: Im Gegensatz zum Tier sagen dem Menschen keine Instinkte, was er muß, und im Gegensatz zum Menschen von gestern sagen dem Menschen von heute keine Traditionen mehr, was er soll. Nun, weder wissend, was er muß, noch wissend, was er soll, scheint er oftmals nicht mehr recht zu wissen, was er im Grunde will. So will er denn nur das, was die anderen tun – Konformismus! Oder aber er tut nur das, was die anderen wollen – von ihm wollen – Totalitarismus.*

* Wie Diana Young, eine Dissertantin an der Universität von Berkeley, mit Tests und Statistiken nachweisen konnte, ist das Sinnlosigkeitsgefühl unter jungen Leuten signifikant mehr verbreitet als unter älteren. Womit sich aber auch schon unsere Theorie vom Traditionsverlust als einer der beiden Ursachen für die Heraufkunft des Sinnlosigkeitsgefühls bestätigt hätte; denn nach dieser Theorie muß die für den jungen Menschen so charakteristische Lossagung von der Tradition das Sinnlosigkeitsgefühl intensivieren.

Nur daß wir aber über diesen beiden Folgeerscheinungen eine dritte nicht übersehen und vergessen dürfen, und zwar meine ich einen spezifischen Neurotizismus, nämlich das Auftreten der von mir als solche bezeichneten "noogenen Neurose". Im Gegensatz zur Neurose im engeren Wortsinn, die per definitionem eine psychogene Erkrankung darstellt, geht diese noogene Neurose nicht auf Komplexe und Konflikte im herkömmlichen Sinne zurück, sondern auf Gewissenskonflikte, auf Wertkollisionen und, last but not least, auf eine existentielle Frustration, die das eine oder andere Mal eben auch in neurotischer Symptomatologie ihren Ausdruck und Niederschlag finden kann. Und es ist James C. Crumbaugh, dem Leiter eines psychologischen Laboratoriums in Mississippi, zu verdanken, daß wir auch schon über einen Test verfügen (den PIL oder Purpose in Life-Test), der von ihm eigens zu dem Zwecke ausgearbeitet wurde, um die noogene Neurose von der psychogenen diagnostisch differenzieren zu können (erhältlich durch Psychometric Affiliates, Post Office Box 3167, Munster, Indiana 46321, USA). Nachdem er die gewonnenen Daten unter Zuhilfenahme eines Computers ausgewertet hatte, gelangte er zu dem Ergebnis, daß es sich bei der noogenen Neurose tatsächlich um ein neues Krankheitsbild handelt, das nicht nur diagnostisch, sondern auch therapeutisch den Rahmen der traditionellen Psychiatrie sprengt.

Was die Frequenz der noogenen Neurose anlangt, so sei auf die Ergebnisse statistischer Forschung verwiesen, wie sie Niebauer und Lukas in Wien, Frank M. Buckley in Worcester, Mass., USA, Werner in London, Langen und Volhard in Tübingen, Prill in Würzburg, Popielski in Polen und Nina Toll in Middletown, Conn., USA, erarbeitet haben. Testuntersuchungen haben übereinstimmend ergeben, daß mit etwa 20 Prozent noogener Neurosen zu rechnen ist.

Zuletzt wurde von Elisabeth Lukas ein neuer Test zwecks exakterer Erfassung der existentiellen Frustration – und zwecks Gewinnung von Möglichkeiten, gegebenenfalls nicht nur therapeutisch, sondern auch schon prophylaktisch einzugreifen! – erarbeitet: der "Logo-Test" (Zur Validierung der Logotherapie, in: Frankl, Der Wille zum Sinn, Hans Huber, Bern 1972).

Statistiker haben nachgewiesen, daß unter den amerikanischen Studenten als zweithäufigste Todesursache – nach dem Verkehrsunfall – der Selbstmord rangiert. Dabei ist die Zahl der (nicht tödlich ausgegangenen) Selbstmordversuche 15mal höher.

Nun wurde mir eine bemerkenswerte Statistik hinterbracht, die sich auf 60 Studenten an der Idaho State University bezieht, die nach solchen Selbstmordversuchen auf das genaueste befragt wurden, was das Motiv anbelangt, und da ergab sich, daß 85 Prozent in ihrem Leben keinen Sinn mehr sehen konnten; von diesen aber waren 93 Prozent physisch und psychisch gesund, sie lebten in guten wirtschaftlichen Verhältnissen und im besten Einvernehmen mit ihrer Familie, sie waren im gesellschaftlichen Leben aktiv engagiert und konnten auch mit ihren akademischen Fortschritten zufrieden sein. Von mangelhafter Bedürfnisbefriedigung konnte jedenfalls nicht die Rede sein. Nur um so mehr müssen wir uns aber fragen, was "die Bedingung der Möglichkeit" solcher Selbstmordversuche ist – was muß in die "condition humaine" eingebaut sein, damit es jemals zu so etwas wie einem Selbstmordversuch trotz der Befriedigung ubiquitärer Bedürfnisse kommen kann. Nun, das ist nur denkbar, wenn der Mensch eigentlich – und dort, wo er es nicht mehr ist, so doch wenigstens ursprünglich – darauf aus ist, in seinem Leben einen Sinn zu finden und diesen Sinn zu erfüllen. Das ist es auch, was wir in der Logotherapie mit dem motivationstheoretischen Konzept eines "Willens zum Sinn" umschreiben. Auf den ersten Blick will es freilich scheinen, als ob es sich da um eine Überschätzung des Menschen handelte – als ob wir ihn auf ein zu hohes Piedestal stellten. In diesem Zusammenhang fällt mir aber immer ein, was mir mein kalifornischer Fluglehrer gesagt hat:

Angenommen, ich will nach Osten fliegen, während ein Seitenwind von Norden kommt, dann würde ich mit meinem Flugzeug nach Südosten abgetrieben werden; steuere ich hingegen die Maschine nach Nordosten, dann fliege ich tatsächlich nach Osten und lande dort, wo ich landen will.

Ergeht es uns aber mit dem Menschen nicht ebenso? Nehmen wir ihn einfach so, wie er ist, dann machen wir ihn schlechter; nehmen wir ihn hingegen so, wie er sein soll, dann machen wir ihn zu dem, der er werden kann. Das hat mir allerdings nicht mein kalifornischer Fluglehrer gesagt, sondern das ist ein Wort von Goethe.

Wie man weiß, gibt es eine sogenannte – sich als solche bezeichnende – "Tiefenpsychologie". Wo aber bleibt die "Höhenpsychologie" – die den Willen zum Sinn mit in ihr Gesichtsfeld einbezieht? Jedenfalls läßt sich der Wille zum Sinn nicht als ein bloßes Desiderat abtun, als "wishful thinking". Eher handelt es sich um eine "self-fulfilling prophecy", wie die Amerikaner eine Arbeitshypothese nennen, die das, was sie entwirft, zu guter Letzt auch hervorbringt. Und wir Ärzte erleben das ja täglich und stündlich, sprechstündlich. So etwa, wenn wir einem Patienten den Blutdruck messen und feststellen, daß dieser 160 beträgt. Fragt uns der Patient nach der Höhe des Blutdrucks, und wir sagen ihm "160", dann haben wir ihm schon längst nicht mehr die Wahrheit gesagt, denn der Patient regt sich daraufhin auf und hat sogleich einen Blutdruck von 180. Sagen wir ihm hingegen, der Blutdruck sei praktisch normal, dann haben wir den Patienten nicht angelogen, sondern erleichtert aufatmend wird er uns gestehen, er hätte sich vor einem Schlaganfall gefürchtet, aber anscheinend sei diese seine Furcht grundlos gewesen, und wenn wir jetzt den Blutdruck nachmessen, können wir feststellen, daß er inzwischen auch wirklich auf einen normalen Wert heruntergesunken ist.

Dabei hat sich ja ohnehin herausgestellt, daß sich das Konzept vom Willen zum Sinn auch rein empirisch durchaus verifizieren läßt. Ich verweise nur auf die Arbeiten von Crumbaugh und Maholick (Ein psychometrischer Ansatz zu Viktor Frankls Konzept der "noogenen Neurose", in: Nikolaus Petrilowitsch, Die Sinnfrage in der Psychotherapie, Darmstadt 1972) sowie Elisabeth S. Lukas, die eigene Tests entwickelt haben, um den Willen zum Sinn zu quantifizieren, und Dutzende von Dissertationen haben – hauptsächlich mit Hilfe dieser Tests – die Motivationstheorie der Logotherapie validieren können.

Auf all dies kann ich innerhalb der mir gesteckten Grenzen nicht eingehen. Ich kann es mir aber ebensowenig versagen, Forschungsergebnisse in die Debatte zu ziehen, die nicht von Schülern von mir erstellt wurden. Wer wollte also am Willen zum Sinn – wohlgemerkt: nicht mehr und nicht weniger als der spezifisch humanen Motivation! – zweifeln, wenn er den Bericht des American Council on Education zur Hand nimmt, demzufolge unter 189.733 Studenten an 360 Universitäten das primäre Interesse von 73,7 Prozent dem Ziele galt, "sich zu einer Weltanschauung durchzuringen, von der aus das Leben sinnvoll ist". Oder nehmen wir einen Bericht des National Institute of Mental Health: Unter 7948 Studenten an 48 Hochschulen wollte die Spitzengruppe (78 Prozent) "in ihrem Leben einen Sinn finden".

Dergleichen gilt aber auch von Erwachsenen und nicht nur von jungen Leuten. Das University of Michigan Survey Research Center veranstaltete eine Befragung von 1533 Arbeitern hinsichtlich des Wertes, den sie der Arbeit beimessen. Die Befragung ergab, daß gute Bezahlung erst an fünfter Stelle rangierte. Die Gegenprobe aufs Exempel steuert der Psychiater Robert Coles bei: die Arbeiter, mit denen zu sprechen er Gelegenheit hatte, klagten in erster Linie über ein Sinnlosigkeitsgefühl. So läßt sich verstehen, daß Joseph Katz von der State University of New York prophezeit, die nächste Welle von Personal, das in die Industrie eintreten wird, werde nur an Berufen interessiert sein, die nicht nur Geld abwerfen, sondern auch Sinn geben.

Selbstverständlich wünscht sich jemand, der krank ist, zunächst einmal, gesund zu werden, und jemand, der arm ist, zunächst einmal, zu Geld zu kommen ("wenn ich doch nur reich wär", singt der Milchmann in "Anatevka"). Aber ebenso gewiß tun es beide ja nur, um dann ein Leben in ihrem Sinne führen – den Sinn ihres Lebens erfüllen zu können!

Bekanntlich hat Maslow zwischen niederen und höheren Bedürfnissen unterschieden und gemeint, die Befriedigung der niederen Bedürfnisse sei die Bedingung, unter der allein die höheren Bedürfnisse befriedigt werden können. Zu den höheren Bedürfnissen rechnet er auch den Willen zum Sinn und geht sogar so weit, daß er ihn als die "primäre Motivation des Menschen" bezeichnet. Das liefe allerdings darauf hinaus, daß der Mensch den Anspruch auf einen Sinn des Lebens erst dann anmeldet, wenn es ihm gutgeht ("erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral"). Dem steht aber entgegen, daß wir – und nicht zuletzt wir Psychiater – immer wieder zu beobachten Gelegenheit haben, wie das Bedürfnis und die Frage nach einem Lebenssinn gerade dann aufflammen, wenn es einem am dreckigsten geht. Das können die Sterbenden unter unseren Patienten ebenso bezeugen wie die Überlebenden der Konzentrations- und Kriegsgefangenenlager!

Auf der anderen Seite beschwört selbstverständlich nicht nur die Frustration der niederen Bedürfnisse die Sinnfrage herauf, sondern auch die Befriedigung der niederen Bedürfnisse, etwa im Rahmen der "affluent society". Wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir in diesem scheinbaren Widerspruch eine Bestätigung unserer Hypothese erblicken, der zufolge der Wille zum Sinn eine Motivation sui generis repräsentiert, die sich weder auf andere Bedürfnisse zurückführen noch von ihnen herleiten läßt (wie dies ja bereits von Crumbaugh und Maholick beziehungsweise Kratochvil und Planova auch empirisch bewiesen werden konnte).

Wir begegnen da einem Phänomen am Menschen, das ich für fundamental anthropologisch halte: die Selbst-Transzendenz menschlicher Existenz! Was ich damit umschreiben will, ist die Tatsache, daß Menschsein allemal über sich selbst hinausweist auf etwas, das nicht wieder es selbst ist – auf etwas oder auf jemanden: auf einen Sinn, den zu erfüllen es gilt, oder auf anderes menschliches Sein, dem wir da liebend begegnen. Im Dienst an einer Sache oder in der Liebe zu einer Person erfüllt der Mensch sich selbst. Je mehr er aufgeht in seiner Aufgabe, je mehr er hingegeben ist an seinen Partner, um so mehr ist er Mensch, um so mehr wird er er selbst. Sich selbst verwirklichen kann er also eigentlich nur in dem Maße, in dem er sich selbst vergißt, in dem er sich selbst übersieht. Ist es nicht wie beim Auge, dessen Sehtüchtigkeit davon abhängt, daß es nicht sich selbst sieht? Wann sieht denn das Auge etwas von sich selbst? Doch nur, wenn es erkrankt ist: Wenn ich an einem grauen Star leide, dann sehe ich eine Wolke – und damit nehme ich meine Linsentrübung wahr. Und wenn ich an einem grünen Star leide, dann sehe ich einen Hof von Regenbogenfarben rings um die Lichtquellen – das ist mein grüner Star. Im gleichen Maße ist aber auch die Fähigkeit meines Auges, die Umwelt wahrzunehmen, geschmälert und beeinträchtigt.

Hier soll jedoch von einem der (insgesamt 90) Teilergebnisse die Rede sein, die wir der empirischen Forschung von Frau Lukas verdanken: es zeigte sich nämlich, daß unter den Besuchern des berühmten Wiener Praters, also eines Vergnügungsparks, der objektivierte Pegel existentieller Frustration signifikant höher war als in der Wiener Durchschnittsbevölkerung (wo er sich in ziemlich gleicher Höhe hält im Vergleich zu den von amerikanischen und japanischen Autoren gemessenen und veröffentlichten Werten). Mit anderen Worten, der Mensch, der so besonders auf Genuß und Vergnügen aus ist, erweist sich letzten Endes als einer, der hinsichtlich seines Willens zum Sinn, also – um wieder mit Maslow zu sprechen – in seinem "primären" Anliegen, frustriert geblieben war.

Mich erinnert dies immer wieder an einen amerikanischen Witz, dem zufolge ein Mann auf der Straße seinen Hausarzt trifft, der sich dann nach seines Patienten Befinden erkundigt. Es zeigt sich aber alsbald, daß dieser Patient in letzter Zeit ein wenig schwerhörig geworden ist. "Wahrscheinlich trinken Sie zuviel", ermahnt ihn sein Hausarzt. Ein paar Monate später begegnen sie einander wieder auf der Straße, und abermals erkundigt sich der Arzt nach dem Befinden seines Patienten und hebt zu diesem Zweck seine Stimme. "Oh", meint der nun, "Sie brauchen nicht so laut zu sprechen: ich höre wieder ausgezeichnet." – "Wahrscheinlich haben Sie auch aufgehört zu trinken", meint der Arzt, "so ist s recht – nur so weiter." Wieder ein paar Monate später: "Wie geht’s Ihnen?" – "Wie bitte?" – "Wie es Ihnen geht, frage ich." Endlich versteht der Patient. "Nun, Sie sehen, ich höre wieder schlechter." – "Wahrscheinlich haben Sie wieder zu trinken begonnen." Woraufhin der Patient dem Arzt alles erklärt: "Schauen Sie: zuerst hab’ ich getrunken und schlecht gehört; dann hab’ ich aufgehört zu trinken und wieder besser gehört; aber was ich gehört hab’, war nicht so gut wie Whisky."
Wir können also sagen: In Ermangelung eines Lebenssinnes, dessen Erfüllung den Mann glücklich gemacht hätte, versuchte er, ein solches Glücksgefühl unter Umgehung jeder Sinnerfüllung herbeizuführen, und zwar auf dein Umweg über die Chemie. Tatsächlich läßt sich das Glücksgefühl, das normalerweise menschlichem Streben gar nicht als Ziel vorschwebt, vielmehr lediglich eine Begleiterscheinung des Sein-Ziel-erreicht-Habens vorstellt – diese Begleiterscheinung, dieser "Effekt", läßt sich auch "haschen", und die Einnahme von Äthylalkohol macht es möglich. B. A. Maki, der Direktor des Naval Alcohol Rehabilitation Center, stellt etwa fest:

In treating the alcoholic, we very often find that life has seemed to have lost meaning for the individual. (Bei der Behandlung von Alkoholikern stellen wir häufig fest, daß das Leben, so scheint es, an Sinn für das Individuum verloren hat.)

Eine Schülerin von mir an der United States International University in San Diego konnte im Zuge ihrer Forschungen, deren Ergebnisse sie dann in Dissertationsform zusammenfaßte, den Nachweis dafür erbringen, daß in 90 Prozent der von ihr untersuchten chronischen Fälle von schwerem Alkoholismus ein ausgesprochenes Sinnlosigkeitsgefühl vorlag: Nur um so verständlicher ist es, daß Crumbaugh mit einer auf die existentielle Frustration eingehenden Gruppen-Logotherapie in Fällen von Alkoholismus größeren Erfolg vorweisen konnte als im Rahmen von Kontrollgruppen, die mit konventionellen Therapiemethoden behandelt worden waren.

Analoges gilt von der Drogenabhängigkeit. Wenn wir Stanley Krippner glauben dürfen, dann liegt das Sinnlosigkeitsgefühl in 100% der Fälle der Drogenabhängigkeit zugrunde. In 100% der Fälle wurde nämlich die Frage, ob ihnen denn nicht alles sinnlos vorkomme, bejahend beantwortet. Eine meiner Dissertantinnen, Betty Lou Padelford, wies ebenso wie Shean und Fechtman nach, daß die existentielle Frustration bei Drogenabhängigen in einem mehr als doppelt so hohen Grade getestet werden konnte wie bei einer Vergleichsgruppe. Wieder ist es verständlich, wenn Fraiser, der in Kalifornien ein Rehabilitationszentrum für Drogenabhängige leitet und dort die Logotherapie eingeführt hat, nicht die durchschnittliche Erfolgsrate von 11 Prozent, sondern eine von 40 Prozent verzeichnen konnte.

Schließlich wären in diesem Zusammenhang Black and Gregson aus Neuseeland zu zitieren, denen zufolge Kriminelle in wesentlich stärkerem Maße existentiell frustriert waren als die Durchschnittsbevölkerung. Dazu paßt, daß Barber bei jugendlichen Kriminellen, die in sein kalifornisches Rehabilitationszentrum eingeliefert und dort logotherapeutisch behandelt worden waren, die durchschnittliche Rückfallrate von 40 Prozent auf 17 Prozent senken konnte.

Wir dürfen aber auch noch einen Schritt weitergehen und unsere Überlegungen und Erwägungen auf den planetarischen Maßstab erweitern, und das hieße, uns zu fragen, ob nicht auch auf dem Gebiet der Friedensforschung eine Umorientierung not tut. Tatsächlich klebt sie seit Jahr und Tag an der Problematik aggressiver Potentiale, seien sie nun im Sinne von Sigmund Freud zu verstehen oder aber in dem von Konrad Lorenz. Eigentlich verbleiben wir aber nach wie vor, mit beiden Fragestellungen, in einer subhumanen Dimension, und der Einstieg in die humane Dimension wird noch gar nicht gewagt. Innerhalb der Dimension der eigentlich menschlichen Phänomene jedoch – in der allein wir so etwas wie dem Willen zum Sinn zu begegnen vermöchten – könnte sich sehr wohl herausstellen, daß es letzten Endes wieder die Frustrierung ebendieses Sinnwillens, die existentielle Frustration und das immer mehr um sich greifende Sinnlosigkeitsgefühl sind, was – wohlgemerkt: nicht beim Tier, sondern beim Menschen, auf menschlicher Ebene! – die Aggressivität fördert, wo nicht überhaupt erst etabliert.

Sowohl der psychologisch unterbaute Begriff der Aggression im Sinne der Psychoanalyse von Sigmund Freud als auch der biologisch untermauerte im Sinne der Vergleichenden Verhaltensforschung von Konrad Lorenz entbehren des Hinblicks auf die Intentionalität, die das menschliche Seelenleben und so denn auch das menschliche Triebleben als solches, als menschliches, charakterisiert. In der Dimension der menschlichen Phänomene gibt es einfach nicht eine Aggression, die in einer bestimmten Menge da ist, auf ein Ventil drängt und mich, "ihr hilfloses Opfer", dazu treibt, nach irgendwelchen Objekten Ausschau zu halten, an denen ich sie endlich einmal auslassen, "abreagieren" könnte. Mag die Aggression auch noch so sehr biologisch präformiert und psychologisch substruiert sein: auf menschlicher Ebene lasse ich sie eingehen, lasse ich sie (im Sinne von Hegel) "aufgehen" in etwas ganz anderes: auf menschlicher Ebene hasse ich! Und der Haß ist, eben im Gegensatz zur Aggression, intentional gerichtet auf etwas, das ich hasse.

Haß und Liebe sind menschliche Phänomene, weil sie intentional sind, weil der Mensch jeweils Grund hat, etwas zu hassen und jemanden zu lieben. Es handelt sich jeweils um einen Grund, auf den hin er es tut, und nicht um eine (psychologische oder biologische) Ursache, die "hinter seinem Rücken" und "über seinen Kopf hinweg" Aggressivität und Sexualität zur Folge hat (mit einer biologischen Ursache haben wir es etwa im Falle der Experimente von W. R. Hess zu tun, in deren Rahmen er von Elektroden aus, die in subkortikale Zentren des Katzengehirns versenkt worden waren, Wutanfälle auslösen konnte).

Wie wenig würden wir doch den Widerstandskämpfern gegen den Nationalsozialismus gerecht, wenn wir sie für die Opfer "aggressiver Potentiale" hielten, die sich mehr oder minder zufällig gegen Adolf Hitler gerichtet hatten. Im Grund meinten sie mit ihrem Kampf gar nicht ihn, sondern eben den Nationalsozialismus, ein System. Sie wandten sich nicht gegen eine Person, sondern gegen eine Sache. Und im Grunde sind wir erst dann, wenn wir in diesem Sinne "sachlich" sein können, auch wirklich menschlich. Gar erst dort, wo wir aus solcher Sachlichkeit heraus imstande sind, für eine Sache nicht nur zu leben, sondern auch zu sterben.

Solange die Friedensforschung nur das subhumane Phänomen "Aggression" interpretiert und nicht das humane Phänomen "Haß" analysiert, ebenso lange ist sie zur Sterilität verurteilt. Der Mensch wird nicht zu hassen aufhören, wenn man ihm einredet, daß er von Mechanismen und Impulsen beherrscht wird. Dieser Fatalismus weiß nicht darum, daß, wann immer ich aggressiv bin, nicht die Mechanismen und Impulse zählen, die es in mir, die es in meinem Es geben mag, sondern daß ich es bin, der da haßt, und daß es dafür keine Entschuldigung gibt, sondern nur Verantwortung.

Dazu kommt, daß das Gerede von den "aggressiven Potentialen" nahelegt, sie kanalisieren und sublimieren zu wollen. Wie Verhaltensforscher aus der Schule Konrad Lorenz jedoch nachweisen konnten, wird Aggressivität, die – etwa auf dem Fernsehschirm – auf harmlose Objekte abgelenkt und an ihnen abreagiert werden soll, in Wirklichkeit überhaupt erst provoziert und, wie ein Reflex, solcherart nur noch mehr gebahnt.

Des weiteren berichtete die Soziologin Carolyn Wood Sherif, daß die volkstümliche Vorstellung, der sportliche Wettkampf sei ein Ersatzkrieg ohne Blutvergießen, falsch ist: Drei Gruppen Jugendlicher in einem abgeschlossenen Camp hätten gerade durch sportliche Wettkämpfe Aggressionen gegeneinander aufgebaut, statt sie abzubauen. Die Pointe kommt aber erst: Ein einziges Mal waren unter den Lagerinsassen die gegenseitigen Aggressionen wie hinweggefegt, und das war der Fall, als die jungen Leute einen im lehmigen Boden steckengebliebenen Karren, mit dem die Lebensmittel in das Lager transportiert werden sollten, mobilisieren mußten; die wenn auch anstrengende, so doch sinnvolle "Hingabe an eine Aufgabe" hatte sie ihre Aggressionen buchstäblich "vergessen" lassen.

Hier sehe ich viel eher noch einen fruchtbaren Ansatz zur Friedensforschung als in dem endlosen Wiederkäuen des Geredes von aggressiven Potentialen, mit welchem Konzept man die Menschen glauben macht, Gewalt und Krieg seien Schicksal.

Ich bin andernorts (Existentielle Frustration als ätiologischer Faktor in Fällen von aggressivem Verhalten, in: Festschrift für Richard Lange zum 70. Geburtstag, Walter de Gruyter, Berlin 1976) auf diese Thematik eingegangen und begnüge mich hier damit, sie anzudeuten und Robert Jay Lifton – einem internationalen Experten auf diesem Gebiet – das Wort zu überlassen, der in seinem Buch History and Human Survival folgendes schreibt:

Menschen sind am ehesten daran, zu töten, wenn sie sich in einer Sinnleere befinden.

In der Tat: aggressive Impulse scheinen nicht zuletzt dort zu wuchern, wo ein existentielles Vakuum vorliegt.

Was von der Kriminalität gilt, läßt sich auch auf die Sexualität anwenden: Nur in ein existentielles Vakuum hinein wuchert die sexuelle Libido. Diese Hypertrophie ins Vakuum hinein erhöht nun die Bereitschaft zu sexualneurotischen Reaktionen. Denn was vom Glück und dessen "Effekt"-Charakter gesagt wurde, gilt nicht weniger von der sexuellen Lust: Je mehr es einem um die Lust geht, um so mehr vergeht sie einem auch schon. Und auf Grund jahrzehntelanger klinischer Erfahrung wage ich zu behaupten, daß Störungen von Potenz und Orgasmus in der Majorität der Fälle auf ebendieses Reaktionsmuster zurückzuführen sind, also darauf, daß die Sexualität genau in dem Maße gestört ist, in dem sich Absicht und Aufmerksamkeit ihrer bemächtigen. Je mehr die Aufmerksamkeit vom Partner abgewendet und dem Sexualakt selbst zugewendet wird, um so mehr ist der Sexualakt auch schon gehandikapt. Dies beobachten wir etwa in all jenen Fällen, in denen es unseren männlichen Patienten in erster Linie darum zu tun ist, ihre Potenz zu demonstrieren, oder in denen unsere weiblichen Patienten in erster Linie ein Interesse daran haben, sich selbst zu beweisen, daß sie auch wirklich eines vollen Orgasmus fähig und nicht am Ende frigid sind. Wir sehen, wieder wird nach etwas "gehascht", das normalerweise "Effekt" ist – und eben auch bleiben muß, wofern es nicht auch schon zerstört werden soll.

Diese Gefahr droht nun um so mehr, als die Sexualität ja auch im großen Maßstab ins existentielle Vakuum hinein wuchert. Sind wir doch heute mit einer sexuellen Inflation konfrontiert, die – wie jede Inflation, auch die auf dem Geldmarkt – mit einer Entwertung Hand in Hand geht. Und zwar wird die Sexualität insofern entwertet, als sie entmenschlicht wird. Denn menschliche Sexualität ist mehr als bloße Sexualität, und mehr als bloße Sexualität ist sie in dem Grade, in dem sie – auf menschlicher Ebene – Vehikel transsexualer, personaler Beziehungen ist (die sich natürlich nicht wieder in das Prokrustes-Bett von Klischees, wie "zielgehemmte Strebungen" oder "bloße Sublimierungen", hineinzwängen lassen, nur weil man lieber die Realität verleugnet, sobald sie einmal den Rahmen populärer Vereinfachungen sprengt). (Eibl-Eibesfeldt hat nachzuweisen vermocht, daß nicht nur auf der humanen, sondern bereits auf einer subhumanen Ebene diese Umfunktionierung stattfindet: Auch tierische Sexualität kann mehr sein als bloße Sexualität. Zwar steht sie nicht wie die menschliche im Dienste personaler Beziehungen, sehr wohl aber dient beispielsweise die Bindungskopulation des Mantelpavians einem sozialen Zweck, wie denn überhaupt "bei Wirbeltieren sexuelle Verhaltensweisen verschiedentlich in den Dienst der Gruppenbindung gestellt" werden.)
Es wäre sogar im ureigensten Interesse derjenigen gelegen, denen es letzten Endes um nichts anderes zu tun ist als den sexuellen Genuß und das sexuelle Vergnügen, wenn sie dafür sorgten, daß ihre sexuellen Kontakte eingebettet blieben in eine über das bloße Sexuelle hinausgehende Beziehung zum Partner, also wenn sie auf die menschliche Ebene angehoben würden. Auf menschlicher Ebene aber kommt der Sexualität eine Ausdrucksfunktion zu: auf menschlicher Ebene ist sie Ausdruck einer Liebesbeziehung, "Inkarnation" – Fleischwerdung – von so etwas wie Liebe oder auch nur Verliebtsein. Daß die Sexualität erst dann auch wirklich beglückend sein kann, hat sich zuletzt an den Ergebnissen einer Umfrage gezeigt, die von der amerikanischen Zeitschrift Psychology Today veranstaltet worden war: 20.000 Antworten auf die Frage, was Potenz und Orgasmus wohl am intensivsten stimulierte, ergaben als verläßlichstes Stimulans "romanticism", also Verliebtsein in den Partner, wo nicht mehr: Liebe zu ihm.
Aber nicht nur in Richtung auf die Person des Partners wäre, vom Standpunkt einer Prophylaxe der Sexualneurosen aus betrachtet, die möglichste "Personierung" der Sexualität wünschenswert, sie ist es auch in Richtung auf die eigene Person. Die normale sexuelle Entwicklung und Reifung des Menschen läuft auf eine zunehmende Integrierung der Sexualität ins Gesamtgefüge der eigenen Person hinaus. Daraus erhellt, daß umgekehrt jede Isolierung der Sexualität allen Integrierungstendenzen zuwiderläuft und damit auch neurotisierenden Tendenzen Vorschub leistet. Die Desintegrierung der Sexualität – das Sie-Herausbrechen aus dem personalen und interpersonalen transsexualen Zusammenhang – bedeutet eine Regression.

Aber hinter solchen regressiven Tendenzen wittert die sexuelle Vergnügungsindustrie ihre einmalige Chance, ein einzigartiges Geschäft. Und der Tanz um das Goldene Schwein setzt nun ein. Wieder vom Standort einer Prophylaxe der Sexualneurosen gesehen ist das Bedenkliche daran der sexuelle Konsumationszwang, der von der Aufklärungsindustrie ausgeht. Wir Psychiater erfahren es immer wieder von unseren Patienten, wie sehr sie sich unter dem Druck einer von dieser Aufklärungsindustrie manipulierten öffentlichen Meinung nachgerade verpflichtet fühlen, sich fürs Sexuelle um seiner selbst willen, also im Sinne einer depersonalisierten und dehumanisierten Sexualität, zu interessieren. Aber wir Psychiater wissen auch darum, wie sehr all dies gerade dazu angetan ist, Potenz und Orgasmus zu schwächen. Und wer dann sein Heil in den Raffinements einer "Liebes"-Technik sieht, den bringt sie nur noch um den Rest jener Spontaneität, jener Unmittelbarkeit, jener Selbstverständlichkeit, jener Unbefangenheit, die eine Bedingung und Voraussetzung normalen sexuellen Funktionierens ist und deren gerade der Sexualneurotiker so sehr bedürfte. Mit alledem wird keineswegs der Aufrechterhaltung irgendwelcher Tabus das Wort geredet oder gegen die Freiheit im Sexualleben Stellung genommen. Aber die Freiheit, die jene meinen, die sie so oft im Munde führen, ist letzten Endes die Freiheit, Geschäfte zu machen mit Hilfe sogenannter Aufklärung. In Wirklichkeit füttern sie nur die Sexualpsychopathen und Voyeurs mit Material für ihre Phantasie. Aufklärung ist okay. Aber wir müssen uns fragen: Aufklärung für wen? Und wir müssen die Öffentlichkeit vor allem darüber aufklären, was unlängst der Besitzer eines sich vorwiegend mit sogenannten Aufklärungsfilmen abgebenden Kinos sagte, als er im Fernsehen interviewt wurde: daß sich nämlich seine nach sogenannter Aufklärung lechzende Kundschaft mit wenigen Ausnahmen aus 50- bis 80-jährigen Leuten zusammensetzt ... Gegen Heuchelei im Sexualleben sind wir alle; aber wir müssen auch gegen jene Heuchelei auftreten, die Freiheit sagt und Geld meint.

Zurück zum existentiellen Vakuum, zum Sinnlosigkeitsgefühl: Freud hat einmal in einem Brief geschrieben:

Im Moment, da man nach Sinn und Wert des Lebens fragt, ist man krank, denn beides gibt es ja in objektiver Weise nicht; man hat nur eingestanden, daß man einen Vorrat von unbefriedigter Libido hat.

Ich persönlich kann das nicht glauben. Ich halte es nicht nur für ein spezifisches Humanum, die Frage nach dem Sinn des Lebens zu stellen, sondern zum Menschsein gehört auch noch dazu, einen solchen Sinn in Frage zu stellen. Im besonderen ist es ein Vorrecht des jungen Menschen, seine Mündigkeit an den Tag zu legen, indem er zunächst einmal den Sinn des Lebens in Frage stellt, und von diesem Vorrecht macht er auch reichlich Gebrauch.

Einstein hat einmal gemeint, wer sein eigenes Leben als sinnlos empfinde, der sei nicht nur unglücklich, sondern auch kaum lebensfähig. Tatsächlich kommt dem Willen zum Sinn etwas zu, das die amerikanische Psychologie als "survival value" bezeichnet. Es war nicht zuletzt die Lektion, die ich aus Auschwitz und Dachau mit nach Hause nehmen konnte: daß diejenigen noch am ehesten fähig waren, sogar noch solche Grenzsituationen zu überleben – diejenigen, sage ich, die ausgerichtet waren auf die Zukunft, auf eine Aufgabe, die auf sie wartete, auf einen Sinn, den sie erfüllen wollten. Und amerikanische Psychiater haben dies später in japanischen, nordvietnamesischen und nordkoreanischen Kriegsgefangenenlagern bestätigen können. Sollte nun, was von einzelnen gilt, nicht ebenso auch von der Menschheit im ganzen gelten? Und sollten wir uns nicht, im Rahmen sogenannter Friedensforschung, die Frage angelegen sein lassen, ob nicht auch für das Überleben der Menschheit die einzige Chance letzten Endes in einer allen gemeinsamen Aufgabe liegt, in einem gemeinsamen Willen zu einem gemeinsamen Sinn?

Diese Frage kann natürlich nicht nur von uns Psychiatern gelöst werden. Sie muß also zunächst einmal offengelassen – aber ebenso muß sie wenigstens gestellt werden. Und gestellt werden muß sie, wie gesagt, auf menschlicher Ebene, auf der allein wir ja so etwas wie den Willen zum Sinn – und dessen Frustration – überhaupt zu Gesicht bekommen können. Und so gilt denn auch von der Pathologie des Zeitgeistes, was wir von der Neurosenlehre und Psychotherapie von Individuen wissen: Mit den depersonalisierenden und dehumanisierenden Trends, die allenthalben überhandnehmen, wird es nur eine rehumanisierte Psychotherapie aufnehmen können.

Wie sagten wir eingangs? Jede Zeit hat "ihre" Neurose – und jede Zeit braucht "ihre" Psychotherapie. Jetzt wissen wir mehr: Nur die rehumanisierte Psychotherapie kann die Zeichen der Zeit verstehen – und den Nöten der Zeit sich stellen.

Um aber auf das Sinnlosigkeitsgefuhl zurückzukommen: Können wir nun dem existentiell frustrierten Menschen von heute einen Sinn geben? Wir müssen schon froh sein, wenn er dem Menschen von heute nicht genommen wird, nämlich von seiten einer reduktionistischen Indoktrination. Sollte Sinn machbar sein?

Lassen sich die verlorenen Traditionen oder gar die verlorenen Instinkte wiederbeleben? Oder gilt, was Novalis einmal gemeint hat, daß es nämlich zur Naivität kein Zurück gibt, daß die Leiter, auf der wir emporgestiegen sind, umgefallen ist?

Sinn geben würde auf Moralisieren hinauslaufen. Und die Moral im alten Sinn wird bald ausgespielt haben. Über kurz oder lang werden wir nämlich nicht mehr moralisieren, sondern die Moral ontologisieren – gut und böse werden nicht definiert werden im Sinne von etwas, das wir tun sollen beziehungsweise nicht tun dürfen, sondern gut wird uns dünken, was die Erfüllung des einem Seienden aufgetragenen und abverlangten Sinnes fördert, und für böse werden wir halten, was solche Sinnerfüllung hemmt.
Sinn kann nicht gegeben, sondern muß gefunden werden. Und zwar läuft der Prozeß dieser Sinnfindung auf eine Gestaltwahrnehmung hinaus. Die Begründer der Gestaltpsychologie, Lewin und Wertheimer, sprachen bereits von einem Aufforderungscharakter, wie er jeder einzelnen Situation zukommt, mit der uns die Wirklichkeit konfrontiert. Wertheimer ging sogar so weit, daß er der in jeder einzelnen Situation involvierten Forderung ("requiredness") eine ausgesprochene Objektivität ("objective quality") zubilligte. Übrigens sagt auch Adorno: "Der Begriff des Sinns involviert Objektivität jenseits allen Machens."

Was die Sinnfindung gegenüber der Gestaltwahrnehmung auszeichnet, ist meines Erachtens folgendes: Es wird nicht einfach eine Figur wahrgenommen, die uns vor einem "Hintergrund" in die Augen springt, sondern bei der Sinn-Wahrnehmung handelt es sich um die Entdeckung einer Möglichkeit vor dem Hintergrund der Wirklichkeit. Und diese Möglichkeit ist jeweils einmalig. Sie ist vergänglich. Aber auch nur sie ist vergänglich. Ist eine Sinnmöglichkeit einmal verwirklicht, ist der Sinn einmal erfüllt, so ist er es nämlich ein für allemal.

Sinn muß gefunden, kann aber nicht erzeugt werden. Was sich erzeugen läßt, ist entweder subjektiver Sinn, ein bloßes Sinngefühl, oder – Unsinn. Und so ist es denn auch verständlich, daß der Mensch, der nicht mehr imstande ist, in seinem Leben Sinn zu finden, ebensowenig aber auch, ihn zu erfinden, auf der Flucht vor dem Sinnlosigkeitsgefühl entweder Unsinn oder subjektiven Sinn erzeugt: während sich ersteres auf der Bühne – Absurdes Theater! – ereignet, geschieht letzteres im Rausch, im besonderen in dem durch LSD induzierten. In diesem Rausch geschieht es aber auch auf die Gefahr hin, daß am wahren Sinn, an den echten Aufgaben draußen in der Welt (im Gegensatz zu den bloß subjektiven Sinnerlebnissen in einem selbst) vorbeigelebt wird.

Mich erinnert das immer an die Versuchstiere, denen kalifornische Forscher Elektroden in den Hypothalamus verpflanzt haben. Wann immer der Strom geschlossen wurde, erlebten die Tiere Befriedigung, sei es des Geschlechtstriebes, sei es des Nahrungstriebes; schließlich lernten sie es, den Strom selber zu schließen, und ignorierten dann die realen Geschlechtspartner und das reale Futter, das ihnen angeboten wurde.

Sinn muß aber nicht nur, sondern kann auch gefunden werden, und auf der Suche nach ihm leitet den Menschen das Gewissen. Mit einem Wort, das Gewissen ist ein Sinn-Organ. Es ließe sich definieren als die Fähigkeit, den einmaligen und einzigartigen Sinn, der in jeder Situation verborgen ist, aufzuspüren.

Das Gewissen gehört zu den spezifisch menschlichen Phänomenen; aber es ist nicht nur menschlich, sondern auch allzu menschlich, so zwar, daß es an der condition humaine teilhat und deren Signatur, der Endlichkeit, unterworfen ist. Das Gewissen kann den Menschen ja auch irreführen. Mehr noch: bis zum letzten Augenblick, bis zum letzten Atemzug weiß der Mensch nicht, ob er wirklich den Sinn seines Lebens erfüllt hat oder nicht vielmehr nur geglaubt hat, ihn zu erfüllen: ignoramus et ignorabimus. Seit Peter Wust gehören Ungewissheit und Wagnis zusammen. Mag das Gewissen auch noch so sehr den Menschen im Ungewissen lassen über die Frage, ob er den Sinn seines Lebens erfaßt und ergriffen hat – solche "Ungewißheit" enthebt ihn nicht des "Wagnisses", seinem Gewissen zu gehorchen oder zunächst einmal auf dessen Stimme zu horchen.

Aber nicht nur dieses "Wagnis" gehört zu jener "Ungewißheit", sondern auch die Demut. Daß wir nicht einmal auf unserem Sterbebett wissen werden, ob das Sinn-Organ, unser Gewissen, nicht am Ende einer Sinn-Täuschung unterlegen ist, bedeutet aber auch schon, daß das Gewissen des andern recht gehabt haben mag. Das soll nicht heißen, daß es keine Wahrheit gibt. Es kann nur eine Wahrheit geben; aber niemand kann wissen, ob er es ist und nicht jemand anderer, der sie besitzt. Demut bedeutet also Toleranz; aber Toleranz bedeutet nicht Indifferenz; denn den Glauben des Andersgläubigen respektieren heißt noch lange nicht, sich mit dem anderen Glauben identifizieren.
Wir leben im Zeitalter eines um sich greifenden Sinnlosigkeitsgefühls. In diesem unserem Zeitalter muß es sich die Erziehung angelegen sein lassen, nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern auch das Gewissen zu verfeinern, so daß der Mensch hellhörig genug ist, um die jeder einzelnen Situation innewohnende Forderung herauszuhören. In einem Zeitalter, in dem die Zehn Gebote für so viele ihre Geltung zu verlieren scheinen, muß der Mensch instand gesetzt werden, die 10.000 Gebote zu vernehmen, die in den 10.000 Situationen verschlüsselt sind, mit denen ihn sein Leben konfrontiert. Dann wird ihm nicht nur ebendieses sein Leben wieder sinnvoll erscheinen, sondern er selbst wird dann auch immunisiert sein gegenüber Konformismus und Totalitarismus – diesen beiden Folgeerscheinungen des existentiellen Vakuums; denn ein waches Gewissen allein macht ihn "widerstands"-fähig, so daß er sich eben nicht dem Konformismus fügt und dem Totalitarismus beugt.

So oder so: mehr denn je ist Erziehung notwendig – Erziehung zur Verantwortung. Und verantwortlich sein heißt selektiv sein, wählerisch sein. Wir leben in einer affluent society, werden "reizüberflutet" von den mass media, und wir leben im Zeitalter der Pille. Wollen wir nicht in der Flut all dieser Reize, in einer totalen Promiskuität untergehen, dann müssen wir unterscheiden lernen, was wesentlich ist und was nicht, was Sinn hat und was nicht, was sich verantworten läßt und was nicht.
Sinn ist also jeweils der konkrete Sinn einer konkreten Situation. Er ist jeweils "die Forderung der Stunde". Sie aber ist jeweils an eine konkrete Person adressiert. Und genauso wie jede einzelne Situation etwas Einmaliges ist – genauso ist jede einzelne Person etwas Einzigartiges.

Jeder Tag, jede Stunde wartet also mit einem neuen Sinn auf, und auf jeden Menschen wartet ein anderer Sinn. So gibt es einen Sinn für einen jeden, und für einen jeden gibt es einen besonderen Sinn.

Aus alledem ergibt sich, daß der Sinn, um den es da geht, ebenso von Situation zu Situation wie von Person zu Person wechseln muß. Aber er ist allgegenwärtig . Es gibt keine Situation, in der das Leben aufhören würde, uns eine Sinnmöglichkeit anzubieten, und es gibt keine Person, für die das Leben nicht eine Aufgabe bereithielte. Die Möglichkeit, einen Sinn zu erfüllen, ist jeweils einmalig, und die Persönlichkeit, die sie verwirklichen kann, ist jeweils einzigartig. In der logotherapeutischen Literatur finden sich Publikationen von Casciani, Crumbaugh, Dansart, Durlak, Kratochvil, Lukas, Mason, Meier, Murphy, Planova, Popielski, Richmond, Ruch, Sallee, Smith, Yarnell und Young, aus denen hervorgeht, daß die Möglichkeit, im Leben einen Sinn zu finden, unabhängig ist von der Geschlechtszugehörigkeit, vom Intelligenzquotienten, vom Bildungsniveau, davon, ob wir religiös sind oder nicht,* und, wenn wir religiös sind, davon, ob wir uns zu diesem oder jenem Glauben bekennen. Schließlich wurde nachgewiesen, daß die Sinnfindung unabhängig ist vom Charakter und von der Umwelt.

* Was uns eigentlich nicht zu wundern braucht, da wir ja der Ansicht sind, daß auch jemand, der bewußt nicht religiös ist, unbewußt sehr wohl religiös sein mag, und sei es auch nur in jenem weitesten Sinne von religiös sein, den etwa Albert Einstein, Paul Tillich und Ludwig Wittgenstein im Auge haben.

Kein Psychiater, kein Psychotherapeut – auch kein Logotherapeut – kann einem Kranken sagen, was der Sinn ist, sehr wohl aber, daß das Leben einen Sinn hat, ja – mehr als dies: daß es diesen Sinn auch behält, unter allen Bedingungen und Umständen, und zwar dank der Möglichkeit, noch im Leiden einen Sinn zu finden. Eine phänomenologische Analyse des unmittelbaren, unverfälschten Erlebens, wie wir es vom schlichten und einfachen "Mann von der Straße" erfahren können und nur noch in die wissenschaftliche Terminologie zu übersetzen brauchen, würde nämlich enthüllen, daß der Mensch nicht nur – kraft seines Willens zum Sinn – nach einem Sinn sucht, sondern daß er ihn auch findet, und zwar auf drei Wegen. Zunächst einmal sieht er einen Sinn darin, etwas zu tun oder zu schaffen. Darüber hinaus sieht er einen Sinn darin, etwas zu erleben, jemanden zu lieben; aber auch noch in einer hoffnungslosen Situation, der er hilflos gegenübersteht, sieht er unter Umständen einen Sinn.
Worauf es ankommt, ist die Haltung und Einstellung, mit der er einem unvermeidlichen und unabänderlichen Schicksal begegnet. Erst die Haltung und Einstellung gestattet ihm, Zeugnis abzulegen von etwas, wessen der Mensch allein fähig ist: das Leiden auf der menschlichen Ebene in eine Leistung umzusetzen und umzugestalten. Ein Medizinstudent aus den Vereinigten Staaten schreibt mir:

Einer meiner besten Freunde starb unlängst, weil er einen Sinn nicht hatte finden können. Heute weiß ich, daß ich ihm sehr wohl hätte helfen können, dank der Logotherapie, wenn er noch am Leben wäre. Aber er ist es nun einmal nicht mehr. Sein Tod jedoch wird mir immer dazu dienen, all jenen beizustehen, die Not leiden. Ich glaube, einen tieferen Beweggrund kann es nicht geben. Trotz meiner Trauer um den Tod meines Freundes, trotz meiner Mitschuld an diesem seinem Tode ist sein Dasein – und sein Nicht-mehr-Sein – ungemein sinnvoll. Wenn ich jemals die Stärke aufbringe, als Arzt zu arbeiten und meiner Verantwortung gewachsen zu sein, dann wird er nicht umsonst gestorben sein. Mehr als alles andere in der Welt will ich eines tun: verhüten, daß eine solche Tragödie nochmals geschieht – einem anderen geschehe.

Es gibt keine Lebenssituation, die wirklich sinnlos wäre. Dies ist darauf zurückzuführen, daß die scheinbar negativen Seiten der menschlichen Existenz, insbesondere jene tragische Trias, zu der sich Leid, Schuld und Tod zusammenfügen, auch in etwas Positives, in eine Leistung gestaltet werden können, wenn ihnen nur mit der rechten Haltung und Einstellung begegnet wird.

Und doch kommt es zu einem existentiellen Vakuum. Und dies mitten in einer "affluent society", die kein einziges unter den von Maslow so benannten Grundbedürfnissen unbefriedigt gelassen hätte. Das rührt daher, daß sie eben nur Bedürfnisse befriedigt, aber nicht den Willen zum Sinn erfüllt. "Ich bin 22 Jahre alt", schrieb mir einmal ein amerikanischer Student. "Ich besitze einen akademischen Grad, besitze einen luxuriösen Wagen, bin überhaupt finanziell unabhängig, und es steht mir mehr Sex und mehr Prestige zur Verfügung, als ich verkraften kann. Was ich mich frage, ist nur, was das alles für einen Sinn haben soll."

Die Überflußgesellschaft bringt einen Überfluß an Freizeit mit sich, die zwar Gelegenheit zu sinnvoller Lebensgestaltung böte, in Wirklichkeit aber das existentielle Vakuum nur noch mehr zutage treten läßt, wie wir Psychiater es in Fällen von sogenannter "Sonntagsneurose" beobachten können. Und die nimmt anscheinend zu. Hat doch das Institut für Demoskopie in Allensbach feststellen müssen, daß es 1952 26 Prozent waren, denen an Sonntagen die Zeit zu lange wird, während es heute 37 Prozent sind. Und so ist denn auch verständlich, wenn Jerry Mandel sagt:

Die Technik hat uns erspart, all unsere Fähigkeiten für den Kampf ums Dasein einzusetzen. So haben wir einen Wohlfahrtsstaat entwickelt, der garantiert, daß man ohne persönliche Anstrengung am Leben bleiben kann. Wenn es einmal so weit ist, daß dank der Technik 15 Prozent der amerikanischen Arbeiter tatsächlich für die Bedürfnisse der ganzen Nation aufkommen können, dann stellen sich uns zwei Probleme: Wer soll zu den 15 Prozent gehören, die da arbeiten, und was sollen die anderen mit ihrer freien Zeit anfangen – und mit dem Verlust ihres Lebenssinns? Mag sein, daß die Logotherapie dem Amerika des nächsten Jahrhunderts mehr zu sagen haben wird, als sie dem Amerika dieses Jahrhunderts bereits gegeben hat.

Leider ist die Problematik hier und heute eine andere: Nicht selten ist es die Arbeitslosigkeit, die zu einem Überfluß an Freizeit führt, und bereits 1933 habe ich das Krankheitsbild einer "Arbeitslosigkeitsneurose" beschrieben. Ohne Arbeit erschien den Leuten das Leben sinnlos – sie selbst kamen sich nutzlos vor. Das Bedrückendste war nicht die Arbeitslosigkeit an sich, sondern das Sinnlosigkeitsgefühl. Der Mensch lebt nicht von der Arbeitslosenunterstützung allein.

Im Gegensatz zu den dreißiger Jahren ist aber die Wirtschaftskrise heute auf eine Energiekrise zurückzuführen: zu unserem Schrecken hatten wir entdecken müssen, daß die Energiequellen nicht unerschöpflich sind. Ich hoffe, daß man es nicht für frivol halten wird, wenn ich nun die Behauptung wage, die Energiekrise und das mit ihr einhergehende verminderte Wirtschaftswachstum sei, was unseren frustrierten Willen zum Sinn anlangt, eine einzige große Chance. Wir haben die Chance, uns selbst zu besinnen. Zur Zeit der Überflußgesellschaft hatten die meisten Leute genug, wovon sie leben konnten. Aber viele Menschen wußten von nichts, wofür sie hätten leben können. Nunmehr mag es sehr wohl zu einer Akzentverschiebung kommen von den Lebens-Mitteln zu einem Lebens-Zweck, zu einem Lebenssinn. Und im Gegensatz zu den Energiequellen ist der Sinn ja unerschöpflich, allgegenwärtig.

Mit welchem Recht können wir aber zu sagen wagen, das Leben höre nie und für niemanden auf, einen Sinn zu behalten? Das rührt daher, daß der Mensch imstande ist, auch eine ausweglose Situation menschlich gesehen noch in eine Leistung zu verwandeln. Darum gibt ja auch das Leiden noch eine Sinnmöglichheit her. Selbstverständlich ist nur von unaufhebbaren und unabwendbaren Situationen die Rede, die sich nicht ändern lassen, von einem Leiden, das nicht aus der Welt geschafft werden kann. Als Arzt denke ich natürlich zunächst einmal an unheilbare Krankheiten, an inoperable Karzinome.

Im Erfüllen von Sinn verwirklicht der Mensch sich selbst. Erfüllen wir nun den Sinn von Leiden, so verwirklichen wir das Menschlichste im Menschen, wir reifen, wir wachsen, wir wachsen über uns selbst hinaus. Gerade dort, wo wir insofern hilflos und hoffnungslos sind, als wir eine Situation nicht ändern können – gerade dort sind wir aufgerufen und ist uns abverlangt, uns selbst zu ändern. Und niemand hat dies treffender beschrieben, als Yehuda Bacon, der bereits als Kind nach Auschwitz kam und nach seiner Befreiung an Zwangsvorstellungen litt:

Ich sah ein Leichenbegängnis mit einem prächtigen Sarg und Musik – und begann zu lachen: Sind die verrückt – wegen einer einzigen Leiche machen sie soviel her? Wenn ich in ein Konzert oder in ein Theater ging, mußte ich ausrechnen, wie lange es dauern würde, so viele Leute, wie dort versammelt waren, zu vergasen, wieviel Kleidungsstücke, wieviel Goldzähne, wieviel Säcke mit Haaren das ausmachen würde.

Und da fragte sich Yehuda Bacon, was für einen Sinn die Jahre gehabt haben mochten, die er in Auschwitz verbracht hatte:

Als Knabe dachte ich, ich werde der Welt schon sagen, was ich in Auschwitz gesehen habe – in der Hoffnung, die Welt würde einmal eine andere werden. Aber die Welt ist nicht anders geworden, und die Welt wollte von Auschwitz nichts hören. Erst viel später habe ich wirklich verstanden, was der Sinn des Leidens ist. Das Leiden hat einen Sinn, wenn du selbst ein anderer wirst.

Der Sinn des Leidens

Nun hat es der Arzt als solcher immer wieder mit leidenden Menschen zu tun und so denn auch mit unheilbar Kranken, Menschen also, die sich – und eben auch ihn – mit der Frage konfrontieren, ob ihr Leben, angesichts eben ihres unabänderlich gewordenen, ja unabwendbar gewesenen Leidens nicht ganz und gar sinnlos geworden ist. Der Arzt ist dann vor die Aufgabe gestellt, seinen Patienten nicht nur, wie es immer schon zu den Aufgaben ärztlichen Handelns gehört hatte, arbeits- und, darüber hinaus, auch noch genußfähig zu machen, sondern nun geht es um die Leidensfähigkeit, eine dritte Aufgabe.

Die Leidensfähigkeit aber ist letztlich nichts anderes als die Fähigkeit, das zu verwirklichen, was ich als Einstellungswerte bezeichne. Nicht nur das (der Arbeitsfähigkeit entsprechende) Schaffen kann nämlich dem Dasein Sinn geben – ich spreche dann von der Verwirklichung schöpferischer Werte –, und nicht nur das (der Genußfähigkeit entsprechende) Erleben, Begegnen und Lieben kann das Leben sinnvoll machen – ich spreche dann von Erlebniswerten –, sondern auch das Leiden; ja hierbei handelt es sich nicht bloß um irgendeine Möglichkeit, sondern um die Möglichkeit, den höchsten Wert zu verwirklichen, um die Gelegenheit, den tiefsten Sinn zu erfüllen.

Worauf es, ärztlich oder – besser gesagt: vom Kranken her gesehen, ankommt, ist die Haltung, in der sich einer der Krankheit stellt, die Einstellung, in der er sich mit der Krankheit auseinandersetzt. Mit einem Wort: worauf es ankommt, ist die rechte Haltung, ist das rechte, aufrechte Leiden echten Schicksals. Das Wie des Tragens notwendigen Leidens birgt möglichen Sinn. Nun, muß uns hierzu nicht ein Gedicht von Julius Sturm einfallen, das Hugo Wolf vertont hat?

Über Nacht, über Nacht kommen Freud und Leid,
Und eh’ du’s gedacht, verlassen dich beid’
Und gehen, dem Herrn zu sagen,
Wie du sie getragen.

Tatsächlich: aufs Tragen kommt es an – darauf, wie man das Schicksal trägt, sobald man es nicht mehr in die Hand nehmen, vielmehr nur noch auf sich nehmen kann. Mit anderen Worten: Wo keine Handlung mehr möglich ist – die das Schicksal zu gestalten vermöchte –, dort ist es nötig, in der rechten Haltung dem Schicksal zu begegnen.
Nunmehr wird uns klar, mit welchem Recht Goethe sagen konnte:

Es gibt keine Lage, die man nicht veredeln könnte entweder durch Leisten oder Dulden.

Nur daß wir es ergänzen müssen: Das Dulden, zumindest im Sinne des rechten, aufrechten Leidens echten Schicksals, ist selber und seinerseits eine Leistung – ja mehr als dies: nicht nur eine, sondern die höchste Leistung, die dem Menschen verstattet ist. Und so verstehen wir denn auch die Worte von Hermann Cohen:
Die höchste Würde des Menschen ist das Leiden.

Versuchen wir, die Frage zu beantworten, warum der Sinn, den das Leiden dem Menschen offeriert, der höchstmögliche ist. Nun, die Einstellungswerte erweisen sich insofern als ausgezeichnet gegenüber den schöpferischen und Erlebniswerten, als der Sinn des Leidens dem Sinn der Arbeit und dem Sinn der Liebe dimensional überlegen ist. Und warum dem so ist? Wollen wir davon ausgehen, daß sich der Homo sapiens aufgliedern läßt in den Homo faber, der schaffend seinen Daseinssinn erfüllt, in den Homo amans, der erlebend, begegnend und liebend sein Leben mit Sinn anreichert, und in den Homo patiens, den leidenden Menschen, den sein Leiden "leistenden" Menschen. Der Homo faber ist nun so recht, was man einen Erfolgsmenschen nennt; er kennt nur zwei Kategorien, und nur in ihnen denkt er: Erfolg und Mißerfolg. Zwischen diesen beiden Extremen bewegt sich sein Leben in der Linie einer Erfolgsethik. Anders der Homo patiens: Seine Kategorien heißen nicht mehr Erfolg und Mißerfolg, vielmehr Erfüllung und Verzweiflung.

Mit diesem Kategorienpaar jedoch stellt er sich senkrecht zur Linie aller Erfolgsethik; denn Erfüllung und Verzweiflung gehören einer anderen Dimension an. Aus dieser dimensionalen Verschiedenheit aber ergibt sich ihre dimensionale Überlegenheit; denn siehe, der Homo patiens kann sich noch im äußersten Mißerfolg, im Scheitern erfüllen. So hätte sich denn gezeigt, daß Erfüllung mit Mißerfolg kompatibel ist, nicht anders als Erfolg mit Verzweiflung. Doch ist dies nur von der dimensionalen Differenz der zwei Kategorienpaare her zu verstehen. Freilich: Würden wir den Triumph des Homo patiens, seine Sinn- und Selbsterfüllung im Leiden, in die Linie der Erfolgsethik hineinprojizieren, so müßte er sich auf Grund der dimensionalen Differenz punktuell abbilden, das heißt, wie ein Nichts aussehen, als eine Absurdität imponieren. Mit anderen Worten: in den Augen des Homo faber muß der Triumph des Homo patiens Torheit und Ärgernis sein.

Bei alledem ist klar, daß der Möglichkeit, schöpferische Werte zu verwirklichen, also durch eine rechte Handlung das Schicksal in die Hand zu nehmen, der Vorrang gebührt gegenüber der Notwendigkeit, in der rechten Haltung das Schicksal auf sich zu nehmen, also Einstellungswerte zu verwirklichen. Kurz: Wenn auch die Sinnmöglichkeit, die das Leiden birgt, dem Wertrang nach überlegen ist der Sinnmöglichkeit des Schaffens, also wenn auch noch so sehr dem Leidenssinn der Primat zukommt – dem Schaffenssinn eignet die Priorität; denn nicht schicksalhaft notwendiges, sondern unnötiges Leiden auf sich zu nehmen wäre keine Leistung, vielmehr Mutwille. Unnötiges Leiden ist – um die Ausdrücke von Max Brod zu gebrauchen – "unedles" und nicht "edles" Unglück.

Wie spiegeln sich die Verhältnisse nun im ärztlich-praktischen Raum? Nun, das Gesagte würde bedeuten, daß beispielsweise ein operables Karzinom keine Krankheit ist, deren Leiden sinnvoll wäre; vielmehr würde es sich um mutwilliges Leiden handeln. Dem Betreffenden, dem Betroffenen gebräche es an Mut, nämlich zur Operation, während es dem blindwütig mit dem Schicksal eines inoperablen Karzinoms Hadernden an Demut gebräche. Und Schmerzen sind im allgemeinen ebensowenig schicksalhaft notwendiges, vielmehr sinnloses Leiden; denn innerhalb weitester Grenzen lassen sie sich auch stillen. Der Verzicht auf Narkose oder Lokalanästhesie oder aber, im Falle inoperabler Erkrankung, auf jedes schmerzstillende Medikament ist keineswegs jedermanns Sache; es war vielleicht Sigmund Freuds Sache: Tatsächlich hat er bis zuletzt auf jedes Analgetikum heroischen Verzicht geleistet – buchstäblich "geleistet" (wie weise ist die Sprache!). Im allgemeinen aber muß solcher Verzicht einem abverlangt werden. So daß keinerlei Verzicht-"Leistung" vorliegt, wenn ich mutwillig auf jede Schmerzstillung verzichte.

Immer wieder hat der Arzt die Chance, zu sehen, wie ein Patient die Wendung vollzieht von der im Vordergrund des alltäglichen Bewußtseins im durchschnittlichen Dasein stehenden Möglichkeit, durch das Schaffen seinem Leben Sinn zu geben, zu der Notwendigkeit, durch das Leiden, das Hinnehmen leidvollen Schicksals die Sinngebung des Daseins zu leisten. An Hand eines konkreten Falles soll nun gezeigt werden, wie nicht nur der Verzicht auf die Arbeit und auf die in ihr gründende Sinnmöglichkeit, sondern auch der Verzicht auf die Liebe den Menschen zwingen kann, die Gelegenheit zur Sinnerfüllung wahrzunehmen, die im Leiden eben dieser schicksalhaften Verarmung an Sinnmöglichkeiten liegt:

An mich wendet sich ein alter praktischer Arzt; vor einem Jahr ist ihm seine über alles geliebte Frau gestorben, und über diesen Verlust kann er nicht hinwegkommen. Ich frage den schwerst deprimierten Patienten, ob er sich überlegt habe, was geschehen wäre, wenn er selbst früher als seine Frau gestorben wäre. "Nicht auszudenken", antwortete er, "meine Frau wäre verzweifelt gewesen." Nun brauchte ich ihn nur darauf aufmerksam zu machen: "Sehen Sie, dies ist Ihrer Frau erspart geblieben, und Sie haben es ihr erspart, freilich um den Preis, daß nunmehr Sie ihr nachtrauern müssen." Im gleichen Augenblick hatte sein Leiden einen Sinn bekommen: den Sinn eines Opfers. Am Schicksal konnte nicht das geringste geändert werden; aber die Einstellung hatte sich gewandelt! Das Schicksal hatte ihm abverlangt, sich von der Möglichkeit, durch Lieben Sinn zu erfüllen, zurückzuziehen; aber die Möglichkeit war ihm geblieben, sich auch diesem Schicksal zu stellen, sich richtig einzustellen.

Oder ich könnte aus Briefen zitieren, die mir Häftlinge aus dem Zuchthaus von Florida geschrieben haben:

Ich habe den Sinn meines Lebens gefunden, jetzt, während ich in Haft bin, und ich brauche nur noch eine Weile zu warten, bis ich eine Gelegenheit habe, alles wiedergutzumachen – und von nun an alles besser zu machen.

Die Nummer 049246 schreibt mir:

Hier in Haft gibt es immer mehr Möglichkeiten, einer Sache zu dienen und über sich selbst hinauszuwachsen. Ich muß sagen, irgendwie bin ich heute glücklicher denn je.

Und die Nummer 552-022 schreibt mir:

Lieber Herr Doktor! Während der letzten paar Monate hat eine Gruppe von Häftlingen miteinander Ihre Bücher gelesen und Ihr Tonband gehört. Wie wahr: daß sich auch noch im Leiden ein Sinn finden läßt ... Irgendwie hat mein Leben erst begonnen – welch ein herrliches Gefühl! Es ist rührend, wie meine Brüder in unserer Gruppe mit Tränen in den Augen erleben, daß ihr Leben hier und jetzt einen Sinn gewinnt, den sie nie zuvor für möglich gehalten hätten. Was da geschieht, grenzt an ein Wunder.

Menschen, die hilflos und hoffnungslos gewesen waren, sehen auf einmal einen neuen Sinn in ihrem Leben. Hier, im Gefängnis mit den härtesten Sicherheitsvorkehrungen von ganz Florida – hier, nur ein paar hundert Meter vom elektrischen Stuhl entfernt –, ausgerechnet hier werden unsere Träume wahr. Es ist vor Weihnachten; aber für uns bedeutet die Logotherapie Ostern. Über der Schädelstätte von Auschwitz geht an diesem Ostermorgen die Sonne auf. Welch ein neuer Tag mag da auf uns zukommen!

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