Auszüge aus Werner Gross'
"Hinter jeder Sucht ist eine Sehnsucht"

Die geheimen Drogen des Alltags – Alltagssüchte erkennen und überwinden

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Vorwort

In den letzten Jahren scheinen immer mehr Menschen alle möglichen Verhaltensweisen in einem solchen Extrem zu betreiben (von Extremsportarten wie Bungee-Springen und freeclimbing über rauschhaftes Einkaufen bis hin zu süchtigem Arbeiten und Börsen-Zocken), daß man von einer zunehmenden "Versüchtelung" der Gesellschaft sprechen kann. Besonders die medialen Abhängigkeiten (TV, Computer, Internet, Handies) scheinen zuzunehmen.

Seit ich Ende der 70er Jahre begann, mich mit dem Thema "Alltägliche Suchtformen" zu beschäftigen – und die erste Auflage dieses Buches 1985 erschien – hat sich die Diskussion zu dem Thema Sucht ohne Drogen drastisch geändert.

Während man Mitte der 80er Jahre die Position, was denn nun Sucht sei, die ich schon damals vertrat, bekämpfte, ablehnte oder auch einfach nur belächelte, ist sie heute weitgehend akzeptiert. Aber so ist das nun mal mit Pionierarbeiten – es braucht seine Zeit, bis die Positionen der traditionellen Suchttheoretiker und Suchtpraktiker ins Wanken geraten. Meine wichtigsten Thesen:

  •       Es gibt Rausch und Sucht, ohne daß von außen Chemie (Drogen, Alkohol, Medikamente, etc.) zugeführt wird. Man bezeichnet dies als "süchtiges Verhalten", "stoffungebundene (oder nichtstoffliche) Suchtformen" oder als "Sucht ohne Drogen".
  •       Nicht das Suchtmittel (oder das süchtige Verhalten) macht abhängig, sondern der Bewußtseinszustand, den man sich damit produziert. Deshalb gibt es bei vielen Süchtigen einen "Symptomwechsel" von einem Suchtverhalten zum nächsten: Aus dem Alkoholiker wird ein Spielsüchtiger, aus einer Medikamentenabhängigen wird eine Eß-Süchtige.
  •       Sucht beginnt immer ganz harmlos. Die Übergänge von Rausch und Sucht sind fließend. Die Schwachformen von Sucht nennt man "Versüchtelung".
  •       Sucht ist immer Ablenkung vom Problem, nie Hinlenkung.
  •       Die Schädigung durch stoffungebundene Suchtformen sind meist nicht so gravierend wie die schweren Abhängigkeiten von Drogen, Alkohol und Medikamenten.
  •       Allerdings ist der Veränderungsprozeß (mit oder ohne Psychotherapie oder Unterstützung durch Selbsthilfegruppen) bei den Süchten ohne Drogen oft schwieriger, weil bei den meisten der alltäglichen Suchtformen Abstinenz nicht als klares Orientierungskriterium zur Verfügung steht (z.B. beim Essen, Arbeiten, Beziehungen, Sex), sondern ein maßvoller (und meist kontrollierter) Umgang damit gelernt werden muß – was sehr viel schwerer ist, als sich an der eindeutigen Mauer der Abstinenz entlanghangeln zu können.

Obwohl sehr viele Verhaltensweisen süchtig entgleisen können, ist mir wichtig, nicht jedes abweichende Verhalten gleich als Sucht zu etikettieren. Damit dies gelingt, ist es nötig, daß man sich die Suchtkriterien klar macht (siehe dazu "Kleines Lexikon der Begriffe") und sich ebenfalls die Übergänge vor Augen führt (siehe "Wo Genuß zur Sucht wird"). Nur so kann man für sich Orientierungspunkte finden, um festzustellen, wie es denn mit dem eigenen Suchtverhalten aussieht.
Sicher ist vieles, über das ich hier schreibe, noch nicht endgültig erforscht, und endgültige Positionen sind noch nicht gefunden. Aber vielleicht ist dieses Buch ja ein Beitrag dazu.

Was ist Sucht?

Süchtig – ohne Drogen

Ich habe in meinem Leben nicht besonders viel Erfahrung mit "Drogen" im herkömmlichen Sinn gehabt. Abgesehen vom pubertätsbedingten Zigarettenqualmen, ein paar wenigen Rauscherlebnissen mit Alkohol oder Haschisch und Marihuana ist da gar nichts zu vermelden. Trotzdem hatte ich schon relativ früh das Gefühl, daß ich ein "Leidensverwandter" sei. Ich konnte nicht nur Süchtige verstehen und mit ihnen gut umgehen, sondern hatte selbst – wenn ich auch weder Drogen noch Alkohol oder Nikotin zu mir nahm – jede Menge süchtiges Verhalten drauf: ob Essen oder Einkaufen, Fernsehen oder Spielen, alles bekam ziemlich schnell einen rauschhaften, einen süchtigen "touch".

Am meisten verwunderte mich das beim Arbeiten, denn ursprünglich hielt ich mich – wie wohl die meisten Leute – für eher arbeitsscheu. Arbeit war immer eher eine Last als eine Lust für mich. Aber manchmal, während meines Psychologiestudiums zum Beispiel oder als ich als Journalist arbeitete, wenn ich diese Barriere überwunden hatte, packte mich eine regelrechte Arbeitswut: Ich war total überwältigt von meiner Gier, noch schneller, noch hastiger, noch intensiver zu arbeiten. Das war dann eine Mischung aus Euphorie und Angst und steigerte sich an bestimmten Tagen so sehr, daß ich fast rund um die Uhr tätig war, kaum schlief, wenig aß und mich wie in einem Rausch befand: Ich nahm den Rest der Welt kaum wahr. Auf Leute konnte ich mich nicht richtig einlassen. Ich konnte mich nicht entspannen oder schlafen. Ich war wie auf einem sich immer schneller drehenden Karussell. Das einzige, was mich interessierte, war die Arbeit.

In solchen Situationen hatte ich das Gefühl, ich könnte "über Leichen gehen" – wenn es nur die Arbeit voranbrachte. Meine Hektik machte es mir allerdings oft schwer, bei einer Sache oder einem Thema zu bleiben. Ich war flatterhaft und konnte mich schwer konzentrieren. Ich war wie besessen von dem Drang nach Aktivitäten. Sie waren in dieser Situation der Maßstab meines Lebens. Wenn ich versagt hätte, die Arbeit also nicht gut genug gewesen wäre, wäre ich tief abgestürzt in Depressionen – doch das geschah relativ selten.

Aber dieser ganz nahe Abgrund machte die Angst aus, war der Stachel, der mich immer weiter trieb. Auf der anderen Seite lockte der "Größenwahn": Phantasien über Begeisterungsanfälle von Hörern oder Lesern meiner Reportagen, jede Menge Preisverleihungen und eine mich in extreme Höhen hochjubelnde Laudatio schossen mir in Rauschzeiten durchs Hirn. Manchmal wurde ich mehr von meiner Angst vorwärts geschoben, manchmal mehr von Lobhudeleien gezogen. Je nach Anlaß und innerer Seelenverfassung war’s mal ein "Horror-Trip", mal eine Art "Glückspsychose" – fast immer aber ein innerer Kampf wie auf Leben und Tod.

Solche Erlebnisse dauerten manchmal nur ein paar Stunden, manchmal aber auch Wochen. Wenn ich dann runter kam, war ich total erschöpft und entweder zufrieden und fühlte mich wie neugeboren oder unzufrieden und so, als hätte ich nicht genügt – Tenor: "Setzen, Fünf". Im Nachhinein glaube ich, daß das so eine ähnliche Erfahrung ist, wie wenn man sich in einem Drogenrausch befindet. Ich sagte in meiner Studentenzeit auch immer: "Ich brauche eure Drogen nicht. Ich habe meine Trips auch ohne."
Und noch etwas stellte ich relativ bald bei mir fest: Es gab bei mir so etwas wie eine Sehn-Sucht nach Extremen. In der Psychologie hat man dafür ja auch schon einen Begriff: "Reizsucher". Nur meine Reize waren früher ziemlich extrem: mal ging ich eine Woche betteln, mal machte ich ein Überlebenstraining mit, mal fastete ich drei Wochen oder zog mich für einige Zeit in die Abgeschiedenheit eines Klosters zurück. In den Rundfunk- oder Zeitschriftenredaktionen war ich deshalb eine Zeitlang als eine Art "Psycho-Wallraff" verschrieen. Was mich daran reizte, war die Grenzerfahrung: Wie weit kann ich mit mir gehen? "Testing-the-lines" nennen das die Psychologen. Man könnte das auch Suche nach Über-sich-hinauswachsen, nach Entgrenzung und Ekstase, nach "außer sich sein" nennen. Letzten Endes ist das auch oft ein Grund für Leute, sich mit Drogen zu betäuben: Weil die Situation, in der sie sich befinden, nicht so ist, oder weil sie nicht so sind, wie sie sich das wünschen, greifen sie zu einem Ersatz, der kurzfristig Hilfe ist, langfristig aber zum Verhängnis wird. Beim Fernsehen, Tanzen oder Spielen war das ganz anders als beim Arbeiten. Ich merkte, daß ich mich einfach damit "zudröhnte", um vor dem Frust des Alltags wegzulaufen, aus Langeweile, weil ich nicht wußte, wie ich meine Zeit sinnvoller und befriedigender verbringen könnte oder auch zur Belohnung. Mal zog ich mir einen Film rein, um mich selbst zu vergessen, drehte das Tapedeck so auf, daß mir fast das Trommelfell platzte oder ich spielte nächtelang mit Freunden oder gegen Maschinen oder surfte im Internet, obwohl es von einem gewissen Punkt an überhaupt keinen Spaß mehr machte, sondern nur noch wie ein Trott war: einfach weiter, immer mehr, mehr, mehr ...

All das zusammen brachte mich relativ bald auf den Gedanken, daß ich zwar kein Drogenabhängiger war, aber irgendwie doch süchtig. Nur war mir nicht ganz klar, wie das aussah, denn es gab in der Psychologie dafür keine Bezeichnung, kein Etikett. Sucht und Drogen, das war irgendwie gekoppelt, und außer Drogensucht gab es nichts. Schon 1975 schrieb ich deshalb meine erste Rundfunksendung über diesen Themenbereich der alltäglichen Suchtformen, des süchtigen Verhaltens. Seit dieser Zeit hat mich das Thema immer wieder beschäftigt, und es begegnet mir heute sehr oft in meiner psychotherapeutischen Arbeit. Ich habe inzwischen eine ganze Serie von Reportagen, wissenschaftlichen Berichten und Büchern* darüber geschrieben. An der Fachhochschule Fulda habe ich ein Seminar über "alltägliche Suchtformen" geleitet, und inzwischen bin ich mir etwas klarer darüber geworden, woher dieses "süchtige Verhalten" kommt, wie es sich entwickelt und wie man lernen kann, es zu verändern.

* Z.B. Sucht ohne Drogen, Was ist das Süchtige an der Sucht? und Nicht nur Drogen machen süchtig.

Süchtig sind immer die anderen

Wenn man den Begriff Sucht hört, denkt man gewöhnlich an Heroinfixer, Kokainisten, Alkoholiker oder Tablettenabhängige. Jeder hat da seine eigenen Bilder: Dem einen fallen die altchinesischen Opiumhöhlen ein, dem anderen tote Fixer im Bahnhofsklo. Die einen denken an den Penner, der frühmorgens unrasiert an der Trinkbude seinen "Zitterschluck" hastig hinunterkippt, um überhaupt dem Tag begegnen zu können, die anderen sehen den merkwürdigen Arbeitskollegen vor sich, der manchmal nach Schnaps riecht und immer mit dem "Flachmann" in die Pause geht. Wieder andere haben von dem "Kokser" in der Zeitung gelesen, der "Amok gelaufen" ist. Relativ wenigen fällt dagegen die angepaßte Tablettenabhängige ein, die, wenn’s schwierig wird, ihre "Rosa Brille für den Alltag" aus der Pillenschachtel nimmt.

So gesehen sind die Süchtigen wirklich eine Minderheit – wenn sie auch so klein gar nicht mehr ist: Fast 2,5 Millionen behandlungsbedürftige Alkoholiker, 1,5 Millionen Tablettenabhängige und zwischen 100.000 und 150.000 meist junge Leute, die von den illegalen Drogen wie Heroin, Opium, Kokain oder den so genannten Designerdrogen abhängig sind. – Nicht mitgerechnet sind die mehreren hunderttausend Haschisch- und Marihuana-Raucher. Und solange man sie ausgrenzen und dingfest machen kann, gilt für viele der schöne Spruch: Süchtig – das sind immer die anderen.

Selbst süchtig zu sein, das weisen die meisten Menschen heftig von sich. Indes – da gibt es alltägliche Formen der Sucht, von denen sehr viel größere Teile der Bevölkerung betroffen sind, als man wahrhaben will. Noch relativ offensichtlich ist der Suchtaspekt beim Rauchen. Immerhin fast jeder dritte der 18 Millionen deutschen Raucher würde gern von der Zigarette loskommen. Schon schwieriger ist es für viele zu akzeptieren, daß Essen zur Sucht werden kann. Und viele tippen sich an den Kopf, wenn man ihnen sagt, daß auch ihre Art zu arbeiten, fernzusehen, im Internet zu surfen, zu spielen oder zu kaufen süchtig entgleisen kann. Aber sie kann. Wie schrieb doch der Psychoanalytiker und Psychiater Victor von Gebsattel: Jede Leidenschaft kann süchtig entarten. Damit genau das nicht passiert, ist es wichtig, früh genug zu erkennen, wann ein bestimmtes Verhalten zur Sucht zu werden droht – und was man dagegen unternehmen kann.

Wo Genuß zur Sucht wird – Vom normalen zum süchtigen Verhalten

Die Götter sind gerecht: Aus unseren Lüsten erschaffen sie das Werkzeug, uns zu geißeln. Shakespeare: König Lear

Es beginnt immer ganz harmlos. Wir alle kennen solche Situationen: Da trinkt "man mal einen über den Durst", frißt sich so richtig proppesatt (weil’s so gut schmeckt) oder surft die ganze Nacht im Internet. Der eine berauscht sich an einem Wagnerkonzert, der andere braucht dazu Tabak (oder gar Haschisch) und ein dritter joggt für das "high" sein durch den Park. Da arbeitet man ein paar Nächte durch, weil etwas "ganz dringend" fertig werden muß, oder man zieht sich – weil man sich so dünnhäutig fühlt – die Bettdecke über den Kopf, um die Welt zu vergessen.

Niemand käme auf den Gedanken, die oben aufgezählten Verhaltensweisen etwa als Sucht zu bezeichnen, falls sie nicht tagtäglich oder jede Woche vorkommen und der oder die Betreffende wirklich Spaß dabei hatten. Kommen diese Mechanismen allerdings regelmäßig vor und werden sie benutzt, um dadurch Konflikten ständig auszuweichen oder vor ihnen davonzulaufen, ist die Sache schon nicht mehr ganz so einfach. Diese Art der "Problemlösung" führt selten sehr weit, aber ist das schon Sucht? Oder Abhängigkeit? Oder nur Gewohnheit? Oder ganz normal?

Jeder von uns schleppt mit sich eine ganze Reihe Konflikte und Probleme herum, die im Augenblick nicht lösbar sind oder nicht lösbar zu sein scheinen. Jeder Mensch hat seine Mechanismen entwickelt, um mit diesem Streß fertig zu werden, einer echten Konfliktlösung auszuweichen oder sie zumindest aufzuschieben. Die meisten dieser Mechanismen sind gesellschaftlich weit verbreitet, werden als " normale" Verhaltensweisen akzeptiert und fallen nicht weiter auf:

  •       Peter trinkt Alkohol, "um sich zu entspannen".
  •       Maria schiebt sich, wenn’s dick kommt, ein Stück Sahnetorte rein.
  •       Jens raucht wie ein Schlot, wenn er Druck im Büro hat.
  •       Dieter setzt sich ins Auto und rast auf der Autobahn.
  •       Inge rauscht sich mit ihrem Walkman zu.
  •       Hans dreht den Fernseher an, um sich abzulenken.
  •       Gerhard stürzt sich bei Problemen mit seiner Freundin in die Arbeit.

Allen diesen Situationen gemeinsam ist das Ausweichen: sich nicht mit den Schwierigkeiten, die da sind, auseinandersetzen und sie bewußt und willentlich anzugehen und direkt zu lösen. Rolf Hanten nennt das in seinem Buch Normal und Süchtig denn auch "ausweichendes Verhalten".

Ausweichen gehört zum Repertoire unseres Verhaltens: Nicht mehr hinsehen müssen, sich mit etwas anderem beschäftigen ist ein legitimer und oft auch ein sinnvoller Mechanismus, um nicht verbissen an einem Problem zu hängen, sondern sich zu erlauben auszuspannen und erfrischt mit einer neuen Sichtweise an das Problem heranzugehen. Genauso wie der Versuch, die Probleme direkt lösen zu wollen oder sie einfach einmal hinzunehmen, ist das Ausweichen sinnvoll und hat seine Berechtigung.

Wo also fängt die Gewohnheit, wo die Abhängigkeit oder die Sucht an?

...

Fernsehen: Das allmähliche Verschwinden der Wirklichkeit

"Lesen muß man lernen. Fernsehen ist eine angeborene Fähigkeit. Also ist Fernsehen viel natürlicher, als das umständliche Lesen."
14jähriger Gymnasiast in der Zeitschrift Eltern

An die 30 Fernsehprogramme prasseln heute auf die verkabelten Bundesdeutschen (bzw. die mit der Satellitenschüssel auf dem Dach) ein. Neben den öffentlich-rechtlichen Sendern ARD, ZDF, den dritten Programmen und den "Ablegern" 3SAT und ARTE sind es vor allem die Privaten (RTL 1 + 2, SAT1, PRO7, KABEL1, VOX etc.), die die Informationsflut im Wohnzimmer heftig haben anwachsen lassen. Außer den ausländischen Sendern (NBC, CNN, SKY) und den Spartenprogrammen wie den Musikkanälen MTV und VIVA, den Sportsendern Deutsches Sportfernsehen und Eurosport, machen sich auch pay-TV-Stationen wie Premiere und Premiere World breit, die es sich bezahlen lassen, daß ihre Programme nicht mehr durch Werbung unterbrochen werden. Es ist zwar noch nicht so schlimm wie in New York, wo 150 Fernsehsender auf die Zuschauer einprasseln, aber schon heute finden sich immer mehr Leute im Wildwuchs der schönen neuen Fernsehwelt nicht mehr zurecht.

Schließlich empfangen zur Zeit mehr als 80 Prozent der bundesdeutschen Haushalte das Spektrum der Satelliten- und Kabelanbieter. Und das wird in Zukunft sicher noch mehr werden. Wenn das digitale Fernsehen erst den Markt bestimmt, wird sich das Programmangebot vervielfachen. Vor allem Pay TV wird wachsen, und es wird das hinzukommen, was man "pay-per-view" nennt: daß man wie im Kino nur das bezahlt, was man sich auch ansieht.

Als der Lehrer in einer Schulklasse fragte, was die Leute früher wohl am Abend gemacht haben, als es noch keinen Strom gab, sagte ein Schüler: "Da haben sie bei Kerzenlicht ferngesehen."

In den USA existieren seit ein paar Jahren Gruppen, die sich "Couch-Potatoes", Sofa-Kartoffeln, nennen. Die Szene-Zeitschrift Tempo schrieb Mitte der 90er unter der Überschrift "Jünger der Glotze": Ihr Gott ist der Bildschirm, ihr Evangelium die Programmzeitschrift, ihr "Vater unser" der Titelsong der Muppet Show. Die "Couch-Potatoes" sind eine amerikanische Sekte, die Fernsehen zur Religion erklärt hat. 10.000 Mitglieder zählt sie bereits, jedes davon muß täglich 10 Stunden vor der Glotze meditieren.

Gehüllt in die Couch-Potatoes-Tracht, Bademantel, Filzfez und Club-T-Shirt, treffen sie sich in "Clubheimen" bei Bier, Würstchen, Sprühkäse und Tubenschokolade zum "Simulviewing", dem Synchron-Sehen mehrerer Fernsehprogramme. Dabei können die 3 bis 5 TV-Geräte, die gleichzeitig laufen, auch mal auf dem Kopf stehen.

Eine Couch-Potatoe-Organisation existiert zwar nicht im deutschsprachigen Raum, aber Vielseher gibt es auch hier. Weniger als 1,5 Prozent der bundesdeutschen Haushalte haben keinen Fernsehapparat. So gibt es heute kaum einen Haushalt, in dem nicht eine Flimmerkiste den Feierabend strukturieren hilft. Viele können sich heute gar nicht mehr vorstellen, wie die Menschen ihre Freizeit verbrachten, bevor es das Fernsehen gab.

Die Fernsehfamilie ihrer Lieblingsserie ist heute gerade für Kinder mitunter schon wichtiger als die eigene Familie. Und so hat in vielen Familien das beliebteste Familienmitglied eine drahtlose Fernbedienung und ein viereckiges Gesicht. Der Erziehungspsychologe Urie Bronfenbrenner schrieb schon vor Jahren: Die meisten amerikanischen Familien bestehen aus zwei Eltern, einem oder mehreren Kindern und einem Fernseher.

Heute gibt es jedoch einen zentralen Unterschied: Es gibt immer mehr Familien, die drei, vier oder gar fünf Fernseher haben, und wo sich jeder zurückziehen kann, um in seinem Zimmer vor seinem Apparat zu sitzen. Jedes fünfte Kind hat schon heute seine eigene "Flimmerkiste". Gabi, eine 27-jährige Angestellte:

Ich gucke vielleicht sechs Stunden am Tag, oft den ganzen Abend lang. Ziemlich oft muß ich sagen. Ich würde mich nicht als fernsehsüchtig bezeichnen. Ich will das ja. Natürlich könnte ich ohne – aber ich will ja Fernsehen gucken. – Ich gucke ja gerne Fernsehen. Und warum soll ich mir das abgewöhnen?

Die Kasselerin Gisela Martin hat schon in den 80er Jahren den Weltrekord im Dauerfernsehen geschafft. Nach dreizehn Tagen Non-Stop-TV (nur unterbrochen von einer zweistündigen Schlafpause und dreißig Minuten Toilette pro Tag) war die 38-jährige Stenotypistin Weltrekordlerin.

So viel schafft "Otto Normalverbraucher" zwar nicht, aber trotz steigender Mediennutzung (wie Internet, Computer, WAP) sehen die Bundesdeutschen zu Beginn den neuen Jahrtausends im Durchschnitt täglich fast dreieinhalb Stunden (201 min.) fern, mit einem sich verringernden Unterschied zwischen Ost (223 min.) und West (195 min.). Insgesamt verbringt jeder Bundesbürger durchschnittlich 10 Jahre seines Lebens vor dem Fernseher. Bis auf eine Minderheit von geschätzten 1,8 Mio. besitzen inzwischen alle Deutschen mindestens ein TV-Gerät.

In einer Vielzahl von Fernsehnutzungsexperimenten ist belegt, daß die meisten Zuschauer nicht deshalb so viel fernsehen, weil sie sich informieren wollen, sondern weil sie gar nicht mehr anders können: Sie sind "TV-Junkies", abhängig vom Fernsehen. Und wenn man ihnen ihr Suchtmittel wegnimmt, dann haben sie mitunter sogar regelrechte Entzugserscheinungen: Sie werden unruhig, aggressiv oder depressiv. Erst dann merken sie, wie abhängig sie sind vom Fernseher, diesem "blinden Fenster zur Welt".

Anke ist 25 und Studentin:

Ich stelle den Fernseher ziemlich häufig an. Manchmal gucke ich hin, schaue mir einen Film an. Und manchmal laß ich ihn einfach dabei mitrauschen, mache irgendetwas anderes dabei, ohne daß ich da hingucke. Da habe ich dann schon im Hintergrund was, da redet jemand, oder da ist so eine Geräuschkulisse. Ich fühle mich irgendwie nicht so alleine. Ich denke einfach oft, ich kann mich damit unheimlich ausruhen. Ich rausch mich total ab, ohne daß mich wirklich jemand anspricht. Und es wird überhaupt nicht gefordert, daß ich jetzt hier etwas dazu sage. Ich bin nicht alleine dabei, und ich kann mich "entspannen". Ich weiß, daß das nicht stimmt, aber ich rausche mich voll. Ich kann mich vergessen. Ich kann meinen Tag vergessen, was noch vor mir liegt und was hinter mir liegt. Es ist einfach alles weg. Und das ist gut.

Karen, eine 19-jährige Fremdsprachensekretärin, sagte in einem Interview mit einer Frauenzeitschrift:

Ich finde, Fernsehen macht dumm. Ich selbst gucke viel zu viel, eigentlich alles. Als Entspannung finde ich das auch gut, aber trotzdem macht es mich schlapp. Ich komme zu nichts anderem mehr. Ich sitze einfach vor der Glotze wie festgenagelt. Aber ich hoffe, daß ich davon irgendwann loskomme.

Dabei setzte sich mit der Vielfalt der Programme schon seit einiger Zeit eine amerikanische Eigenart durch: das "Zappen". Mit der Fernbedienung schalten die Zuschauer alle paar Minuten von Programm zu Programm. Sie bewegen sich wie Slalomfahrer durch die Programme. Dadurch dehnt sich die Zeit aus, die man vor der Glotze verbringt, aber die Aufmerksamkeit sinkt. Man bleibt jeweils dort hängen, wo es am spektakulärsten zugeht. Und genau darauf sind nicht nur die amerikanischen Programme zugeschnitten: Jeden Moment muß was los sein, damit die Leute dran bleiben und damit die Einschaltquoten nicht sinken.

Deshalb ist für viele Fernsehzuschauer die Fernbedienung das wichtigste Instrument, sie ist eine Art Zauberstab, mit dem sich jeder aus der Vielzahl der Angebote sein eigenes Programm zusammenmixt. Und los geht die Jagd nach dem Leckerbissen, den Höhepunkten, den Highlights. Zap. Und schon wird umgeschaltet. Man könnte ja was verpassen. Das Fernsehen wird so zur Zeitvernichtungsmaschine. Zap. Im Chaos der Einzelheiten wird alles beliebig. Wenn’s dir nicht gefällt, zap, umgeschaltet. Sich langsam entwickelnde Geschichten haben keine Chance. Es zählt nicht das Verstehen, sondern die Intensität des akuten Gefühlseindrucks. Zap. Versunken im Chaos der Einzelheiten wird alles beliebig und austauschbar. Das Gedächtnis wird so zur Last, alles wird zur Wegwerfinformation.

Karin studiert Archäologie und Volker Soziologie. Karin:

Wenn ich Lust habe, fernzusehen, hab ich schon gemerkt, daß ich dann einfach die Kiste anmache und dann sämtliche Knöpfe durchdrücke. Wenn ich dann glaube, das könnte mich interessieren, das ist vielleicht ganz gut, dann laß ich das erstmal laufen. So nach fünf Minuten denke ich dann, "nein, das ist doch nicht so gut". Und dann fängst du wieder an zu drücken. Man wird dadurch ziemlich oberflächlich, das habe ich gemerkt. Ich habe auch gar keine Lust, mir dann einen Film anzugucken, weil du dabei auch ein bißchen mitdenken mußt. Sondern so richtig einfach nur rumdrücken und mal gucken, was kommt da, was kommt da. Man macht sich nicht mehr die Mühe, das Fernsehprogramm zu lesen, weil das eh schon viel zu viel ist, bis man sämtliche Kabelprogramme durch hat. Es sind so viele, da weißt du am Schluß nicht, was du am Anfang gelesen hast. Dann drückst du ganz einfach.

Während der Werbepausen der rund 3000 Spots pro Tag

  •       schalten 39,9% der Zuschauer auf andere Sender
  •       18,7% gehen zur Toilette
  •       13,5% holen sich etwas zu essen oder zu trinken
  •       Gerade mal 13% sehen tatsächlich zu.

Volker:

Also wenn mich ein Film nicht ganz fesselt, dann kann es sein, daß ich hin- und herschalte, vor allem, wenn im anderen Kanal ein Film läuft, der mich auch interessiert, und ich mich dann nicht entscheiden kann, guckst du jetzt lieber den oder guckst du den? Das kommt dann schon vor, daß ich alle drei Minuten umschalte, um den anderen Film mitzukriegen, wobei ich dann merke, daß ich hinterher überhaupt keinen Film richtig gesehen habe.

Karin und Volker sind keine Einzelfälle. Es geht immer mehr TV-Konsumenten so. Man springt von Programm zu Programm, bis man "ganz zufällig" irgendwo hängenbleibt. – Ist das die Wahl, die man wollte? Fest steht, daß die meisten Fernsehzuschauer mit ihrer Fernbedienung nicht willen- und ziellos in irgendwelchen Programmen herumfummeln, sondern (mehr oder weniger bewußt) nach dem Programm suchen, das ihrer gefühlsmäßigen Verfassung, ihrer Stimmungslage entspricht oder in die sie sich versetzen möchten. Das mag bei dem einen die Suche nach dem Hitchcock-Thriller sein (wissenschaftlich ausgedrückt: die Erhöhung des "arousals"), und bei einem anderen ist es die heile Welt der Volksmusik-Hitparade oder die Gewinnerstimmung in einer Quizsendung, die anziehend sind und auf die die Betreffenden in ihrer gedankenlosen Unaufmerksamkeit wie im Blindflug hinsteuern, wieder und immer wieder.

Es ist eine ziellose Flucht vor uns selbst ins TV-Niemandsland, was uns das Gefühl von Freiheit gibt. Dabei ist es nur eine Scheinfreiheit, selbst dann, wenn wir einen Zehn-Finger-Fernbedienungskurs im Zappen hinter uns haben. So gelingt es den Medienmachern immer seltener, die Zuschauer an ein Programm zu binden. Eine Sendung von Anfang bis Ende zu sehen wird immer mehr die Ausnahme, zumal die Glotze sehr häufig als Geräuschkulisse mißbraucht wird. In Untersuchungen hat man herausgefunden, daß während des Fernsehens:

  •       24 Prozent essen
  •       18 Prozent lesen
  •       17 Prozent telefonieren
  •       8 Prozent schlafen
  •       4 Prozent bügeln.

So wird das Fernsehen mehr und mehr zur Nebenbeschäftigung.

Heide ist 40 Jahre alt und Psychologin:Es ist so, daß ich in Zeiten, wo ich sowieso etwas hektisch bin, dann eher mehrere Sachen gleichzeitig mache und mir zum Beispiel einfach so nur vor dem Fernseher zu sitzen zu langweilig vorkommt. Dann stricke ich, oder ich mache die Steuer, räume dabei auf oder mach sonst irgendetwas gleichzeitig und guck immer wieder mal hin zum Fernseher dabei. "Dauerglotzer" oder etwas freundlicher "Vielseher" – so hat man in den USA herausgefunden – leiden unmerklich unter den Folgen ihrer Fernsehabhängigkeit, ihrem Leben aus zweiter Hand. Sie verlieren langsam aber stetig die Fähigkeit zur Kommunikation, werden träger, haben immer weniger Interesse an der aktiven Gestaltung der Freizeit und können immer schlechter ihre Probleme selbstständig und eigenverantwortlich bewältigen.

Häufiges und intensives Fernsehen verstärkt die Neigung zu Pessimismus und Depression.Zu diesem Ergebnis kam schon 1988 der Kommunikationswissenschaftler Winfried Schulz von der Universität Nürnberg-Erlangen. Menschen, die viel fernsehen, nutzen die Programme oft zur Flucht vor Einsamkeit und Leere. Typische "Vielseher" sind für Schulz Menschen mit einfacher Bildung, mit geringer Belastbarkeit, häufig Rentner, sehr oft Verwitwete oder Arbeitslose. Im übermäßigen Fernsehkonsum – so die Untersuchung – sehen diese Menschen eine Möglichkeit, ihren Problemen zu entfliehen. Fernsehen sei in diesem Sinn eine Droge, ein Narkotikum, das über Weltschmerz und emotionale Verletzung hinweghelfe. Schon im Jahre 1979 erschien das Buch Die Droge im Wohnzimmer von Marie Winn. Die Amerikanerin beschreibt darin, wie Eltern sich und ihre Kinder von dieser elektronischen Droge abhängig machen und dann auch süchtig bleiben. Die Folgen eines wahllosen TV-Konsums sind dann auch besonders bei Kindern gravierend:

  •       Realitätsverlust;
  •       Schwierigkeiten, zwischen der Fiktion des scheinbar Möglichen und der Realität des Machbaren im Alltag zu unterscheiden;
  •       ein schiefes Weltbild;
  •       Konsumfixierung;
  •       und Sehnsucht nach einer Art Leben, wie es im Fernsehen vorgegaukelt wird.

Folgt man Marie Winn, dann gestattet das Fernsehen – genau wie der Alkohol – dem Zuschauer, die wirkliche Welt auszuschalten und in einer Art Kunstwelt zu nisten: angenehm in einem Fernsehsessel, mit dem Druck auf den Fernbedienungsknopf. Anstrengungslos versinkt man in einen tranceähnlichen Zustand.

Ohne Zweifel gibt es "Sucht ohne Drogen". Aber trifft der Begriff Sucht auch auf das Fernsehen zu? Bei der Suchtdiskussion muß man den Alltagsbegriff der Sucht unterscheiden vom klinisch-psychologischen Fachbegriff. Im alltäglichen Sprachgebrauch findet man den Begriff Sucht in Verbindung mit vielen anderen Verhaltensweisen (z.B. Sehnsucht, Herrschsucht, Eifersucht, Tobsucht, Genußsucht, und dafür gibt es keine klaren Kriterien. Danach kann man natürlich auch von Fernsehsucht sprechen.
Im klinisch-psychologischen Fachbegriff ist das anders. Da muß man, wenn man von Sucht im klinischen Sinn spricht, bestimmte Kriterien heranziehen, die man auch bei stoffgebundenen Suchtformen (also Alkoholismus, Drogensucht, Medikamentenabhängigkeit) findet (siehe dazu Kapitel "Was ist Sucht?").Fernsehsucht ist – wenn es sie nach den klinischen Kategorien überhaupt gibt – eine Ausnahme. Anders sieht es bei den Vorstadien der TV-Sucht aus. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Menschen benutzt das Fernsehen, um vor Konflikten in anderen Bereichen des Lebens wegzulaufen, um sich "zuzudröhnen" und nichts mehr mitzubekommen. Und hier spielt die "Griffnähe" und die immer weiterwuchernde Programmvielfalt sicher eine große Rolle. Von den einen wird das Fernsehen als Stimulanz, zu Aktivierung und Entladung von Aggressionen benutzt und von anderen als Trostpflaster für die alltäglichen Niederschläge, als Therapeutikum für all die Kränkungen in Beruf, Familie und im Leben überhaupt.

Hans-Magnus Enzensberger bezeichnet wohl nicht zuletzt deshalb das Fernsehen als "Nullmedium mit psychotherapeutischen Funktionen." Böse Menschen nennen deshalb das Fernsehen einen "Zeitstaubsauger", der uns – weil es so bequem zu konsumieren ist – nur die Zeit stiehlt.Aber wo sonst wird uns das Leben mit einem süßen Lächeln so sanft und happy unterfüttert, ohne daß wir selbst etwas dafür tun müssen, außer den Knopf auf der Fernbedienung zu drücken? Auch wenn jedem, dem noch ein bißchen Bewußtsein beim Fernsehen geblieben ist, klar ist, daß wir nicht wirklich als Person gemeint sind (höchstens als Teil der Erhöhung der Einschaltquoten), wenn der Moderator sagt: "Hallo liebe Zuschauer, herzlich willkommen, schön, daß Sie hier bei uns sind" – es tut uns anscheinend gut. Es werden uns Dinge gesagt, die uns sonst im Leben zu fehlen scheinen. Da sind Dinge möglich, die es sonst im Leben nicht gibt. Phantasien und Wünsche werden erfüllt, die wir uns sonst kaum zugestehen. Für diese diffusen Gefühle werden im Fernsehen für viele die richtigen Symbole gefunden: "Komm, mach mir eine schöne Phantasie". Das Fernsehen als gnädiger Illusionsspender. Damit das auch einem Massenpublikum genügt, werden Klischees und Flachsinn produziert, aus denen häufig nur Gefühls-Unkraut wachsen kann: Die Trivialisierung der großen Gefühle. Und weinen vor dem Fernseher (Frauen tun es weitaus häufiger als Männer) ist ja auch viel ungefährlicher als im realen Leben. Da werden Emotionsreservoirs in uns angestochen, von denen wir nicht einmal wußten, daß wir sie ständig mit uns rumschleppen. Fernsehen ist anscheinend dann am besten, wenn es nicht mehr aussagt, sondern nur noch Projektionsfläche für die Emotionen der Zuschauer ist.

Unser Geschmack ist durch das Fernsehen und Jahrzehnte amerikanischer Geistlosigkeiten verdorben. Marco Ferreri, italienischer Filmregisseur

So wird für manche dieses Leben aus zweiter Hand immer häufiger zum Fluchtpunkt vor der harten Realität. Sie richten sich mit ihrer Fernbedienung ein im gemütlichen Elend der schönen neuen Fernsehwelt, in der alles möglich zu sein scheint, was man sich erträumt. Man kommt kaputt von der Arbeit und sieht, wie lachende Menschen, die uns ähnlich sind, mühelos beim "Glücksrad" ganze Wohnungseinrichtungen im Wert von vielen tausend Euro gewinnen, ohne dafür einen Finger krumm machen zu müssen. Wir kommen vom Krach mit dem Chef nach Hause und sehen, wie "Der Ninja-Meister", "Ally McBeal" oder "Rambo" ihre Probleme lösen. "Think big" sagt der Fernseher, und wir schauen erleichtert auf unser kleines Leben herunter.

Wir flüchten aus der Tristheit unserer im Alltagstrott versumpften Beziehungen, und da ist die "Love Story", da sind Ingrid Bergmann und Humphrey Bogart in "Casablanca" und zeigen uns, daß echte, wahre, große Liebe möglich ist. Ist es da nicht verständlich, daß die bunte Fernsehwelt mit ihrem Wechselbad an ungezählten, unklaren (und doch genau auf unsere unbewußten Wünsche passenden) Beziehungsangeboten für manche wichtiger wird als die Realität? Ist es da nicht verständlich, daß die Fernsehfamilie mitunter für Kinder wichtiger wird als die eigene – zumal sich Vater und Mutter nicht immer so liebevoll um die Kinder kümmern, wie die es sich wünschen und die TV-Eltern es tun? Ist es da nicht verständlich, daß manche Zuschauer nicht mehr zwischen einem wichtigen und einem Pseudo-Ereignis unterscheiden können?

An einem ganz gewöhnlichen Fernsehabend werden wir mit Hunderten von Meinungen, Geschichten, Personen und deren Gefühlen, Körperhaltungen, ihrer Gestik und Mimik, ihrer Ausstrahlung konfrontiert. Wir erleben kleine und große Dramen, Konflikte und Konfliktlösungen, ohne daß wir uns aus dem Sessel erheben müssen. Anke, 25, Jurastudentin:

Ich denke unheimlich oft, das ist auch so ein Stück Feigheit bei mir. Also erstens mal ist die Wirklichkeit nie so schön, wie das im Fernsehen ist. Also wenn ich jetzt zum Beispiel da reingucke, da sind auch so ganz klare, eindeutige Gestalten. Das ist ein Vater, und das ist ein Sohn, oder in so einer Position, da weiß ich genau, worum es geht. Ganz oft in meinem Leben ist das viel gemischter als in dem Film. Und es gefällt mir gut, wie es im Fernsehen ist.

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