Auszüge aus Ludwig Janus'
"Wie die Seele entsteht"
Unser psychisches Leben vor und nach der Geburt

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Einleitung

Eine der ersten großen Fragen von Kindern ist die nach ihrer Geburt. Die Antwort der Eltern begründet einen wichtigen Teil des späteren Selbstverständnisses. Und, wie wir alle wissen, diese Antwort fiel fast immer unbefriedigend aus. Wurde früher oft auf märchenhafte oder mythische Kräfte verwiesen – daß die Kinder vom Storch gebracht würden oder auf Bäumen wüchsen –, so bemüht man sich heute, entsprechend dem wissenschaftlichen Zeitgeist, das Auf-die-Welt-Kommen als ein rein biologisch-körperliches Geschehen zu beschreiben. Die Frage bleibt offen, was Geborenwerden im Erleben bedeutet. Hier erscheint dann sogar die mythenhafte Antwort noch als ergiebiger, wenn sie das Geborenwerden als eine Reise, einen Übergang von einer Welt in eine andere und als ein Abenteuer schildert. Der Feststellung, die Kinder kämen aus Mutters Bauch, stehen Kind und Erwachsener oft in gleicher Weise ratlos gegenüber. Das Problem scheint damit abgehakt, doch parallel taucht eine unbestimmte Ahnung auf, daß damit die Frage und das Unbekannte sich erst auftun. Was bedeutet es, neun Monate in der Höhle des mütterlichen Leibes gewesen zu sein? Was habe ich dort gespürt, gefühlt und erlebt? Diese Fragen wurden in weiten Bereichen unserer Kultur bislang kaum zugelassen oder als Kinderfragen abgetan.

Ich glaube sogar, daß die Frage nach dem eigenen Geborensein, der eigenen Geburtlichkeit erst in diesem Jahrhundert dabei ist, wirklich gestellt zu werden. Die Gewährung persönlicher Freiheit im Zusammenhang mit der Aufklärung, politisch der Französischen Revolution, und die Entdeckung der inneren Subjektivität im deutschen Sprachraum mit der Dichtung des "Sturm und Drang" und der Romantik bereiteten den Boden für ein Fragen nach dem eigenen Gewordensein. Ahnungsvoll wird zum Beispiel die Wurzel unseres Seelenlebens im Unbewußten des pränatalen Daseins bei Carl Gustav Carus (1789-1869), dem Mediziner, Künstler und Philosophen, berührt.

Doch erfolgte der wirkliche Durchbruch zu der Frage "Was bedeutet die Geburt für unser Selbstgefühl?" dann erst durch die grundlegenden Bücher der Psychoanalytiker Otto Rank und Gustav Hans Graber, die 1924 erschienen. Beide nahmen an, daß die Geburt erlebt wird und diese erste Erfahrung des In-die-Welt-Kommens ein grundlegendes Muster für unser weiteres Erleben bildet. Dieses Hintergrundmuster kann man oft sehr augenfällig in Gefühlen von Patienten entschlüsseln, aber durchaus auch in kulturellen Schöpfungen. Eine Dunkelangst oder eine Raumangst kann beim einzelnen Nachklang eines traumatischen Geburtserlebnisses sein, wie das Bedürfnis von Gruppen, sich in umfriedeten Räumen zur Besinnung zu versammeln, einem Heimweh nach dem Raum primärer Geborgenheit im Uterus entspringen kann. Es verstieß zunächst gegen den Common sense, solche Verknüpfungen herzustellen, und bedurfte des Zusammenwirkens von verschiedenen Forschungsperspektiyen, um diese Schlußfolgerungen sicherer und plausibler zu machen. Pränatale (vorgeburtliche) Psychologie ist zum Oberbegriff geworden für die vielfältigen Bemühungen in verschiedenen Bereichen der Wissenschaft um das Verständnis der Erlebensvorgänge in der Lebensfrühzeit.

So vertraut es mittlerweile für uns ist, in unserem Erleben das Fortleben des Kindes, das wir einmal waren, anzuerkennen und zu verstehen, so fremd ist es uns, auch das Fortleben des Babys und des vorgeburtlichen Kindes wahrzunehmen, das wir einmal waren. Es ist eine ähnliche Zumutung wie die Darwins, unsere Herkunft aus dem Tierreich nicht nur äußerlich zu akzeptieren, sondern auch innerlich nachzuvollziehen, wie es die Humanethologie von Konrad Lorenz und seinen Schülern in den vergangenen Dezennien getan hat. Trotzdem ist es für viele noch schwer, sich in das Erleben eines Tieres einzufühlen, von dem wir annehmen müssen, daß es dem unseren viel verwandter ist, als uns vielleicht lieb ist. In gleicher Weise ist es schwierig, sich in das viel "tiernähere" Empfinden des vorgeburtlichen Kindes oder des neugeborenen Babys einzufühlen. Wir müssen dafür ein Stück der Sicherheit des durch unsere Sozialisation erworbenen Ichs aufgeben und werden gleichzeitig mit den elementaren Abhängigkeits- und Ohnmachtserlebnissen und oft verzweifelten Anpassungsbemühungen im Verlauf einer Geburt konfrontiert.

In diesem Sinne will dieses Buch, indem es eine Einführung in unser Wissen von der Psychologie der vorgeburtlichen Lebenszeit und Geburt gibt, den Leser gleichzeitig mit dem Erleben der inneren und äußeren Bedingungen unserer Geburtlichkeit vertraut machen. Die Tatsache, daß es geschrieben werden kann, ist Ausdruck einer veränderten Sicht der Psyche. Es hätte nicht vor fünfzig Jahren geschrieben werden können, und es würde zu diesem Thema in zwanzig Jahren sicher noch ganz andere Horizonte entfalten können. Es beschreibt den Kreis des Wissens, wie er mir aus meinem Berufsleben als Psychotherapeut nach mehrjähriger Beschäftigung mit dem Thema von vorgeburtlicher Lebenszeit und Geburt zugänglich ist. Die Bemühung um diese Fragen erfolgt in den letzten Jahren von vielen Seiten gleichzeitig, wie im einzelnen gezeigt werden soll. Ich werde ausgiebig von Zitaten Gebrauch machen, um die Unmittelbarkeit der neuen Erfahrungen mitzuteilen.

Die Annäherung an unsere Geburtlichkeit und Vorgeburtlichkeit ist durch mehrere existentielle Schwierigkeiten belastet. Zum ersten hat für uns Menschen aus evolutionsbiologischen Gründen, die mit dem aufrechten Gang und der progressiven Hirnentwicklung zusammenhängen, die Geburt wohl in der Regel einen traumatischen Aspekt, der durch unsere wiederum evolutionsgeschichtlich bedingte Frühgeburtlichkeit verstärkt wird. Darum ist das erste Abenteuer und die erste Leistung des In-die-Welt-Kommens in all seiner Kreativität und in seinem Hochgefühl meistens belastet durch ein Konglomerat von Gefühlen der Verwirrung, der Angst, der Vernichtung und verzweifelter Wut.

So bestehen also neben der Faszination, die vom Thema unserer geburtlichen und frühgeburtlichen Herkunft ausgeht, eine noch stärkere Scheu und ein diffuses Zurückweichen vor den Abgründigkeiten, sich hier emotional mehr einzulassen. Diese Schwierigkeiten werden die Leser dieses Buches auch deshalb spüren, weil sie selbst durch die medizinisch-technischen Bedingungen beim Geburtsverlauf – trotz aller segensreichen Fortschritte in diesem Bereich – zusätzlichen psychischen Traumatisierungen während der Geburt und in der nachgeburtlichen Zeit ausgesetzt waren. Allein schon die Benennung dieser auf einem intellektuellen Niveau durchaus bekannten Umstände kann eine diffuse Gefühlsabwehr auslösen.

Die zweite große Schwierigkeit bei der Annäherung an unsere Geburtlichkeit und Vorgeburtlichkeit besteht darin, daß ein Großteil unserer frühestkindlichen Erfahrung uns nicht bewußt zugänglich ist, sondern in Märchen von jenseitigen Welten, mythischen Bildern und religiösen Vorstellungen eingekleidet ist. In unseren Bildern von Geborgenheit und Aufgehobensein bei einem allgütigen Wesen und in unseren sozialen Utopien eines Himmelreiches auf Erden finden unsere Wünsche nach einer Rückkehr in den vorgeburtlichen Himmel einen beredten Ausdruck, wie andererseits unsere Ängste vor einer Wiederkehr von pränatalen Notzuständen in Höllen- und Strafbildern ausgestaltet sind.

Die beiden genannten Schwierigkeiten bilden den Hintergrund für die dritte Schwierigkeit, die Verleugnung einer kontinuierlichen Lebenslinie der vorgeburtlichen Zeit bis zu unserem Erwachsenen-Ich. Dies änderte sich, wie erwähnt, am Anfang unseres Jahrhunderts mit der Entdeckung des Fortlebens unserer Kindererfahrung in uns – allerdings unter Ausschluß der pränatalen Zeit und der Phase unmittelbar nach der Geburt. Dokumentierte sich die Fremdheit zur eigenen Kindheit in der inzwischen historisch vergangenen Fremdheit und Distanziertheit des Umgangs mit den eigenen Kindern, die in bürgerlichen Schichten zumeist vom Personal versorgt oder auch weggegeben wurden, so zeigt sich die Fremdheit zum Baby in uns oder zum vorgeburtlichen Kind in der Distanziertheit und der Orientierung an äußerlichen Regelungen und Normen im Umgang mit dem Neugeborenen bzw. Säugling. All dies ist nur möglich, wenn die vorgeburtliche Lebenszeit, die Geburt und die Säuglingszeit in einem selbst als Anfang und tiefster Grund des eigenen Selbst- und Lebensgefühls verleugnet und verdrängt sind.

Wir erleben nun in den letzten beiden Jahrzehnten eine zunehmende Auflockerung dieser Verleugnung, wie sie sich äußerlich in der Bewegung der "sanften Geburt", der Beachtung der Bedeutung von frühesten Traumen in verschiedenen psychotherapeutischen Schulen (zum Beispiel der Urschrei- oder Primärtherapie), der wachsenden Zahl empirischer Arbeiten zu prä-, peri- und postnatalen* Erlebensvorgängen, Wahrnehmungsmöglichkeiten, Verhaltens- und Reaktionsweisen zeigt. In dieser veränderten Zeitstimmung ist es möglich, das Thema der lebensgeschichtlichen Bedeutung der vorgeburtlichen Existenz und der Geburt unbehinderter zu entwickeln und darzustellen.

* pränatal = vor der Geburt; perinatal = während der Geburt; postnatal = nachgeburtlich

Wir stehen alle mehr oder weniger noch im Bann der bisher üblichen Verleugnung eines "Seelenlebens des Ungeborenen", die sich in einer Fülle von unreflektierten Urteilen, etwa zur Empfindungslosigkeit, Erinnerungsunfähigkeit, Bewußtlosigkeit usw. des vorgeburtlichen Kindes und Babys, wie auch in entsprechend distanzierten, unsensiblen Verhaltensweisen ausdrückt. Unser zunehmendes Wissen über das psychische Leben vor der Geburt erlaubt uns einen neuen Blick und ein neues Selbst- und Weltverständnis für unseren eigenen Lebensanfang und den unserer Kinder.

"Lebensbündel" und "Versehenstheorie" – zur Vorgeschichte der pränatalen Psychologie

Vorgeburtliche Erlebensvorgänge und ihre lebensgeschichtlichen Fortwirkungen sind in den einzelnen Kulturkreisen unterschiedlich dargestellt und verarbeitet worden. Wie schon angedeutet, finden wir vielfältige Abkömmlinge prä- und perinatalen Erlebens in den Bildern der Mythologie und in den Übergangsriten aufgehoben. Insbesondere in den mythenhaften Erzählungen zur Plazenta als einem Bruder, Hilfsgeist, Kraftquell drückt sich konkrete pränatale Urerfahrung aus.

In der ägyptischen Hochkultur wurden vor mehreren tausend Jahren Elemente der pränatalen Lebenszeit in einer eigentümlich konkreten und gleichzeitig symbolischen Weise in das offizielle Staatszeremoniell einbezogen. Die Plazenta, die den Pharao ernährt hatte, war ein Gegenstand besonderer Bedeutung und Beachtung. Sie wurde in einem Behälter aufbewahrt, und es gab das Staatsamt "Öffner der königlichen Plazenta". Als Standarte wurde die Plazenta bei Umzügen in symbolischer Form als Sicherheit vermittelndes Objekt vorangetragen. Des weiteren gab es sogenannte "Lebensbündel", die die Plazenta enthielten und zeremoniell am Ende der Herrschaft des Königs geöffnet wurden. Diese Zusammenhänge sind für die Herausbildung der menschlichen Religionsvorstellungen bedeutsam, insofern die Hieroglyphe für das "Lebensbündel" sich zum Zeichen für den ägyptischen Begriff der Gottheit entwickelt.

Neben dieser mythenhaft-religiösen und rituellen Wurzel im Urwissen von pränataler Erfahrung bzw. einer Umsetzung dieser Urerfahrung in die kulturellen Gestaltungen gab es auch immer ein mehr oder weniger ausgebildetes Wissen über ein Seelenleben des Ungeborenen. Besonders in Indien gibt es Traditionen zur "Pflege der embryonalen Seele des werdenden Kindes".8 Der indische Psychoanalytiker Sudhir Kakar schreibt:

Mit der Geburt und dem Durchschneiden der Nabelschnur wird die Verbindung ... mit dem universellen Bewußtsein ... unterbrochen. Es entsteht in der Gegend des Nabels eine Lücke ... Die bekannte "Nabelschau" des Ostens ist eben im wörtlichen Sinne Kontemplation dieser Lücke, die ... im hinduistischen Denken "Maya" heißt und die das Bewußtsein des Individuums von seinen universellen Wurzeln trennt.

Bemerkenswert sind die Offenheit und Unbefangenheit, mit der in der indonesischen Literatur das Geschehen um die Schwangerschaft behandelt und ausphantasiert wird. Die Psychotherapeutin Helga Blazy, eine gute Kennerin des ostasiatischen Denkens, erläutert:

Die indonesischen Kulturen und damit auch die Literaturen haben den Vorteil vor den westlichen, keine Zäsuren und kein Tabu zu kennen zwischen Zeugung, Schwangerschaft und extrauterinem Leben. Es gibt für sie nicht erst mit der Geburt ein plötzliches Dasein und Leben.

Auch in China und Japan wird das Kind bereits vor der Geburt ganz anders als bei uns anerkannt – es gilt bei der Geburt bereits als ein Jahr alt. Ein beeindruckendes Beispiel für Offenheit und Bezogenheit im Umgang mit dem werdenden Leben geben die afrikanischen Mbuti, die der Ethnologe Colin Turnbull in bewegender Weise beschrieben hat.

In unserem Kulturkreis war bis ins 18. Jahrhundert hinein die Theorie des "Versehens" die herrschende Form einer praktischen pränatalen Psychologie. Diese Theorie, die auch sehr stark den Volksglauben prägte, besagte, daß starke gefühlsmäßige Erlebnisse, Einbildungen und Beunruhigungen der Mutter Auswirkungen auf das vorgeburtliche Kind haben – einerseits körperlich als Ursache von Muttermalen, andererseits psychisch als Ursprung charakterlicher Eigenheiten. Der Volksglaube sieht die Folgen solcher pränatalen Einflüsse sehr unmittelbar:

Versieht sich die Schwangere an einem Seiltänzer, so bekommt das Kind schlenkernde Glieder und kann nicht gehen und stehen. Versieht sie sich im Schreck an Maus oder Hund, so bekommt das Kind Mäusehaut oder Hundefüße, an einem Hasen, so bekommt das Kind ein zitterndes Kinn oder eine Hasenscharte. Erschrecken vor Mäusen und Fröschen bringt dem Kind einen diesen Tieren ähnlich gestalteten Auswuchs oder ein Mal ...

Auch die "Gelüste" der Schwangeren haben Bedeutung. Der Aberglaube rät, "diese Gelüste unbedingt zu erfüllen und der Schwangeren nichts abzuschlagen ... In Schlesien führte man die Schuppenkrankheit auf ein der Schwangeren abgeschlagenes Gelüst nach Fisch zurück."

Im 18. Jahrhundert entstand dann eine lebhafte Debatte zu diesen Fragen, wobei die Befürworter der "Versehenstheorie" in die Defensive gerieten. Die dominierende rational-messende Einstellung der Naturwissenschaften verdrängte die Fragestellung eines Seelenlebens des Ungeborenen aus der Diskussion. Trotzdem gelangen den Vertretern der Versehenstheorie im Übergang zur Romantik noch einige ahnungsvolle Einsichten. So formuliert der Schweizer Theologe und Schriftsteller Johann Kaspar Lavater (1741-1801):

Könnte eine Frau ein genaues Verzeichnis führen von den kraftvollen Imaginationsmomenten, die während ihrer Schwangerschaft ihre Seele durchschneiden – sie könnte vielleicht die Hauptepochen von den philosophischen, moralischen, intellektuellen, physiognomischen Schicksalen ihres Kindes im voraus erkennen.

Sehr konkret sieht der Pädagoge Joachim Heinrich Campe (1746-1818) in den gewöhnlichen Bedingungen der Schwangeren einen "unseligen Unterricht im Leiden" für das vorgeburtliche Kind. Der heute wenig bekannte Romanautor des "Sturm und Drang", Johann Karl Wezel (1747-1819), schrieb:

Man hat also angemerkt, daß man so nicht alle, doch die meisten gegenwärtig unerklärbaren Erscheinungen, die sich an vielen Menschen zum Erstaunen der Gelehrten und Ungelehrten zeigen, sehr leicht würde erklären können, wenn jemand eine genaue und umständliche Geschichte ihrer Schicksale im Mutterleibe, von dem ersten Augenblick ihres Daseins bis nach ihrer Geburt bekannt machte.

Und ganz konkret werden in der Autobiographie von Adam Bernds schon 1738 pränatal-psychologische Zusammenhänge hergestellt, wenn er schreibt:

... welches alles (ihre Kriegsängste) sie in große Angst gesetzt, so daß es nicht wundert, daß der ein melancholisches Geblüte und ein zusammengepreßtes Herz auf die Welt gebracht, den die Mutter unter einem neun Monate lang zerknirschten und mit Furcht und Angst beklemmten Herz getragen; partus enim sequitor conditionem ventris.

In der berühmten Novelle von E. T. A. Hoffmann Das Fräulein von Scuderi schließlich findet sich ebenfalls eine direkte Verknüpfung vorgeburtlicher Erfahrungen mit dem späteren Leben einer Hauptfigur: Das pränatale Trauma einer Konfrontation mit dem Tod auf seiten der Mutter und ihr Verblendetsein durch Juwelen findet in der unheilvollen Leidenschaft des Helden für Juwelen und in seinen Mord- und Raubaktionen eine schicksalhafte, immer erneute Wiederholung.

Doch abgesehen von den ahnungsvollen Einsichten einzelner in die Wurzeln unseres Seelenlebens verschwindet dies Wissen um ein pränatales Dasein weitgehend aus dem allgemeinen Bewußtsein. Symptomatisch hierfür ist etwa die apodiktische Feststellung des französischen Psychologen und Pädagogen Jules Gabriel Compayré (1843-1913) in seinem Buch über die Entwicklung der Kinderseele von 1900, ein Seelenleben beginne erst nach der Geburt. Er rechnet rigoros mit französischen Autoren wie Nicole Malebranche ab, die im 18. Jahrhundert ein seelisches Leben vor der Geburt angenommen hatten. Malebranche ging dabei von der Idee eines inneren Zusammenhangs des seelischen Erlebens des Kindes und der Mutter aus, während George Cabanis vom Vorhandensein eines Sensoriums vor der Geburt auf ein rudimentäres seelisches Leben schloß.

Auch noch in der Mitte unseres Jahrhunderts ist die Haltung von Medizinern gegenüber einem pränatalen Erleben äußerst zurückhaltend oder ablehnend, so daß noch bis in die jüngste Zeit Operationen an Neugeborenen oft ohne Betäubung durchgeführt wurden, weil psychisches Erleben und Schmerzempfindlichkeit nicht angenommen wurden. Erst der Nachweis von erhöhten Streßhormonspiegeln bei Operationen ohne Narkose führte zu einer Veränderung dieser Praxis.

Setzt diese Strömung in der Organmedizin die Orientierung des 19. Jahrhunderts fort, so hat jedoch mit der Entwicklung der Psychoanalyse und der modernen Kunst eine Gegenbewegung eingesetzt. Indem Freud die Intensität des kindlichen Erlebens und die äußerste psychische Empfindlichkeit des Kindes betonte, kam es zu einer Umkehr der Blickrichtung – die frühe Erfahrung war das eindringliche und prägende, oft sogar an der Grenze zur traumatischen Erregung; die späteren Erfahrungen bauten auf den früheren auf und waren wegen entwickelterer psychischer Möglichkeiten leichter zu verarbeiten. Doch zögerte Freud zunächst, den eigenen Gedanken der Wirksamkeit der früheren Eindrücke zu Ende zu denken. Es war eine Hebamme, die ihn zur Akzeptanz eines Angsterlebens bei der Geburt inspirierte:

Es wird Sie vielleicht interessieren zu hören, wie man auf eine solche Idee kommen kann, daß der Geburtsakt die Quelle des Angstaffekts ist. Die Spekulation hat den geringsten Anteil daran. Ich habe vielmehr bei dem naiven Denken des Volkes eine Anleihe gemacht. Als wir vor langen Jahren als junge Spitalärzte um den Mittagstisch im Wirtshause saßen, erzählte ein Assistent der geburtshilflichen Klinik, was für lustige Geschichten sich bei der letzten Hebammenprüfung zugetragen haben. Eine Kandidatin wurde gefragt, was es bedeute, wenn sich bei der Geburt Mekonium (Kindspech, Exkremente) im abgehenden Wasser zeigen, und sie antwortete prompt, daß das Kind Angst habe. Sie wurde ausgelacht und war durchgefallen. Aber ich nahm im stillen ihre Partei und begann zu ahnen, daß das arme Weib aus dem Volke unbeirrten Sinnes einen wichtigen Zusammenhang bloßgelegt hatte.

Der ungarische Psychoanalytiker Sandor Ferenczi beschrieb dann die vorbildliche Bedeutung guter pränataler Zustände für Gefühle von Allmacht und Glück. Nach seinem Eindruck trauert das Neugeborene seiner vorgeburtlichen Zeit gewissermaßen nach:

Beobachtet man aber das sonstige Benehmen des Neugeborenen, so bekommt man den Eindruck, daß es von der unsanften Störung der wunschlosen Ruhe, die es im Mutterleibe genoß, durchaus nicht erbaut ist, ja, daß es in diese Situation zurückzugelangen sich sehnt. Die Pflegepersonen erkennen instinktiv diesen Wunsch des Kindes, und sobald es durch Zappeln und Schreien seiner Unlust Ausdruck verleiht, bringen sie es geflissentlich in eine Lage, die der Mutterleibssituation möglichst ähnlich ist. Sie legen es an den warmen Körper der Mutter oder wickeln es in weiche, warme Decken, Pölster ein, offenbar, um ihm die Illusion des Wärmeschutzes durch die Mutter zu verschaffen. Sie schützen sein Auge vor Licht, sein Ohr vor Schallreizen und verschaffen ihm die Möglichkeit, die intrauterine Reizlosigkeit weiter zu genießen; oder sie reproduzieren die leisen und rhythmisch-monotonen Reize, die dem Kinde auch in utero nicht erspart geblieben sind (die Schaukelbewegungen beim Gehen der Mutter, die mütterlichen Herztöne, das dumpfe Geräusch, das von außen doch ins Körperinnere dringt), indem sie das Kind wiegen und ihm monoton-rhythmische Wiegenlieder vorsummen.

Ferenczi sieht das seelische Erleben des Neugeborenen wesentlich durch den halluzinatorischen Wunsch bestimmt, die Befriedigungssituation der ungestörten Existenz im warmen, ruhigen Mutterleib wiederherzustellen. Die Stärke dieses Wunsches, wie er vor allem in symbolischen Ausformungen bei neurotisch erkrankten Kindern und Erwachsenen festzustellen ist, erklärte dann der Psychoanalytiker Otto Rank aus der Geburt als einer durch die Evolution zwangsläufig bedingten traumatischen Erfahrung. Und dies wiederum bestimmt die Intensität des Wunsches nach einer Rückkehr in den guten Zustand davor, der unendliche symbolische Verkleidungen annehmen kann und ein Grundmotiv im menschlichen Seelenleben darstellt.

Ebenfalls Anfang der zwanziger Jahre erschienen bahnbrechende Arbeiten von Geburtshelfern wie Philip Schwartz, Hans Saenger und anderen zum traumatischen Aspekt der Geburt, die die Schlußfolgerungen von Rank auf der physischen Ebene bestätigten. Die Arbeiten von Rank und Schwartz lösten aber so viele gefühlsmäßige Widerstände und Beunruhigungen aus, daß sich das wissenschaftliche Interesse von diesem Thema zunächst wieder entfernte. Doch sind es dann in den kommenden Jahrzehnten immer wieder beherzte einzelne, die die Erforschung der Kontinuität des Erlebens von der vorgeburtlichen Zeit an vorantreiben. Vor allem in den letzten zwanzig Jahren wurden diese Forschungen beträchtlich intensiviert, so daß vermehrt wissenschaftliche Kongresse abgehalten wurden und Publikationen zu dem Thema erschienen. Dadurch ist ein Fundus von Erkenntnissen entstanden, der eine umfassendere Darstellung ermöglicht. Eine Voraussetzung für die Einschätzung der Besonderheiten der menschlichen Geburt ist eine Orientierung über ihre stammesgeschichtlichen Determinanten. Diese sollen darum zuerst behandelt werden.

Stets ein Trauma? – die stammesgeschichtliche Entwicklung der Geburt beim Menschen

Bietet das Meer dem heranreifenden Jungtier von Anfang an ein gedeihliches Lebensmilieu, so müssen die Landtiere, um der Gefahr des Austrocknens vorzubeugen, ihre Keimlinge in einem besonderen Milieu schützen. Für die Flugtiere entwickelt sich im Zuge der Evolution die relativ feste Schutzhülle des Eies als ein Aufbewahrungsort für den Embryo, also ein Platz außerhalb des Körpers. Bei den landbewohnenden Säugetieren erwies sich die Entwicklung einer schutzgebenden Körperhülle als ein erfolgreicher Weg. Während eine Vogelmutter durch die ständige Mitnahme ihres Keimlings im Fliegen behindert wäre und deshalb das Ei ablegt, entfällt dieser Gesichtspunkt bei einem Landtier. Die feste Schale des Eies hatte zur Folge, daß Vögel in einem unausgereiften Zustand zur Welt kommen, in dem sie den Lebensbedingungen noch nicht voll gewachsen sind, so daß sie als Nesthocker auf einen sekundären Schutz durch das Nest und das Füttern durch die Eltern angewiesen sind. Auch die Thermoregulation muß während der embryonalen Phase des jungen Vogels noch weitgehend von den Eltern durch das Brüten übernommen werden. Diese Schutzmöglichkeiten sind bei den Säugetieren nicht so begrenzt. Entsprechend den biologischen Entwicklungschancen und -notwendigkeiten der Differenzierung kann die Schwangerschaftsdauer, bis eine Anpassung an das vorgegebene Außenmilieu möglich ist, verlängert werden. Diese umfaßt etwa beim Elefanten über 20 Monate. Säugetiere sind darum meist bei der Geburt so ausgereift, daß sie sich als Nestflüchter sogleich nach der Geburt in ihrer Umwelt zurechtfinden können.

Die Evolution der menschlichen Geburt ist allem Anschein nach durch die Notwendigkeit, ganz verschiedenartige Anforderungen zu integrieren, belastet. Die progressive Hirnentwicklung mit vergrößertem Schädelvolumen würde zum Beispiel eine Vergrößerung des Geburtskanals erfordern. Demgegenüber verlangte die Entwicklung hin zum aufrechten Gang eher einen engen und festen Beckenring und eine Einbuchtung durch die S-förmige Wirbelsäule, die nur in dieser Form den statischen Anforderungen des aufgerichteten Körpers entsprechen konnte. Die "Lösung" der Evolution lag offenbar in einer Verkürzung der Schwangerschaft um die Hälfte, so daß die besondere Hilflosigkeit des Menschen im ersten Lebensjahr eine Folge dieser stammesgeschichtlichen Gegebenheiten ist, weshalb man das erste Lebensjahr auch als "extrauterines Frühjahr" bezeichnet hat.

Die Veränderungen des Beckenrings durch den aufrechten Gang führten zu einem abgeknickten Geburtskanal, der im oberen Durchmesser queroval ist, im unteren längsoval, so daß sich das Kind während des Geburtsvorgangs um 90 Grad drehen muß, wodurch eine Achsenverdrehung des Halses entsteht. Dadurch ergibt sich an dieser Stelle ein locus minoris resistentia (Schwachstelle), da die Wirbelsäule bei einer solchen Torsion die Wehen weniger abfangen kann. Zusätzlich wird die Wirbelsäulenarterie abgeknickt und dadurch die Blutzufuhr zum Gehirn behindert. Die Enge des Geburtskanals bedingt weiter, daß der Mensch nicht wie die meisten Artverwandten mit stehender Fruchtblase, die den Wehendruck abfängt, geboren wird. Statt dessen überträgt sich der volle Wehendruck während der Austreibungsphase auf den kindlichen Kopf, der auf diese Weise Verformungen ausgesetzt ist, was zu sogenannten "Massenverschiebungen des kindlichen Hirns" führt. Im Vergleich zu unseren nächsten Artverwandten, den Affen, ist der Geburtskanal beim Menschen viel enger und gewundener. Zudem vollzieht sich das fötale Wachstum beim Menschen wesentlich rascher, so daß das Neugeborene vergleichsweise größer ist. Dies erschwert die Geburt beim Menschen gegenüber der bei Affen sehr, sie dauert vor allem erheblich länger.
Diese stammesgeschichtlichen Gegebenheiten der menschlichen Geburt machen deutlich, daß diese als evolutionär junge Bildung das Produkt eines komplizierten Kräftespiels biologischer Anforderungen ist. In ihrem Ansatz resultiert die Kalamität [Mißstand] der menschlichen Geburt daraus, daß bei den noch eierlegenden Vorfahren des Menschen der Geburtskanal zum Schutze des Eies durch den einzigen stabilen Knochenring des Körpers geleitet wurde. Dieser Weg des Geburtskanals war im Bauplan der Natur so festgelegt, daß er bei der späteren evolutionären Entwicklung beibehalten werden mußte.

Man kann keineswegs behaupten, dies Kräftespiel sei bereits voll durchschaut. Neuere Forschungen haben den Umstand in den Vordergrund gerückt, daß der Zeitpunkt der Geburt wesentlich auch dadurch bestimmt ist, daß wegen der Größe der Frucht die Sauerstoffversorgung durch die Plazenta nicht mehr ausreicht. Möglicherweise bedeutet aber die im Vergleich zu den Affen so forcierte Gewichtszunahme in der fötalen Zeit schon wieder eine Ausgleichstendenz gegen die extreme Empfindlichkeit im Rahmen der Frühgeburtssituation. Wegen seiner Frühgeburtlichkeit ist das menschliche Neugeborene besonders temperaturempfindlich. Deshalb entwickelt sich als Ausgleich und Schutz beim menschlichen Fötus ein Fettgewebe unter der Haut, das bei anderen Primatenarten fehlt und das 16% des Körpergewichtes ausmacht. Dies wiederum belastet die Ressourcen des mütterlichen Stoffwechsels und begrenzt die Zeit der möglichen Schwangerschaftsdauer.

Die Komplexität der stammesgeschichtlich wirksamen Kräfte bei der Gestaltung des menschlichen Lebensanfangs ist auch daran zu erkennen, daß die Frühgeburtlichkeit des Menschen nur im Verein mit einer Umgestaltung des instinktiven Sozialverhaltens, insbesondere der Mutter, aber auch in der Familien- und Gruppenbildung, möglich war. Die Primärgruppe der Eltern muß eine Art soziale Gebärmutter bilden, um es dem Kinde zu ermöglichen, trotz seiner Frühgeburtlichkeit zu überleben. Die Verborgenheit des Fötus in der Körperhöhle des Uterus verstellte den Blick dafür, daß das aus der Befruchtung hervorgegangene Individuum von Anfang an ein eigenes Lebewesen mit enormen Entwicklungspotentialen und Reaktionsmöglichkeiten ist, das auf den verschiedenen Entwicklungsstufen der vorgeburtlichen Zeit in unterschiedlicher Weise sich selbst und seinen Umweltbezug reguliert.

Sinnesempfinden, affektives Erleben und Motorik entwickeln sich vor der Geburt sehr dynamisch, wie wir besonders augenfällig bei den Frühgeburten beobachten können, also bei den Kindern, die vorzeitig den Schutz des Mutterleibs verlassen haben. Da Frühgeburten auf emotionale und körperliche Nähe existentiell angewiesen sind, um sich als Menschen entwickeln zu können, dürfen wir heute ebenfalls mit Sicherheit annehmen, daß das vorgeburtliche Kind in einem innigen, gefühlshaften Bezug zu seiner Mutter steht. Wir können im Ultraschallbild verfolgen, wie der Fötus auf emotionale Annäherung mit einer Folgereaktion oder auf Abstoßung mit einer Abwendung reagiert. Diese Beobachtungen werden erwähnt, um eine Vorstellung davon zu vermitteln, was die stammesgeschichtlichen Besonderheiten der menschlichen Geburt psychologisch bedeuten können. Wegen seiner Frühgeburtlichkeit kommt der Mensch nicht nur körperlich, sondern vor allem auch psychisch unfertig zur Welt. Nur die kontinuierliche Beziehung zu einer mütterlichen Person und die Ausbildung eines ausgeprägten Abhängigkeitsverhältnisses mit den entsprechenden Affekten können diese Unfertigkeit ausgleichen. Wir können heute mit einiger Sicherheit sagen, daß diese elementaren Gefühle sich in den religiösen Bindungen an ein barmherziges, allmächtiges und gütiges Wesen widerspiegeln und uns auf diesem Wege ein anschaulicheres Bild vom Erleben des Säuglings geben. Wie alle anderen körperlichen, sensorischen und psychischen Funktionen müssen wir auch bei diesen Abhängigkeitsgefühlen annehmen, daß sie sich bereits vorgeburtlich entwickelt haben und aktiv sind, da sie sonst nach der Geburt nicht in der erforderlichen Zügigkeit verfügbar wären. All dies ist der Grund für die extreme Störbarkeit des Menschen an seinem Lebensanfang und die geringe Belastbarkeit seines Sicherheitsgefühls. Nur die rasche Reaktion bei Unsicherheit und Unlust durch kräftiges Schreien sichert sein Überleben.

Auch vorgeburtlich reagiert das Kind auf Störungen, welcher Art auch immer, sehr heftig mit Abwehrbewegungen und entsprechenden Affekten, die mimisch erkennbar sind. Auch kann es bereits schreien, wenn zufällig bei einer ärztlichen Untersuchung Luft in den Uterus geraten ist. Diese vorgeburtlichen Schreie des Fötus gehören zu den besonders bewegenden und anrührenden Erfahrungen im Zusammenhang mit der Schwangerschaft. Hier ist der vorgeburtliche Mensch in seinem Existenzanspruch unüberhörbar. Da die Mutter die affektiven Reaktionen und Regungen ihres Kindes aber nur sehr unzureichend mitbekommt, wenn man einmal von heftigen Kindsbewegungen absieht, besteht hier, psychologisch gesehen, ein unzureichender Schutz der fötalen Beziehung. Durch unsere komplexen zivilisatorischen Ansprüche ist die Mutter deshalb immer in Gefahr, sich und ihr vorgeburtliches Kind psychisch und somatisch zu überfordern, einfach weil das Kind vor ihr im Uterus verborgen ist.
In den vergangenen Jahrzehnten haben wir in unserer westlichen Kultur gelernt, für die besondere Störbarkeit und Empfindlichkeit des Säuglings ein tieferes Verständnis zu entwickeln. Für die vorgeburtliche Lebenszeit steht ein solches Verständnis erst in den Anfängen.

Wer von den stammesgeschichtlichen Gegebenheiten der menschlichen Geburt hört, wird befürchten, daß die menschliche Geburt prinzipiell ein traumatisches Element enthält. Leider haben die Forschungen von einzelnen engagierten Geburtshelfern und forschern diese Befürchtung bestätigt. Sektionen von Kindern, die bei oder nach der Geburt starben, zeigten eine erschreckend große Zahl von Blutungen und Hirnverletzungen, auch bei äußerlich unauffälligen Kindern. Auch moderne bildgebende Verfahren wie die Computertomographie belegen, daß Verletzungen des kindlichen Gehirns sehr viel häufiger sind als früher angenommen. Wir müssen leider annehmen, daß die Schlußfolgerung aus diesen somatischen Daten lautet, daß, auch psychologisch gesehen, die Geburt in der Regel einen traumatischen Aspekt hat. Das drückt sich aus in Gefühlen der Angst, der Panik, der Wut, der Verzweiflung und der Scham, bis hin zu totalem Schreck, Vernichtungsgefühlen und Zuständen, als werde man zerrissen.
Diese mehr oder weniger große psychische Erschütterung bei der Geburt kann, wenn sie nicht in einer annehmenden, verstehenden Beziehung und Fürsorge aufgefangen wird, die frühe Mutter-Kind-Beziehung erheblich belasten oder überhaupt ein Zustandekommen einer tragfähigen Beziehung beeinträchtigen oder sogar verhindern. Darum haben alle Bemühungen um eine "sanfte Geburt" eine solch elementare Bedeutung. Auch in der Geburtshilfe haben zivilisatorische und kulturelle Einflüsse, auf die wir von unseren Instinkten her nicht vorbereitet waren, vielfach verhängnisvolle Auswirkungen gehabt. Nur ein vertieftes Wissen um diese Zusammenhänge kann uns dabei helfen, vermeidbare Schäden wirklich zu verhindern.

Im Gegensatz zu all diesen Gefährdungen mag in der Frühgeburtlichkeit des Menschen auch eine besondere Entwicklungschance liegen. Gewissermaßen vorzeitig vollbringt er mit der Geburt die grandiose und begeisternde Leistung eines Existenzwechsels, die ihn möglicherweise dazu befähigt, spätere Konfliktsituationen mit dem gleichen totalen Einsatz zu meistern, das Unmögliche zu wagen. Alle späteren Existenzwechsel, wie der Übergang zum Erwachsenenalter und sogar der Tod, werden, psychologisch gesehen, als neue Geburten gestaltet und bewältigt. Auch mag die extreme Abhängigkeit des Menschen, wie sie für die Pränatal- und Postnatalzeit charakteristisch ist, ein Ursprung für die kulturschaffenden Möglichkeiten menschlicher Aufopferungsfähigkeit und eines totalen Einsatzes für eine Sache sein.

Um diese psychologische Seite der Geburtserfahrung besser beurteilen zu können, müssen wir uns damit auseinandersetzen, daß wir uns mit unserem Ich-Bewußtsein nicht an die Lebensfrühzeit erinnern können, was man als frühkindliche Amnesie bezeichnet hat. Dies Problem soll den Inhalt des nächsten Kapitels bilden.

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