Auszüge aus Stavros Mentzos's
"Interpersonale und institutionalisierte Abwehr"

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Vorwort

Jeder Psychotherapeut kennt die Situation: Der Patient hat Schwierigkeiten, sein offensichtlich neurotisches Verhalten als solches zu erkennen, weil die reale, soziale Realität des Patienten dieses Verhalten geradezu zu rechtfertigen scheint. Deutet man z.B. einem Mann seine betont beherrschte, übertrieben sachliche und fast unnatürlich "neutrale" Haltung seiner Frau gegenüber als eine Schutzmaßnahme vor eigenen Gefühlen und emotionalen Bedürfnissen (vor denen er Angst habe), so antwortet er mit einer gewissen Berechtigung, daß er nicht anders handeln könne. Seine Frau sei in einem solchen Ausmaß labil, unsachlich "emotional", unbeherrscht, daß jemand für das Gegengewicht, für Ordnung, Sicherheit und Stabilität sorgen müsse.

Je mehr diese Schilderung der Ehefrau der Realität entspricht, desto schwieriger wird es für diesen Mann sein, sich der eigenen neurotischen Abwehr bewußt zu werden. Des Rätsels Lösung ist indessen relativ einfach. Sowohl der Therapeut mit seiner Vermutung als auch der Patient mit seiner Behauptung haben recht. Es ist tatsächlich so, daß der Patient versucht, eigene Gefühlsregungen abzuwehren. Aber notwendig ist die Art seines Verhaltens unter den gegebenen Umständen auch. Seine neurotische Abwehr ist sozusagen in der Realität verankert, sie ist interaktionell organisiert. Ähnliche Konstellationen lassen sich nun nicht nur bei Zweierbeziehungen beobachten; sie sind auch in formellen und informellen Gruppen, in Institutionen, kurz, in allen sozialen Systemen wirksam.

Das ist das Thema dieses Buches, dessen Idee ursprünglich aus Gesprächen mit Patienten entstanden ist, die in solchen psychosozialen Abwehrkonstellationen – in solchen fatalen Zirkeln – eingeschlossen, keinen Ausweg mehr fanden. An erster Stelle möchte ich mich bei meinen Patienten bedanken, die mich immer wieder aus meiner individual-psychologischen Manier und Einseitigkeit herausgerissen und mich auf die psychosoziale Realität aufmerksam gemacht haben. Besonders bedanken möchte ich mich auch bei Frau Ilse Grubrich-Simitis für ihre unermüdlichen Bemühungen bei der Durchsicht des Manuskripts und für ihre vielen wertvollen Anregungen. Schließlich gilt mein Dank auch Frau Deichmann für ihre Bemühungen bei den schriftlichen Arbeiten und den wiederholten Korrekturen.

Einführung

Die intrapsychischen (individuellen) Abwehrmechanismen

Das psychoanalytische Konzept der Abwehrmechanismen des Ich läßt sich vielleicht am besten an einem einfachen klinischen Beispiel erläutern:

Eine 40jährige Frau sucht psychotherapeutische Hilfe, weil sie seit einigen Monaten bemerkenswerte Ängste entwickelt hat, die eine erhebliche Behinderung in der Ausübung ihres Berufes bedeuten. Ihre Tätigkeit verlangt, daß sie längere Fahrten erledigt; seit Jahren ist sie gewohnt, mehrmals in der Woche mit ihrem Auto unterwegs zu sein. Seit einigen Monaten aber hat sie große Schwierigkeiten, über Autobahnbrücken zu fahren, ohne akute Angst zu bekommen. Diese besondere Form einer "Brückenphobie" trat erstmals während einer Fahrt auf, bei der diese Frau ihre Schwiegermutter von einem bestimmten Ort nach Hause fahren und dabei eine brückenreiche Autobahnstrecke benutzen mußte. Seitdem hat sich dieses Symptom so gefestigt und intensiviert, daß sie nicht mehr ohne weiteres auf der Autobahn fahren kann. Sie muß sich komplizierte Umleitungen ausdenken, um alle "gefährlichen" Stellen, nämlich größere Brücken zu vermeiden.

In den ersten beiden psychotherapeutischen Gesprächen wird ihr und dem Therapeuten deutlich, daß sie eigentlich nicht vor der Brücke als solcher Angst hat, sondern vor der Möglichkeit, sie könnte, während sie über eine Brücke fährt, die Kontrolle über das Steuer verlieren, oder, genauer gesagt, vielleicht ungewollt das Steuer nach links oder rechts reißen und in die Tiefe stürzen.

Sie meint zwar, daß all diese Gedanken und Befürchtungen unsinnig und unbegründet seien, kann sich aber nicht helfen. Die Angst beim Fahren über eine Autobahnbrücke ist nicht zu bezwingen.

Nach einem zusätzlichen Stück analytischer Arbeit stellt sich heraus, daß sie ein gespanntes Verhältnis zu ihrer Schwiegermutter hat und in der Zeit vor dieser Fahrt, auf welcher die Angst erstmals auftrat, große Mühe hatte, aggressive Gedanken und Impulse gegen die alte Dame zu unterdrücken, obwohl sie daneben weiterhin auch positive Gefühle für sie empfand. Schließlich zeigte sich noch später, daß der Konflikt mit der Schwiegermutter in vieler Hinsicht an den Konflikt mit der eigenen Mutter erinnerte, zu der sie ein besonders ambivalentes Verhältnis hatte.

Dieses Beispiel verdeutlicht die Vorgänge bei der Entstehung eines neurotischen Symptoms infolge neurotischer Bearbeitung eines Konflikts mit Hilfe von Abwehrmechanismen. Der Ambivalenzkonflikt mit der Mutter, der in der Beziehung zur Schwiegermutter wiederbelebt wurde, erzeugte eine solch unerträgliche intrapsychische Spannung, daß er verdrängt werden mußte. Insbesondere die aggressiven Anteile, die, wie aus freien Einfällen und Traummaterial hervorging, bis zu versteckten Todeswünschen reichten, mußten auf jeden Fall dem Bewußtsein entzogen werden. Trotzdem blieb aber eine Angst zurück, offenbar die Angst, die aggressiven Impulse könnten doch durchbrechen und zu katastrophalem, unkontrollierbarem Verhalten führen.

Aber auch diese, die eigentliche Angstquelle, war infolge der eingetretenen Verschiebung unsichtbar geworden. Auf der bewußten Ebene ging es jetzt nicht mehr um gefährliche Gefühle und Impulse und ihre Steuerung, sondem um die Steuerung eines Autos. Nicht die evtl. unkontrollierbare Aggressivität wurde als Gefahr erlebt, sondern die Möglichkeit, das Auto in den Abgrund zu chauffieren. Ein letzter Verarbeitungsschritt brachte schließlich sogar noch diesen Inhalt zum Verschwinden.
Im Bewußtsein war nunmehr nur eine sinnlose, dafür aber um so hartnäckigere "Brückenphobie" wahrnehmbar.

Eine Reihe von solchen Phobien, wie Straßenangst, Höhenangst, die verschiedenen Tierphobien usw. läßt sich im Rahmen der psychoanalytischen Theorie mit der Annahme des hypothetischen Konstrukts eines "Abwehrmechanismus" der "Verschiebung" verstehen:

Die zunächst konfliktbezogene Angst, etwa die Angst, von eigenen Triebimpulsen überwältigt zu werden und die Kontrolle über sich zu verlieren, wird auf eine relativ harmlose Situation oder einen vergleichsweise beiläufigen Gegenstand verschoben; die eigentliche Angstquelle und der damit verbundene Konflikt werden dadurch der Wahrnehmung entzogen, dem Bewußtsein ferngehalten. In ähnlicher Weise lassen sich ähnliche Vorgänge und Phänomene mit der Annahme anderer hypothetischer Konstrukte, anderer "Abwehrmechanismen", zum Beispiel der Projektion, der Affektisolierung, der Rationalisierung usw., begreifen.

Durch solche "Mechanismen" (der Terminus deutet das automatisch-stereotype solcher Reaktionsmuster an) wird das Ich vor Unlust, Schuldgefühl, Scham und – insbesondere – vor Angst "geschützt" (deswegen auch die Bezeichnung Abwehr), und zwar einmal dadurch, daß die entsprechenden Inhalte und die damit zusammenhängenden Gefühle vom Bewußtsein ferngehalten werden; zum zweiten aber gelingt mit Hilfe dieser Mechanismen oft auch eine indirekte Abfuhr, Entladung, Befriedigung.

Dieser "Schutz" und diese "Befriedigung" stellen freilich zweideutige, neurotische Pseudolösungen dar, die auf Dauer zu Komplikationen führen müssen. Gleichwohl werden sie im Rahmen neurotischen Verhaltens bevorzugt, weil sie zunächst eine schnelle Linderung der inneren Spannung verschaffen.

Die Theorie der Abwehrmechanismen des Ich hat sich als eines der stabilsten, fruchtbarsten und auch weiterhin akzeptierten psychoanalytischen Konzepte erwiesen. Diese breite Anerkennung ist sehr wahrscheinlich auf die Tatsache zurückzuführen, daß dieses Konzept auf relativ kliniknahen Beobachtungen basiert und daß man mit seiner Hilfe eine Fülle von Besonderheiten im Erleben und Verhalten einheitlich und befriedigend beschreiben sowie dynamisch verstehen kann.

Die interpersonalen Abwehrkonstellationen

Nun geht es bei den eben besprochenen Abwehrmechanismen um Vorgänge, die sich im Individuum selbst abspielen und sich auch ausschließlich auf das Individualpsychologische beschränken. Zwar findet im konkreten Fall der "Verschiebung" bei den Phobien eine Quasi-Externalisierung (Versetzung nach außen) der Angstquelle statt; im wesentlichen geht es jedoch um intrapsychische und auf jeden Fall das Individuelle nicht überschreitende Vorgänge.

Je mehr man aber im Laufe der letzten Jahre begann, die isolierte Betrachtung des individuell Intrapsychischen durch eine interaktionelle Sichtweise zu ergänzen, desto deutlicher wurde die Wichtigkeit anderer, besonderer, im zwischenmenschlichen Bereich entstehender Abwehrprozesse, die man interpersonale Abwehrkonstellationen nennen könnte. Zwar haben schon Sigmund Freud und die Psychoanalytiker der ersten Generation solche Phänomene spätestens zu dem Zeitpunkt entdeckt, beschrieben und für das Verständnis des psychoanalytischen Prozesses nutzbar gemacht, als das Übertragungsgeschehen die Aufmerksamkeit zu fesseln begann. Auch die Überlegungen und Beiträge Freuds zur Massenpsychologie (1921) implizieren solche Abwehrvorgänge im psychosozialen Feld. Im wesentlichen jedoch sind die intrapsychischen Aspekte der neurotischen Abwehr weiterhin im Vordergrund des Interesses geblieben. Nur vereinzelt und mehr am Rande, zum Beispiel bei Untersuchungen zur Partnerwahl, oder bei der Betrachtung des Zusammenspiels zwischen Übertragung und Gegenübertragung, wurde auch den interpersonalen Abwehrkonstellationen besondere Aufmerksamkeit gewidmet.

Erst unter dem Einfluß der sich rascher verbreiternden Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik, der Kommunikations-, Interaktions- und Rollentheorie waren auch psychoanalytisch arbeitende Forscher und Praktiker in der Lage, in zunehmendem Maße die interaktionell organisierten, psychosozialen Abwehrformen aufzudecken und in die praktische therapeutische Arbeit einzubeziehen. Während jedoch die intrapsychischen Abwehrformen bereits mehrfach in systematischen Darstellungen definiert, kategorisiert, nach psychodynamischer Struktur und Funktion dargestellt wurden (zum Beispiel schon 1936 durch Anna Freud), sind ähnliche Versuche zu einer Systematik der interpersonalen Abwehrkonstellationen relativ selten geblieben. Immerhin hat Laing mehrere Typen pathologischer Interaktionstypen und einige der uns hier interessierenden Prozesse bei schizophrenen Patienten überzeugend beschrieben. Ähnliche Phänomene werden in Arbeiten auf dem Gebiet der Schizophrenie – Familienforschung – geschildert (Lidz, Wynne, Bateson usw., siehe zusammenfassende Darstellung unter Bateson u.a. 1974).

Wie Laing beschäftigt sich auch Edith Jacobson (1972) mit Abwehrprozessen dieser Art bei Patienten im Intervall zwischen psychotischen Episoden.
Auf der anderen Seite wurden solche Phänomene bei Neurotikern oder "Normalen" im Rahmen der Transaktionsanalyse (Berne, 1967) etwas systematischer abgehandelt. Darüber hinaus scheinen moderne Sozialpsychologen wie z.B. Max Pagès (1974) sich seit einigen Jahren intensiv für dieses Gebiet zu interessieren. Schließlich sind hier die exemplarischen Untersuchungen und Zusammenstellungen von Richter (1967 und 1970) besonders zu erwähnen, bei denen zum ersten Mal im deutschsprachigen Raum der Versuch einer Typologie psychosozialer Abwehrmechanismen unternommen wird.

Welch immense Rolle interpersonale Abwehrkonstellationen im Leben des neurotischen und psychotischen Patienten spielen, wurde mir während der psychotherapeutischen Tätigkeit in Einzel- und Gruppentherapien immer deutlicher. Im Verlauf meiner Bemühungen, diese Vorgänge systematisch zu beobachten, nach gewissen Gesichtspunkten zu ordnen und in ihren Beziehungen zu den intrapsychischen Abwehrmechanismen zu untersuchen, zeigte sich darüber hinaus jedoch, daß sie auch im Leben sog. "Normaler" von zentraler Bedeutung sind, ja, daß sie sogar in der Dynamik vieler Gruppen und Institutionen eine Schlüsselposition einnehmen.

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