Auszüge aus Fritz Riemann's
"Grundformen der Angst"

Eine tiefenpsychologische Studie

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Einleitung

Vom Wesen der Angst und von den Antinomien des Lebens

Angst gehört unvermeidlich zu unserem Leben. In immer neuen Abwandlungen begleitet sie uns von der Geburt bis zum Tode. Die Geschichte der Menschheit läßt immer neue Versuche erkennen, Angst zu bewältigen, zu vermindern, zu überwinden oder zu binden. Magie, Religion und Wissenschaft haben sich darum bemüht. Geborgenheit in Gott, hingebende Liebe, Erforschung der Naturgesetze oder weltentsagende Askese und philosophische Erkenntnisse heben zwar die Angst nicht auf, können aber helfen, sie zu ertragen und sie vielleicht für unsere Entwicklung fruchtbar zu machen. Es bleibt wohl eine unserer Illusionen, zu glauben, ein Leben ohne Angst leben zu können; sie gehört zu unserer Existenz und ist eine Spiegelung unserer Abhängigkeiten und des Wissens um unsere Sterblichkeit. Wir können nur versuchen, Gegenkräfte gegen sie zu entwickeln: Mut, Vertrauen, Erkenntnis, Macht, Hoffnung, Demut, Glaube und Liebe. Diese können uns helfen, Angst anzunehmen, uns mit ihr auseinanderzusetzen, sie immer wieder neu zu besiegen. Methoden, welcher Art auch immer, die uns Angstfreiheit versprechen, sollten wir mit Skepsis betrachten; sie werden der Wirklichkeit menschlichen Seins nicht gerecht und erwecken illusorische Erwartungen.

Wenn nun auch Angst unausweichlich zu unserem Leben gehört, will das nicht heißen, daß wir uns dauernd ihrer bewußt wären. Doch ist sie gleichsam immer gegenwärtig und kann jeden Augenblick ins Bewußtsein treten, wenn sie innen oder außen durch ein Erlebnis konstelliert wird. Wir haben dann meist die Neigung, ihr auszuweichen, sie zu vermeiden, und wir haben mancherlei Techniken und Methoden entwickelt, sie zu verdrängen, sie zu betäuben oder zu überspielen und zu leugnen. Aber wie der Tod nicht aufhört zu existieren, wenn wir nicht an ihn denken, so auch nicht die Angst.

Angst gibt es auch unabhängig von der Kultur und der Entwicklungshöhe eines Volkes oder eines Einzelnen – was sich ändert, sind lediglich die Angstobjekte, das, was jeweils die Angst auslöst, und anderseits die Mittel und Maßnahmen, die wir anwenden, um Angst zu bekämpfen. So haben wir heute im allgemeinen keine Angst mehr vor Donner und Blitz; Sonnen- und Mondfinsternisse sind für uns ein interessantes Naturschauspiel geworden, aber nicht mehr ein Angsterleben, denn wir wissen, daß sie kein endgültiges Verschwinden dieser Gestirne oder gar einen möglichen Weltuntergang bedeuten. Dafür kennen wir heute Ängste, die frühere Kulturen nicht kannten – wir haben etwa Angst vor Bakterien, vor neuen Krankheitsbedrohungen, vor Verkehrsunfällen, vor Alter und Einsamkeit.

Die Methoden der Angstbekämpfung haben sich dagegen gar nicht so sehr gewandelt. Nur sind an die Stelle von Opfern und magischem Gegenzauber heute moderne, die Angst zudeckende pharmazeutische Mittel getreten – die Angst ist uns geblieben. Die wohl wichtigste neue Möglichkeit der Angstverarbeitung ist heute die Psychotherapie in ihren verschiedenen Gestalten geworden: sie deckt erstmalig die Geschichte der Angstentwicklung Im Individuum auf, erforscht ihre Zusammenhänge mit individuell-familiären und soziokulturellen Bedingungen und ermöglicht die Konfrontation mit der Angst, mit dem Ziel fruchtbarer Angstverarbeitung durch Nachreifen.

Offenbar besteht hier eine der Ausgewogenheiten des Lebens: Gelingt es uns, durch Wissenschaft und Technik Fortschritte in der Welteroberung zu machen und dadurch bestimmte Ängste auszuschalten, zu beseitigen, tauschen wir dafür andere Ängste ein. An der Tatsache, daß Angst unvermeidlich zum Leben gehört, ändert sich dadurch nichts. Nur eine neue Angst scheint zu unserem heutigen Leben zu gehören: Wir kennen zunehmend Ängste, die durch unser eigenes Tun und Handeln gesetzt werden, das sich gegen uns wendet. Wir kennen die Angst vor den zerstörerischen Kräften in uns selbst – denken wir nur an die Gefahren, die der Mißbrauch der atomaren Kräfte mit sich bringen kann, oder an die Machtmöglichkeiten, die durch Eingriffe in natürliche Lebensabläufe gegeben sind. Unsere Hybris scheint sich wie ein Bumerang gegen uns selbst zu richten; der Wille zur Macht, dem es an Liebe und Demut fehlt, der Wille zur Macht über die Natur und das Leben, läßt in uns die Angst entstehen, zu manipulierten, sinnentleerten Wesen gemacht zu werden. Hatte der Mensch früherer Zeiten Angst vor den Naturgewalten, denen er hilflos ausgeliefert war, vor bedrohenden Dämonen und rächenden Göttern, müssen wir heute Angst vor uns selbst haben.

So ist es wieder eine Illusion, zu meinen, daß der "Fortschritt" – der immer zugleich auch ein Rückschritt ist – uns unsere Ängste nehmen werde; manche gewiß, aber er wird neue Ängste zur Folge haben.

Das Erlebnis Angst gehört also zu unserem Dasein. So allgemeingültig das ist, erlebt doch jeder Mensch seine persönlichen Abwandlungen der Angst, "der" Angst, die es so wenig gibt, wie "den" Tod oder "die" Liebe und andere Abstraktionen. Jeder Mensch hat seine persönliche, individuelle Form der Angst, die zu ihm und seinem Wesen gehört, wie er seine Form der Liebe hat und seinen eigenen Tod sterben muß. Es gibt also Angst nur erlebt und gespiegelt von einem bestimmten Menschen und sie hat darum immer eine persönliche Prägung, bei aller Gemeinsamkeit des Erlebnisses Angst an sich. Diese unsere persönliche Angst hängt mit unseren individuellen Lebensbedingungen, mit unseren Anlagen und unserer Umwelt zusammen; sie hat eine Entwicklungsgeschichte, die praktisch mit unserer Geburt beginnt.

Wenn wir Angst einmal "ohne Angst" betrachten, bekommen wir den Eindruck, daß sie einen Doppelaspekt hat: einerseits kann sie uns aktiv machen, andererseits kann sie uns lähmen. Angst ist immer ein Signal und eine Warnung bei Gefahren, und sie enthält gleichzeitig einen Aufforderungscharakter, nämlich den Impuls, sie zu überwinden. Das Annehmen und das Meistern der Angst bedeutet einen Entwicklungsschritt, läßt uns ein Stück reifen. Das Ausweichen vor ihr und vor der Auseinandersetzung mit ihr, läßt uns dagegen stagnieren; es hemmt unsere Weiterentwicklung und läßt uns dort kindlich bleiben, wo wir die Angstschranke nicht überwinden.

Angst tritt immer dort auf, wo wir uns in einer Situation befinden, der wir nicht oder noch nicht gewachsen sind. Jede Entwicklung, jeder Reifungsschritt ist mit Angst verbunden, denn er führt uns in etwas Neues, bisher nicht Gekanntes und Gekonntes, in innere oder äußere Situationen, die wir noch nicht und in denen wir uns noch nicht erlebt haben. Alles Neue, Unbekannte, erstmals zu Tuende oder zu Erlebende enthält, neben dem Reiz des Neuen, der Lust am Abenteuer und der Freude am Risiko, auch Angst. Da unser Leben immer wieder in Neues, Unvertrautes und noch nicht Erfahrenes führt, begleitet uns Angst immerwährend. Sie kommt am ehesten ins Bewußtsein an besonders wichtigen Stellen unserer Entwicklung, da, wo alte, vertraute Bahnen verlassen werden müssen, wo neue Aufgaben zu bewältigen oder Wandlungen fällig sind. Entwicklung, erwachsen werden und reifen haben also offenbar viel zu tun mit Angstüberwindung, und jedes Alter hat seine ihm entsprechenden Reifungsschritte mit den dazugehörenden Ängsten, die gemeistert werden müssen, wenn der Schritt gelingen soll.

Es gibt demnach völlig normale, alters- und entwicklungsgemäße Ängste, die der gesunde Mensch durchsteht und überwächst, deren Bewältigung für seine Fortentwicklung wichtig ist. Denken wir etwa an die ersten selbständigen Laufschritte des Kindes, bei denen es erstmals die haltende Hand der Mutter loslassen und die Angst vor dem Alleingehen, vor dem Alleingelassenwerden im freien Raum überwinden muß. Oder denken wir an die großen Zäsuren in unserem Leben. Nehmen wir den Schulanfang, wo das Kind aus dem Schoß der Familie in eine neue und zunächst fremde Gemeinschaft hineinwachsen und sich in ihr behaupten soll. Nehmen wir die Pubertät und die ersten Begegnungen mit dem anderen Geschlecht unter dem Drang erotischer Sehnsucht und sexuellen Begehrens; oder denken wir an den Berufsbeginn, an die Gründung einer eigenen Familie, an die Mutterschaft und schließlich an das Altern und die Begegnung mit dem Tod – immer ist an einen Anfang oder vor ein erstmals zu Erfahrendes auch eine Angst gesetzt.

Alle diese Ängste gehören gleichsam organisch zu unserem Leben, weil sie mit körperlichen, seelischen oder sozialen Entwicklungsschritten zusammenhängen, mit der Übernahme neuer Funktionen in der Gemeinschaft oder der Gesellschaft auftreten. Immer bedeutet ein solcher Schritt eine Grenzüberschreitung und fordert von uns, von etwas Gewohntem, Vertrautem uns zu lösen und uns in Neues, Unvertrautes zu wagen.

Neben diesen Ängsten gibt es eine Fülle individueller Ängste, die nicht im obigen Sinne typisch für bestimmte Grenzsituationen sind, die wir deshalb bei anderen oft nicht verstehen können, weil wir sie bei uns selbst nicht kennen. So kann bei dem einen Einsamkeit schwere Angst auslösen, bei einem anderen Menschenansammlungen; ein dritter bekommt Angstanfälle, wenn er über eine Brücke oder über einen freien Platz gehen will; ein vierter kann sich nicht in geschlossenen Räumen aufhalten; wieder ein anderer hat Angst vor harmlosen Tieren, vor Käfern, Spinnen oder Mäusen usf.

So vielfältig demnach das Phänomen Angst bei verschiedenen Menschen ist – es gibt praktisch nichts, wovor wir nicht Angst entwickeln können –, geht es bei genauerem Hinsehen doch immer wieder um Varianten ganz bestimmter Ängste, die ich deshalb als "Grundformen der Angst" bezeichnen und beschreiben möchte. Alle überhaupt möglichen Ängste haben mit diesen Grundformen der Angst zu tun. Sie sind entweder Extremvarianten und Zerrformen von ihnen, oder aber Verschiebungen auf andere Objekte. Wir haben nämlich die Neigung, nicht verarbeitete, nicht gemeisterte Ängste an harmlosere Ersatzobjekte zu heften, die leichter vermeidbar sind, als die eigentlichen Angstauslöser, vor denen wir nicht ausweichen können.

Die Grundformen der Angst hängen mit unserer Befindlichkeit in der Welt zusammen, mit unserem Ausgespanntsein zwischen zwei großen Antinomien, die wir in ihrer unauflösbaren Gegensätzlichkeit und Widersprüchlichkeit leben sollen. Ich möchte diese beiden Antinomien an einem Gleichnis verdeutlichen, das uns in überpersönliche Ordnungen und Gesetzmäßigkeiten einfügt, deren wir uns im allgemeinen nicht bewußt sind, die aber dennoch wirklich sind.

Wir werden in eine Welt hineingeboren, die vier mächtigen Impulsen gehorcht: Unsere Erde umkreist in bestimmtem Rhythmus die Sonne, bewegt sich also um das Zentralgestirn unseres engeren Weltsystems, welche Bewegung wir als Revolution, "Umwälzung", bezeichnen. Gleichzeitig dreht sich dabei die Erde um ihre eigene Achse, führt also die Rotation, "Eigendrehung" benannte Bewegung aus. Damit sind zugleich zwei weitere gegensätzliche bzw. sich ergänzende Impulse gesetzt, die unser Weltsystem sowohl in Bewegung halten, wie diese Bewegung in bestimmte Bahnen zwingen: die Schwerkraft und die Fliehkraft. Die Schwerkraft hält unsere Welt gleichsam zusammen, richtet sie zentripetal nach innen, nach der Mitte strebend, aus, und hat etwas von einem festhalten und anziehen wollenden Sog. Die Fliehkraft strebt zentrifugal, die Mitte fliehend, nach außen, sie drängt in die Weite und hat etwas von einem loslassen, sich ablösen wollenden Zug. Nur die Ausgewogenheit dieser vier Impulse garantiert die gesetzmäßige, lebendige Ordnung, in der wir leben, die wir Kosmos nennen. Das Überwiegen oder das Ausfallen einer solchen Bewegung würde die große Ordnung stören bzw. zerstören und ins Chaos führen.

Stellen wir uns einmal vor, die Erde würde einen dieser Grundimpulse aufgeben. Gäbe sie z. B. die Revolution, die Umkreisung der Sonne auf und würde nur noch die Rotation, die Drehung um die eigene Achse vollziehen, würde sie die Größenordnung eines Planeten übersteigen und sich als Sonne gebärden, als Mittelpunkt, um den sich die anderen Planeten zu drehen hätten. Sie würde sich also nicht mehr in die ihr vorgeschriebene Bahn um die Sonne einfügen, sondern nur noch ihr eigenes Gesetz leben.
Gäbe die Erde dagegen die Rotation, ihre Eigendrehung, auf und würde sie nur noch um die Sonne kreisen, sänke sie von der Planetenstufe auf die eines Trabanten, eines Mondes herab, der Sonne immer die gleiche Seite zuwendend in größter Abhängigkeit. In beiden Fällen würde sie also ihre Planetengesetzlichkeit – abhängiges Sicheinfügen und dennoch unabhängige Eigendrehung zu haben – durchbrechen.

Weiter: Hätte die Erde keine Schwerkraft, das Zentripetale, würde sie nur der Fliehkraft unterliegen und chaotisch zerbersten, aus der Bahn kommen, und vielleicht mit anderen Weltkörpern zusammenstoßen. Und würde sie schließlich nur der Schwerkraft gehorchen ohne den Gegenimpuls der Fliehkraft, des Zentrifugalen, müßte das zu völliger Erstarrung und Unveränderlichkeit führen, oder zu passivem Aus-der-Bahn-gezogen-Werden durch andere Kräfte, denen sie keine eigene Kraft entgegenzusetzen hätte.

Und nun zu dem Gleichnis: Nehmen wir einmal an – was eigentlich sehr nahe liegt –, daß der Mensch als Bewohner unserer Erde und als winziges Teilchen unseres Sonnensystems auch dessen Gesetzmäßigkeiten unterworfen sei, und daß er damit die beschriebenen Impulse als unbewußte Triebkräfte und zugleich als latente Forderungen in sich trage, so führt uns das zu sehr überraschenden Entsprechungen. Wir brauchen nämlich nur jene Grundimpulse auf der menschlichen Ebene ins Psychologische zu übersetzen, also nach ihren Entsprechungen im seelischen Erleben zu fragen, dann stoßen wir auf die erwähnten Antinomien, zwischen denen unser Leben ausgespannt ist und, wie wir sehen werden, zugleich auf jene Grundformen der Angst, die im Zusammenhang damit stehen und so einen tieferen Sinn bekommen.

Der Rotation, der Eigendrehung, entspräche psychologisch sinngemäß die Forderung zur Individuation, also dazu, ein einmaliges Einzelwesen, ein Individuum zu werden. Der Revolution, der Bewegung um die Sonne als unserem Zentralgestirn, entspräche die Forderung, sich einzuordnen in ein größeres Ganzes, unsere Eigengesetzlichkeit, unser eigenes Wollen zu begrenzen zugunsten überpersönlicher Zusammenhänge. Damit hätten wir die erste Antinomie umschrieben, die die gegensätzlichen Forderungen enthält, daß wir sowohl wir selbst werden, als uns in überindividuelle Zusammenhänge einfügen sollen.

Dem Zentripetalen, der Schwerkraft, entspräche auf der seelischen Ebene unser Impuls nach Dauer und Beständigkeit; und schließlich dem Zentrifugalen, der Fliehkraft, entspräche der Impuls, der uns immer wieder vorwärts, zur Veränderung und Wandlung treibt. Damit haben wir auch die andere Antinomie umschrieben: Sie enthält die wiederum gegensätzlichen Forderungen, daß wir nach Dauer und andererseits nach Wandlung streben sollen.

Nach dieser kosmischen Analogie sind wir vier grundlegenden Forderungen ausgesetzt, die wir als einander widersprechende und doch zugleich sich ergänzende Strebungen in uns wiederfinden. In wechselnder Gestalt durchziehen sie unser ganzes Leben und wollen in immer neuer Weise von uns beantwortet werden.

Die erste Forderung, in unserem Gleichnis der Rotation entsprechend, ist, daß wir ein einmaliges Individuum werden sollen, unser Eigensein bejahend und gegen andere abgrenzend, daß wir unverwechselbare Persönlichkeiten werden sollen, kein austauschbarer Massenmensch. Damit ist aber alle Angst gegeben, die uns droht, wenn wir uns von anderen unterscheiden und dadurch aus der Geborgenheit des Dazugehörens und der Gemeinsamkeit herausfallen, was Einsamkeit und Isolierung bedeuten würde. Bei aller Breite, in der wir durch Rasse, Familien- und Volkszugehörigkeit, durch Alter, Geschlecht, durch unseren Glauben oder unseren Beruf usf. bestimmten Gruppen angehören, denen wir uns verwandt und vertraut fühlen, sind wir doch zugleich Individuen und damit etwas Einmaliges, von allen anderen Menschen deutlich Unterschiedenes. Das kommt schon in der bemerkenswerten Tatsache zum Ausdruck, daß allein unser Daumenabdruck genügt, um uns von jedem anderen Menschen unverwechselbar zu unterscheiden und eindeutig zu identifizieren. So gleicht unsere Existenz einer Pyramide, deren breite Basis sich aus Typischem und Gemeinsamkeiten aufbaut, die aber zur Spitze hin sich immer mehr aus den verbindenden Gemeinsamkeiten herauslöst und im einmalig Individuellen endet. Mit dem Annehmen und Entwickeln unserer Einmaligkeit, mit dem Individuationsprozeß, wie C. G. Jung diesen Entwicklungsvorgang genannt hat, fallen wir aus der Geborgenheit des Dazugehörens, des "Auch-wie-die-anderen-Seins" heraus, und erleben die Einsamkeit des Individuums mit Angst. Denn je mehr wir uns von anderen unterscheiden, um so einsamer werden wir, und sind damit der Unsicherheit, dem Nichtverstanden-, dem Abgelehnt-, u. U. dem Bekämpftwerden ausgesetzt. Riskieren wir aber andererseits nicht, uns zu eigenständigen Individuen zu entwickeln, bleiben wir zu sehr im Kollektiven, im Typischen stecken, und bleiben unserer menschlichen Würde etwas Entscheidendes schuldig.

Die zweite Forderung, in unserem Gleichnis der Revolution entsprechend, ist die, daß wir uns der Welt, dem Leben und den Mitmenschen vertrauend öffnen, uns einlassen sollen mit dem Nicht-Ich, dem Fremden, in Austausch treten sollen mit dem Außer-uns-Seienden. Es ist damit gemeint, die Seite der Hingabe – im weitesten Sinne – an das Leben. Damit ist aber verbunden alle Angst, unser Ich zu verlieren, abhängig zu werden, uns auszuliefern, unser Eigensein nicht angemessen leben zu können, es anderen opfern und in der geforderten Anpassung zu viel von uns selbst aufgeben zu müssen. Es geht hier also vor allem um die Seite unserer Abhängigkeiten, um unser "Geworfensein", und darum, daß wir trotz dieser Abhängigkeiten und Gefährdungen unseres Ichs, die uns unsere Ohnmacht fühlen lassen, uns dem Leben zuwenden, uns aufschließen sollen. Riskieren wir das nicht, bleiben wir isolierte Einzelwesen ohne Bindung, ohne Zugehörigkeit zu etwas über uns Hinausreichendem, letztlich ohne Geborgenheit und werden so weder uns selbst noch die Welt kennenlernen.

Wir sind mit dieser ersten Antinomie auf die eine paradoxe Zumutung gestoßen, die das Leben uns auferlegt: Wir sollen sowohl die Selbstbewahrung und Selbstverwirklichung leben, als auch die Selbsthingabe und Selbstvergessenheit, sollen zugleich die Angst vor der Ich-Aufgabe, wie die Angst vor der Ich-Werdung überwinden.

Und nun zu den beiden anderen Forderungen, die wiederum im polaren Verhältnis des Widerspruches und der Ergänzung stehen, wie die eben beschriebenen:

Die dritte Forderung, in unserem Gleichnis dem Zentripetalen, der Schwerkraft entsprechend, ist, daß wir die Dauer anstreben sollen. Wir sollen uns auf dieser Welt gleichsam häuslich niederlassen und einrichten, in die Zukunft planen, zielstrebig sein, als ob wir unbegrenzt leben würden, als ob die Welt stabil wäre und die Zukunft voraussehbar, als ob wir mit Bleibendem rechnen könnten – mit dem gleichzeitigen Wissen, daß wir media in vita morte sumus, daß unser Leben jeden Augenblick zu Ende sein kann. Mit dieser Forderung, zu dauern, uns in eine ungewisse Zukunft zu entwerfen, ja, überhaupt Zukunft zu haben, als ob wir damit etwas Festes und Sicheres vor uns hätten – mit dieser Forderung sind alle Ängste gegeben, die mit dem Wissen um die Vergänglichkeit, um unsere Abhängigkeiten und um die irrationale Unberechenbarkeit unseres Daseins zusammenhängen: Die Angst vor dem Wagnis des Neuen, vor dem Planen ins Ungewisse, davor, sich dem ewigen Fließen des Lebens zu überlassen, das nie stillsteht und auch uns selbst wandelnd ergreift. Das liegt wohl in dem Ausspruch, daß niemand zweimal in den gleichen Fluß steigen könne – der Fluß und auch man selbst ist stets ein anderer. Würden wir aber andererseits auf die Dauer verzichten, könnten wir nichts schaffen und verwirklichen; alles Geschaffene muß in unserer Vorstellung etwas von dieser Dauer haben – sonst würden wir gar nicht anfangen, unsere Ziele zu verwirklichen. So leben wir immer, als ob wir glaubten, unbegrenzt Zeit zu haben, als ob das endlich Erreichte stabil wäre, und diese uns vorschwebende Stabilität und Dauer, diese illusionäre Ewigkeit, ist ein wesentlicher Impuls, der uns zum Handeln treibt.

Und schließlich die vierte Forderung, im Gleichnis dem Zentrifugalen, der Fliehkraft entsprechend. Sie besteht darin, daß wir immer bereit sein sollen, uns zu wandeln, Veränderungen und Entwicklungen zu bejahen, Vertrautes aufzugeben, Traditionen und Gewohntes hinter uns zu lassen, uns immer wieder vom gerade Erreichten zu lösen und Abschied zu nehmen, alles nur als Durchgang zu erleben. Mit dieser Forderung, uns immer lebendig weiterzuentwickeln, uns nicht aufzuhalten, nicht zu haften, dem Neuen geöffnet und das Unbekannte wagend, ist nun die Angst verbunden, durch Ordnungen, Notwendigkeiten, Regeln und Gesetze, durch den Sog der Vergangenheit und Gewohnheit festgelegt, festgehalten zu werden, eingeengt, begrenzt zu werden in unseren Möglichkeiten und unserem Freiheitsdrang. Es droht also hier letztlich, im Gegensatz zur vorbeschriebenen Angst, wo der Tod als Vergänglichkeit erschien, der Tod als Erstarrung und Endgültigkeit. Würden wir aber den Impuls zur Wandlung, zum Wagnis des Neuen, aufgeben, so blieben wir im Gewohnten haften, einförmig schon Daseiendes wiederholend und festhaltend, und die Zeit und die Mitwelt würde uns überholen und vergessen.

Damit haben wir die andere Antinomie skizziert, die weitere Zumutung des Lebens an uns: Daß wir zugleich nach Dauer und nach Wandlung streben sollen, daß wir dabei sowohl die Angst vor der nicht aufzuhaltenden Vergänglichkeit, wie die Angst vor der unausweichlichen Notwendigkeit überwinden müssen.

So haben wir vier Grundformen der Angst kennengelernt, die ich noch einmal zusammenstellen will:

1. Die Angst vor der Selbsthingabe, als Ich-Verlust und Abhängigkeit erlebt;
2. Die Angst vor der Selbstwerdung, als Ungeborgenheit und Isolierung erlebt;
3. Die Angst vor der Wandlung, als Vergänglichkeit und Unsicherheit erlebt;
4. Die Angst vor der Notwendigkeit, als Endgültigkeit und Unfreiheit erlebt.

Alle möglichen Ängste sind letztlich immer Varianten dieser vier Grundängste und hängen mit den vier Grundimpulsen zusammen, die ebenfalls zu unserem Dasein gehören und sich auch paarweise ergänzen und widersprechen: Als Streben nach Selbstbewahrung und Absonderung, mit dem Gegenstreben nach Selbsthingabe und Zugehörigkeit; und andererseits als Streben nach Dauer und Sicherheit, mit dem Gegenstreben nach Wandlung und Risiko. Zu jeder Strebung gehört die Angst vor der Gegenstrebung. Und doch, wenn wir noch einmal auf unser kosmisches Gleichnis zurückgreifen, scheint eine lebendige Ordnung nur möglich zu sein, wenn wir eine Gleichgewichtigkeit zwischen diesen antinomischen Impulsen zu leben versuchen. Eine solche Gleichgewichtigkeit bedeutet indessen nicht etwas Statisches, wie man meinen könnte, sondern sie ist voll ungemeiner innerer Dynamik, weil sie nie etwas Erreichtes, sondern etwas immer wieder Herzustellendes ist.

Dabei müssen wir beachten, daß die Art der jeweils erlebten Angst und ihr Intensitätsgrad in großem Maße abhängig sind sowohl von unserer mitgebrachten Anlage, von unserem "Erbe", als auch von den Umweltbedingungen, in die wir hineingeboren werden; sowohl von unserer körperlichen und seelisch-geistigen Konstitution also, wie auch von unserer persönlichen Biographie, der Geschichte unseres Gewordenseins. Denn auch unsere Ängste haben eine Geschichte, und wir werden sehen, von wie großer Bedeutung dafür unsere Kindheit ist. So ist Angst bei jedem Menschen durch Anlage und Umwelteinflüsse mitgetönt, was zum Teil auch erklärt, warum uns manche Ängste anderer schwer einfühlbar sind – sie entstanden bei ihnen aus Lebensbedingungen, die von den unseren zu sehr abwichen.

Anlage und Umwelt – zu welcher neben der Familie, dem "Milieu", auch die Gesellschaft gehört – können also bestimmte Ängste begünstigen, andere zurücktreten lassen. Der weitgehend gesunde Mensch – der in seiner Entwicklung nicht Gestörte – wird im allgemeinen mit den Ängsten umgehen und sie vielleicht auch überwinden können. Der in seiner Entwicklung Gestörte erlebt Ängste sowohl intensiver als häufiger, und eine der Grundformen der Angst wird bei ihm das Übergewicht haben.

Schwer belastend und krank machend kann eine Angst werden, wenn sie entweder ein gewisses Maß übersteigt, oder wenn sie zu lange anhält. Am schwersten belastend sind Ängste, die zu früh in der Kindheit erlebt werden, in einem Alter, wo das Kind noch keine Abwehrkräfte gegen sie entwickeln konnte. Immer, wenn eine Angst durch Intensität oder Dauer zu groß wird, oder wenn sie uns in einem Alter trifft, wo wir ihr noch nicht gewachsen sind, kann sie schwer verarbeitet werden. Der aktivierende positive Aspekt der Angst fällt dann fort; Entwicklungshemmungen, Stehenbleiben oder auch Zurückgleiten in frühere, kindlichere Verhaltensweisen, sowie Symptombildungen sind die Folge. Verständlicherweise werden wir nicht altersgemäße Angsterlebnisse sowie zu große Angstquantitäten, die das Maß des Erträglichen übersteigen, besonders im Kindesalter antreffen. Das schwache, in der Entwicklung begriffene Ich des Kindes kann gewisse Angstquantitäten noch nicht verarbeiten; es ist dafür auf die Hilfe von außen angewiesen und wird Schädigungen davontragen, wenn es mit solchen übergroßen Ängsten alleingelassen wird.

Beim Erwachsenen können seltenere Ausnahmesituationen wie Krieg, Gefangenschaft, Lebensgefährdungen, Natur- und sonstige Katastrophen, aber auch innerseelische Erlebnisse und Prozesse ebenfalls seine Toleranzgrenze für Ängste überschreiten, so daß er mit Panik, mit Kurzschlußhandlungen oder Neurosen darauf reagiert. Unter normalen Bedingungen hat aber der Erwachsene dem Kinde gegenüber eine viel reichere Auswahl an Antwortmöglichkeiten und Gegenkräften gegen die Angst: Er kann sich wehren, seine Situation durchdenken und die Angstauslöser erkennen; er kann vor allem verstehen, woher seine Angst stammt; er kann sie mitteilen und so Verständnis und Hilfe bekommen, und er kann die möglichen Gefährdungen richtig einschätzen. All das steht dem Kind noch nicht zur Verfügung; je kleiner es ist, desto mehr ist es nur Objekt seiner Ängste, ihnen hilflos ausgeliefert, ohne Wissen, wie lange sie anhalten werden und was alles geschehen kann.

Wir werden sehen, wie das Überwertigwerden einer der vier Grundängste – oder, von der anderen Sicht her gesehen, das weitgehende Aufgeben eines der vier Grundimpulse – uns zu vier Persönlichkeitsstrukturen führt, zu vier Arten des In-der-Welt-Seins, die wir in Abstufungen alle kennen und an denen wir alle mehr oder weniger akzentuiert Anteil haben. Diese Persönlichkeitsstrukturen sind also zu verstehen als einseitige Akzentuierung in bezug auf die vier Grundängste. Je ausgeprägter und einseitiger die zu beschreibenden Persönlichkeitsstrukturen sind, desto wahrscheinlicher ist es, daß sie auf Grund frühkindlicher Entwicklungsstörungen entstanden sind. Dementsprechend wäre es als ein Zeichen von seelischer Gesundheit anzusehen, wenn jemand die vier Grundimpulse in lebendiger Ausgewogenheit zu leben vermöchte – was zugleich bedeutete, daß er sich auch mit den vier Grundformen der Angst auseinandergesetzt hat.

Die vier Persönlichkeitsstrukturen sind zunächst Normalstrukturen mit gewissen Akzentuierungen. Wird indessen die Akzentuierung zu ausgesprochener Einseitigkeit, erreicht sie Grenzwerte, die als Zerrformen oder Extremvarianten der vier normalen Grundstrukturen zu verstehen sind. Wir stoßen damit auf die neurotischen Varianten der Strukturtypen, wie sie die Psychotherapie und Tiefenpsychologie in den vier großen Neuroseformen der Schizoidie, der Depression, der Zwangsneurose und der Hysterie beschrieben hat. Diese neurotischen Persönlichkeiten spiegeln also jeweils nur in zugespitzter oder extremer Form allgemeinmenschliche Daseinsformen, die wir alle kennen.
Es handelt sich damit letztlich um vier verschiedene Arten des In-der-Welt-Seins; bei ihrer Schilderung will ich die Folgen jener Einseitigkeit von noch durchaus gesund zu nennenden Erscheinungsformen über leichtere, schwere bis zu den schwersten Störungen beschreiben. Konstitutionell entgegenkommende Anlagen sollen dabei berücksichtigt werden; vor allem aber wird unser Interesse den lebensgeschichtlichen Hintergründen gelten.

Zuvor noch eine Zwischenbemerkung: Soweit die Beschreibung der vier Persönlichkeitsstrukturen den Charakter einer Typenlehre anzunehmen scheint, unterschiede sich diese von anderen Typologien insofern, als sie – vorwiegend auf psychoanalytischen Erkenntnissen und Erfahrungen der Psychotherapie und Tiefenpsychologie aufbauend –, weniger fatalistisch und endgültig festlegend wäre, als vergleichsweise aus der Konstitution oder dem Temperament abgeleitete Typen; die letzteren stellen sich als schicksalhaft gegeben und unabänderlich dar – sie sind nur hinzunehmen. Mir geht es hier um anderes.

Nicht nur, weil ich einen bestimmten Körperbau habe, bin ich so oder so, sondern weil ich eine bestimmte Einstellung, ein bestimmtes Verhalten zur Welt, zum Leben habe, das ich aus meiner Lebensgeschichte erworben habe, prägt das meine Persönlichkeit und verleiht ihr bestimmte strukturelle Züge. Was daran schicksalhaft ist – die mitgebrachte psychophysische Anlage, die Umwelt unserer Kindheit mit den Persönlichkeiten unserer Eltern und Erzieher, sowie die Gesellschaft mit ihren Spielregeln, in die wir hineingeboren werden – ist in gewissen Grenzen durch uns selbst zu gestalten, kann verändert werden, ist jedenfalls nicht nur ein Hinzunehmendes. Die hier gemeinten Persönlichkeitsstrukturen wollen als Teilaspekte eines ganzheitlichen Menschenbildes verstanden werden. Die Nachentwicklung zunächst schicksalhaft ungenügend entwickelter, vernachlässigter, fehlgeleiteter oder überfremdeter und unterdrückter Teilaspekte unseres Wesens kann die erworbene Struktur verändern und vervollständigen zugunsten jener vorschwebenden Ganzheit oder Reife, Abrundung, in dem Ausmaß, wie es der einzelne für sich zu erlangen vermag.

Wir gehen also hier von vier allgemeingültigen Grundeinstellungen und Verhaltensmöglichkeiten aus gegenüber den Bedingungen und Abhängigkeiten unseres Daseins, wobei uns das kosmische Vorbild der lebendigen Ordnung und Ausgewogenheit scheinbar unvereinbarer Gegensätze vorschwebt.

Das Beibehalten der Begriffsbezeichnungen aus der Neurosenlehre für die vier Strukturtypen, auch für den sogenannten Gesunden, hat praktische Vorteile, weil bei diesen Begriffen immer zugleich die lebensgeschichtliche Entstehung und die neurotische Variante mitgesehen werden kann; zugleich haben sie sich inzwischen so weit eingebürgert, daß eine Neubenennung überflüssig erscheint. Der Leser wird das vermutlich bald verstehen, wenn ihm die Begriffe der Schizoidie, Depression usf. aus der Schilderung geläufig und plastisch in seiner Vorstellung geworden sind.

Ich habe es in diesem Buch vermieden, die im Schrifttum meist anzutreffende Unterscheidung zwischen Angst und Furcht aufzugreifen. Sie war mir für mein Grundkonzept unwesentlich; zudem erscheint sie mir auch nicht zwingend und überzeugend genug, wie es in der Unsicherheit der Verwendung beider Begriffe im üblichen Sprachgebrauch zum Ausdruck kommt: wir sprechen sowohl von Todesangst wie von Todesfurcht und können die beiden Begriffe nicht ohne Gewaltsamkeit differenzieren. Der gewöhnlich gemachte Unterschied, Furcht auf etwas Bestimmtes, Konkretes zu beziehen, Angst dagegen auf etwas Unbestimmtes, mehr Irrationales, mag eine gewisse Berechtigung haben, ist aber auch nicht immer stichhaltig, wie etwa bei der Gottesfurcht, die nach obiger Unterscheidung Gottesangst heißen müßte. Ich habe daher bewußt darauf verzichtet, eine begriffliche Trennung von Angst und Furcht hier vorzunehmen.

Dieses Buch ist geschrieben, um dem einzelnen leben zu helfen, um ihm mehr Selbst- und Fremdverständnis zu vermitteln, und um die Wichtigkeit unserer Anfangsjahre für unsere Entwicklung deutlich zu machen. Es ist auch geschrieben, um den Sinn zu wecken, wieder zu erwecken, für die großen Zusammenhänge, denen wir eingefügt sind und von denen wir, wie ich meine, Wesentliches lernen können.

Die schizoiden Persönlichkeiten

"Auf, laß uns anders werden als die Vielen, die da wimmeln in dem allgemeinen Haufen." (Spitteler)

Wir wollen uns nun den Persönlichkeiten zuwenden, deren grundlegendes Problem – von der Seite der Angst her gesehen – die Angst vor der Hingabe ist und die zugleich – von der Seite der Grundimpulse her betrachtet – den Impuls zur "Eigendrehung", das hieße psychologisch also: zur Selbstbewahrung und Ich-Abgrenzung, überwertig leben. Wir nennen sie die schizoiden Menschen.

Wir alle haben den Wunsch, ein unverwechselbares Individuum zu sein. Wie sehr, merken wir etwa daran, wie empfindlich wir reagieren, wenn jemand unseren Namen verwechselt oder entstellt: wir wollen nicht beliebig austauschbar sein; wir wollen das Bewußtsein unserer Einmaligkeit als Individuum haben. Das Bestreben, uns von anderen zu unterscheiden, ist uns ebenso mitgegeben wie das dazu gegensätzliche, als soziale Wesen zu Gruppen oder Kollektiven dazuzugehören. Wir wollen sowohl unseren persönlichen Interessen leben dürfen, als wir auch in partnerschaftlicher Verbundenheit und mitmenschlicher Bezogenheit und Verantwortung stehen möchten. Wie wird es sich nun auswirken, wenn ein Mensch, die Hingabeseite vermeidend, vorwiegend die Selbstbewahrung zu leben versucht?

Sein Streben wird vor allem dahin gehen, so unabhängig und autark wie möglich zu werden. Auf niemanden angewiesen zu sein, niemanden zu brauchen, niemandem verpflichtet zu sein, ist ihm entscheidend wichtig. Deshalb distanziert er sich von den Mitmenschen, braucht er Abstand zu ihnen, läßt er sie sich nicht zu nahe kommen, läßt er sich nur begrenzt mit ihnen ein. Wird diese Distanz überschritten, empfindet er das als Bedrohung seines Lebensraumes, als Gefährdung seines Unabhängigkeitsbedürfnisses, seiner Integrität, und wehrt sich schroff dagegen. So entwickelt er die für ihn typische Angst vor mitmenschlicher Nähe. Nun läßt sich aber Nähe im Leben nicht vermeiden, und daher sucht er nach Schutzhaltungen, hinter denen er sich gegen sie abschirmen kann.

Er wird dann vor allem persönlich-nahe Kontakte vermeiden, niemanden im Intimen an sich heranlassen. Er scheut Begegnungen mit einem Einzelnen, einem Partner, und versucht, menschliche Beziehungen zu versachlichen. Wenn er sich unter Menschen begibt, fühlt er sich am wohlsten in Gruppen oder Kollektiven, wo er anonym bleiben kann, und doch über gemeinsame Interessen ein Dazugehören erlebt. Am liebsten hätte er die Tarnkappe des Märchens verfügbar, unter deren Schutz er unerkannt am Leben der anderen teilnehmen und in es eingreifen könnte, ohne etwas von sich preisgeben zu müssen.

Auf die Umwelt wirken solche Menschen fern, kühl, distanziert, schwer ansprechbar, unpersönlich bis kalt. Oft erscheinen sie seltsam, absonderlich, in ihren Reaktionen unverständlich oder befremdend. Man kann sie lange kennen, ohne sie wirklich zu kennen. Hat man heute zu ihnen scheinbar einen guten Kontakt gehabt, verhalten sie sich morgen so, als hätten sie uns nie gesehen; ja, je näher sie uns gerade gekommen waren, um so schroffer wenden sie sich plötzlich von uns ab, uneinfühlbar, oft mit grundlos erscheinender Aggression oder Feindseligkeit, die verletzend für uns ist.

Das Vermeiden jeder vertrauten Nähe aus Angst vor dem Du, vor sich öffnender Hingabe, läßt den schizoiden Menschen mehr und mehr isoliert und einsam werden. Seine Angst vor der Nähe wird besonders da konstelliert, wo jemand ihm oder wo er jemandem zu nahe kommt. Da Gefühle der Zuneigung, der Sympathie, der Zärtlichkeit und Liebe uns einander am nächsten kommen lassen, erlebt er sie als besonders gefährlich. Das erklärt, warum er gerade in solchen Situationen abweisend, ja feindlich wird, den anderen abrupt zurückstößt: Er schaltet plötzlich ab, bricht den Kontakt ab, zieht sich auf sich selbst zurück und ist nicht mehr zu erreichen.

Zwischen ihm und der Umwelt klafft dadurch eine breite Kontaktlücke, die mit den Jahren immer breiter wird und ihn mehr und mehr isoliert. Das hat nun immer problematischere Folgen: Durch die Ferne zur mitmenschlichen Umwelt weiß er zu wenig von anderen; es entstehen zunehmend Lücken in der Erfahrung über sie, und daraus Unsicherheiten im mitmenschlichen Umgang. So weiß er nie recht, was im anderen vorgeht, denn das erfährt man, wenn überhaupt, ja nur in vertrauter Nähe und liebender Zuwendung. Daher ist er auf Vermuten und Wähnen angewiesen in seiner mitmenschlichen Orientierung, und deshalb wieder zutiefst unsicher, ob seine Eindrücke und Vorstellungen von anderen, ja schließlich sogar, ob seine Wahrnehmungen nur seine Einbildung und Projektion, oder aber Wirklichkeit sind.

Ein Bild, das wohl Schultz-Hencke zuerst in diesem Zusammenhang gebraucht hat für die Schilderung der Weltbefindlichkeit dieser Menschen, soll das Gemeinte deutlicher machen – wir haben diese Situation alle schon einmal erlebt: Wir sitzen auf dem Bahnhof in einem Zug; auf dem Nachbargleis steht ebenfalls ein Zug; plötzlich bemerken wir, daß einer der beiden Züge sich bewegt. Da die Züge heute sehr sanft und fast unmerklich anfahren, haben wir keine Erschütterung, keinen Ruck verspürt, so daß wir nur den optischen Eindruck einer Bewegung feststellen. Wir vermögen uns nun nicht gleich zu orientieren, welcher der beiden Züge fährt, bis wir an einem feststehenden Gegenstand draußen zu realisieren vermögen, daß etwa unser Zug noch steht, und der Nachbarzug sich in Bewegung gesetzt hat, oder umgekehrt.

Dieses Bild kann uns sehr treffend die innere Situation eines schizoiden Menschen deutlich machen: Er weiß nie genau – in einem Ausmaß, das alle auch beim Gesunden mögliche Unsicherheit weit übersteigt – ob das, was er fühlt, wahrnimmt, denkt oder sich vorstellt, nur in ihm selbst existiert, oder auch draußen. Durch seinen lockeren Kontakt zur mitmenschlichen Welt fehlt ihm die Orientierungsmöglichkeit in ihr, und so schwankt er in der Beurteilung seiner Erlebnisse und Eindrücke zwischen dem Zweifel, ob er sie als Wirklichkeit hinaus verlegen kann, oder ob sie nur seine "Einbildung" sind, nur seiner Innenwelt angehören: Blickt mich der andere wirklich spöttisch an oder bilde ich mir das nur ein? War der Chef heute wirklich besonders kühl mir gegenüber, hat er etwas gegen mich, war er anders als sonst – oder meine ich das nur? Habe ich etwas Auffälliges an mir, stimmt etwas nicht an mir, oder täusche ich mich, daß mich die Leute so komisch ansehen?

Diese Unsicherheit kann alle Schweregrade annehmen, von immer wachem Mißtrauen und krankhafter Eigenbezüglichkeit bis zu eigentlich wahnhaften Einbildungen und Wahrnehmungstäuschungen, bei denen man dann innen und außen tatsächlich verwechselt, ohne daß die Verwechslung als solche erkannt wird, weil man nun seine Projektionen für die Wirklichkeit hält. Man kann sich vorstellen, wie quälend und zutiefst beunruhigend es sein muß, wenn diese Unsicherheit ein Dauerzustand ist, vor allem, weil man ja gerade wegen des erwähnten Mangels an Nahkontakt, sie nicht korrigieren kann. Denn jemanden darüber zu befragen, ihm seine Unsicherheit und Angst mitzuteilen, würde eine vertraute Nähe voraussetzen; da man diese zu niemandem hat, glaubt man befürchten zu müssen, nicht verstanden, verlacht oder gar für verrückt gehalten zu werden.

Voller Mißtrauen und aus ihrer tiefen Ungeborgenheit heraus, die, wie wir noch sehen werden, sowohl primär Ursache als sekundär auch Folge ihres lockeren mitmenschlichen Kontaktes ist, werden schizoide Menschen zur Sicherung nun besonders stark die Funktionen und Fähigkeiten entwickeln, die ihnen zu einer besseren Orientierung in der Welt zu verhelfen versprechen: Die Wahrnehmung durch die Sinnesorgane, den erkennenden Intellekt, das Bewußtsein, die Ratio. Da sie besonders alles Emotionale, Gefühlshafte verunsichert, streben sie die von Gefühlen abgelöste "reine" Erkenntnis an, die ihnen Resultate zu liefern verspricht, auf die sie sich verlassen können. Man kann schon hier verstehen, daß sich schizoide Menschen vor allem den exakten Wissenschaften zuwenden, die ihnen diese Sicherheit und Abgelöstheit vom subjektiven Erleben vermitteln sollen.

Gegenüber der Entwicklung dieser rationalen Seiten bleibt die des Gefühlslebens zurück; denn dafür ist man auf ein Du, auf einen Partner angewiesen, auf emotionale Bezogenheit und Gefühlsaustausch. So ist es für diese Menschen charakteristisch, daß sie, bei oft überdurchschnittlicher Intelligenzentwicklung, im Emotionalen zurückgeblieben wirken; das Gefühlshafte bleibt bei ihnen oft unterentwickelt, ja zuweilen verkümmert. Das ergibt eine breite Kontaktunsicherheit, die der Grund für unendlich viele Schwierigkeiten im Alltagsleben bei ihnen werden kann; es fehlen ihnen die "Mitteltöne" im mitmenschlichen Umgang, sie haben dafür keine Nuancen verfügbar, so daß ihnen schon einfachste Kontakte zum Problem werden können. Dafür ein Beispiel:

Im Rahmen seiner Ausbildung sollte ein Student ein Referat halten. Kontaktlos, wie er war, zugleich "arrogant" – hinter welcher Haltung er seine Unsicherheit verbarg – kam er nicht auf den Gedanken, einen Kollegen zu fragen, wie so etwas üblicherweise gehandhabt würde. Er quälte sich allein mit Problemen herum, die nur in ihm, nicht in der Sache lagen. Er war sich völlig unsicher darüber, ob seine Ausführungen den Erwartungen entsprechen würden, schwankte in ihrer Beurteilung zwischen Selbstüberschätzung und Minderwertigkeitsgefühlen, indem sie ihm einmal großartig, ja einmalig genial erschienen, dann wieder als völlig banal und ungenügend. Es fehlten ihm eben die Vergleiche mit den Referaten anderer. Er meinte, es sei vor den Kollegen peinlich und er würde sich etwas vergeben, wenn er sie um Rat gefragt hätte – er wußte nicht, daß so etwas durchaus üblich war. So hatte er wegen seiner Unbezogenheit ganz überflüssige und überwertige Ängste, die er sich weitgehend hätte ersparen können, wäre er in natürlichem, kollegialem Kontakt gestanden.

Solche und ähnliche Situationen und Verhaltensweisen häufen sich im Leben schizoider Menschen; sie tragen viel dazu bei, ihnen schon banale und alltägliche Situationen ungemein zu erschweren; sie realisieren nicht, daß ihre Schwierigkeiten auf der Kontaktebene liegen und nicht in einem Mangel an Fähigkeiten.

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