Auszüge aus Heinz-Peter Röhr's
"Wege aus der Abhängigkeit"

Destruktive Beziehungen überwinden

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Vorwort

Emotionale Abhängigkeit gibt es in Form von absoluter Hörigkeit bis hin zu Formen, die das Leben nicht beeinträchtigen, sondern beglücken. Abhängigkeit ist also vielfach etwas Positives. Wer sich verliebt, macht sich abhängig davon, ob seine Gefühle erwidert werden. Wenn nicht, stürzt der Verliebte in tiefen Schmerz. Sich auf eine Partnerbeziehung wirklich einzulassen bedeutet auch, sich abhängig zu machen. Man wird verletzbar, begibt sich in die Hand eines anderen, und so heißt es denn auch, daß man sich "traut".

Sich tief und bewußt auf eine Beziehung einlassen zu können setzt voraus, daß eine gewisse Eigenständigkeit und emotionale Unabhängigkeit erreicht wurden. Nur jemand, der sein Leben auch allein meistern kann, ist in der Lage, sich auf konstruktive Weise abhängig zu machen. Man könnte auch von der Kunst, sich abhängig zu machen sprechen; dies bedeutet, sich abhängig machen – und gleichzeitig unabhängig bleiben. Sich bewußt auf einen anderen Menschen einlassen können heißt eben nicht, sich ihm unterwerfen oder ihn dominieren müssen.

Viele Beziehungen sind von Machtkämpfen zwischen den Partnern bestimmt, bei denen (unbewußt) ungelöste Probleme aus der Kindheit bearbeitet werden. Gerade die Unfähigkeit, sich positiv abhängig machen zu können, führt zu emotionalen Störungen, psychosomatischen Erkrankungen, Hörigkeit oder auch in eine Suchterkrankung. Häufig wird Abhängigkeit mit Liebe verwechselt. Sich zu einem anderen Menschen hingezogen fühlen, ihn nicht loslassen können bedeutet jedoch nicht unweigerlich, daß man ihn liebt.

Sowohl in der Literatur als auch in zahllosen Filmen wird die Problematik der abhängigen Persönlichkeit aufgegriffen. Hörigkeit und destruktive Abhängigkeiten sind oft der Stoff für Nervenkitzel. Als ein berühmtes Beispiel mag der Film Psychovon Alfred Hitchcock dienen. Jeder kämpft im Alltag mehr oder weniger mit Abhängigkeiten, und so spricht das Thema viele an, weil fast jeder bei sich selbst oder bei Menschen in seiner näheren Umgebung negative Abhängigkeiten beobachten kann.

Viele Erwachsene sind von ihrer emotionalen Entwicklung her Kinder. Dies kann auch auf sonst intelligente Menschen wie hochgestellte Wissenschaftler, Wirtschaftsmanager und Politiker zutreffen, nicht selten mit äußerst negativen Konsequenzen.

Menschen kommen in Beratung oder Therapie, weil sie unter emotionalen Problemen leiden. Oft ist der Hintergrund eine Abhängigkeitsproblematik, die nicht immer bewußt sein muß. Wenn abhängige Muster das Leben umfassend und dauerhaft bestimmen, ist die Rede von einer (dependenten) abhängigen Persönlichkeitsstörung. Dies betrifft besonders viele suchtkranke Patienten, aber auch solche mit psychosomatischen Erkrankungen, Angststörungen oder depressiven Erscheinungsbildern. Destruktive Abhängigkeit ist ein extrem verbreitetes Problem in unserer Gesellschaft, das voraussichtlich weiter zunehmen wird. Emotionale Störungen nehmen zurzeit ebenso zu wie Suchterkrankungen. Eltern wie Heranwachsenden fällt es zunehmend schwerer, den Ablösungsprozeß aus der Herkunftsfamilie sicher zu vollziehen. Dabei spielen Schuldgefühle, Verwöhnung, falsch verstandene Hilfe und emotionale Bedürftigkeit eine entscheidende Rolle.

In der Fachöffentlichkeit wird das Problem des emotionalen Mißbrauchs in der Familie viel zu wenig berücksichtigt, obwohl gerade dies die Ursache für destruktive Abhängigkeiten ist.

Die abhängige Persönlichkeitsstörung spiegelt sich in dem Grimm’schen Märchen Die Gänsemagd.Es bietet sich daher als Projektionsfläche für die Bearbeitung der Störung an. Im Vordergrund steht nicht die tiefenpsychologische Deutung des Märchens, sondern die Beschreibung der Persönlichkeitsstörung. So lassen sich Genese, Erscheinungsbild, Verlauf, besonders aber Lösungsmöglichkeiten auf eingängige Weise darstellen. Zahlreiche Fallbeispiele tragen zur Verdeutlichung bei.

In meinem Buch Narzißmus – das innere Gefängnishilft das Grimm’sche Märchen Der Eisenofen,die narzißtische Persönlichkeitsstörung zu verstehen und Wege zu erkennen, wie Betroffene Heilung finden. Beide Märchen, Die Gänsemagdund Der Eisenofenergänzen sich auf wunderbare Weise. Die Störungen, die sie spiegeln, stehen sich auch aus fachlicher Sicht gegenüber. Erstaunlich ist, daß das Symbol des Eisenofens in beiden Märchen eine entscheidende Rolle spielt. Im Märchen Der Eisenofenmuß der eingesperrte Königssohn den Eisenofen, um erlöst zu werden, unbedingt verlassen. Die Gänsemagdmuß unbedingt in den Eisenofen, damit der entscheidende Transformationsprozeß stattfinden kann.

Dieses Buch ist wie alle meine Bücher ein Beitrag zur Bibliotherapie. Der erste Schritt in der Psychotherapie sollte immer das Verstehen der Störung sein. Die Patienten sollten Expertn ihrer Schwierigkeiten werden. Dazu will Bibliotherapie in erster Linie beitragen. In schweren Fällen wird es weiterer therapeutischer Verfahren bedürfen, um Linderung zu erreichen. Einige werden hier aufgegriffen.

Das Problem der emotionalen Abhängigkeit ist Jahrtausende alt. Selbstverständlich wird hier nicht der Anspruch erhoben, dieses extrem vielschichtige Problem umfassend zu behandeln. Die geschilderte Dynamik der Abhängigkeiten und der damit verbundenen Schwierigkeiten begegnete mir in der psychotherapeutischen Praxis immer wieder.

Danken möchte ich allen, die zum Gelingen dieses Buches beigetragen haben. Vor allem schulde ich meinen Patienten Dank, da sie mir immer wieder die besten Lehrmeister sind. Meinem Sohn Frank danke ich herzlich für seine originellen Ideen bei der Durchsicht des Manuskripts. Maßgeblichen Anteil an der Entstehung dieses Buches hatte wieder meine liebe Frau Annemie, ohne sie wäre es nie geschrieben worden.

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Einleitung

Ein Zauber wohnt in jedem Märchen, so wie auch in jedem Traum ein Zauber lebt. Sie sind einfach wunderbar – nicht nur für Kinder. Der moderne Mensch weiß meist wenig von den heilenden Kräften der Psyche und wie man sie erschließt. Viel zu sehr haben wir den Kontakt zu den Tiefen unserer Seele verloren. Märchen sind zum Träumen, besonders jedoch zum Aufwachen geeignet. Es ist immer wieder erstaunlich, wie präzise sie die Wirklichkeit widerspiegeln. Werde der, der du bist! So lautet die geheime Überschrift, die über dem Grimm’schen Märchen Die Gänsemagdsteht. Sie steht übrigens über vielen Märchen, denn diese wunderbaren Geschichten zeigen Entwicklungswege – hin zu mehr Unabhängigkeit, Zufriedenheit, Glück, Verantwortung und Selbstständigkeit. Und genau dies vermissen heute viele Menschen. Sie finden sich stattdessen viel zu schnell mit Ersatzbefriedigungen ab, die nicht zu echtem, dauerhaftem Glück führen. Wer tiefer fragt, was wirklich fehlt, ist eingeladen, sich den Märchen zu nähern, um so den Geheimnissen des Lebens auf die Spur zu kommen.

Im Leben jedes Menschen gibt es Lebensübergänge, in denen Weiterentwicklung stattfinden muß. Häufig sind diese Lebensübergänge Thema in den Märchen, sie gestalten sich oft problematisch, besonders dann, wenn die Entwicklung ungünstig und konfliktbeladen verläuft. Ein besonders wichtiger Übergang ist das "Erwachsenwerden", die Pubertät: Wie wird ein Mensch, der Probleme mit sich hat, erwachsen? Ein wichtiger Meilenstein in der Pubertät ist die Ablösung von den Eltern.

Viele Märchen bearbeiten das Problem der Ablösung. Stelle ich die Frage in der Therapie: "Haben Sie sich von Ihren Eltern gelöst?", so fällt die Antwort unterschiedlich aus. Einige Patienten bestehen darauf, daß dieser Prozeß stattgefunden habe. Noch von den Eltern abhängig zu sein bedeutet für sie eine Verletzung ihres Selbstwertgefühls. Gerade in der Vehemenz, mit der diese Frage manchmal verneint wird, verbirgt sich oft eine geheime Botschaft.

In dem Märchen Die Gänsemagd geht es – wie wir sehen werden – um Probleme, die sich aus emotionalem Mißbrauch ergeben, den viele Menschen erleben müssen. Abhängigkeit gibt es nicht nur von Suchtmitteln, sondern zeigt sich auch in der Unfähigkeit, sich aus elterlichen Umklammerungen zu lösen. Das Leben vieler Menschen ist von Abhängigkeit geprägt. Sie sind gezwungen, sich in verschiedenen Lebenslagen viel zu abhängig zu machen.

Abhängigkeit ist ein Muster, eine Struktur, die sie immer wieder erleben, in der sie gefangen sind und unter der sie leiden. Am besten ist das Problem zu verstehen und zu lösen, wenn es bei den Wurzeln angegangen wird.

Viel zu viele Menschen finden sich damit ab, abhängig zu sein und zu bleiben, quasi lebenslänglich. Das Märchen Die Gänsemagdfordert dagegen heraus, will wachrütteln, den Weg zeigen, den es zu beschreiten gilt. Nichts ist schlimmer als vertanes Leben, und so ist es wichtig, die Autorität des Märchens ernst zu nehmen, die Botschaften zu verstehen und die notwendigen Änderungen auch wirklich vorzunehmen.

Wenn wir uns dem Märchen Die Gänsemagd nähern, um es tiefer zu verstehen, gilt es, zunächst die Frage zu beantworten, welches Problem das Märchen bearbeitet. Wie bei jedem Märchen stehen bereits in den ersten Sätzen die entscheidenden Hinweise: Es lebte einmal eine alte Königin, der war ihr Gemahl schon lange gestorben, und sie hatte eine schöne Tochter…Diese wenigen Hinweise beschreiben die Lebensumstände, die für die gesamte Entschlüsselung des Märchens von Bedeutung sind.

Die meisten Märchen beginnen mit: "Es war einmal …". So als sei die Geschichte schon vorüber und habe in der Vergangenheit stattgefunden, beginnt auch das Märchen die Gänsemagd mit: "Es lebte einmal …". Die Geschichten im Märchen sind so wahr wie das Leben selbst. Lediglich die Sprache ist nicht die übliche, sondern Märchen sprechen in Bildern und Symbolen: Welche Bedeutung hat das sprechende Pferd Falada? Warum wird ihm der Kopf abgeschlagen? Welche Rolle spielt die Kammerjungfer? Was bedeutet es, in den Eisenofen zu müssen? Lassen wir die Bilder sprechen und verstehen wir, was uns zu einem erfüllten, glücklichen Leben fehlt. Vor allem will das Märchen von der Gänsemagd Energie freisetzen. Es will von alten Fesseln befreien und die eigene Menschlichkeit entfalten helfen, zum Wohle aller Menschen.

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Narzißtischer Mißbrauch

In der Regel haben Eltern das Bedürfnis, ihre Kinder zu fördern. Dies ist natürlich und notwendig. Ihre Zuneigung drückt sich auch darin aus, daß sie ihre Kinder unterstützen und ihnen helfen, einen eigenen Weg zu finden. Eltern mit starken Minderwertigkeitsgefühlen bezüglich der eigenen beruflichen oder gesellschaftlichen Position geraten jedoch leicht in eine typische Falle. Nach der Devise "Wenn es mir schon selbst nicht möglich war, etwas zu erreichen, dann soll wenigstens mein Kind etwas (ganz) Besonderes werden" oder der bekannten Vorgabe "Es soll meinem Kind einmal besser ergehen als mir!" werden die wahren Bedürfnisse des Kindes völlig ignoriert: Sohn oder Tochter werden mißbraucht! Der entscheidende Unterschied ist von außen häufig nicht leicht zu erkennen. Geht es den Eltern um die Bedürfnisse des Kindes oder um die eigenen? Wie sehr wird ihr Handeln von selbstsüchtigen Zielen bestimmt? Kinder haben feine Antennen für diese Unterschiede und spüren genau, was die Eltern wirklich wollen. Indem sie zu Versagern werden, sabotieren sie die Absichten der Eltern. Unbewußt rächen sie sich mit dem eigenen Scheitern für den Betrug, der an ihnen begangen wird oder wurde. Auch sie werden die Wut, die eigentlich demjenigen, der mißbraucht, dem Täter gelten sollte, gegen sich selbst richten.

Herr M. ist ein engagierter Patient. Nach kurzer Zeit hat er verschiedene Ämter in der therapeutischen Gemeinschaft übernommen. Suchtartig zieht er Posten und Aufgaben an sich, ohne seine wahren Bedürfnisse zu berücksichtigen.

In der Lebensgeschichte wird der narzißtische Mißbrauch durch die Mutter deutlich: Als Kind wurde Herr M. von den hart arbeitenden Eltern oft allein gelassen. Zuwendung durch die Mutter erfuhr er in erster Linie durch Leistungskontrolle. Mit Strenge und Härte überprüfte sie schulische Aufgaben. Er sollte studieren und Lehrer werden, so der Wunsch der Mutter. Weil in ihrer Herkunftsfamilie ausschließlich der Bruder gefördert wurde, war es ihr nicht möglich, selbst eine qualifizierte Ausbildung zu absolvieren. Diese narzißtische Kränkung konnte sie nicht verarbeiten. Sie versuchte, die innere Wunde zu heilen, indem sie ihrem Sohn all das abverlangte, was sie für sich selbst gewünscht hatte. Somit fühlte der Sohn sich ständig zu enormen Leistungen angetrieben.

Herrn M.s Lebensweg war von verschiedenen Niederlagen gekennzeichnet. Alles, was er mit Mühe erarbeitete, zerstörte er letztlich wieder selbst. Er wurde suchtkrank und landete so immer wieder bei Tätigkeiten, die weit unter seinen Möglichkeiten lagen.

Menschen, die von ihren Eltern narzißtisch mißbraucht wurden, übernehmen die "Antreiber", insofern sie sich selbst antreiben. Weil es nicht gelang, Mutter oder Vater zufrieden zu stellen, bleiben sie chronisch unzufrieden mit sich. Sie tragen wie die früheren Täter jetzt selbst eine narzißtische Wunde in sich, die sie mit großer Wahrscheinlichkeit an die nächste Generation weitergeben.

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