Auszüge aus Martin E. P. Seligman's
"Pessimisten küßt man nicht"

Optimismus kann man lernen

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Zwei Lebenseinstellungen

Der Vater steht vor dem Kinderbettehen. Stolz und dankbar betrachtet er seine neugeborene Tochter, die gerade aus der Klinik nach Hause gekommen ist.

Das Baby öffnet die Augen und schaut nach oben.

Der Vater ruft den Namen seiner Tochter und erwartet, daß sie den Kopf drehen und ihn anblicken wird. Aber ihre Augen bewegen sich nicht.

Nun schüttelt der Vater ein kleines Pelztier, das an dem Baldachin über dem Bettchen hängt. Das Glöckchen in dem Pelztier klingelt. Die Augen des Babys bewegen sich nicht. Er schnippt mit den Fingern. Noch immer keine Reaktion. Er klatscht in die Hände. Nichts.

Sein Herz beginnt heftig zu klopfen. Er eilt ins Schlafzimmer und sagt zu seiner Frau: "Sie reagiert überhaupt nicht auf Geräusche. Vielleicht kann sie gar nichts hören."

"Es ist bestimmt alles in Ordnung", sagt die Frau. Die Eltern kehren ins Kinderzimmer zurück.

Die Mutter ruft den Namen des Kindes, bimmelt mit dem Glöckchen und klatscht in die Hände. Dann nimmt sie das Baby auf den Arm. Sofort wird es lebendig, strampelt und gibt glucksende Laute von sich.

"Mein Gott", sagt der Vater. "Sie ist taub."

"Nein", widerspricht die Mutter. "Es ist viel zu früh, um so etwas festzustellen. Sie ist ja gerade erst auf die Welt gekommen. Sie kann noch nicht einmal richtig sehen."

"Aber sie rührt sich nicht, wenn man ganz laut in die Hände klatscht."

Die Mutter nimmt ein Buch vom Regal. "Mal sehen, was darüber in dem Babybuch steht", sagt sie und schlägt den Begriff Hören auf: "Erschrecken Sie nicht, wenn Ihr Neugeborenes bei lauten Geräuschen nicht zusammenzuckt oder sich Geräuschquellen nicht zuwendet. Beide Reaktionen entwickeln sich oft erst später. Ihr Kinderarzt kann ein Audiogramm erstellen, um das Gehör Ihres Kindes zu prüfen."

"Na also", sagt die Mutter. "Ist dir jetzt wohler?"
"Eigentlich nicht", sagt der Vater. "Die zweite Möglichkeit wird nicht einmal erwähnt: daß das Baby taub sein könnte. Ich weiß nur, daß unser Baby keinen Ton hört. Das macht mir schreckliche Angst. Vielleicht, weil mein Großvater taub war. Wenn dieses wunderbare Kind taub ist, bin ich schuld daran. Das würde ich mir nie verzeihen."

"Mach dir doch nicht gleich solche Sorgen", sagt die Frau. "Montag früh rufen wir den Kinderarzt an. Hier, halte mal deine Tochter, damit ich die Decke feststecken kann."

Der Vater nimmt das Kind, gibt es aber so schnell wie möglich seiner Frau zurück. Das ganze Wochenende über bringt er es nicht fertig, seine Aktentasche aufzumachen und sich auf die wichtige Steuerprüfung vorzubereiten, die am Montag beginnt. Unablässig grübelt er über die Taubheit des Kindes und deren Folgen nach. Er stellt sich nur das Schlimmste vor: kein Gehör, keine Sprachentwicklung, sein prächtiges Kind aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, in tonloser Isolation eingesperrt. Am Sonntagabend ist er bereits völlig verzweifelt.

Die Mutter ruft beim Kinderarzt an und spricht eine Nachricht auf den Anrufbeantworter. Sie bittet um einen Termin am Montagmorgen. Das Wochenende verbringt sie mit Gymnastik und Lesen und versucht, ihren Mann so gut wie möglich zu beruhigen.

Der Kinderarzt kann nichts Ungewöhnliches finden, doch der Vater bleibt niedergeschlagen. Eine Woche später zuckt das Kind zum erstenmal zusammen, als ein Lastwagen vorbeidröhnt. Erst von diesem Zeitpunkt an erholt sich der Vater allmählich und beginnt, sich wieder über seine Tochter zu freuen.

Diese Eltern betrachten die Welt auf unterschiedliche Weise. Wann immer der Vater mit unangenehmen Dingen zu tun hat – mit einer Steuerprüfung, einem Ehestreit oder auch nur einem Stirnrunzeln seines Chefs –, malt er sich die schrecklichsten Folgen aus: Bankrott und Gefängnis, Scheidung und Entlassung. Er ist anfällig für Depressionen, hat lange Phasen von Lustlosigkeit und ist gesundheitlich labil. Die Mutter dagegen läßt sich von unerfreulichen Dingen möglichst wenig bedrohen. Sie hält sie für vorübergehend und überwindbar, für Herausforderungen an die eigenen Kräfte. Hat sie eine Niederlage erlitten, erholt sie sich rasch und gewinnt ihre Energie bald zurück. Sie ist kerngesund.

Seit fünfundzwanzig Jahren untersuche ich Optimisten und Pessimisten. Pessimisten sind überzeugt, daß alles Unerfreuliche lange anhält, ihnen die Lebensfreude raubt und ihr eigener Fehler ist. Den Optimisten setzt das Leben mit ebenso harten Schlägen zu; doch sie denken über ihre Mißgeschicke ganz anders. Sie halten Niederlagen für vorübergehend, betrachten sie lediglich als Rückschläge, die nur auf diesen einen Fall beschränkt bleiben. Sie schreiben sich ihr Unglück nicht selbst zu: die Umstände, eine Pechsträhne oder andere Leute haben es herbeigeführt. Solche Menschen lassen sich durch Niederlagen nicht unterkriegen. Eine schwierige Situation betrachten sie als Herausforderung und strengen sich besonders an.

Diese unterschiedlichen Denkgewohnheiten haben Konsequenzen. In Hunderten von Untersuchungen wurde nachgewiesen, daß Pessimisten leichter aufgeben und häufiger depressiv werden. Durch Experimente ließ sich zeigen, daß Optimisten in der Schule und an der Universität, bei der Arbeit und auf dem Spielfeld besser abschneiden. Werden ihre Fähigkeiten getestet, übertreffen Optimisten gewöhnlich die Vorhersagen. Wenn sie sich um ein Amt bewerben, haben sie bessere Chancen, gewählt zu werden. Ihre Gesundheit ist ungewöhnlich gut. Sie altern auf gesunde Weise und leiden weniger an den üblichen körperlichen Beschwerden der späteren Jahre. Viele leben auch länger.

Tests an Hunderttausenden von Menschen zeigten immer wieder, daß ein überraschend großer Anteil als eingefleischte Pessimisten bezeichnet werden muß. Ein weiterer großer Teil weist eine starke Neigung zum Pessimismus auf. Ich bin überzeugt, daß man selbst nicht immer erkennen kann, ob man ein Pessimist ist, und daß viele Menschen dem Pessimismus näherstehen, als ihnen bewußt ist. Durch Tests der Sprechweise können Spuren von Pessimismus bei Personen entdeckt werden, die sich selbst nie als Pessimisten bezeichnen würden. Diese Tests machen auch deutlich, daß andere diese Spuren bemerken und negativ auf die Sprecher reagieren.

Eine pessimistische Haltung kann so tief verwurzelt sein, daß sie unauslöschlich erscheint. Ich habe jedoch festgestellt, daß man dem Pessimismus entrinnen kann. Pessimisten können lernen, Optimisten zu werden. Dies gelingt zwar nicht durch hirnlose Slogans wie "Pfeife ein fröhliches Lied" oder durch die Wiederholung von Platitüden wie "Es geht mir jeden Tag in jeder Hinsicht besser". Vielmehr muß man eine Reihe von neuen kognitiven Fähigkeiten erlernen. Diese Fähigkeiten wurden nicht von Pseudowissenschaftlern oder von den Massenmedien erfunden, sondern wurden in den Labors und Kliniken führender Psychologen und Psychiater entwickelt und dann unter strengen Maßstäben auf ihre Gültigkeit überprüft.

Dieses Buch wird Ihnen helfen, pessimistische Tendenzen, sofern sie vorhanden sind, bei Ihnen selbst und auch bei Ihnen nahestehenden Menschen zu erkennen. Das Buch wird Sie auch mit den Techniken bekanntmachen, die schon Tausenden von Menschen geholfen haben, lebenslange pessimistische Gewohnheiten abzulegen und Depressionen zu überwinden. Es eröffnet Ihnen die Möglichkeit, Rückschläge in Ihrem Leben in einem neuen Licht zu betrachten.

Niemandsland

Den Kern des Pessimismus bildet das Phänomen der Hilflosigkeit. Von Hilflosigkeit spricht man, wenn sich die Handlungen eines Menschen in keiner Weise auf seine Lebensumstände auswirken. Wenn ich Ihnen beispielsweise tausend Dollar dafür verspreche, daß Sie jetzt sofort bis Seite 104 vorblättern, dann werden Sie dies wahrscheinlich tun, und zwar mit Erfolg. Wenn ich Ihnen jedoch tausend Dollar dafür verspreche, daß Sie Ihre Pupille verengen, werden Sie sich vielleicht dafür entscheiden, aber Ihre Entscheidung wird folgenlos bleiben. Sie können es nicht tun, weil es nicht in Ihrer Macht steht. Das Umblättern von Buchseiten unterliegt Ihrer willentlichen Kontrolle, aber die Muskeln, die die Größe Ihrer Pupillen verändern, unterliegen ihr nicht.

Das Leben beginnt in völliger Hilflosigkeit. Das neugeborene Kind kann sich nicht selbst helfen, denn es wird fast vollständig von Reflexen gesteuert. Wenn es schreit, kommt seine Mutter. Das heißt aber nicht, daß das Baby das Verhalten seiner Mutter kontrolliert. Sein Schreien ist nur ein Reflex auf Schmerz und Unbehagen. Es kann nicht wählen, ob es schreien möchte oder nicht. Es gibt beim Neugeborenen nur eine einzige Muskelgruppe, die einigermaßen der Kontrolle des Willens gehorcht: die Saugmuskeln. In den letzten Lebensjahren sinken viele von uns in die Hilflosigkeit zurück. Möglicherweise können wir nicht mehr gehen, oder wir verlieren die Kontrolle über Darm- und Blasenfunktionen, die im zweiten Lebensjahr gewonnen wurde. Vielleicht müssen wir mühsam nach Wörtern suchen oder verlieren womöglich die Sprache und mitunter sogar die Fähigkeit, die eigenen Gedanken zu steuern.

Zwischen dem Säuglingsalter und den letzten Lebensjahren findet ein langer Prozeß statt, in dessen Verlauf wir unsere Hilflosigkeit immer weiter ablegen und persönliche Kontrolle gewinnen. Unter persönlicher Kontrolle versteht man die Fähigkeit, Dinge durch willentliche Handlungen zu ändern. Sie ist also das Gegenteil von Hilflosigkeit. In den ersten drei oder vier Lebensmonaten gewinnt ein Neugeborenes willentliche Kontrolle über einige einfache Arm- und Beinbewegungen. Dann wird, zum Schrecken seiner Eltern, auch das Schreien durch den Willen steuerbar: Jetzt kann der Säugling brüllen, wann immer er seine Mutter herbeiholen will. Er nützt seine neue Macht so lange aus, bis sie keine Wirkung mehr zeigt. Das erste Lebensjahr endet mit einem doppelten Wunder: den ersten Worten und den ersten Schritten. Wenn alles gutgeht, wenn die zunehmenden geistigen und körperlichen Bedürfnisse wenigstens minimal befriedigt werden, nimmt in den kommenden Jahren die Hilflosigkeit weiter ab; die persönliche Kontrolle wächst.

Viele Dinge im Leben entziehen sich unserer Kontrolle – unsere Augenfarbe, unsere Rasse, Trockenperioden oder Klimaveränderungen. Aber es gibt auch ein ausgedehntes Niemandsland, in dem wir durch unser Handeln Kontrolle ausüben können – oder sie anderen oder dem Schicksal überlassen. Dieses Handeln betrifft unsere Lebensweise, den Umgang mit anderen Menschen, unseren Beruf – also jene Aspekte unserer Existenz, in denen wir gewisse Wahlmöglichkeiten haben.

Die Art, in der wir über diesen Bereich unseres Lebens denken, kann die Kontrolle, die wir über ihn haben, verringern oder steigern. Unsere Gedanken sind nicht einfach Reaktionen auf Ereignisse; sie beeinflussen auch das Geschehen. Wenn wir zum Beispiel denken, wir hätten keinen Einfluß darauf, was aus unseren Kindern wird, fühlen wir uns in diesem Bereich unseres Lebens gelähmt. Der bloße Gedanke: "Nichts, was ich tue, ändert etwas" hindert uns am Handeln. Also überlassen wir die Kontrolle den Altersgenossen und den Lehrern unserer Kinder sowie den Umständen. Wenn wir uns auf diesem Feld für hilfloser halten, als wir tatsächlich sind, übernehmen andere Kräfte die Kontrolle und prägen die Zukunft unserer Kinder.

Bei der Lektüre dieses Buches werden Sie sehen, daß in bestimmten Situationen auch ein gewisses Maß an Pessimismus durchaus sinnvoll sein kann. Aber nach fünfundzwanzigjähriger Forschungsarbeit auf diesem Gebiet bin ich überzeugt: Wenn wir wie die Pessimisten prinzipiell glauben, daß Unglück unsere eigene Schuld ist, daß es sich ständig wiederholen wird und all unsere Bemühungen zunichte macht, dann stößt uns auch wirklich mehr Unglück zu als bei einer positiveren Einstellung. Ich bin davon überzeugt, daß uns eine solche Weltsicht depressiv macht, daß wir hinter unseren eigenen Möglichkeiten zurückbleiben und daß wir sogar häufiger krank werden. Pessimistische Prophezeiungen erfüllen sich selbst.

Ein anschauliches Beispiel dafür ist der Fall einer jungen Frau, die an einer Universität studierte, an der ich früher lehrte. Drei Jahre lang war sie von ihrem persönlichen Betreuer, einem Professor für englische Literatur, sehr gefördert worden. Ein Stipendium für ein Studienjahr in Oxford hatte sie nicht nur ihren guten Noten, sondern auch seiner Unterstützung zu verdanken. Während ihres Aufenthalts in England hatte sich jedoch ihr Interesse von Charles Dickens, dem Spezialgebiet ihres Betreuers, auf frühere englische Autoren verlagert, insbesondere auf Jane Austen. Diese Autorin des frühen 19. Jahrhunderts war jedoch das Spezialgebiet eines anderen Professors. Nach ihrer Rückkehr aus England empfahl ihr der Betreuer, ihre Prüfungsarbeit über Dickens zu schreiben, akzeptierte jedoch anscheinend ohne Groll ihren Entschluß, eine Arbeit über Jane Austen zu verfassen, und erklärte sich bereit, sie weiterhin zu beraten.

Drei Tage vor ihrer mündlichen Prüfung beschuldigte der Professor in einem Brief an die Prüfungskommission die junge Frau eines Plagiats. In ihrer Prüfungsarbeit habe sie bei zwei Aussagen über Jane Austens Jugend nicht auf die wissenschaftlichen Quellen verwiesen und damit die Urheberschaft für sich selbst in Anspruch genommen. Diebstahl geistigen Eigentums ist die schwerste aller akademischen Sünden; die gesamte Zukunft der jungen Frau – ihre Zulassung zum Magisterstudiengang, selbst die anstehende Prüfung – war gefährdet.

Als die Studentin die bemängelten Passagen überprüfte, mußte sie feststellen, daß sie beide Informationen von dem Professor selbst erhalten hatte. Er hatte sie ihr im Laufe einer zwanglosen Unterhaltung gegeben und als eigene Überlegungen zum Thema in das Gespräch einfließen lassen. Dabei hatte auch er die veröffentlichten Quellen nicht erwähnt, aus denen er seinerseits die Informationen gewonnen hatte. Die junge Frau hatte ihren Mentor durch ihren Themenwechsel gekränkt und war von ihm hereingelegt worden.

Viele Menschen hätten den Professor direkt mit ihrer Wut konfrontiert. Elizabeth reagierte anders. Ihre pessimistischen Denkgewohnheiten traten in Aktion. Sie war sicher, daß die Prüfungskommission sie für schuldig halten würde. Und sie sah für sich keine Möglichkeit, das Gegenteil zu beweisen. Ihr Wort stünde gegen die Behauptung eines Professors. Statt sich zu verteidigen, brach sie innerlich zusammen und hielt ihre Sache für verloren. Es war alles ihr eigener Fehler. Welche Rolle spielte es jetzt noch, daß auch der Professor selbst die Ideen gestohlen hatte? Elizabeth glaubte, daß sie betrogen hatte und daß sie demzufolge eine Betrügerin war.

Elizabeths Selbstvorwürfe mögen absurd erscheinen, da sie doch offensichtlich unschuldig war. Aber sorgfältige Untersuchungen zeigen, daß Menschen mit pessimistischen Denkgewohnheiten selbst einfache Mißgeschicke in Katastrophen verwandeln können. Auch wenn sie unschuldig sind, suchen sie nach Belegen für die eigene Schuld. Elizabeth grub Erinnerungen aus, die ihr hartes Selbsturteil zu rechtfertigen schienen. In der siebten Klasse hatte sie einmal die Lösungen einer Klassenarbeit bei einem anderen Mädchen abgeschrieben. In England hatte sie den falschen Eindruck ihrer Freunde, sie käme aus einer reichen Familie, nicht korrigiert. Und jetzt hatte sie bei ihrer Prüfungsarbeit "betrogen". In der mündlichen Prüfung stand sie schweigend vor der Prüfungskommission; der Hochschulabschluß wurde ihr verweigert.

Diese Geschichte hat kein gutes Ende. Das Leben der jungen Frau war ruiniert, ihre Pläne waren gescheitert. Seit zehn Jahren sitzt sie an der Kasse eines Kaufhauses. Sie schreibt nicht mehr und hat das Interesse an der Literatur verloren. Sie bezahlt noch immer für ihr angebliches Vergehen, das sie als schwere eigene Schuld ansieht.
Doch von einem Vergehen konnte keine Rede sein. Es handelte sich lediglich um eine verbreitete menschliche Schwäche: um pessimistische Denkgewohnheiten. Hätte sie sich gesagt: "Ich bin hereingelegt worden. Dieser eifersüchtige Mensch gönnt mir den Erfolg nicht", so hätte sie den Mut aufbringen können, sich zu verteidigen und die Ereignisse wahrheitsgemäß zu schildern. Elizabeth hätte ein sehr gutes Examen machen können, wenn sie über die Mißgeschicke in ihrem Leben anders gedacht hätte.

Denkgewohnheiten sind nicht unveränderbar. Eine der bedeutsamsten Entdeckungen der Psychologie in den letzten zwanzig Jahren ist, daß Individuen selbst darüber entscheiden können, wie sie denken.

Individuelle Denkweisen, das Handeln des einzelnen Menschen oder das Individuum an sich gehören nicht zu den traditionellen Untersuchungsgegenständen der Psychologie. Ganz im Gegenteil. Als ich vor fünfundzwanzig Jahren Psychologie studierte, lautete die Erklärung für komplizierte Situationen wie die oben geschilderte ganz anders als heute. Damals glaubte man, die Menschen seien das Produkt ihrer Umwelt. Die vorherrschende Erklärung für menschliches Handeln war, daß die Menschen von ihren inneren Trieben "geschoben" oder von äußeren Ereignissen "gezogen" würden. Zwar hingen die Einzelheiten des Ziehens und Schiebens von der jeweiligen Theorie ab, deren Anhänger man geworden war, doch in ihren Grundaussagen stimmten alle damals aktuellen Theorien überein. Die Freudianer waren überzeugt, daß ungelöste Konflikte der Kindheit das Verhalten des Erwachsenen steuern. Die Anhänger B. F. Skinners meinten, daß sich Verhaltensweisen nur dann wiederholen, wenn sie von außen verstärkt werden. Die Ethologen glaubten, daß das Verhalten durch feste Handlungsmuster gesteuert wird, die von unseren Genen bestimmt werden. Die behavioristischen Anhänger von Clark Hull schließlich meinten, daß uns die Notwendigkeit, den Druck der Triebe zu vermindern und biologische Bedürfnisse zu befriedigen, zum Handeln treibt.
Um die Mitte der sechziger Jahre begannen sich die vorherrschenden Theorien zur Erklärung menschlichen Handelns grundlegend zu verändern. Der Umwelt wurde immer weniger eine ursächliche Bedeutung beigemessen. Vier verschiedene Denkansätze führten zu der Auffassung, daß menschliches Handeln eher durch Selbststeuerung als durch äußere Kräfte erklärt werden könne.

  •       Im Jahre 1959 verfaßte Noam Chomsky seine vernichtende Kritik über B. F. Skinners einflußreiches Buch Verbal Behavior. Chomsky behauptete, daß menschliches Handeln im allgemeinen und Sprechen im besonderen nicht das Ergebnis einer Verstärkung vergangener Sprachmuster sei. Das Wesen der Sprache sei vielmehr generativ: Sätze, die noch nie zuvor gesagt oder gehört worden seien (wie "Ein purpurrotes Gilamonster sitzt auf deinem Schoß"), könnten trotzdem sofort verstanden werden.
  •       Jean Piaget, der große Schweizer Erforscher kindlicher Entwicklung, überzeugte die Welt davon – die Amerikaner zuletzt –, daß man die geistige Entfaltung des Kindes wissenschaftlich untersuchen kann.
  •       Seit 1967 befruchtete die kognitive Psychologie, in der Ulric Neisser führend war, die Phantasie der jungen experimentellen Psychologen, die den Dogmen des Behaviorismus zu entrinnen suchten. Die kognitive Psychologie besagte, daß die Tätigkeit des menschlichen Geistes gemessen und das Ergebnis dieser Tätigkeit untersucht werden könne. Als Modell dafür ließen sich die Informationsverarbeitungsprozesse des Computers benützen.
  •       Die behavioristischen Psychologen stellten fest, daß Triebe und Bedürfnisse zur Erklärung menschlichen und tierischen Verhaltens nicht ausreichten. Sie begannen, nunmehr auch die kognitiven Funktionen – das Denken – des Individuums zur Erklärung komplexer Verhaltensweisen heranzuziehen.

In der Folge dieser Prozesse setzten sich Ende der sechziger Jahre in der Psychologie neue Theorien durch. Statt der Einflüsse der Umwelt wurden nun Faktoren wie individuelle Erwartungshaltung, Vorliebe, Wahl, Entscheidung, Kontrolle und Hilflosigkeit betont.

Dieser tiefgreifende Wandel auf dem Gebiet der Psychologie ist eng verknüpft mit einer fundamentalen Veränderung unserer Psyche. Zum ersten Mal in der Geschichte haben zahlreiche Menschen ein erhebliches Maß an Wahlfreiheit und damit an persönlicher Kontrolle über ihr Leben gewonnen. Die Ursachen dafür sind im technischen Fortschritt, in der Massenproduktion und -verteilung von Gütern sowie in zahlreichen anderen Gründen zu sehen. Diese Wahlmöglichkeiten betreffen nicht zuletzt unsere Denkgewohnheiten. Im allgemeinen werden die neuen Kontrollmöglichkeiten gutgeheißen. Wir leben in einer modernen Gesellschaft, die jedem ihrer Mitglieder Rechte zugesteht, die das Individuum noch nie zuvor besaß. Diese Gesellschaft nimmt die Freuden und Leiden des Individuums sehr ernst. Sie räumt dem Selbst einen hohen Stellenwert ein und betrachtet die Selbstverwirklichung ihrer einzelnen Mitglieder als legitimes Ziel, als ein nahezu heiliges Recht.

Depression

Die neuen Freiheiten brachten Gefahren mit sich. Denn das Zeitalter des Selbst ist auch das Zeitalter jenes Phänomens, das sehr eng mit dem Pessimismus verbunden ist – der Depression. Sie ist die extremste Form des Pessimismus. Wir befinden uns mitten in einer Depressions-Epidemie. Da die Depression häufig zum Selbstmord führt, ist sie nicht weniger tödlich als AIDS – und sie ist weiter verbreitet. Schwere Depression tritt heute zehnmal häufiger auf als vor fünfzig Jahren. Frauen leiden daran doppelt so häufig wie Männer. Außerdem setzt diese Krankheit heute ein volles Jahrzehnt früher im Lebensverlauf ein als noch vor einer Generation.

Bis vor kurzem gab es nur zwei anerkannte Erklärungsansätze für Depression: den psychoanalytischen und den biomedizinischen Ansatz. Der psychoanalytische Ansatz beruht auf Überlegungen, die Sigmund Freud vor achtzig Jahren formulierte und die weniger auf der Beobachtung als vielmehr auf einen sehr großzügigen Gebrauch der Phantasie zurückgingen. Freud behauptete, Depression sei gegen das eigene Selbst gerichtete Aggression. Der Depressive verachte sich, halte sich für wertlos und wolle sich töten. Er lerne schon auf dem Schoß seiner Mutter, sich zu hassen. Nach Freud wird das Kind irgendwann in seiner frühen Kindheit von seiner Mutter verlassen – zumindest empfindet das Kind es so –, wenn sie beispielsweise in die Ferien fährt, abends zu lange ausbleibt oder ein weiteres Kind bekommt. Bei manchen Kindern ruft das Zorn hervor. Da sie aber die Mutter zu sehr lieben, um sie zur Zielscheibe ihres Zorns zu machen, wenden sie ihn gegen ein besser angreifbares Ziel – gegen sich selbst. Genauer gesagt, richtet das Kind seinen Zorn gegen den Teil seiner Person, der sich mit der Mutter identifiziert. Schließlich entwickelt sich daraus eine destruktive Gewohnheit. Wann immer das Kind jetzt einen weiteren Verlust erleidet, wütet es gegen sich selbst und nicht gegen den wirklichen Verursacher des Verlustes. Selbsthaß und Depression als Reaktionsformen auf einen Verlust, ja sogar Selbstmord sind nach dieser Annahme die möglichen Folgen.

Nach Freud kann man Depressionen nicht einfach ablegen. Eine Depression ist das Ergebnis von ungelöst gebliebenen Kindheitskonflikten, vor denen sich eine Abwehrmauer befindet. Nur wenn es gelingt, diese Mauer zu durchbrechen, können die alten Konflikte gelöst und die depressive Neigung abgeschwächt werden. Freuds Rezept gegen Depressionen lautet, sich einer langwierigen Psychoanalyse zu unterziehen – also dem von einem Therapeuten geleiteten Ringen um Einsicht in die Kindheitskonflikte, die daran schuld sind, daß wir unseren Zorn gegen uns selbst richten.

Diese Auffassung ist zwar weit verbreitet, aber ich halte sie dennoch für absurd. Das Opfer wird gezwungen, jahrelang über seine verschwommene, ferne Vergangenheit zu reden, um ein Problem zu lösen, das sich normalerweise innerhalb einiger Monate von selbst lösen würde. Depressionen verlaufen in über neunzig Prozent aller Fälle in Schüben – die Schübe kommen und gehen; sie dauern zwischen drei und zwölf Monaten. Obwohl Tausende von Patienten an Hunderttausenden von Sitzungen teilnahmen, konnte bislang nicht nachgewiesen werden, daß die psychoanalytische Therapie bei Depressionen hilft.

Schlimmer noch: Diese Therapieform schiebt dem Depressiven die Schuld zu – er beschwöre aufgrund seiner charakterlichen Schwächen die Depression herauf. Er wolle deprimiert sein; sein Trieb zur Selbstbestrafung bringe ihn dazu, endlose Tage im Elend zu leben und sich womöglich selbst zu vernichten.

Die Biomedizin bietet eine andere, akzeptablere Sicht der Depression. Nach Auffassung biomedizinischer Psychiater ist eine Depression eine Erkrankung des Körpers. Sie ist auf einen ererbten biochemischen Defekt zurückzuführen, der vielleicht irgendwo in Chromosom Nummer elf auftritt und das Gleichgewicht in der Gehirnchemie stört. Biomedizinische Psychiater behandeln Depressionen mit Drogen oder Elektroschocks. Das sind schnelle, billige und für eine gewisse Zeit wirksame Mittel.

Im Gegensatz zur psychoanalytischen Sichtweise ist die biomedizinische Erklärung teilweise korrekt. Es gibt Depressionen, die sich offenbar auf schwache Gehirnfunktionen zurückführen lassen; in einem gewissen Maße sind sie vererbbar. Auf viele Depressionen wirken Antidepressiva schleppend und Elektroschocks schnell. Aber diese Siege sind nur Teilsiege und von zweifelhaftem Nutzen. Antidepressiva und starker Strom, der durch das Gehirn geleitet wird, können unerwünschte Nebenwirkungen haben, die viele depressive Menschen nicht vertragen. Außerdem verallgemeinert die biomedizinische Auffassung von der kleinen Anzahl hartnäckiger, ererbter Depressionen, die normalerweise auf Medikamente ansprechen, auf die viel weiter verbreiteten Alltagsdepressionen, die das Leben so vieler Menschen beeinträchtigen. Von diesen Menschen haben nur wenige ihre Depression von den Eltern geerbt. Und es gibt auch keine Belege dafür, daß eine gewöhnliche Depression durch die Einnahme von Medikamenten gelindert werden kann.

Der schlimmste Vorwurf lautet jedoch, daß der biomedizinische Ansatz weitgehend normale Menschen in Patienten verwandelt und sie von äußeren Mitteln abhängig macht – von Medikamenten, die ein wohlmeinender Arzt verschreibt. Antidepressiva machen im allgemeinen zwar nicht abhängig; der Patient entwickelt kein zwanghaftes Verlangen nach ihnen, wenn sie abgesetzt. werden. Aber wenn der erfolgreich behandelte Patient das Medikament nicht mehr einnimmt, tritt die Depression häufig wieder auf. Der medikamentös wirksam behandelte Patient kann sich den Erfolg nicht selbst zuschreiben; er hat sein Glück und sein jetzt halbwegs normales Leben nicht selbst erarbeitet, sondern verdankt alles den Pillen. Antidepressiva sind ein Beispiel für den exzessiven Gebrauch von Medikamenten in unserer Gesellschaft – wie auch Tranquilizer, die uns zum inneren Frieden verhelfen sollen, oder Halluzinogene, die uns wunderbare Erlebnisse bescheren. In all diesen Fällen werden emotionale Probleme, die man mit Hilfe seiner eigenen Fähigkeiten und Handlungen lösen könnte, zur Lösung an eine äußere Instanz überwiesen.

Was aber, wenn die meisten Depressionen viel einfacher angelegt wären, als die biologisch orientierten Psychiater und die Psychoanalytiker uns glauben machen wollen?

  • Vielleicht zieht man sich eine Depression nicht aus eigenem Verschulden zu, sondern wird einfach von ihr überfallen?
  • Vielleicht ist die Depression keine Krankheit, sondern nur eine starke Niedergeschlagenheit?
  • Vielleicht sind wir in unseren Reaktionsweisen nicht das Opfer früherer Konflikte, sondern unsere Depression wird tatsächlich durch gegenwärtige Schwierigkeiten ausgelöst?
  • Vielleicht sind wir weder das Opfer unserer Gene noch unserer Hirn-Physiologie?
  • Vielleicht entsteht die Depression aus falschen Folgerungen, die wir aus den Tragödien und Rückschlägen im Verlauf unseres Lebens ziehen?
  • Vielleicht treten Depressionen nur dann auf, wenn wir pessimistische Überzeugungen über die Ursachen unserer Rückschläge hegen?
  • Vielleicht können wir den Pessimismus verlernen und die Fähigkeiten erwerben, unsere Rückschläge optimistisch zu betrachten?

Leistung

Die traditionelle Auffassung von Leistung ist wie die traditionelle Auffassung von Depression überholungsbedürftig. Unsere Arbeitsstätten und unsere Schulen arbeiten mit der konventionellen Annahme, daß Erfolg das Ergebnis einer Mischung von Begabung und Motivation ist. Fehlschläge sind entweder auf einen Mangel an Begabung oder auf fehlende Motivation zurückzuführen. Aber zu Fehlschlägen kann es auch dann kommen, wenn Begabung und Motivation im Überfluß vorhanden sind, der Optimismus jedoch fehlt.

Vom Kindergarten an werden unsere Begabungen immer wieder getestet. Viele Eltern messen diesen Tests für die Zukunft ihrer Kinder so große Bedeutung bei, daß sie sie auf eigene Kosten auf die Tests vorbereiten lassen. Auf jeder Stufe des Lebens trennen diese Tests angeblich die Tüchtigen von den weniger Tüchtigen. Begabung scheint zwar einigermaßen meßbar, läßt sich wohl aber leider nur sehr schwer verstärken.

Bei der Motivation ist das ganz anders. Wünsche können nur zu leicht geweckt werden. Predigern gelingt es in ein bis zwei Stunden, einen unstillbaren Wunsch nach Seelenrettung hervorzurufen. Geschickte Werbung entfacht in Sekunden Wünsche, die zuvor gar nicht existierten. Seminare können die Motivation steigern und die Beschäftigten mit Eifer und Begeisterung erfüllen. Aber das alles sind nur Strohfeuer. Das brennende Verlangen nach Seelenrettung wird ohne ständiges Fächeln wieder erlöschen, der Wunsch nach einem Produkt wird innerhalb von Minuten wieder vergessen oder durch einen neuen Wunsch verdrängt. Motivations-Seminare geben für ein paar Tage oder Wochen Auftrieb, doch dann braucht man weitere Anregungen.

Was aber, wenn die traditionelle Auffassung von den Komponenten des Erfolgs falsch wäre?

  • Wenn es einen dritten Faktor gäbe, Optimismus oder Pessimismus, der ebensoviel Einfluß hat wie Begabung und Motivation?
  • Wenn man über die erforderliche Begabung und Motivation verfügte und dennoch scheiterte, weil man Pessimist ist?
  • Wenn Optimismus eine erlernbare Fähigkeit wäre, die sich auf Dauer erwerben ließe?
  • Wenn wir unseren Kindern diese Fähigkeit beibringen könnten?

Gesundheit

Die traditionelle Auffassung von der Gesundheit stellt sich bei näherer Betrachtung als ebenso falsch heraus wie die traditionelle Auffassung von der Begabung. Optimismus und Pessimismus wirken sich direkt auf die Gesundheit aus, beinahe ebenso deutlich wie physische Faktoren. Die meisten Menschen glauben, daß körperliche Gesundheit eine rein körperliche Angelegenheit sei, die von der Konstitution, den Lebensgewohnheiten und der Vermeidung von Ansteckung abhängt. Sie glauben, daß die Konstitution eines Menschen hauptsächlich von genetischen Faktoren bestimmt wird. Fördern könne man die Gesundheit durch die richtigen Eßgewohnheiten, viel Bewegung, das Vermeiden schädlichen Cholesterins, regelmäßige Untersuchungen und das Tragen von Sicherheitsgurten. Gegen Bazillen könne man sich durch Impfung und strenge Hygiene schützen, ferner durch "safer Sex", Abstand von Leuten mit Erkältungen, regelmäßiges Zähneputzen dreimal am Tag usw. Wenn jemand krank wird, muß er demnach eine schwache Konstitution besitzen, schlechte Lebensgewohnheiten pflegen oder zu viele Bazillen abbekommen haben.

Diese konventionelle Ansicht läßt einen für die Gesundheit sehr wichtigen Faktor außer acht – unsere eigene Kognition. Wir können auf unsere körperliche Gesundheit mehr Einfluß nehmen, als die meisten Menschen vermuten. Denn:

  •       Wie wir über Dinge und Ereignisse denken, besonders über unsere Gesundheit, wirkt sich auf unsere Gesundheit aus.
  •       Optimisten werden seltener von ansteckenden Krankheiten befallen als Pessimisten.
  •       Optimisten haben nachweislich bessere Lebensgewohnheiten als Pessimisten.
  •       Unser Immunsystem arbeitet besser, wenn wir optimistisch sind.
  •       Optimisten leben möglicherweise länger als Pessimisten.

Depression, Leistung und körperliche Gesundheit sind drei Bereiche, in denen sich erlernter Optimismus besonders deutlich auswirkt. Darin liegt auch das Potential für ein ganz neues Selbstverständnis.

Nach der Lektüre dieses Buches werden Sie erkennen, wie pessimistisch oder optimistisch Sie sind. Sie werden auch den Optimismus Ihres Ehepartners und Ihrer Kinder abschätzen können. Sie werden sogar messen können, wie optimistisch Sie früher waren. Sie werden viel mehr darüber wissen, warum Sie depressiv werden – vom einfachen Traurigsein bis hin zur abgrundtiefen Verzweiflung –, und Sie werden auch erkennen, was Ihre Depression am Leben erhält. Sie werden besser verstehen, warum Sie bei manchen Gelegenheiten versagt haben, obwohl Sie über genügend Begabung verfügen und Ihr Ziel unbedingt erreichen wollten. Sie werden sich Fähigkeiten angeeignet haben, mit denen Sie der Depression ein für allemal ein Ende setzen können. Es wird Ihnen möglich sein, diese Fähigkeiten im täglichen Leben anzuwenden, wenn Sie sie als nützlich befinden. Es gibt immer mehr Beweise dafür, daß diese Fähigkeiten auch Ihre Gesundheit verbessern werden. Außerdem werden Sie sie mit Menschen teilen können, die Ihnen besonders nahestehen.

Noch wichtiger aber ist, daß Sie auch Einsicht in die neue Wissenschaft von der persönlichen Kontrolle gewinnen werden.

Erlernter Optimismus ist keine Wiederentdeckung der "Macht des positiven Denkens". Die Fähigkeiten zum Optimismus beruhen nicht auf einer rosa gefärbten Weltsicht. Sie beschränken sich nicht darauf zu lernen, sich ständig positive Botschaften vorzusagen. Wir haben im Laufe der Jahre erkannt, daß die positiven Sätze, die man sich selbst vorsagt, wenig oder gar keine Wirkung haben.

Entscheidend ist vielmehr, was man sich selbst sagt, wenn man scheitert. Dabei kommt es auf die Macht an, die das "Nicht-Negativ-Denken" hat: Die destruktiven Dinge, die man sich selbst angesichts von Fehlschlägen sagt, müssen verändert werden. Das ist die zentrale Fähigkeit, die zum Optimismus führt.

Die meisten Psychologen arbeiten zeit ihres Lebens in traditionellen Bereichen wie Depression, Leistung, Gesundheit, politische Umstürze, Elternschaft, Geschäftsorganisation usf. Ich habe mich vor allem mit dem Versuch befaßt, eine neue Kategorie zu entwerfen, die sich von vielen der traditionellen Bereiche unterscheidet.

Ich betrachte Ereignisse als Ausdrucksformen geglückter oder mißlungener persönlicher Kontrolle.

So betrachtet, sieht die Welt anders aus. Nehmen wir eine Auswahl von Ereignissen, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben:

  •       Depression und Selbstmord werden alltäglich;
  •       eine Gesellschaft erhebt das Bedürfnis nach persönlicher Erfüllung zu einem Recht;
  •       nicht die Schnellen gewinnen das Rennen, sondern Menschen mit Selbstvertrauen;
  •       Menschen leiden erschreckend früh im Leben an chronischen Krankheiten und sterben vorzeitig;
  •       intelligente, fürsorgliche Eltern ziehen labile, verwöhnte Kinder heran;
  •       eine Therapie heilt Depression allein dadurch, daß sie das bewußte Denken verändert.

Andere würden diese Mischung aus Erfolg und Mißerfolg, Leiden und Triumph als absurd und verwirrend ansehen; für mich jedoch bilden all diese Erscheinungen eine Einheit. Auch in dem vorliegenden Buch folge ich meiner Sichtweise.

Wir beginnen mit der Theorie der persönlichen Kontrolle. Zunächst möchte ich Sie mit zwei Grundbegriffen bekanntmachen: Erlernte Hilflosigkeit und Erklärungsmuster. Sie hängen eng miteinander zusammen.

Erlernte Hilflosigkeit ist die Reaktion des Aufgebens, des Resignierens. Sie wurzelt in dem Glauben, daß die Art Ihres Handelns keine Rolle spielt. Mit Erklärungsmuster bezeichne ich die Art und Weise, in der Sie sich selbst gewohnheitsmäßig erklären, warum solche Ereignisse eintreten. Diese Erklärungen sind das zentrale Steuerinstrument der erlernten Hilflosigkeit. Optimistische Erklärungsmuster heben die Hilflosigkeit auf, pessimistische Erklärungsmuster verstärken sie. Wie Sie sich selbst Ereignisse erklären, entscheidet darüber, wie hilflos Sie werden können und wieviel Energie Ihnen zur Verfügung steht, wenn Sie all die Mißhelligkeiten unseres Alltags oder schwerwiegende Niederlagen erleben. Nach meiner Auffassung sind unsere Erklärungsmuster Abbilder der Welt in unserem Innern.

Jeder von uns trägt ein Wort in sich: ein Nein oder ein Ja. Sie werden wahrscheinlich nicht spontan angeben können, welches Wort Sie in sich tragen; es gibt jedoch Möglichkeiten, dies recht verläßlich herauszufinden. Bald werden Sie sich selbst testen und dabei Ihr eigenes Maß an Optimismus oder Pessimismus entdecken können.
Optimismus hat in vielen Bereichen unseres Lebens einen hohen Stellenwert, doch keineswegs in allen. Er ist kein Allheilmittel. Aber er kann uns vor Depressionen schützen, unser Leistungsvermögen steigern, unser körperliches Wohlbefinden verbessern und ist überdies eine angenehmere seelische Grundhaltung. Aber auch der Pessimismus hat seinen angemessenen Platz; Sie werden später mehr über seine hilfreichen Aspekte erfahren.

Wenn die Tests ergeben, daß Sie ein Pessimist sind, ist keineswegs alles verloren. Im Gegensatz zu vielen anderen Eigenschaften ist selbst tiefsitzender Pessimismus nicht unabänderlich. Durch das Erlernen bestimmter Fähigkeiten kann man sich von der Tyrannei des Pessimismus befreien. Diese Fähigkeiten ermöglichen uns die Entscheidung, Optimist zu werden. Die Fähigkeiten sind nicht leicht zu erlernen, aber man kann sie sich erarbeiten. Der erste Schritt besteht darin, daß man das Wort in seinem Innern entdeckt. Es ist kein Zufall, daß das auch der erste Schritt zu einem neuen Verständnis des menschlichen Bewußtseins ist, das sich im Laufe der letzten fünfundzwanzig Jahre entwickelt hat – das Verständnis dafür, wie das eigene Empfinden der persönlichen Kontrolle unser Schicksal bestimmt.

Wie man Hilflosigkeit erlernt

Im Alter von dreizehn Jahren erkannte ich: Wenn mich meine Eltern zu meinem besten Freund Jeffrey zum Übernachten schickten, bedeutete das, daß bei uns zu Hause etwas Schlimmes passierte. Beim letzten Mal hatte ich später herausgefunden, daß meiner Mutter in dieser Zeit die Gebärmutter entfernt worden war. Diesmal hatte ich das Gefühl, daß es um meinen Vater ging.

Als er mich an jenem Abend durch die Straßen von Albany im Staate New York fuhr, sog er plötzlich scharf die Luft ein, fuhr an den Straßenrand und hielt an. Wir saßen eine Zeitlang schweigend da. Schließlich sagte er mir, er habe ein oder zwei Minuten lang keinerlei Gefühl mehr in seiner linken Körperhälfte gehabt. Ich hörte die Furcht in seiner Stimme und erschrak. Er war erst neunundvierzig Jahre alt und auf der Höhe seiner Kraft.

Vor Jeffreys Haus verabschiedeten wir uns. Ich hatte Angst. In der Morgendämmerung wachte ich auf, von Panik erfüllt. Ich wußte, daß ich nach Hause zurückkehren mußte, daß dort etwas passierte. Ich stahl mich aus dem Haus und rannte die sechs Blocks bis nach Hause. Als ich ankam, wurde gerade eine Tragbahre die Treppe hinuntergetragen. Auf ihr lag mein Vater. Hinter einem Baum versteckt beobachtete ich, was geschah. Ich merkte, daß mein Vater versuchte, tapfer zu sein, hörte ihn aber klagen, daß er sich nicht bewegen könne. Er sah mich nicht und hat nie erfahren, daß ich seinen schlimmsten Augenblick miterlebt habe. Er erlitt drei Schlaganfälle hintereinander und blieb für immer gelähmt.

Nach einiger Zeit durfte ich ihn im Krankenhaus besuchen. Als ich sein Zimmer betrat, spürte ich, daß seine Angst davor, daß ich ihn in diesem hilflosen Zustand sah, so groß war wie meine.

Das war meine erste Begegnung mit dem Leiden, das die Hilflosigkeit verursacht. Bis mein Vater viele Jahre später starb, sah ich ihn immer nur in diesem Zustand. Das bestimmte die Richtung meiner eigenen Suche. Die Verzweiflung meines Vaters spornte mich an.

Ein Jahr danach las ich zum ersten Mal ein Buch von Sigmund Freud. Ich war von der Lektüre so gefesselt, daß der Wunsch in mir erwachte, mich ähnlichen Fragen zu widmen wie Freud.

Mehrere Jahre später ging ich nach Princeton. Ich war entschlossen, Psychologe oder Psychiater zu werden. Zunächst erwarb ich den Bachelor-Grad in Philosophie. Nach wie vor war ich davon überzeugt, daß Freud die richtigen Fragen gestellt hatte, aber seine Antworten leuchteten mir nicht mehr ein, und seine Methode, aus einigen wenigen Fällen weitreichende Verallgemeinerungen abzuleiten, erschien mir nicht vertretbar. Inzwischen glaubte ich, daß die Wissenschaft allein durch Experimente die Ursachen und Wirkungen aufdecken könne, die bei emotionalen Problemen wie Hilflosigkeit eine Rolle spielen. Erst dann könne sie lernen, Hilflosigkeit auch zu heilen.

Ich schrieb mich für ein Graduiertenstudium in experimenteller Psychologie ein. Im Herbst 1964 betrat ich erstmals das Labor von Richard L. Solomon an der Universität von Pennsylvania. Bei ihm wollte ich unbedingt studieren, denn erstens war er ein großer, weltweit anerkannter Lerntheoretiker, und zweitens arbeitete er genau auf dem Gebiet, das mich interessierte: Er versuchte, durch Rückschlüsse aus streng kontrollierten Tierversuchen das Wesen seelischer Krankheiten zu ergründen.

Solomons Labor war im ältesten und schmutzigsten Gebäude auf dem Campus der Universität untergebracht. Als ich die morsche Tür öffnete, entdeckte ich Solomon am anderen Ende des Raumes: groß und schlank, fast völlig kahl und von einer persönlichen Aura intellektueller Intensität umgeben. Alle anderen im Labor waren furchtbar aufgeregt. Ein freundlicher, älterer Student namens Bruce Overmier erklärte mir, was los war.

"Die Hunde rühren sich nicht mehr", sagte er. "Irgend etwas stimmt nicht mit ihnen. Niemand kann mit seinen Versuchen weitermachen." Er berichtete, daß die Hunde mehrere Wochen lang für sogenannte Transferexperimente Pawlowsche Konditionierung erhalten hätten. Jeden Tag hatte man sie zwei Reizen ausgesetzt: hohen Tönen und kurzen Elektroschocks. Die Töne und die Schocks waren den Hunden jeweils unmittelbar nacheinander verabreicht worden – erst kam ein Ton und dann ein Schock. Die Schocks waren nicht allzu schmerzhaft; sie entsprachen etwa dem elektrischen Schlag, den man spürt, wenn man an einem trockenen Wintertag einen Türknauf berührt. Ziel des Versuchs war, die Hunde dazu zu bringen, den neutralen Ton und den unangenehmen Schock miteinander zu assoziieren – die Reize zu einem Paar zu verbinden. Später sollten die Hunde dann auf den Ton allein wie auf einen Schock reagieren – mit Angst. Das war alles.

Danach hatte der Hauptteil des Experiments begonnen. Die Hunde waren in einen Doppelkäfig gesetzt worden. Das ist ein großer Kasten mit zwei Kammern, die durch eine niedrige Barriere voneinander getrennt sind. Die Versuchsleiter wollten sehen, ob die Hunde in dem Doppelkäfig ebenso auf die Töne reagierten, wie sie gelernt hatten, auf Schocks zu reagieren – mit einem Sprung über die Trennwand, um dem Ton zu entfliehen. Wäre das der Fall gewesen, hätte es gezeigt, daß emotionales Lernen auf ganz verschiedene Situationen transferiert – also übertragen – werden konnte.

Zuerst sollten die Hunde lernen, über die Trennwand zu springen, um dem Schock zu entgehen. Hatten sie das gelernt, konnte man testen, ob die Töne allein zur selben Reaktion führten. Für die Hunde hätte das eine einfache Aufgabe sein müssen. Den rettenden Sprung über die Trennwand lernen Hunde normalerweise leicht.
Aber diese Hunde hatten sich einfach winselnd hingelegt, wie Overmier berichtete. Sie hatten nicht einmal versucht, den Schocks zu entkommen. Und das hieß natürlich, daß niemand mehr das testen konnte, was man eigentlich wissen wollte – wie die Hunde auf die Töne reagierten.

Während ich Overmier zuhörte und dann die winselnden Hunde betrachtete, wurde mir klar, daß sich bereits etwas viel Bedeutsameres zugetragen hatte, als jedes Ergebnis, das der Transfertest hätte erbringen können: Die Hunde mußten während des ersten Teils des Experimentes gelernt haben, daß sie hilflos waren. Deshalb hatten sie aufgegeben. Ihr Verhalten hatte nichts mit den Tönen zu tun. Bei der Pawlowschen Konditionierung – als die Schocks unabhängig vom Verhalten der Hunde einsetzten und aufhörten – hatten sie gemerkt bzw. "gelernt", daß nichts, was sie taten, etwas bewirkte. Es machte keinen Unterschied, ob sie sich wehrten oder in die Höhe sprangen, ob sie bellten oder gar nichts taten. Warum sollten sie es dann weiter versuchen?

Verblüfft überlegte ich, was das bedeutete. Wenn Hunde etwas so Komplexes wie die Vergeblichkeit ihres Handelns lernen konnten, dann lag eine Analogie zur menschlichen Hilflosigkeit vor, die man im Labor untersuchen konnte. Hilflosigkeit ist überall anzutreffen – bei den Armen in den Städten, bei neugeborenen Kindern und bei verzweifelten Patienten, die nur noch die Wand anstarren. Hilflosigkeit hatte das Leben meines Vaters zerstört. Und doch hatte noch niemand die Hilflosigkeit wissenschaftlich untersucht. Meine Gedanken überschlugen sich: Hatten wir ein Labormodell für menschliche Hilflosigkeit gefunden, das uns zeigen konnte, wie Hilflosigkeit entsteht, wie man sie heilen oder verhindern kann, welche Medikamente eingesetzt werden können und welche Personen besonders gefährdet sind?

Obwohl ich erlernte Hilflosigkeit noch nie zuvor im Labor beobachtet hatte, erkannte ich sie sofort. Andere hatten sie vor mir beobachtet, sie jedoch lediglich als eine Störung angesehen, nicht als ein Phänomen, das einer besonderen Untersuchung wert war. Mein Leben und meine Erfahrungen hatten mich darauf vorbereitet – vielleicht ausgelöst durch die Lähmung meines Vaters –, erlernte Hilflosigkeit zu erkennen. Es dauerte zehn Jahre, bis ich der wissenschaftlichen Welt bewiesen hatte, daß diese Hunde an Hilflosigkeit litten und daß Hilflosigkeit erlernt und daher auch wieder verlernt werden kann.

Die Möglichkeiten dieser Entdeckung erschienen mir aufregend und vielversprechend. Bedrückend fand ich jedoch, daß die Studenten unschuldige Hunde einer Schockbehandlung aussetzten, ihnen also Schmerzen zufügten. Konnte ich in diesem Labor arbeiten? Ich hatte Tiere, besonders Hunde, immer gern gehabt. Die Aussicht, ihnen Schmerzen zufügen zu müssen – wenn auch keine schlimmen –, war mir zuwider. Deshalb reiste ich nach Princeton und besprach meine Zweifel mit einem meiner Philosophieprofessoren, dessen Spezialgebiete Ethik und Wissenschaftsgeschichte waren. Ich schilderte ihm meine Beobachtungen im Labor, die möglichen Konsequenzen meiner Entdeckung und meine Bedenken.

"Marty, kannst du dir einen anderen Weg vorstellen, das Problem der Hilflosigkeit zu lösen?" fragte er. "Vielleicht mit Fallgeschichten von hilflosen Menschen?"
Es war uns beiden klar, daß Fallgeschichten von Patienten eine wissenschaftliche Sackgasse waren. Eine Fallstudie ist eine Anekdote über das Leben einer einzigen Person. Es gibt keinen Weg, eindeutige Zusammenhänge zwischen Ursachen und Folgen zu erkennen. Nur streng kontrollierte Versuche können Ursachen isolieren und Wege zur Heilung aufzeigen. Natürlich war es ethisch nicht zu vertreten, einem anderen Menschen ein Trauma zuzufügen. Also schienen nur Tierversuche übrigzubleiben.

"Ist es überhaupt zu rechtfertigen", fragte ich, "irgendeinem Lebewesen Schmerzen zuzufügen?"

"Ich möchte dir zwei Fragen über dein Vorhaben stellen. Erstens: Besteht eine vernünftige Chance, daß du auf lange Sicht erheblich mehr Schmerz verhinderst, als du kurzfristig verursachst? Zweitens: Können Wissenschaftler jemals von Tieren auf Menschen schließen?"

Meine Antwort auf beide Fragen lautete: "Ja." Erstens glaubte ich ein Modell zu haben, das das Rätsel menschlicher Hilflosigkeit lösen konnte. Wenn das gelang, würden sich große Möglichkeiten ergeben, Schmerz zu verringern. Zweitens wußte ich, daß die Wissenschaft bereits eine Reihe von zuverlässigen Tests entwickelt hatte, die aufzeigten, wann man Schlüsse aus Tierversuchen verallgemeinern kann und wann nicht. Ich beschloß, diese Tests zu machen.

Mein Professor wies mich warnend darauf hin, daß Wissenschaftler mit der Zeit oft ihrem Ehrgeiz zum Opfer fallen und dann alle Ideale vergessen, die sie anfangs hatten. Er riet mir zu einem festen Vorsatz: An dem Tag, an dem ich die wichtigsten Fragen gelöst haben würde, die ich nur mit Hilfe von Tierversuchen lösen konnte, sollte ich aufhören, mit Tieren zu arbeiten.

Ich kehrte ins Labor zurück mit der großen Hoffnung, an Tieren ein Modell der Hilflosigkeit entwickeln zu können. Nur ein einziger anderer Student, Steven Maier, hielt das für ein sinnvolles Ziel. Gemeinsam dachten wir uns einen Versuch aus, mit dem wir beweisen wollten, daß Tiere Hilflosigkeit lernen können. Wir nannten den Versuch "triadisch", weil er drei miteinander verknüpfte Gruppen erforderte. Für jeden Versuchsdurchgang benötigten wir drei Hunde.

Den Hunden der ersten Gruppe gaben wir Schocks, denen sie ausweichen konnten. Wenn der jeweilige Hund mit der Nase gegen eine Platte stieß, wurde der Strom abgeschaltet. Der erste Hund hatte also Kontrolle, weil eine seiner Reaktionen bewirkte, daß die Schocks aufhörten.

Bei der zweiten Gruppe war der Apparat, der die Schocks austeilte, an die erste Gruppe "angekoppelt": Die Hunde bekamen dieselben Schocks wie die der ersten Gruppe, aber keine ihrer Reaktionen wirkte sich auf die Elektroschocks aus. Erst wenn der Hund aus der ersten Gruppe mit der Nase gegen die Platte stieß, hörten die Schocks für den jeweiligen Hund der zweiten Gruppe auf.

Eine dritte Gruppe bekam überhaupt keine Schocks.

Nachdem alle drei Hunde genügend Erfahrungen der jeweiligen Art gemacht hatten, wurden sie in den Doppelkäfig gebracht. Dort würden sie schnell lernen, durch einen Sprung über die Trennwand den Schocks zu entgehen. Wir stellten eine Hypothese auf: Wenn die Hunde der zweiten Gruppe gelernt hatten, daß nichts, was sie taten, eine Wirkung zeigte, würden sie sich bei den Schocks einfach hinlegen und gar nichts tun.

Professor Solomon war sehr skeptisch. Die damals gängigen Theorien der Psychologie ließen keinen Raum für die Vorstellung, daß Tiere – oder Menschen – lernen konnten, hilflos zu werden.

Anfang Januar 1965 gaben wir dem ersten Hund Schocks, denen er entkommen konnte, und dem zweiten Hund Schocks, denen er nicht entkommen konnte. Der dritte Hund wurde in Ruhe gelassen. Am nächsten Tag brachten wir die Hunde in den Doppelkäfig. Dort bekamen alle drei Schocks, denen sie leicht entkommen konnten – wenn sie nämlich über die niedrige Trennwand zwischen den beiden Teilen des Käfigs sprangen.

Innerhalb weniger Sekunden hatte der erste Hund – derjenige, der gelernt hatte, daß er die Schocks kontrollieren konnte – entdeckt, daß er über die Trennwand springen und so den Schocks gänzlich entgehen konnte.

Der dritte Hund – der vorher keine Schocks erhalten hatte – machte diese Entdeckung ebenfalls innerhalb von Sekunden. Der zweite Hund jedoch – der zuvor hatte lernen müssen, daß nichts, was er tat, etwas bewirkte – bemühte sich erst gar nicht zu entkommen, obwohl er leicht über die niedrige Barriere in den schockfreien Teil des Käfigs hinüberschauen konnte. Er gab einfach auf und legte sich hin – obwohl er ständigen Schocks ausgesetzt war. Er fand nicht heraus, daß er den Schocks durch einen einfachen Sprung über die Barriere entgehen konnte. Wir wiederholten diesen Versuch mit acht Dreiergruppen. Sechs der acht Hunde in der zweiten – hilflosen – Gruppe saßen einfach da und gaben auf, während keiner der acht Hunde in der ersten Gruppe – die gelernt hatte, die Schocks zu kontrollieren – aufgab.

Steve und ich waren jetzt überzeugt, daß nur solche Ereignisse zum Aufgeben führen konnten, bei denen es kein Entrinnen gab, denn das identische Schockmuster führte nicht zum Aufgeben, wenn das Tier Kontrolle hatte. Tiere können also eindeutig lernen, daß ihre Handlungen vergeblich sind, und wenn sie das gelernt haben, geben sie jeden Handlungsversuch auf – sie werden passiv. Wir hatten die zentrale Prämisse der Lerntheorie aufs Korn genommen, daß Lernen nur dann stattfindet, wenn eine Reaktion eine Belohnung oder eine Strafe auslöst – und bewiesen, daß sie falsch war.

Steve und ich schrieben unsere Entdeckung in einem Artikel nieder und schickten ihn an das Journal of Experimental Psychology, einer im allgemeinen höchst konservativen Fachzeitschrift. Zu unserer Überraschung erschien der Aufsatz sogar als Leitartikel. Damit hatten wir den Lerntheoretikern der ganzen Welt den Fehdehandschuh hingeworfen. Zwei Studenten, die noch nicht einmal trocken hinter den Ohren waren, erklärten dem großen B. F. Skinner, dem Begründer des Behaviorismus, und all seinen Schülern, daß ihre Grundannahme falsch war.

Es hat in der Geschichte der Psychologie nicht viele Versuche gegeben, die man als bahnbrechend bezeichnen kann. Jetzt jedoch entwarf Steve Maier, damals ganze vierundzwanzig Jahre alt, einen solchen Versuch. Das war sehr mutig, denn Steves Versuch bedeutete einen Frontalangriff auf die mächtige und einflußreiche Orthodoxie des Behaviorismus. Sechzig Jahre lang hatte der Behaviorismus die amerikanische Psychologie beherrscht – obwohl er keineswegs plausibel ist.

Ebenso wie der Ansatz Freuds widerspricht auch der Grundgedanke des Behaviorismus der Intuition. Die Freudianer glauben, daß das Verhalten eines Menschen von sexuellen und aggressiven Konflikten gesteuert wird, die in der Kindheit ungelöst blieben. Gegen diese These rebelliert der gesunde Menschenverstand. Ähnlich unplausibel ist die Vorstellung der Behavioristen, daß das gesamte Verhalten eines Menschen ausschließlich von seinen lebenslangen Erfahrungen mit Belohnung und Strafe bestimmt werde. Handlungen, die einmal belohnt wurden (z.B. ein Lächeln, das eine Liebkosung ausgelöst hatte), würden eher wiederholt. Handlungen, die einmal bestraft wurden, würden eher unterdrückt. Das war alles.

Das Bewußtsein – Denken, Planen, Erwarten, Erinnern – hat in einem solchen Weltbild keinen Platz; es hat demnach auch keinen Einfluß auf das Handeln. Es ist kaum zu glauben, daß intelligente Menschen einer solchen Vorstellung lange Zeit anhängen können; dennoch war die amerikanische Psychologie seit 1920 vom Behaviorismus beherrscht worden. Die Attraktivität dieses Ansatzes beruht vor allem auf seiner ideologischen Natur. Denn der Behaviorismus hat eine außerordentlich optimistische Auffassung vom menschlichen Organismus, die den Fortschritt als sehr einfach hinstellt: Will man einen Menschen verändern, so muß man lediglich seine Umwelt verändern. Menschen begehen Verbrechen, weil sie arm sind; wird also die Armut ausgemerzt, verschwindet auch die Kriminalität. Einen Dieb kann man rehabilitieren, indem man das Bedingungsgefüge seines Lebens verändert: Man bestraft ihn für das Stehlen und belohnt ihn, wenn er sich konstruktiv verhält. Vorurteile entstehen aus Unkenntnis über die Menschen, denen sie gelten. Sie können dadurch abgebaut werden, daß man diese Menschen kennenlernt. Dummheit beruht auf einem Mangel an Lernmöglichkeiten und läßt sich durch verbesserte allgemeine Schulbildung beseitigen.

Diese Art von Auffassungen war damals sehr verbreitet, als wir 1965 unseren Angriff auf den Behaviorismus planten. Wir hielten die Vorstellung der Behavioristen für unsinnig, daß sich alles auf Belohnungen und Strafen zurückführen lasse, die bestimmte Assoziationen verstärken. Zum Beispiel die Erklärung der Behavioristen für den Sachverhalt, daß eine Ratte einen Hebel drückt, um Futter zu erhalten: Wenn eine Ratte durch das Drücken eines Hebels Futter erhalten hat, dann wird sie deshalb erneut auf den Hebel drücken, weil die Assoziation zwischen Hebeldruck und Futter schon zuvor durch eine Belohnung verstärkt worden war. Oder die Erklärung für menschliche Arbeit: Ein Mensch geht nur deshalb zur Arbeit, weil dieses Verhalten bereits durch Belohnung verstärkt wurde, nicht aufgrund einer Erwartung von Belohnung. Das mentale Leben des Menschen oder der Ratte existiert entweder überhaupt nicht oder spielt im Weltbild der Behavioristen keine ursächliche Rolle. Wir dagegen glaubten, daß mentale Vorgänge Ursachen schaffen: Die Ratte erwartet, daß ihr das Drücken des Hebels Futter einbringt, und der Mensch erwartet, daß er ein Einkommen erhält, wenn er arbeitet. Wir waren der Auffassung, daß willentliches Handeln überwiegend von den Erwartungen motiviert wird, die man an dieses Handeln knüpft.

In bezug auf die erlernte Hilflosigkeit führten Steve und ich das Verhalten der Hunde darauf zurück, daß sie gelernt hatten, wie nutzlos ihre Handlungen waren. Sie erwarteten einfach, daß auch in Zukunft keine ihrer Handlungen etwas bewirken würde. War diese Erwartungshaltung erst einmal vorhanden, handelten sie nicht mehr.
"Passivität kann zwei Quellen haben", erklärte Steve in seinem sanften Bronx-Akzent den immer kritischer werdenden Teilnehmern unseres wöchentlichen Forschungsseminars. "Man kann lernen, passiv zu sein, weil es sich lohnt. Die Insassen von Altersheimen zeigen dieses Verhalten sehr häufig. Zu fügsamen Personen ist das Personal viel freundlicher als zu anspruchsvollen. Oder man kann passiv werden, wenn man gänzlich aufgibt, wenn man glaubt, daß kein Verhalten – ob fügsam oder anspruchsvoll – etwas bewirkt. Die Hunde sind nicht passiv, weil sie gelernt haben, daß Passivität die Schocks abschaltet; sie geben auf, weil sie erwarten, daß nichts, was sie tun, etwas bewirkt."

Behavioristen konnten nicht zu dem Schluß gelangen, daß die "hilflosen" Hunde die Erwartung gelernt hatten, ihr Verhalten werde wirkungslos bleiben. Denn der Behaviorismus behauptet, daß ein Tier – oder ein Mensch – immer nur Handlungen lernen könne (fachsprachlich ausgedrückt: motorische Reaktionen), jedoch niemals einen Gedanken oder eine Erwartung. Die etwas mühsame Erklärung der Behavioristen lautet deshalb, die Hunde müßten schon zuvor irgendwie für das Stillsitzen belohnt worden sein.

Als wir diesen Diskussionsstand erreicht hatten, entwarf Steve Maier seinen brillanten Test. "Wir wollen die Hunde genau durch den Prozeß schleusen, von dem die Behavioristen behaupten, er mache sie völlig hilflos", schlug Steve vor. "Sie sagen, die Hunde werden dafür belohnt, daß sie stillhalten? Gut, dann belohnen wir sie eben für das Stillhalten. Jedesmal, wenn sie fünf Sekunden lang stillhalten, schalten wir die Schocks ab." Anders ausgedrückt: Der Test sollte genau das gezielt und offen tun, wovon die Behavioristen behaupteten, es geschehe rein zufällig.

Nach der behavioristischen Theorie müßte eine Belohnung für das Stillhalten die Hunde dazu bringen, sich nicht zu bewegen. Steve war anderer Meinung.
Er entwarf eine zweiteilige Versuchsanordnung. Zuerst sollten die Hunde der sogenannten "Stillhaltegruppe" Schocks erhalten, die nur aufhörten, wenn sie sich mindestens fünf Sekunden lang nicht bewegten. Die Hunde konnten also die Schocks durch Stillhalten kontrollieren. Die zweite Gruppe nannte Steve die "angekoppelte Gruppe". Sie bekam ebenso häufige Schocks wie die Stillhaltegruppe, hatte jedoch keine Kontrolle über die Schocks. Ihre Schocks hörten nur dann auf, wenn die Hunde in der Stillhaltegruppe sich nicht bewegten. Die angekoppelte Gruppe konnte selbst keinerlei Einfluß auf die Schocks nehmen. Die dritte Gruppe hieß die "schockfreie Gruppe".

Der zweite Teil des Versuchs bestand darin, daß man alle Hunde in den Doppelkäfig brachte, wo sie lernen sollten, durch einen Sprung dem Schock zu entgehen. Nach behavioristischer Theorie wäre zu erwarten, daß beim Einschalten der Schocks die Hunde der Stillhaltegruppe sowie die der angekoppelten Gruppe reglos bleiben und somit hilflos erscheinen. Denn vorher waren beide Gruppen dadurch belohnt worden, daß bei ihrem Stillhalten die Schocks aufhörten. Von den beiden Gruppen würde die Stillhaltegruppe sich am wenigsten bewegen, denn sie war konsequent für das Stillhalten belohnt worden, während das bei den Hunden der angekoppelten Gruppe nur gelegentlich der Fall gewesen war. Die Behavioristen würden auch behaupten, daß die schockfreie Gruppe unbeeinflußt bliebe.

Wir Kognitivisten waren anderer Ansicht. Wir sagten voraus, daß die Tiere der Stillhaltegruppe nicht hilflos werden würden; sie hatten ja gelernt, daß sie Kontrolle darüber hatten, wann die Schocks aufhörten. Wenn sie eine Chance bekämen, über die Trennwand des Doppelkäfigs zu springen, würden sie das auch tun. Wir sagten außerdem voraus, daß die meisten Tiere der angekoppelten Gruppe hilflos werden würden und daß natürlich die Hunde der schockfreien Gruppe unbeeinflußt bleiben und dem Schock in dem Doppelkäfig rasch entfliehen würden.

Wir führten den ersten Teil des Versuchs durch. Es geschah folgendes: Die meisten Hunde der angekoppelten Gruppe lagen einfach still da, wie beide Parteien vorhergesagt hatten. Als die Hunde der Stillhaltegruppe in den Doppelkäfig kamen, standen sie eine Weile reglos da und warteten darauf, daß die Schocks aufhörten. Als sie nicht aufhörten, suchten sie zunächst nach einer anderen passiven Möglichkeit, den Schocks zu entgehen. Sie kamen bald zu dem Schluß, daß es keine gab, und sprangen über die Trennwand.

Wenn Weltbilder aufeinanderprallen, wie es bei den unterschiedlichen Meinungen der Behavioristen und der Kognitivisten über die erlernte Hilflosigkeit der Fall war, ist es sehr schwierig, einen Versuch zu konstruieren, der die andere Seite schlüssig widerlegt. Genau das war dem vierundzwanzigjährigen Steve Maier gelungen.
Unsere Forschungsergebnisse trugen ebenso wie die Aussagen der kognitiven Psychologen und von Denkern wie Noam Chomsky und Jean Piaget dazu bei, das Forschungsgebiet zu erweitern und die Behavioristen zum vollständigen Rückzug zu zwingen.

Steve Maier und ich hatten nun herausgefunden, wie man erlernte Hilflosigkeit erzeugt. Aber konnten wir sie auch wieder beseitigen?

Wir nahmen uns eine Gruppe von Hunden vor, die hilflos gemacht worden waren, und zerrten diese armen, widerstrebenden Tiere über die Trennwand des Doppelkäfigs, immer hin und her, bis sie sich von selbst zu bewegen begannen und merkten, daß ihr eigenes Verhalten etwas bewirkte. War dies einmal gelungen, so erwies sich die Heilung als hundertprozentig zuverlässig und dauerhaft. Wir forschten auch über das Thema Prävention und entdeckten ein Phänomen, das wir "Immunisierung" nannten. Wir stellten nämlich fest, daß erlernte Hilflosigkeit nicht eintritt, wenn vorher gelernt worden war, daß die eigenen Reaktionen etwas bewirken. Wir fanden sogar heraus, daß Hunde, die als Welpen diese Lernerfahrung gemacht hatten, ihr ganzes Leben lang gegen erlernte Hilflosigkeit immun waren. Wenn sich diese Entdeckung auf das menschliche Leben übertragen ließ, würde dies weitreichende Folgen haben.

Damit hatten wir die Grundzüge unserer Theorie entwickelt. Und so, wie ich es damals in Princeton nach der Diskussion mit meinem Professor über die Ethik von Tierversuchen beschlossen hatte, stellten Steve Maier und ich nun unsere Versuche mit Hunden ein.

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