Auszüge aus Janine Chasseguet-Smirgel's
"Die Anatomie der menschlichen Perversion"

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Vorwort zur deutschen Ausgabe

Um dem nicht auf die Psychoanalyse spezialisierten Leser die Lektüre des vorliegenden Buches zu erleichtern, haben wir, zusammen mit dem deutschen Verlag, beschlossen, die Studie, die "Freuds Arbeiten über die Perversion" gewidmet ist, im Anhang abzudrucken. Der Leser, der nicht vor der Theorie zurückscheut, kann zunächst diesen Anhang zur Kenntnis nehmen. Die Lektüre ermöglicht ihm ein besseres Verständnis meiner eigenen Darlegungen im Vergleich zu denen Freuds.

Der Leser, der sich weniger für die psychoanalytische Ideengeschichte interessiert (und damit für die der Freudschen Gedanken zur Perversion) oder sich theoretischen Erörterungen weniger gewachsen fühlt, kann sich auch mit dem folgenden kurzen Resümee begnügen und das im Anhang abgedruckte Kapitel erst nach der Lektüre des Buches lesen. Ich hoffe, daß er dadurch neugierig wird auf die Entwicklung von Freuds Denken, die faszinierend sein kann, wenn man in das Universum der Perversion eingedrungen ist.

In Freuds Auffassungen von der Perversion habe ich drei wesentliche Phasen unterschieden.

Die erste wird durch das Axiom gebildet: Die Neurose ist das Negativ der Perversion. Tatsächlich haben nach Freud alle Neurotiker "stark ausgebildete(.), aber im Lauf der Entwicklung verdrängte(.) und unbewußt gewordene(.) perverse(.) Neigungen" (Der Fall Dora, 1905). Freud ist der Ansicht, daß bei den Neurosen nicht nur die normale Sexualität verdrängt ist, sondern auch die perversen Tendenzen.

Die infantile Sexualität ist durch eine "polymorph perverse" Disposition gekennzeichnet (Drei Abhandlungen, 1905). Diese Auffassung von der kindlichen Sexualität ist an die Idee einer Sexualität geknüpft, die noch nicht unter dem Primat der Genitalität organisiert ist, sondern unter dem Primat einer bestimmten prägenitalen erogenen Zone funktioniert (oral, anal, phallisch). Die nicht unter dem genitalen Primat organisierten Sexualtriebe werden als "partial" bezeichnet. Anders ausgedrückt: Es besteht eine Identität zwischen den Partialtrieben, die sich in der Kindheit äußern, und der erwachsenen perversen Sexualität, zwischen dem Kind, das beispielsweise bei der Defäkation Lust empfindet, und dem koprophilen Perversen.

Ich möchte hier gleich eine Kritik vortragen: Diese Identität zwischen infantiler Sexualität und perverser Sexualität und der vollkommene Gegensatz zwischen Neurose und Perversion berücksichtigen weder die Evolution noch die Spezifität der neurotischen Mechanismen und auch nicht die der perversen Mechanismen.

Was den ersten Punkt anbelangt, so liegt es auf der Hand, daß ein Kind von 18 Monaten, das sich für seine exkretorischen Aktivitäten interessiert und daraus Befriedigung bezieht, dabei eine mit seinen physiologischen Fähigkeiten vollkommen übereinstimmende sexuelle Aktivität ausübt. Das gilt aber nicht für den Perversen, bei dem ein chronologisches Gefälle zwischen seinen physiologischen Fähigkeiten (genital) und der Lust besteht, die er aus der Ausübung prägenitaler Funktionen bezieht.

Im ganzen Verlauf meiner Darlegungen räume ich dem Zeitfaktor eine vorrangige Bedeutung ein; er scheint mir unerläßlich zum Verständnis des Wesens der Perversion.
Die Aufdeckung der perversen Mechanismen im Verhältnis zu den neurotischen Mechanismen macht (zumindest teilweise) das Axiom hinfällig, die Neurose sei das Negativ der Perversion, weil es davon ausgeht, daß die Perversion die Äußerung der Partialtriebe ohne Errichtung von Abwehrmechanismen zuläßt. Im letzten Teil seines Werkes aber bemüht sich Freud, wie wir sehen werden, die Komplexität der perversen Mechanismen darzulegen.

Die zweite Phase in Freuds Denken bezüglich seiner Auffassung von den Perversionen scheint mir in der Annahme zu liegen, der zufolge der Ödipuskomplex im Mittelpunkt der Perversionen steht, wie er auch der Kernkomplex der Neurosen ist. In einer Arbeit aus dem Jahre 1919, Ein Kind wird geschlagen, bringt er seine neue Sicht zum Ausdruck. Diese entscheidende Phase erhält jedoch weiterhin eine Doppeldeutigkeit aufrecht: Welche spezifische Rolle spielt der Ödipuskomplex in der Genese der Perversionen im Vergleich zu der der Neurosen?

Die dritte und letzte Phase der Untersuchungen Freuds über die Perversion liegt im Aufzeigen von Abwehrmechanismen, die der Perversion eigen sind.
Die Durchsicht der ersten Texte, in denen diese Frage angesprochen wird, unterstützt meine eigenen Darlegungen, die das Ziel haben, die Beziehung des Perversen zur Realität aufzudecken (dies unter Bezugnahme auf die Schrift Freuds aus dem Jahre 1924, die den Titel Der Realitätsverlust bei Neurose und Psychose trägt. Ich werde versuchen, den Realitätsverlust bei der Perversion näher zu klären.)

Ich möchte hier nicht die Arbeiten Freuds zusammenfassen; diesbezüglich verweise ich den Leser auf den Anhang des vorliegenden Buches. Ich möchte nur hervorheben, daß es in den ersten Schriften Freuds über die Perversion zwei wesentliche Themen gibt, nämlich einerseits die Idealisierung, andererseits die Analität. Es handelt sich um scheinbar entgegengesetzte Elemente. Das Interesse an der Analität soll im Laufe der Entwicklung verschwinden. Der Ekel tritt an die Stelle der Anziehung.

Reaktionsbildungen treten auf. Sauberkeit wird angestrebt. Das Böse und das Häßliche werden Synonyme des Schmutzigen und Stinkenden (das heißt der Exkremente).
Im Gegensatz dazu zeigen aber mehrere Texte Freuds, daß bei der Perversion koprophile Interessen bestehen, die Seite an Seite mit "idealen" Strebungen existieren oder von diesen verdeckt werden. In den "abscheulichsten Perversionen" findet man eine "Idealisierung des (Sexual)triebes" (Drei Abhandlungen, 1905).

Diese Auffassung von der Idealisierung, die mit der Analität einhergeht, gilt auch für den Fetischismus, und anfangs betont Freud diese Verbindung zwischen Analität und narzißtischem Streben mindestens ebenso wie die Bedeutung des Fetischs, des Substituts des "mütterlichen Penis". In seiner Schrift von 1927 jedoch, die dem Fetischismus gewidmet ist, berücksichtigt er nur den rein phallischen Sinn des Fetischs, der dazu bestimmt ist, das Subjekt vor der Kastrationsangst zu schützen. ("Wenn es kastrierte Wesen gibt [die Frauen], dann existiert auch die Kastration ... Ich laufe also Gefahr, kastriert zu werden." Dies etwa wären der unbewußte Diskurs und der Angstaffekt, die das Subjekt zur Schaffung eines Fetischs veranlassen.)

Hier beschreibt Freud Abwehrmechanismen, die denen ähnlich sind, die er in der Psychose aufdeckt, und die sich grundlegend von den neurotischen Mechanismen unterscheiden. Der Fetischist "weiß" und "weiß nicht", daß die Mutter (die Frau) keinen Penis hat. Zwei innere Einstellungen bestehen nebeneinander. Der Fetisch dient dazu, den schrecklichen Anblick der penislosen weiblichen Genitalorgane zu leugnen, doch ein Teil des Subjekts weiß sehr gut, daß die Frau keinen Penis hat (der Fetischist deliriert nicht). Diese doppelte Einstellung weist auf eine Spaltung des Ich hin. Abspaltung und Verleugnung sind miteinander gekoppelte Mechanismen, die man bei den Perversionen findet, während das Modell der neurotischen Abwehrmechanismen die Verdrängung ist. Leugnung und Abspaltung zusammen bilden eine intrasystematische Abwehr. Sie berühren und verändern ein und dieselbe Instanz, das Ich. In seiner letzten (unvollendeten) Schrift über Die Ichspaltung im Abwehrvorgang (1938-1940) liefert Freud sehr wichtige Schlüssel zum Verständnis der Perversion. Während der Ödipuskomplex des Knaben aufgrund seiner Kastrationsangst untergeht (1924), die ihn seine inzestuösen Wünsche und die damit verbundene Masturbation aufgeben läßt, um seinen Penis zu bewahren, verzichtet der in dieser Arbeit beschriebene Patient nicht auf die Masturbation, um seinen Penis zu retten. Er schafft einen Ersatz für den mütterlichen Penis: den Fetisch. So leugnet er die Kastration (indem er gleichzeitig sein Ich spaltet; er halluziniert keinen Penis. Ein Teil seines Ichs weiß, daß die Mutter keinen Penis besitzt; in Freudschen Begriffen: Er weiß, daß sie "kastriert" ist und daß die Kastration "existiert"). Freud sprach über dieses Vorgehen als über eine "kniffige Behandlung der Realität". Dem Perversen gelingt es also, das menschliche Schicksal zu umgehen: Er behält seinen Penis, ohne dessen Funktion aufzugeben.

Man versteht, daß es sich hier um eine Rebellion gegen das universale Gesetz des Ödipuskomplexes handelt. Gleichzeitig läßt uns diese "kniffige Behandlung der Realität" die Verbindungen erkennen, die die Perversion zur Illusion, zum Trugbild und zu dem Wunsch hat, das Unmögliche herbeizuführen. Dieser Wunsch nach dem Unmöglichen hat, so scheint mir, enge Beziehungen zur Assoziation "Idealisierung – Analität", die Freud aufgab und die wieder aufleben zu lassen ich mich im Verlauf des vorliegenden Buches bemühen werde.

Einleitung

Dieser Essay dient der Erforschung der Perversion als Dimension der menschlichen Psyche.

Wenn die vorliegende Studie sich auch ständig auf die klinische Arbeit mit Patienten stützt und von dieser gespeist wird, so bietet sie dennoch Anlaß zu Überlegungen, die über den eigentlichen klinischen Rahmen hinausgehen. Nach und nach mußte das Vorhaben erweitert werden, als die wichtige Stellung der Perversion (und der Perversen) auf soziokulturellem Gebiet deutlich wurde. Diese Stellung ergibt sich aus der besonderen Verbindung, die die Perversion zur Realität unterhält: spezifische Aspekte des Realitätsverlusts, der zu ihrem Wesen gehört, und der eigenartigen Form von Realität, die sie zu fördern geneigt ist.

Die menschliche Sexualität, die im Mittelpunkt allen psychoanalytischen Nachdenkens steht, ist in einem privilegierten Bereich angesiedelt, in dem Biologie und Kultur zusammentreffen. Muß nicht jede derartige Studie die psychosexuellen Manifestationen der Perversion bis an ihre Wurzeln zurückverfolgen und ihren kulturellen Abkömmlingen nachgehen? Tatsächlich ist nichts faszinierender als zu beobachten, wie die Beziehung des Subjekts zu seinen Sexualobjekten, die eng mit der Biologie zusammenhängt, sich auf die Gesamtheit seines psychischen Lebens, seines Verhaltens, seiner moralischen, sozialen, religiösen, ästhetischen und ideologischen Einstellungen, kurz, auf seine "Weltanschauung", ausdehnt. Es wird darum gehen, die Weltanschauung des Perversen und auch die Vorstellung zu erörtern, die die Welt sich vom Perversen macht. Muß eine solche Untersuchung sich nicht unter anderem auch vornehmen, eine Hypothese vorzuschlagen, die sowohl die Mißbilligung berücksichtigt, welche die Perversion erregt (und die je nach dem historischen Augenblick größer oder geringer ist), als auch ihre Verherrlichung (die ebenfalls an die Heftigkeit gewisser Trends in der bestehenden sozialen Organisation gebunden ist)? Ziel dieser Arbeit ist es, die unzureichend und traurig banal gewordene Erklärung zu überwinden, es sei die "repressive" Gesellschaft, die dem Menschen eine der Fortpflanzung dienende Form von Sexualität mit dem Ziel der Arterhaltung aufzwingt oder ihn auf die Funktion eines Arbeitsinstruments reduziert, um der fortgeschrittenen Industriegesellschaft Blüte und Dauer zu sichern.

Wir wollen nicht verhehlen, daß wir uns die Ansichten Freuds zu eigen gemacht haben, die er in seinem "Nachwort" zur Frage der Laienanalyse (1927) äußerte, als er für die Ausübung der Analyse durch Nicht-Ärzte eintrat. Das wesentliche Argument dieses kurzen Textes besagt, die Therapie sei nicht das Endziel der Aktivität des Psychoanalytikers. Sie stelle nur ein Mittel – und zweifellos das beste – dar, um zur Kenntnis der psychischen Prozesse des Menschen zu gelangen: "Ich bin Arzt geworden", schreibt Freud, "durch eine mir aufgedrängte Ablenkung meiner ursprünglichen Absicht, und mein Lebenstriumph liegt darin, daß ich nach großem Umweg die anfängliche Richtung wiedergefunden habe. Aus frühen Jahren ist mir nichts von einem Bedürfnis, leidenden Menschen zu helfen, bekannt, meine sadistische Veranlagung war nicht sehr groß, so brauchte sich dieser Abkömmling nicht zu entwickeln ... In den Jugendjahren wurde das Bedürfnis, etwas von den Rätseln dieser Welt zu verstehen und vielleicht selbst etwas zu ihrer Lösung beizutragen, übermächtig." (Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Frankfurt 1968, Band 14, S. 290).

Im Jahre 1935 schreibt Freud in "Nachschrift 1935" zu seiner Selbstdarstellung:

Nach dem lebenslangen Umweg über die Naturwissenschaften, Medizin und Psychotherapie war mein Interesse zu jenen kulturellen Problemen zurückgekehrt, die dereinst den kaum zum Denken erwachten Jüngling gefesselt hatten. (GW, Band 16, S. 32)

Wir wissen sehr wohl, daß heute, jedenfalls in Frankreich, jeder Analytiker, der die Wege der Therapeutik zu verlassen wagt, des "Psychoanalysmus" verdächtig ist, worunter eine imperialistische und totalitäre Praxis verstanden wird, die mißbräuchliche Ausübung einer Macht, deren "Legitimität" an den Grenzen des psychoanalytischen Sprechzimmers aufhöre. Diese Einstellung ist schon bei Nichtanalytikern paradox, denn dies sind im allgemeinen dieselben, die einerseits die psychoanalytischen Deutungen ablehnen, die außerhalb der analytischen Situation gegeben werden, und andererseits das Unterfangen Wilhelm Reichs, als dieser die Massenpsychologie des Faschismus schreibt (1933), das von G. Deleuze und F. Guattari in Der Anti-Ödipus, untertitelt "Kapitalismus und Schizophrenie", oder das von H. Marcuse (1955) in Triebstruktur und Gesellschaft (Frankfurt 1965, S. 11 f.) begründet finden; dieser äußert sich übrigens eindeutig zugunsten einer psychoanalytischen Deutung der Kultur:

Ich glaube, im Gegensatz zu den Revisionisten, daß Freuds Theorie in ihrer eigentlichen Substanz "soziologisch" ist und daß es keiner neuen kulturellen oder soziologischen Orientierung bedarf, um diese Substanz freizulegen. Freuds "Biologismus" ist Gesellschaftstheorie in einer Tiefendimension, die durch die neo-freudianischen Schulen konsequent verflacht worden ist. Indem sie die Betonung vom Unbewußten auf Bewußtes, von den biologischen auf die kulturellen Faktoren verschieben, durchschneiden sie die Wurzeln der Gesellschaft in der Triebschicht und nehmen statt dessen die Gesellschaft auf der Ebene, auf der sie dem Individuum als konfektionierte "Umgebung" entgegentritt, ohne nach deren Ursprung und Legitimität zu fragen.

Eine Kritik (die den "Psychoanalysmus" denunziert), erweckt Argwohn, wenn deutlich wird, daß sie letztendlich weniger eine Vorgehensweise als einige ihrer Resultate ablehnt. Doch das Paradox ist vor allem dann frappierend, wenn die Psychoanalytiker selbst jede Deutung zurückweisen, die außerhalb der Couch-Sessel-Anordnung erfolgt. Wie läßt sich, wenn eine "Rückkehr zu Freud" so nachdrücklich vertreten wird, erklären, daß das ehrgeizige Vorhaben des Schöpfers der Psychoanalyse – nämlich aus seinen Entdeckungen einen Schlüssel zum Verständnis des Menschen zu machen –, beschnitten, verstümmelt und schließlich auf seine medizinische Funktion reduziert wurde? Freud beharrte immer auf den Verbindungen, die in der Psychoanalyse zwischen Forschung und Therapie bestehen. Beispielsweise in Ratschläge für den Arzt (1912) und auch im "Nachwort" zur Frage der Laienanalyse (1927):

... Die Analyse aber hat kein anderes Material als die seelischen Vorgänge des Menschen, kann nur am Menschen studiert werden; infolge besonderer leicht begreiflicher Verhältnisse ist der neurotische Mensch weit lehrreicheres und zugänglicheres Material als der Normale ...

Und besorgt fügt er hinzu:

Es liegt mir natürlich ferne zu fordern, daß das Interesse des neurotisch Kranken dem des Unterrichts und der wissenschaftlichen Forschung zum Opfer gebracht werde.

Weiter im gleichen Text heißt es:

Aus praktischen Gründen haben wir, auch für unsere Publikationen, die Gewohnheit angenommen, eine ärztliche Analyse von den Anwendungen der Analyse zu scheiden. Das ist nicht korrekt. In Wirklichkeit verläuft die Scheidungsgrenze zwischen der wissenschaftlichen Psychoanalyse und ihren Anwendungen auf medizinischem und nichtmedizinischem Gebiet. (GW, Band 14, S. 295)

Hier ist nicht der Ort, alle Argumente zusammenzutragen, die für eine außertherapeutische Ausdehnung der Analyse sprechen. Dennoch ist es nicht uninteressant, sich einige Punkte der Geschichte in Erinnerung zu rufen, die die Geburt und die Entwicklung der Psychoanalyse betreffen und mit der Einrichtung der Hauptteile ihres Gebäudes zu tun haben.

Die Psychoanalyse verdankt, wie man weiß, ihre Entdeckung zum großen Teil der Selbstanalyse Freuds (vgl. Didier Anzieu, L’Auto-Analyse de Freud, 1975). Man hat sehr häufig den Freund und Briefpartner Freuds, Wilhelm Fließ, als dessen Übertragungsobjekt, also insgesamt das Äquivalent eines Analytikers, angesehen. Es liegt jedoch auf der Hand, daß das begründende Moment der Entdeckung Freuds – seine Selbstanalyse – nur per Analogie eine Analyse war. Der "Eckstein" der Psychoanalyse, die Traumtheorie, wurde durch Forschungsarbeit erworben, die meist außerhalb der psychoanalytischen Situation geleistet wurde.

In der "Vorbemerkung" zur ersten Auflage der Traumdeutung (1900) schreibt Freud:

Eigentümlichkeiten des Materials, an dem ich die Traumdeutung erläutere, haben mir auch diese Veröffentlichung schwer gemacht. Es wird sich aus der Arbeit selbst ergeben, warum alle in der Literatur erzählten oder von Unbekannten zu sammelnden Träume für meine Zwecke unbrauchbar sein mußten; ich hatte nur die Wahl zwischen den eigenen Träumen und denen meiner in psychoanalytischer Behandlung stehenden Patienten. Die Verwendung des letzteren Materials wurde mir durch den Umstand verwehrt, daß hier die Traumvorgänge einer unerwünschten Komplikation durch die Einmengung neurotischer Charaktere unterlagen. Mit der Mitteilung meiner eigenen Träume aber erwies sich als untrennbar verbunden, daß ich von den Intimitäten meines psychischen Lebens fremden Einblicken mehr eröffnete, als mir lieb sein konnte, und als sonst einem Autor, der nicht Poet, sondern Naturforscher ist, zur Aufgabe fällt. Das war peinlich, aber unvermeidlich; ich habe mich also darein gefügt, um nicht auf die Beweisführung für meine psychologischen Ergebnisse überhaupt verzichten zu müssen. (GW, Band 2/3, S. VII-VIII)

Man versteht, daß Freud, da sein Ziel darin bestand, aus dem Traum das Paradigma, den normalen Prototyp von Krankheitsphänomenen zu machen, aus didaktischen Gründen dahin gelangt, seine eigenen Träume zu bevorzugen. Im "Vorwort zur zweiten Auflage" macht Freud das bewegende Geständnis:

Für mich hat dieses Buch nämlich noch eine andere subjektive Bedeutung, die ich erst nach seiner Beendigung verstehen konnte. Es erwies sich mir als ein Stück meiner Selbstanalyse, als meine Reaktion auf den Tod meines Vaters, also auf das bedeutsamste Ereignis, den einschneidendsten Verlust im Leben eines Mannes. Nachdem ich dies erkannt hatte, fühlte ich mich unfähig, die Spuren dieser Einwirkung zu verwischen. Für den Leser mag es aber gleichgültig sein, an welchem Material er Träume würdigen und deuten lernt. (ibid., S. X)

Von seinen eigenen Träumen abgesehen, benutzt Freud tatsächlich Material aus vielfältigen Quellen: Manchmal handelt es sich dennoch um Träume seiner Patienten – beispielsweise den Traum der Großfleischhauersfrau (ibid., S. 152-156) oder der agoraphobischen Patientin (ibid., S. 365-368). An anderer Stelle berichtet er den Traum einer "mir befreundeten Dame" (Traum von der Wagner-Oper, ibid., S. 347-348). Er benutzt Träume, die Ferenczi erzählt wurden, den vom alten Mann und dem Tod (ibid., S. 475), sowie solche, die Jones (ibid., S. 406) und auch Abraham berichtet wurden (ibid., S. 407); diese Träume werden in aufeinanderfolgenden Auflagen beigefügt. Er zögert nicht, den Traum seiner Tochter Anna anzuführen (Traum von den Erdbeeren), um zu erklären, daß der Wunsch in Kinderträumen nicht verhüllt ist (ibid., S. 135). Er zieht gewisse Beispiele aus der Literatur heran, etwa den des Schneidergesellen (Rosegger: Fremd gemacht). Damit vergleicht er seinen Traum von den chemischen Analysen (ibid., S. 475-480). Der biblische Traum des Pharao, von Josef gedeutet, dient ihm zur Darlegung der These, daß "alle Träume derselben Nacht ... ihrem Inhalt nach zu dem nämlichen Ganzen" gehören (ibid., S. 339). Er zögert auch nicht, sich auf einen Traum Napoleons zu beziehen (ibid., S. 559)! Im darauffolgenden Jahr (1901) bedient er sich in der Psychopathologie des Alltagslebens, die an einfachen Beispielen des Alltags das psychische Vorgehen erläutert (Verdrängung, Unbewußtes, Zensur etc.), offenkundig eines Materials, das der Kur fremd ist. Ebenso wird es bei Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten (1905) sein. Freud benutzt nacheinander Literatur, Malerei und Anthropologie, um Der Wahn und die Träume in W. Jensens "Gradiva" (1907), Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci (1910) und Totem und Tabu (1912-1913) zu schreiben. Er begann 1910, die Dokumentation zur Vorbereitung dieses Werkes zu sammeln, und im kritischen Apparat der Standard Edition weist James Strachey darauf hin (S.E. 13), daß Totem und Tabu bis an sein Lebensende eines der bevorzugten Werke des Autors blieb. Die Entdeckung des Ursprungs von Moral, Religion und sozialer Organisation im Ödipuskomplex wurde von Freud als fundamental angesehen. In der ersten Auflage der Traumdeutung (1900) schreibt Freud in einer Fußnote:

Der Fürst heißt Landesvater, und der Vater ist die älteste, erste, für das Kind einzige Autorität, aus deren Machtvollkommenheit im Laufe der menschlichen Kulturgeschichte die anderen sozialen Obrigkeiten hervorgegangen sind (insofern nicht das "Mutterrecht" zur Einschränkung dieses Satzes nötigt). (ibid., S. 222)

In der gleichen Auflage desselben Buches schreibt er:

Der Kaiser und die Kaiserin (König und Königin) stellen wirklich zumeist die Eltern des Träumers dar, Prinz oder Prinzessin ist er selbst. Dieselbe hohe Autorität wie dem Kaiser wird aber auch großen Männern zugestanden ... (ibid., S. 358)

Er wird diesen Gedanken am Ende von Der Familienroman der Neurotiker (1909) wieder aufnehmen. Ein Jahr zuvor vergleicht Freud eine kulturelle Hervorbringung – die literarische Schöpfung – mit dem Phantasma (Der Dichter und das Phantasieren, 1908). Noch ein Jahr früher bringt er "Zwangshandlungen und Religionsübungen" in einen Zusammenhang (1907):

... so daß man aus einer Einsicht in die Entstehung des neurotischen Zeremoniells Analogieschlüsse auf die seelischen Vorgänge des religiösen Lebens wagen dürfte. (GW, Bd. 7, S. 129)

In diesem Text legt Freud die Merkmale dar, die aus der Zwangsneurose eine "Privatreligion" machen. Es würde zu weit führen, alle Schriften Freuds zu besprechen, in denen er kulturelle Hervorbringungen zum Gegenstand seiner Untersuchung macht, sei es direkt, sei es indirekt (etwa wenn er in Charakter und Analerotik, 1908, vom exkrementellen Ursprung des Geldes spricht oder wenn er in Über Triebumsetzungen, insbesondere der Analerotik, 1917, in die Gleichung Kind = Fäzes = Penis das Geld aufnimmt). Allerdings würden diese Besprechungen einige Überraschungen bieten insofern, als man erkennen würde, daß bestimmte Texte, vor allem klinische wie der Wolfsmann (1918) oder Der Fall Schreber (1911) (die analytische Deutung des letzteren erfolgt übrigens nur mittels der Schriften des Präsidenten), zahlreiche Verweise auf Geld und Religion enthalten. Als Freud in Jenseits des Lustprinzips (1920) den "dämonischen" Charakter des Wiederholungszwanges untersucht, der sozusagen Besitz von gewissen "nicht neurotischen Personen" ergreift und unweigerlich zur "ewige(n) Wiederkehr des Gleichen" führt, erwähnt er Tassos Gerusalemme liberata und die fatale Wiederholung des Mordes an Chorinde durch Tankred. Die Beispiele, bei denen Freud sein Material sowohl aus der Klinik als auch aus der Literatur schöpft, bei denen er von der Neurose zu Literatur, Kunst, Religion, Gesetzgebung etc. übergeht, sind zahllos. Tatsächlich wird deutlich, daß die Ablehnung jeder Deutung von Phänomenen, die sich außerhalb der analytischen Kur manifestieren, der Verneinung der geistigen Fähigkeit des Menschen zur Symbolisierung gleichkommt, ja, sogar dem "Symbolisierungszwang" (Groddeck, Krankheit, Kunst und Symbol, 1969) widerspricht, einer Aktivität, die an der Basis der Beziehung des Subjekts zur Außenwelt steht.
Die innerhalb und außerhalb der analytischen Kur betrachteten Phänomene auf eine Ebene zu stellen, ihnen die gleiche Würde zuzuerkennen, von "innen" nach "außen" und von "außen" nach "innen" zu gehen, wird von Freud als legitim angesehen, sei es, daß eine Durchlässigkeit zwischen den beiden Räumen besteht, die ihnen eine gewisse Homogenität verleiht, sei es, daß die Unterschiede zwischen dem einen und dem anderen Raum ausreichend bekannt und konstant sind, damit der Beobachter sie in seiner Einschätzung der betreffenden Phänomene berücksichtigen kann.

Es scheint klar, daß Freud sich bemüht hat, das psychische Funktionieren zu beschreiben, eine Metapsychologie zu errichten, "Prinzipien" und "Grundkonzepte" vorzuschlagen, von theoretischen "Modellen" oder "Fiktionen" ausgehend zu arbeiten, die dazu führen, die allgemeinen Gesetze freizulegen, die die Psyche beherrschen. Der Kerncharakter des Ödipuskomplexes, seine notwendige Verbindung mit dem Kastrationskomplex, die Allgegenwart der Wiederholung und der Übertragungsphänomene, die quasi unveränderliche Abfolge der Organisationsstadien der Libido, das Aufkommen der Latenzperiode, die Entdeckung von Motiven der "Prädisposition" zu gewissen psychischen Störungen (Fixierung und Regression), die Existenz angeborener phantasmatischer Strukturen (die Primärphantasien), "typischer Träume" und "typischer infantiler Sexualtheorien" sind ebensoviele universale Phänomene, die das Funktionieren der menschlichen Psyche als einer bestimmten Anzahl unveränderlicher Gesetze gehorchend und alle anderen Faktoren transzendierend erscheinen lassen. Oder aber die Untersuchung der Effekte einer vermutlich wichtigen Gegebenheit, etwa der Situation des Individuums in der Masse, führt Freud dazu zu zeigen, daß die betreffende Situation nicht zum Erscheinen einer neuen psychischen Formation beim Individuum führt. Die Phänomene, die man in diesem Fall beobachtet, sind keine Schöpfung. Die Gruppe handelt nur als Enthüller der latenten individuellen Tendenzen:

Es genügte uns zu sagen, das Individuum komme in der Masse unter Bedingungen, die es ihm gestatten, die Verdrängungen seiner unbewußten Triebregungen abzuwerfen. Die anscheinend neuen Eigenschaften, die es dann zeigt, sind eben die Äußerungen dieses Unbewußten, in dem ja alles Böse der Menschenseele in der Anlage enthalten ist. (Massenpsychologie und Ich-Analyse, GW, Band 13,S. 79)

Man kann parallel dazu feststellen, daß seit mehreren Jahren zahlreiche Autoren die durch die analytische Situation selbst hervorgerufenen Wirkungen untersuchen (Winnicott, 1954; Grunberger, 1956-57; Fain und David, 1962; Masud Khan, 1974 etc. Zweifellos war Rank, 1924, ein Vorläufer auf diesem Wege). Dies würde möglicherweise zeigen, daß die sozusagen "experimentellen" Bedingungen der analytischen Kur zwar die für das verfolgte Ziel bestmöglichen sind, aber dennoch besondere Veränderungen im psychischen Funktionieren des Subjekts erzeugen. Der Gedanke einer möglichen Beobachtung der Psyche in einer Situation, die diese vollkommen "unverändert" ließe, erweist sich als Mythos. Man kann anderer Meinung sein als Freud und sich weigern, Analogien zwischen den Mustern auf verschiedenen Gebieten gesammelten Materials zu suchen, doch man muß sich darüber klar sein, daß man dann mit dem eigentlichen Wesen des Freudschen Vorgehens bricht.

In den letzten Jahren sind in Frankreich und im Ausland zahlreiche Arbeiten den Perversionen gewidmet worden. Es ist beispielsweise auffallend, daß Melanie Klein die Perversion zwar kaum behandelt hat (außer in ihrem Artikel über die "Criminal Tendencies in Normal Children", 1927, der keineswegs zu ihren inspiriertesten Werken gehört), daß aber postkleinianische Autoren vor allem in England und Argentinien (B. Joseph, 1971; D. Meltzer, 1972; D. Libermann, 1975; H. Etchegoyen, 1973-78; etc.) sich bemüht haben, die Untersuchung der Perversionen auf einer kleinianischen Linie zu entwickeln und zu vertiefen.

Tatsächlich sind die Fortschritte der Perversionstheorie, der klinischen Beobachtung und der Technik zur Behandlung der Perversen zweifellos geeignet, das Gesamtverständnis für die in Analyse befindlichen Patienten zu beeinflussen ebenso wie das Selbstverständnis des Analytikers, und zwar insofern, als wir alle in verschiedenen Graden durch die "perverse Lösung" verlockt werden und unser perverser Kern unter gewissen Umständen aktiviert werden kann. Dieses Problem scheint fundamental für die Entwicklung des Verständnisses der Psyche durch die Psychoanalyse und zweifellos auch für die Zukunft der Psychoanalyse, da sie sich in einem bestimmten soziokulturellen Kontext entwickelt, in dem eine gewisse Art von Patienten, die die perverse Lösung wählt, die Tendenz hat, immer zahlreicher zu werden. Es dürfte übrigens die Zunahme dieses Phänomens sein, die die Analytiker dazu veranlaßt hat, sich eingehender damit zu beschäftigen.

Aus verschiedenen strukturellen und mit der Gegenübertragung verbundenen Gründen kann der Analytiker mehr oder weniger Komplize des unguten Vorgehens seines Analysanden sein und mit diesem eine Pseudo-Analyse durchführen, die niemals dazu führen wird, den depressiven Kern, den der Verlust der Illusion schließlich enthüllen mußte, und damit die Wahrheit in ihrer schrecklichen Nacktheit zu berühren. Es ist also notwendig, daß der Analytiker seinen eigenen perversen Kern ebenso wie den seines Patienten erkennen und sich ihm stellen kann, denn sonst könnte er schließlich die Wahrheitsliebe zugunsten der Aufrechterhaltung der Illusion verlieren. Tatsächlich existiert eine enge Verbindung zwischen der perversen Organisation und der Notwendigkeit, die Illusion aufrechtzuerhalten, ein Punkt, auf den wir noch zurückkommen werden. Zweifellos läßt sich anhand der Art und Weise, wie diese Täuschung zustande kommt, fortbesteht und zu verschiedenen Verhaltensweisen Anlaß gibt, die perverse Organisation besser definieren als anhand des perversen sexuellen Aktes selbst.

Das Ichideal ist aufgrund gewisser Aspekte in der Lage, sich der Anziehungskraft der perversen Lösung zu widersetzen. Eine solche Funktion des Ichideals ist von größter Bedeutung für die glückliche Entwicklung des analytischen Prozesses und die Herstellung und Aufrechterhaltung dessen, was die angelsächsischen Autoren gewöhnlich als "therapeutisches Bündnis" bezeichnen. Ist es nicht die Existenz einer Form von Ichideal, die wir noch zu definieren haben werden, die den Grad der Analysierbarkeit eines Patienten bestimmt, und zwar mehr als die Unterscheidungen aufgrund einer Krankheitsbeschreibung, die der Psychoanalyse großenteils von der traditionellen Psychiatrie vermacht wurde? Auf einer gewissen Ebene verschmilzt diese Form des Ichideals mit der oben erwähnten Wahrheitsliebe, das heißt der Entscheidung, sich den schmerzlichen Konflikten zu stellen, statt sie verschwinden zu lassen:

Und endlich ist nicht zu vergessen, daß die analytische Beziehung auf Wahrheitsliebe, d.h. auf die Anerkennung der Realität gegründet ist und jeden Schein und Trug ausschließt.

Das sagt Freud in Die endliche und die unendliche Analyse (1937, GW, Band 16, S. 94). Es ist frappierend, daß die beiden Schriften, die Freud unvollendet gelassen hat, Die Ichspaltung im Abwehrvorgang (1938-1940) und Abriss der Psychoanalyse (1938-1940), beide (letztere zumindest teilweise) von der Perversion handeln, ein Zeichen dafür, daß Freud in ihr ein noch zu bearbeitendes Feld sah. Eine Ermutigung für jene, die es nach ihm betreten.

Tatsächlich hat Freud bis in seine allerletzten Arbeiten nicht aufgehört, sich für die Perversionen zu interessieren.

Den ersten Schriften Freuds – Briefe, Notizen, kurze Manuskripte – werden wir die Elemente einer Konzeption der Perversion entnehmen, die zwar fragmentarisch, aber von blitzender Intuition erhellt ist; erst später wurde sie zugunsten der Kastrationstheorie praktisch aufgegeben.

Ist es aber nicht angemessen, diese ersten Annäherungen, die sich auf die Koexistenz von zwei scheinbar antagonistischen Faktoren im Herzen der Perversion stützen – den Narzißmus und die Analität –, mit der Kastrationstheorie zu verbinden, die ihrerseits modifiziert und erweitert wurde? Und müssen nicht diese sukzessiven Momente von Freuds Vorgehen in seine letzte Beschreibung der psychischen Mechanismen der Perversion integriert werden?

Es scheint, als hätten wir damit einen Schlüssel in der Hand, um die Pforten des perversen Universums zu öffnen, das aus lückenhaftem Gewebe – lückenhaft, aber schillernd –, Magie und Grausamkeit besteht. Die einzelnen Bestandteile dieser Welt des Schauders und des Entzückens auseinanderzulegen und dann wieder zusammenzusetzen, die spezielle Art des Realitätsverlusts sichtbar zu machen, den sie befördert, die Ethik und Ästhetik einzukreisen, die ihr eigen sind – das ist das wesentliche Vorhaben unserer Arbeit.

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