Auszüge aus J. Konrad Stettbacher's
"Wenn Leiden einen Sinn haben soll"

Die heilende Begegnung mit der eigenen Geschichte

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Vorwort von Alice Miller

Das Erscheinen dieses Buches ist eine gewaltige Herausforderung an alle bestehenden therapeutischen Schulen. Denn J. Konrad Stettbachers Therapie erbringt den Nachweis, daß es möglich ist, die Verdrängung der Kindheit in einer nicht gefährlichen und nicht verwirrenden Weise aufzuheben – etwas, das von den angesehendsten Schulen immer bestritten wurde.

Wieviel unnötiges Leid wäre mir, meinen Kindern und Kindeskindern erspart geblieben, wenn ich dieses Buch als junger Mensch hätte lesen und damals schon das Bewußtsein über meine Kindheit hätte erlangen können. Wie viele Irrwege hätte ich mir und meinen Patienten ersparen können, wenn ich es wenigstens nach meinem Studium und vor der irreführenden Ausbildung zur Psychoanalyse in die Hände bekommen hätte. Aber damals existierte Stettbachers Primärtherapie noch nicht. Sie mußte zuerst erlitten, erprobt, konzipiert und schließlich beschrieben werden und wird erst jetzt der Öffentlichkeit zugänglich.

Im Schmerz über das, was mir entgangen ist, tröstet mich die Tatsache, daß dieses Buch sehr vielen anderen Menschen helfen wird, sich zu orientieren, bevor sie für sich die entscheidenden Weichen zu Ehe und Kinderzeugung gestellt haben. Aber auch Älteren wird es helfen, Wege aus ihren Fallen zu finden, Wege, die nicht destruktiv sind und ihnen bisher ungeahnte Möglichkeiten in ihrem Inneren eröffnen werden.

Dank diesem Buch werden sie erfahren, daß entgegen Freuds Behauptungen die Realität der Kindheit durchaus erschließbar ist; ferner, daß dies nicht durch künstliche, daher gefährliche Mittel, wie z.B. LSD, Hypnose, punktuelle Geburtserlebnisse und dergleichen, geschehen soll, sondern langsam, durchaus mit Rücksicht auf die natürliche Abwehr, Schritt für Schritt, aber konsequent auf das Ziel hin: die Wahrheit über erlittene Traumen mit Hilfe der Gefühle zu finden. Denn der verletzte Mensch ist in der Lage, die Geschichte seiner Verletzungen aufzusuchen und deren Folgen aufzulösen.

Das ist eine revolutionäre Entdeckung, die weittragende Konsequenzen haben wird. Nach dem Erscheinen dieses Buches wird es kaum möglich sein, Opfer von Mißhandlungen in der Kindheit weiterhin mit abstrusen Theorien, vieldeutigen Symbolen, Meditation oder gar Medikamenten von ihrer wahren Geschichte abzulenken, außer vielleicht in einzelnen Fällen, in denen die reale Situation des Kindes so unfaßbar war, daß der Erwachsene dem Blinde-Kuh-Spiel der Theorien ausgeliefert bleibt. Diejenigen, die ihre Wahrheit erfahren wollen, werden von nun an wissen, daß dies absolut möglich ist.

Die Verdrängung half uns zwar in der Kindheit, Grausamkeit zu überleben, aber im Erwachsenenalter hindert sie uns am bewußten und verantwortlichen Leben.

Die meisten Menschen wissen nicht, daß sie als Kinder verletzt wurden und daß es gerade diese Verletzungen sind, die sie daran hindern, das Leben zu achten und es zu schützen. Daher verletzen sie ihrerseits ihre Kinder und nennen offensichtliche Kindesmißhandlungen Abhärtung, Erziehung oder Sozialisierung. Die Verdrängung der ersten Erfahrungen, die dem Kind zum Überleben verholfen hat, präsentiert nun dem Erwachsenen ihre Rechnung in Form des Gebotes "Du sollst nicht merken", das er streng befolgt. Doch wir brauchen diese Rechnung nicht länger zu bezahlen, wenn wir wissen, daß es einen Weg gibt, das einst verlorene Bewußtsein wiederzuerlangen. Kein ernsthafter Therapeut kann es sich von nun an leisten, diese Entdeckung zu ignorieren.

J. Konrad Stettbachers Weg zur systematischen Aufhebung der Verdrängung ist ein Durchbruch zu einem völlig neuen Konzept der Hilfe und Selbsthilfe, ohne jegliche Spur von Pädagogik, und zugleich zu einer neuen Sicht des Menschen, zu einer Anthropologie mit bisher ungeahnten Perspektiven. Denn sobald es genügend Therapeuten gibt, die die Dynamik der Kindesmißhandlungen aus eigener Erfahrung erkannt haben, kann der Teufelskreis der Zerstörung und Selbstzerstörung der Menschen aufgehalten werden.

Da ich diese Therapie selbst erprobt habe, da ich ihre erstaunliche, ganzheitliche Wirkung im Körper, im Fühlen und Denken selbst feststellen konnte, kann ich sie jedem leidenden und hilfesuchenden Menschen vorbehaltlos empfehlen. Dies endlich tun zu können bedeutet für mich eine große Erleichterung, weil ich seit dem Erscheinen meiner ersten Bücher vor zehn Jahren ständig um Adressen von Therapeuten gebeten wurde, die in Übereinstimmung mit meinen Erkenntnissen arbeiten. Ich konnte diese Bitten mit dem besten Willen nicht erfüllen, weil meine Bücher offenbar allem widersprechen, was Therapeuten noch heute lernen und praktizieren.

Erst in J. Konrad Stettbachers Konzept fand ich eine Therapie, die den Tatsachen der Kindesmißhandlungen volle Rechnung trägt, sich durch nichts darin korrumpieren, durch keine Furcht verunsichern oder blenden läßt, die nichts verbrämt, nichts verschleiert, nicht Verzeihung predigt und sich in der Funktion als Anwalt des Kindes durch nichts abhalten läßt. Der Gegensatz zu den überlieferten Meinungen und Haltungen und zur üblichen Praxis spricht aus jeder Seite seines Buches, auch wenn der Autor, anders als ich in meinen Büchern, auf jede Polemik verzichtet.

Begreiflicherweise ist die Nachfrage nach Therapeuten, die den Patienten furchtlos bis in die schrecklichsten Anfänge seines Lebens begleiten können, weil ihnen die eigenen Schrecken bereits bekannt sind, überaus groß. Ein Angebot, das dieser Nachfrage gerecht wird, gibt es bisher kaum. Doch die Ausbildung hat begonnen, und in absehbarer Zeit wird sich die Situation ändern. Dieses Buch kann immerhin helfen, die Wartezeit zur Vorbereitung zu nutzen und die Hoffnung auf die Entdeckung der eigenen Wahrheit nicht aufzugeben. Da diese Therapie viele Möglichkeiten offenläßt, sie kreativ anzuwenden, wird deren Beschreibung zweifellos dem einzelnen helfen, im Rahmen seiner Möglichkeiten neue Entdeckungen zu machen – vorausgesetzt, er ist bereit, sich der Wahrheit zu stellen, was auch immer sie für ihn bereithält.

Einleitung

Ein Mensch, der einmal erfahren durfte, wie wertvoll beschützendes, verstehendes, schöpferisches Tun sein kann und wie lustvoll friedliches, erkennendes Zusammenleben ist, wird dieses Leben erhalten wollen und seine Kräfte dafür einsetzen.

Offensichtlich sind wir noch nicht soweit. Die zerstörerischen Aktivitäten bedrohen uns und alle anderen Bewohner unseres Planeten. Unbestreitbar ist der Mensch zur Zeit das Lebewesen mit der größten Macht auf Erden. Diese Position hat er sich durch sein Lernvermögen, seine Vermehrung und durch seine Fähigkeit zur Gruppenbildung verschafft. Es ist aber auch der Mensch, der durch sein Verhalten, durch den Umgang mit den anderen Lebewesen und Dingen, das Leben auf dem Planeten Erde am meisten gefährdet. Diese Tatsache sollte uns dazu anregen, unseren Umgang mit Mensch und Natur zu überdenken und zu verändern. Das Fehlverhalten von uns Menschen muß Gründe haben, die zu erkennen und zu korrigieren sind.

Der einzelne Mensch entscheidet über sein Handeln und muß sich als Erwachsener dafür verantworten und die Folgen tragen. Wenn er nicht zu Mißhandlungen verleitet wurde, wird er sinnvoll handeln.

Warum haben wir so große Mühe, sinnvoll zu leben? Alle Grundlagen dazu sind ja vorhanden. Jeder einzelne kann nicht mehr als seine natürlichen Bedürfnisse befriedigen. Diese sind nicht unersättlich, solange sie natürlich sind, d.h. solange die primären Bedürfnisse nicht zu Perversionen gemacht wurden.

Ist es das "Schicksal" gewisser Lebensarten, ihre Grenzen an der Vielzahl zu finden, um daran zu scheitern und unterzugehen? Müssen wir uns vermehren, bis das Ungleichgewicht in der Natur, das Versiegen der Nahrungsquellen oder der Verdruß über uns selbst die Vernichtung des Menschen erzwingt? Oder ist es die aggressive Art des Menschen, seine Tendenz zur Zerstörung – die in dem Maße zunimmt, wie seine Unlust durch sinkende Lebensqualität wächst –, die zu seiner Vernichtung führt? Ist es ein Erbe aus der Vergangenheit, das uns zwingt, Lästiges, Störendes auszumerzen, und wenn es sogar die eigene Art ist?

Das alles sind mögliche sekundäre Erscheinungen. Die Not des Menschen gründet aber in seinem unvollständigen, fehlenden oder gestörten Bewußtsein. Jeder sollte sich bewußt sein, daß er von seinesgleichen und von der Umwelt abhängig ist und daß die Umwelt sein Tun beantwortet. Sobald die Fähigkeit des Menschen, furchtlos zu fühlen und zu verstehen, nicht mehr gewährleistet ist, ist er in Gefahr. Es ist die Furcht vor den Menschen und vor der Umwelt, die uns hindert, klare, lebensfreundliche Entscheidungen zu treffen und konstruktiv zu handeln. Die unbewußte Furcht des einzelnen Menschen, er selber als Lebewesen sei ungenügend, böse, schlecht, ungeeignet, unwert: Das ist die Wurzel negativer Kompensationen und Entwicklungen. Ein in seiner primären Wesensart bestätigter Mensch hat Freude am Leben und ist nicht zerstörerisch.

Die Furcht, wie sie im Gewand der Mythen und Sagen aus der Kindheit der Menschheit erscheint, den verbildlichten verschiedenen Erklärungsversuchen seiner ungeklärten Schwierigkeiten, müßte eigentlich gebannt sein. Wir kennen unsere Stammesgeschichte, wir wissen um unsere Entwicklung und können uns die Entstehung des Alls und der Lebewesen erklären. Aber solange Eltern ihren Kindern immer noch Angst verursachende Geschichten erzählen, um ihnen Verantwortung aufzuladen, und damit die Wahrheit entstellen, ist diese Quelle der Furcht nicht gebannt.

Die unbewußte Furcht als Frucht vieler Ängste und Schmerzen aus der Kindheit des Menschen, gepaart mit Schuldgefühlen, verursacht Bewußtseins-Überlastung. Daraus entstehen viele Formen von Fehlhaltungen, die Kommunikation und Leistung beeinflussen, das Wohlbefinden mindern und Leiden verursachen.

Furcht entsteht aus primären Überlastungen, die Konsequenzen der Furcht verursachen immer Leiden. Nicht nur der Leidende selbst leidet darunter, die Folgen des Leidens sind auch ökonomische und nicht zuletzt ökologische Probleme. Mit dem Leidenden, der durch das Leiden verängstigt, verwirrt und dadurch in seinen Fähigkeiten eingeschränkt ist, Realitäten in kluger Voraussicht zu erkennen, wird auch die bewohnte Welt krank und kränker. Die Fehlbeurteilungen und Fehlentscheidungen führen zu Fehlhandlungen, dies wiederum zu unbewußten Schuldgefühlen, welche die Voraussetzung zu Fehlbeurteilungen bilden. Das ist ein Teufelskreis, der durch seelisches Leiden verursacht worden ist.

Um "seelisches Leiden" in Zukunft vermeiden zu können, müssen wir erst einmal wissen, was seelisches Leiden ist und wie es entsteht. Leiden, der Abgesang von Not und Schmerz, das Lied unserer Ängste und Verzweiflungen, ist Ausdruck von Kranksein, schwach, gebeugt, gekrümmt und hinfällig, in großer Not, vor dem Ende. Seelisches Kranksein scheint die Ursache allen Leidens zu sein, darum drängt sich die Frage auf: Wie entsteht seelische Krankheit, was ist "seelisch krank"?

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Bedürfnisse und Perversionen

Die Sexualität und in ihrer Folge ungewollte Schwangerschaften waren bis zur Entdeckung des Fruchtbarkeitszyklus eine Not der Menschheit. Das ist auch heute trotz zahlreicher Verhütungsmittel noch so. Was treibt den Menschen zu ungewollter Zeugung?

Zur Zeugung treibt uns normalerweise der hormonell gesteuerte Paarungsdrang. Eine Auflage, ein Erbe aus der Natur? Etwas in uns will – hinaus? – nicht mehr getrieben sein? – sich beruhigen? – Lust erleben? – sich abreagieren? – das Leben weitergeben? – die Art erhalten? – oder alles zusammen und noch mehr?

Heute müßte sich jeder zeugungsfähige Mensch bei sexuellen Begegnungen klar darüber sein, was er will: ein erotisches Liebeserlebnis oder in Liebe ein Kind zeugen. Falls ein Kind gezeugt werden soll, muß dies in Verantwortung für das zukünftige Leben geschehen. Ein Kind unwissend oder als Spielzeug ins Leben zu setzen, ist ein Verbrechen. Sexualität dient leider allzuoft als Vehikel zum Abreagieren unterschiedlichster, latenter Reaktionen, als lustvoller Machtmißbrauch, als Ausdruck der Verachtung oder zum lustvollen Schmerzzufügen. Liebe vorzutäuschen, um sich sexuell abreagieren zu können, ist vermutlich die häufigste Form des Mißbrauchs.
Das Kind erlebt auch vor der Pubertät Lustempfinden an seinen genitalen Organen, ohne dabei "sexuell" zu sein. Mit Sexualität sollte man den Paarungsdrang und den Zeugungsakt bezeichnen.

Den Zeugungsakt will das Kind nicht, weil es gar nicht zeugen kann. Wenn Kleinkinder einen erigierten Penis oder eine erregte Klitoris haben, bedeutet das keineswegs Zeugungsbereitschaft, sondern signalisiert eine Erregung beliebiger Herkunft, die lustvoll oder schmerzhaft sein kann, wenn sich der betreffende Körperteil prall mit Blut füllt.
Die 6 = SEX ist ein Erregungszeichen, ein Symbol. Sowohl bei natürlichem Tod wie auch bei Hinrichtungen ist bei Männern immer wieder ein erigierter Penis beobachtet worden. Der Tod kann ein sehr aufregendes, erregendes Ereignis sein. Am erigierten Penis bzw. der Klitoris läßt sich jede Erregung, die durch irgendein Ereignis ausgelöst sein kann, durch Überreizung des Gliedes leicht "abführen". Durch Überreizung des erigierten Penis bzw. der Klitoris wird die Spannung regional so gesteigert, bis sich ein Höhepunkt, eine Kumulation einstellt. Daraufhin fällt das Spannungsfeld in sich zusammen, indem es sich auf den ganzen Körper verteilt. Dies erleben wir als Orgasmus und "fallen" unmittelbar danach in eine Erschlaffung. Bei diesem Vorgang wird Lust erlebt, selbst wenn es nur die Lust an der Befreiung ist. Damit tritt eine sich über den ganzen Körper erstreckende Beruhigung auf. Das Zentralnervensystem registriert: "Der Akt ist geschehen, die Gefahr ist gebannt", und der Organismus kann vorübergehend demobilisieren und sich erholen.

Erregung ist eine Folge der Aufregung, ein Alarm- oder Mobilisationsgeschehen im Organismus. Die Erregung schließt immer alle Organe, besonders die für das Überleben wichtigen Organe mit ein. Diese Organe sind auch besonders schmerzempfindlich, z.B. die Ovarien der Frau oder die Hoden des Mannes. Bei Angstverkrampfungen des Unterbauches können beim Mädchen oder bei der Frau die Eierstöcke so heftig reagieren, daß bei entsprechenden Schmerzäußerungen noch heute von Hysterie gesprochen wird, obschon die Hystéra (Gebärmutter) nicht die Schmerzursache ist. Viel zutreffender sollte man von einer Historie sprechen, damit die Betroffene weiß, daß es sich um ein geschichtliches Ereignis in ihrem Leben handelt. Schmerzzustände treten infolge von Verkrampfungen auf, weil der Mensch die Erregung nicht bewußt erleben kann, sie unterdrücken muß, weil unbewußte Gefahr angemahnt wird. Wenn Erregungsäußerungen unterdrückt werden, treten sowohl beim Kind wie auch beim Erwachsenen manchmal Schmerzen im Kopf-Rücken-Becken-Bereich auf, der Reizleitung Rückenmark entlang. Das Kind erleichtert sich, wenn es nicht daran gehindert wird, indem es, ausgehend vom Becken, Schaukelbewegungen macht, ehe die Verkrampfung einsetzt. Mit dieser Selbsthilfe, die stark an Geburts- oder Paarungsbewegungen erinnert, können Verkrampfungsschmerzen vermieden werden. Eine etwas gesteigerte Selbsthilfe gegen Erregungen, die Angst- und Schmerzerwartung signalisieren, ist das manuelle Überreizen der Genitalorgane.

Es ist offensichtlich, daß "sexuelles Verhalten" in bestimmten Situationen nahezu nichts mit Sexualität zu tun haben kann. Deshalb darf ein sich wiegendes, onanierendes Kind nicht als "sexuell" bezeichnet werden. Erwachsene tun das aber leider immer und immer wieder, um damit ihren sexuellen Mißbrauch des Kindes zu legitimieren. Sexueller Mißbrauch am Kind ist ein schweres Verbrechen mit lebenslangen Folgen für das Opfer. Auch wenn das Opfer nichts davon weiß oder nichts darüber sagen kann, selbst wenn es daraus eine "Tugend" gemacht hat, ist es ein Leidenszustand.

Bei jeder Erregung spielen alle früheren Ereignisse oder Geschehen mit, die mit Erregung einhergingen. Die Qualität der bisherigen Erfahrungen bestimmt weitgehend mit, wie wir die Erregung in der Gegenwart erleben können. Ob wir bewußt "bei uns sind" und die Erregung genießen oder ob wir in Panik geraten, ist von unseren Erfahrungen abhängig. Eine Erfahrung spielt dabei immer eine Hauptrolle und führt Regie: Es ist die Erfahrung der Geburt, weil diese meist den bisher umfassendsten Erregungszustand im Leben hervorgerufen hat. Je besser, positiver, stärkender eine Geburt war, um so freier, erfüllender und glücklicher kann eine Erregung und somit Sexualität erlebt werden. Je schmerzhafter und belastender eine Geburt war, um so dringlicher und zwanghafter muß eine Erregung abreagiert, gelöscht werden. Im Sexuellen hat das Störungen zur Folge, die sich als Perversionen oder Impotenz bemerkbar machen. Es kann auch zu zwanghaften, unbewußten Paarungen führen, die die Partner nicht nur unbefriedigt lassen, sondern auch zu ungewollter Schwangerschaft führen. Auch die Suche nach nie erlebter Geborgenheit, nach Sicherheit und Schutz kann bei unbeabsichtigten Zeugungen ein Motiv sein. Der unbewußte Zwang, sich aus dem drohenden Untergangs- und Schmerzerlebnis (Geburt), das durch die Erregung angemahnt wird, zu befreien, ist stärker als jede Vernunft.

Die logische Aufrechnung aller Tatsachen führt zu der erschreckenden Erkenntnis, daß der unbewußte Versuch, nachträglich der Geburtsfolter zu entgehen, immer wieder unerwünschte Kinder hervorbringt. Somit kann das wichtigste Bedürfnis, das Paarungsbedürfnis, das die Erhaltung menschlichen Lebens sichert und ohne Sexualität nicht durchführbar ist, durch mit Schmerz verbundene Ereignisse verwirrt und zur Perversion werden.

Wie am Beispiel der Sexualität gezeigt, kann jedes menschliche Bedürfnis entarten, zur Perversion werden und Leiden verursachen. Der Grundmechanismus ist immer derselbe: Wenn die primären Bedürfnisse mißachtet oder vernachlässigt worden sind und dabei Angst und Schmerz erlitten wurden, die das Kind nicht einordnen konnte, besteht die Gefahr der Perversion. Für den Betroffenen bleibt keine andere Möglichkeit, als den inneren Androhungen auszuweichen. Er wird entweder Sexualität vermeiden oder diese in einer pervertierten Form ausleben. Für ihn ist es unmöglich zu erkennen, daß die Perversion (das entartete Bedürfnis) ein Schutzverhalten ist, um Schmerz und Täuschung zu vermeiden. Je mehr die Perversion als legitimes Bedürfnis Anerkennung findet, um so stärker wird das natürliche Bedürfnis verschüttet.
Wenn das Gefühl des verletzten Kindes sprechen könnte, würde es etwa sagen:

Ich kann nicht zulassen, daß du mich lieben willst. Es ist lächerlich zu behaupten, du würdest mich lieben: Ich weiß doch schon lange, daß ich nicht liebenswert bin. Ich darf auf keinen Fall auf deine/meine Gefühle "hereinfallen". Ich weiß, daß das mörderisch ist. Lieben ist ein krankhafter Trieb, der mit Täuschung, Zurückweisung, Beschämung und Schmerz beantwortet werden muß. Ich weiß, wie die Welt ist. Dieses blöde Gerede von Hilfsbereitschaft und Liebe ist nur dazu da, die Menschen manipulierbar zu machen. Ich werde diesen Täuschungen nie mehr erliegen. Ich will nicht glauben, daß es einen einzigen Menschen gibt, der das Kind wirklich versteht, zu ihm steht und sich ohne Hintergedanken für das Kind einsetzen will. Niemandem zu trauen ist meine Lebensversicherung. Ich will die Enttäuschung nie mehr erleben.

Vom stets aufs neue verletzten Kind dürfen die natürlichen Bedürfnisse nicht mehr wahrgenommen werden, das ist zu gefährlich und zu schmerzlich. Das verletzte Kind ist furchtsam, angst- und schmerzbedroht und schwört seiner Natürlichkeit geradezu ab, um den bedrohlichen Erinnerungen und Erwartungen zu entgehen.

Die Erinnerung an sexuelle Traumen ist für den Betroffenen sehr problematisch, da diese Ereignisse zuverlässig verdrängt und vom Opfer selbst als krankhafte Phantasie abgetan werden. Zudem wehrt jedes Opfer die Erinnerung aus Angst, es sei am Geschehen selber schuld, ab, z.B. im Sinne von: "Wenn ich das nicht gewollt hätte, wäre mir bestimmt nichts passiert." Die Symptome – insofern sie alle genannt werden – weisen für den erfahrenen Therapeuten unmißverständlich auf die sexuellen Verletzungen hin.
Alle sexuellen Perversionen sind Abkömmlinge von Verletzungen der kindlichen Integrität. Konzentriert man sich in der Therapie aber nur auf das Auffinden sexueller Ereignisse, wird damit die Therapie blockiert. Es braucht Zeit, bis die Wahrheit erkannt werden darf und bis sie ertragen wird. Die direkten Folgen des sexuellen Mißbrauchs, so z.B. Frigidität, Perversion oder Psychose, lassen sich durch das bloße Auffinden der Erinnerung nicht aufheben. Die Therapiearbeit muß zuerst geleistet werden. Eine besondere Schwierigkeit bei der Auflösung sexuell bedingter Leidenszustände besteht darin, daß der Grad der Erregung bei der Sexualität sehr hoch ist und daher der Unterschied zu einem Schmerzzustand verwischt ist, d.h. nicht wahrgenommen wird. Die Reaktionskette Erregung-Überreizung-Entspannung vermeidet multiple Schmerzzustände, die mit Empfindungen und Gefühlen, unter anderem mit schwerwiegenden Ängsten besetzt sind. Bei diesen der Sexualität eigenen, dynamischen Erregungszuständen wird oftmals Schmerz in Kauf genommen. Hauptsache: "Der Akt ist geschehen, die Gefahr ist gebannt."

Voraussetzung der therapeutischen Hilfe ist die Offenheit des Patienten. Wenn er sich aus Scham über seine Not ausschweigt und sich immer wieder, um dem alten körperlich-seelischen Schmerz ausweichen zu können, selber Schmerz zufügt oder zufügen läßt, kann er sich nicht erfolgreich helfen lassen. Männer und Frauen, die als Kind oral, genital oder anal mißbraucht worden sind, neigen dazu, sich überreizen und Schmerz zufügen zu lassen. Damit verhindern sie das Aufsteigen der Erinnerungen und müssen den Primärschmerz nicht fühlen. Solche "Deckerlebnisse" verschaffen den Leidenden eine vorübergehende Erleichterung. Sie entsprechen einer Sucht und begünstigen Verletzungen, die das Leiden zementieren. Manipulationen mit Gegenständen, Perversionen, exzessive Sexualität oder Prostitution sind immer Folge von mehrfachen Verletzungen an Körper und Seele des Kindes. Diese Leiden können nur mit der vollständigen Bereitschaft des Leidenden geheilt werden.

Perversionen dienen dazu, körperliche oder seelische Schmerzen zu umgehen, die entstehen, sobald das natürliche, primäre Bedürfnis gefühlt wird. Perversionen haben zudem die Funktion, Ängste und Schmerzen aus traumatischen Erlebnissen zu überdecken und unkenntlich bleiben zu lassen.

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