Auszüge aus Martha Stout's
"Der Soziopath von nebenan"

Die Skrupellosen: ihre Lügen, Taktiken und Tricks

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Anfang

Wer ist der Teufel in Ihrer Nachbarschaft?

Ist es Ihr Ex-Mann, der Sie belogen und betrogen hat? Ihr sadistischer Sportlehrer in der Schule? Ihr Chef, der gerne in Besprechungen seine Untergebenen demütigt? Ihre Kollegin, die Ihre Idee gestohlen und als ihre eigene ausgegeben hat?

Wir stellen uns Soziopathen durchweg als gewalttätige Verbrecher vor. Aber in diesem Buch zeigt uns Martha Stout, daß erschreckende 4 Prozent unserer Mitmenschen – einer von 25 – eine oft unerkannte Persönlichkeitsstörung aufweisen, deren wichtigstes Symptom ein fehlendes Gewissen ist. Die Fähigkeit, Scham, Schuld oder Reue zu empfinden, fehlt einer solchen Person völlig.

Wie können wir sie erkennen? Eines ihrer Hauptmerkmale ist eine Art Ausstrahlung, ein Charisma, das Soziopathen reizvoll oder interessant macht. Sie sind oft spontaner, einnehmender oder gar attraktiver als andere, was es erschwert, sie zu erkennen und nicht von ihnen verführt zu werden. Soziopathen sind fundamental anders, weil sie nicht lieben können. Sie lernen früh, Gefühle vorzutäuschen; tatsächlich aber interessieren sie sich nicht für die Leiden ihrer Mitmenschen. Sie leben für die Macht und kosten es aus, zu siegen.

Wir alle haben schon mit ziemlicher Sicherheit mit einem Soziopathen zu tun gehabt – vielleicht einer Person aus unserem persönlichen Umfeld. Um uns gegen Soziopathen zu wappnen, lehrt uns Dr. Stout, Autorität in Frage zu stellen, Schmeichelei mit Skepsis zu begegnen und vor Rührseligkeit auf der Hut zu sein. Aber vor allem warnt sie uns davor, sich auf sein Spiel einzulassen. Die Rücksichtslosen treten gegen den Rest von uns an, und Der Soziopath von nebenan wird Ihnen zeigen, wie Sie den Teufel in Ihrer Nachbarschaft erkennen und besiegen können.

Martha Stout, Ph. D., hat ihre Ausbildung am renommierten psychiatrischen McLean-Krankenhaus absolviert. Sie ist praktizierende Psychologin und klinische Dozentin an der psychiatrischen Abteilung der Harvard Medical School. Sie ist Autorin des Buches The Myth of Sanity und lebt in Cape Ann, Massachusetts, USA.

Die Seelen sind noch unterschiedlicher als die Gesichter. Voltaire

Bitte versuchen Sie, sich vorzustellen, kein Gewissen zu haben. Sie haben nicht die geringste Spur eines Gewissens und keine Gefühle von Schuld oder Reue – ganz egal, was Sie anstellen, plagen Sie keine lästigen Skrupel über das Wohlbefinden von Fremden, Freunden oder gar Verwandten. Stellen Sie sich vor, es gäbe kein leidiges Hadern mit Ihrem Schamgefühl, kein einziges Mal in Ihrem ganzen Leben, unabhängig davon, ob Sie sich egoistisch, faul, rücksichtslos oder unmoralisch verhalten. Und stellen Sie sich weiterhin vor, daß der Begriff "Verantwortung" Ihnen fremd wäre, außer vielleicht als eine Bürde, die andere Menschen offenbar wie gutmütige Trottel blind auf sich nehmen. Und nun erweitern Sie dieses seltsame Gedankenspiel um die Fähigkeit, Ihre so überaus sonderbare psychische Disposition vor anderen Menschen zu verbergen. Da jedermann wie selbstverständlich annimmt, daß das Gewissen eine universelle menschliche Qualität ist, fällt es Ihnen leicht, zu verheimlichen, daß Sie kein Gewissen haben. Kein Schuld- oder Schamgefühl hemmt die Erfüllung Ihrer Wünsche, und Sie werden von niemandem wegen Ihrer Gefühlskälte zur Rede gestellt. Die eisige Flüssigkeit, die in Ihren Adern fließt, ist so fremdartig, so abseits normaler menschlicher Erfahrungen, daß kaum einem Menschen der Verdacht kommt, daß mit Ihnen etwas nicht stimmen könnte.

Mit anderen Worten: Sie sind völlig frei von internen Kontrollen, und Ihre ungehemmte Freiheit, ohne Skrupel alles das zu tun, was Sie wollen, ist bequemerweise für den Rest der Welt nicht erkennbar. Sie können tun, was Sie wollen – und doch wird Ihr geheimnisvoller Vorteil vor den meisten Ihrer Mitmenschen, die durch ihr Gewissen gelenkt werden, sehr wahrscheinlich verborgen bleiben.

Wie werden Sie Ihr Leben führen? Wie werden Sie Ihren gewaltigen, heimlichen Vorteil nutzen, angesichts der korrespondierenden Schwäche der anderen Menschen (dem Gewissen)? Die Antwort wird weitgehend von Ihren Neigungen und Bedürfnissen abhängen, da die Menschen unterschiedlich sind. Selbst die völlig Skrupellosen gleichen sich nicht. Einige Menschen – ob sie nun ein Gewissen haben oder nicht – neigen zur Bequemlichkeit, während andere voller Träume und ungezügeltem Ehrgeiz sind. Manche Menschen sind brillant und begabt, andere sind einfältig, und die meisten liegen irgendwo dazwischen, haben sie nun ein Gewissen oder nicht. Es gibt gewalttätige und friedfertige Menschen, blutrünstige Individuen und andere, die keine solchen Gelüste haben.

Vielleicht sind Sie jemand, den es nach Macht und Geld gelüstet, und wenn Sie auch keine Spur eines Gewissens haben, so sind Sie doch mit überragender Intelligenz ausgestattet. Sie haben den Drang und die geistigen Fähigkeiten, nach großem Wohlstand und Einfluß zu streben, und Sie werden in keiner Weise gehemmt durch die nagende Stimme des Gewissens, die andere Menschen daran hindert, rücksichtslos für ihren Erfolg zu leben. Sie entscheiden sich für eine Laufbahn in der Wirtschaft, Politik, Justiz, im Bankwesen, in internationalen Projekten oder einem beliebigen anderen vielversprechenden Metier, und Sie betreiben Ihre Karriere mit einer kalten Leidenschaft, die keinen der alltäglichen moralischen oder rechtlichen Einwände gelten läßt. Wenn es nützlich erscheint, fälschen Sie Dokumente und vernichten Beweise, fallen Ihren Angestellten und Ihren Kunden (oder Ihrer Wählerschaft) in den Rücken, heiraten aus materiellen Gründen, belügen vorsätzlich Menschen, die Ihnen vertrauen, versuchen, einflußreiche oder eloquente Kollegen zu ruinieren und walzen abhängige und schutzlose Mitmenschen rücksichtslos nieder. Und das alles tun Sie mit der exquisiten Freiheit, die völliger Gewissenlosigkeit entspringt.

Sie werden unvorstellbar erfolgreich, vielleicht sogar im globalen Maßstab, und unangreifbar. Warum auch nicht? Mit Ihren hervorragenden Fähigkeiten und ohne ein Gewissen, das Sie einschränkt, können Sie alles erreichen.

Aber nein – nehmen wir an, Sie sind anders. Sie sind ehrgeizig, ja, und für den Erfolg würden Sie vieles tun, was Menschen mit einem Gewissen nicht einmal in Erwägung ziehen würden, aber Sie sind nicht besonders intelligent. Vielleicht sind Sie etwas intelligenter als der Durchschnitt, und vielleicht hält man Sie für clever, womöglich sogar für sehr clever. Aber in der Tiefe Ihres Herzens wissen Sie, daß Sie weder die geistigen Fähigkeiten noch die Kreativität haben, um die schwindelerregenden Höhen der Macht zu erreichen, von denen Sie insgeheim träumen. Und das erzeugt einen Groll auf die Welt an sich, und Neid auf Ihre Mitmenschen.

In diesem Falle würden Sie sich in einer Nische einrichten oder vielleicht einer Reihe von Nischen, in denen Sie eine gewisse Macht über einige wenige Menschen ausüben könnten. Vielleicht könnten Sie so Ihren Machthunger zum Teil befriedigen, obwohl Sie fortwährend unzufrieden darüber wären, nicht mehr Macht zu besitzen. Es ist aufreibend, so frei von dieser lächerlichen inneren Stimme zu sein, die andere am Erreichen von Macht hindert – ohne selbst begabt genug zu sein, die höchsten Stufen des Erfolges erklimmen zu können. Gelegentlich verfallen Sie in mürrische, reizbare Launen, aus einer Frustration heraus, die nur Sie selbst verstehen.

Aber Sie mögen Jobs, die Ihnen eine gewisse, kaum beaufsichtigte Macht über einige wenige Einzelpersonen oder kleine Gruppen verleihen, vorzugsweise über Menschen oder Gruppen, die relativ hilflos oder in gewisser Hinsicht verletzlich sind. Sie sind Lehrer oder Psychotherapeut, Scheidungsanwalt oder Trainer im Schulsport. Oder vielleicht sind Sie eine Art Berater, ein Makler, Inhaber einer Galerie oder in einer gehobenen Position in einem sozialen Beruf tätig. Oder vielleicht gehen Sie gar keiner bezahlten Tätigkeit nach, sondern sind Vorsitzender Ihres Gemeinderates, ehrenamtlich in einem Krankenhaus tätig oder Sie sind ein Erziehungsberechtigter.

Was immer auch Ihr Job sein mag: Sie manipulieren und schikanieren die Menschen unter Ihrem Einfluß, so oft und so niederträchtig Sie können, ohne gefeuert oder zur Verantwortung gezogen zu werden. Sie tun das aus Selbstzweck, ohne besonderen Grund, außer vielleicht, um sich einen Nervenkitzel zu verschaffen. Menschen nach Ihrer Pfeife tanzen zu lassen bedeutet, daß Sie Macht haben – oder zumindest empfinden Sie das so –, und andere zu schikanieren verschafft Ihnen einen Adrenalinstoß. Es macht Spaß.

Vielleicht reicht es nicht, um Vorstandsvorsitzender eines multinationalen Konzerns zu werden, aber Sie können ein paar Leuten Angst einjagen oder sie wie kopflose Hühner umherscheuchen oder sie bestehlen oder – und das ist vielleicht der größte Spaß – sie dazu bringen, sich zu schämen. Und das ist Macht, und zwar gerade dann, wenn die manipulierten Personen Ihnen auf die eine oder andere Art überlegen sind. Am spannendsten ist es, Menschen zu demütigen, die klüger oder qualifizierter sind als Sie, oder vielleicht kultivierter, attraktiver, beliebter oder tugendhafter. Das macht nicht nur großen Spaß; es ist existenzielle Vergeltung. Und ohne ein Gewissen ist es verblüffend einfach in die Tat umzusetzen. Sie servieren Ihrem Chef – oder dessen Chef – eine kleine Lüge, vergießen ein paar Krokodilstränen oder sabotieren das Projekt eines Kollegen oder täuschen einen Patienten (oder ein Kind), ködern Menschen mit Versprechungen oder streuen ein falsches Gerücht, das man nicht zu Ihnen zurückverfolgen kann.

Oder nehmen wir an, daß Sie ein Mensch sind, der zu Gewalttätigkeit oder Gewaltdarstellungen neigt. Sie können einfach Ihren Kollegen umbringen oder ihn umbringen lassen – oder Ihren Chef, Ihren Ex-Mann oder den Mann Ihrer wohlhabenden Geliebten oder einen beliebigen anderen Menschen, der Ihnen im Wege steht. Sie müssen vorsichtig sein, denn falls Sie einen Fehler machen, könnten Sie gefaßt und durch das System bestraft werden. Aber Sie werden nie von Ihrem Gewissen zur Rechenschaft gezogen werden, da Sie kein Gewissen haben. Falls Sie einen Mord begehen, werden Sie lediglich mit den externen Schwierigkeiten fertig werden müssen. Nichts innerhalb Ihrer Persönlichkeit wird jemals Protest erheben.

Falls Sie nicht aufgehalten werden, können Sie buchstäblich alles tun. Wenn Sie zur passenden Zeit geboren werden, Zugang zu einem Familienvermögen haben und besonders begabt dafür sind, den Haß und das Gefühl der Benachteiligung Ihrer Mitmenschen zu schüren, können Sie es erreichen, eine große Zahl argloser Menschen ins Jenseits zu befördern. Mit genug Geld können Sie das aus der Ferne arrangieren, sich in Sicherheit wiegen und zufrieden Ihr Werk betrachten. In der Tat ist (ferngesteuerter) Terrorismus die ideale Beschäftigung für blutrünstige und gewissenlose Menschen – stellt man es richtig an, kann man eine ganze Nation in Aufruhr versetzen. Wenn das nicht Macht ist, was dann?

Oder lassen Sie uns das entgegengesetzte Extrem annehmen: Sie sind nicht an Macht interessiert. Im Gegenteil, Sie sind ein Mensch, der kaum echte Interessen hat. Ihr einziges wirkliches Anliegen ist es, sich nicht allzu sehr anstrengen zu müssen, um durchs Leben zu kommen. Sie wollen nicht arbeiten wie alle anderen. Ohne ein Gewissen können Sie dösen oder Ihren Hobbies nachgehen oder den ganzen Tag fernsehen oder einfach nur den lieben langen Tag irgendwo herumhängen. Wenn Sie etwas am Rande der Gesellschaft leben und von Verwandten und Freunden gesponsert werden, können Sie das beliebig lange so treiben. Vielleicht würde man sich zuflüstern, daß Sie nichts leisten, depressiv sind, ein trauriger Fall, oder andererseits, falls man sich über Sie ärgert, könnte man grummeln, daß Sie faul sind. Lernt man Sie besser kennen und ärgert sich wirklich über Sie, würde man Sie vielleicht anschreien und einen Verlierer oder Penner nennen. Aber man würde niemals auf die Idee kommen, daß Sie buchstäblich kein Gewissen haben und daß daher Ihre ganze Psyche fundamental von der Norm abweicht.

Nie bedrückt Sie das panische Gefühl eines schlechten Gewissens oder läßt Sie mitten in der Nacht hochschrecken. Trotz Ihres Müßiggangs sind Ihnen Gefühle von Verantwortungslosigkeit, Nachlässigkeit oder Peinlichkeit völlig fremd, wenn Sie auch gelegentlich um des schönen Scheins willen solche Gefühle vortäuschen. Wenn Sie zum Beispiel ein guter Beobachter von Menschen und ihren Reaktionen sind, könnten Sie ein bekümmertes Gesicht aufsetzen und behaupten, Sie würden sich für Ihren Lebenswandel schämen und davon sprechen, wie schlecht Sie sich fühlen. Das tun Sie aber nur, weil es für Sie bequemer ist, wenn Ihre Mitmenschen Sie für depressiv halten, als wenn sie Sie ständig anschreien oder dazu drängen würden, sich eine Arbeit zu suchen.

Sie stellen fest, daß Menschen, die ein Gewissen haben, sich schuldig fühlen, wenn sie jemandem Vorhaltungen machen, den sie für "depressiv" oder "gestört" halten. Tatsächlich fühlt man sich oft – zu Ihrem zusätzlichen Vorteil – verpflichtet, einer solchen Person zu helfen. Falls es Ihnen, obwohl Sie vergleichsweise mittellos sind, gelingen sollte, eine sexuelle Beziehung zu jemandem herzustellen, könnte sich diese Person – ohne zu ahnen, wie Sie wirklich sind – besonders verpflichtet fühlen. Und da Sie lediglich vermeiden wollen zu arbeiten, muß Ihr Sponsor nicht einmal sonderlich begütert sein – es genügt, wenn er oder sie einigermaßen anständig ist.

Ich vertraue darauf, daß die Vorstellung, ein solcher Mensch zu sein, Ihnen verrückt vorkommt, denn solche Menschen sind verrückt – und zwar gefährlich verrückt. Verrückt, aber real – es gibt sogar eine Bezeichnung für sie. Viele Psychologen bezeichnen das partielle oder völlige Fehlen eines Gewissens als "antisoziale Persönlichkeitsstörung". Dabei handelt es sich um eine unheilbare Deformation des Charakters, von der nach heutigem Wissensstand wahrscheinlich vier Prozent der Bevölkerung betroffen sind – also einer von 25 Menschen. Für das Fehlen eines Gewissens gibt es auch andere Bezeichnungen; am häufigsten wird "Soziopathie" verwendet oder der etwas geläufigere Begriff Psychopathie. Das Fehlen von Schuldgefühlen war die erste der Psychiatrie bekannte Persönlichkeitsstörung; im Laufe des vergangenen Jahrhunderts wurde sie auch als manie sans delire, psychopathische Minderwertigkeit ("psychopathic inferiority") und moralischer Schwachsinn ("moral insanity" oder "moral imbecility") bezeichnet.

Nach der aktuellen "Diagnosebibel" der Psychiatrie, dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders IV der "American Psychiatric Association" (APA), sollte die klinische Diagnose einer "antisozialen Persönlichkeitsstörung" in Betracht gezogen werden, wenn eine Person mindestens drei der folgenden sieben Eigenschaften aufweist:

1.       abweichendes Sozialverhalten;
2.       hinterlistiges, manipulatives Verhalten;
3.       Impulsivität, mangelnde Planungsfähigkeit;
4.       Reizbarkeit, Aggressivität;
5.       rücksichtslose Gefährdung der Sicherheit der eigenen Person
          oder anderer Menschen;
6.       fortwährende Verantwortungslosigkeit;
7.       fehlende Reue nach Verletzung, Mißhandlung oder Bestehlen
          einer anderen Person.

Das Auftreten einer beliebigen Kombination von mindestens drei dieser "Symptome" reicht aus, um bei vielen Psychiatern den Verdacht auf die Störung auszulösen.
Viele andere Forscher und Kliniker, die meinen, daß die Definition der APA eher "Straffälligkeit" beschreibt als echte "Psychopathie" oder "Soziopathie", verweisen auf andere belegte Eigenschaften von Soziopathen. Eine solche Eigenschaft, die häufig beobachtet wird, ist ein glatter und oberflächlicher Charme, der es echten Soziopathen erleichtert, Menschen zu verführen, im übertragenen oder wörtlichen Sinne – eine Art Ausstrahlung, ein Charisma, das sie zunächst reizvoller oder interessanter erscheinen läßt als die Menschen in ihrem Umfeld. Sie sind spontaner, einnehmender, vielschichtiger, attraktiver oder unterhaltsamer als andere. Bisweilen geht dieses "soziopathische Charisma" einher mit einem übertriebenen Selbstwertgefühl, das zunächst überzeugend wirkt, sich aber häufig beim näheren Hinsehen als seltsam oder gar lächerlich erweist. ("Eines Tages wird man merken, welch ein besonderer Mensch ich bin" oder "Weißt du, nach mir wird dir kein anderer Liebhaber gut genug sein.")

Darüber hinaus haben Soziopathen ein überdurchschnittlich ausgeprägtes Bedürfnis nach Stimulation, was dazu führt, daß sie häufig soziale, gesundheitliche, finanzielle oder rechtliche Risiken eingehen. Mit Vorliebe verführen sie andere dazu, sich gemeinsam mit ihnen auf gefährliche Unternehmungen einzulassen, und durchweg sind sie für ihre krankhafte Verlogenheit, Betrügereien und parasitären Beziehungen zu "Freunden" bekannt. Unabhängig davon, wie gebildet oder erfolgreich sie als Erwachsene sein mögen, haben sie oft eine Historie früher Verhaltensauffälligkeiten, zum Beispiel Drogenmißbrauch oder Straffälligkeit als Kind oder Heranwachsender, und stets lehnen sie jegliche Verantwortung für solche Probleme ab.

Besonders auffällig ist das flache Gefühlsleben von Soziopathen, der hohle und flüchtige Charakter von Gefühlen der Zuneigung, die sie zur Schau stellen und eine frappierende Gefühlskälte. Ihnen fehlt jede Spur von Mitgefühl ("empathy") und ein echtes Interesse, Gefühlsbindungen mit einem Partner einzugehen. Nachdem die charmante Oberfläche abgenutzt ist, sind ihre Ehen lieblos, einseitig und fast immer von kurzer Dauer. Sofern ein Ehepartner überhaupt einen Wert für den Soziopathen hat, sieht er ihn als Besitz an, ob dessen Verlust er vielleicht Ärger empfindet, aber nie Traurigkeit oder gar Verantwortlichkeit.

Alle diese Charakteristika sind, neben den von der American Psychiatric Association aufgeführten "Symptomen", der Ausdruck einer für die meisten Menschen unergründlichen psychischen Befindlichkeit, dem Fehlen unseres lebenswichtigen siebten Sinns – dem Gewissen.

Verrückt und beängstigend – und real, bei etwa vier Prozent der Bevölkerung.

Aber was bedeuten diese vier Prozent für die Gesellschaft? Um einen Bezug zu Problemen herzustellen, von denen man häufiger hört, bedenke man die folgenden Zahlen:

  •       Magersucht tritt bei etwa 3,4 Prozent der Bevölkerung auf, was als fast epidemisch betrachtet wird, und doch ist dieser Wert niedriger als die Verbreitung der antisozialen Persönlichkeitsstörung.
  •       Die schweren Störungen, die man als Schizophrenie klassifiziert, treten nur bei etwa einem Prozent der Bevölkerung auf – das ist lediglich ein Viertel der Verbreitung der antisozialen Persönlichkeitsstörung.
  •       Die Gesundheitsbehörden ("Centers for Disease Control and Prevention") geben an, daß Darmkrebs in den USA bei 40 von 100.000 Personen auftritt, was als "alarmierend hoch" eingestuft wird – und doch nur ein Hundertstel der Verbreitung der antisozialen Persönlichkeitsstörung ausmacht.

Etwas pointierter ausgedrückt bedeutet das, daß es mehr Soziopathen unter uns gibt als Menschen, die unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit an Magersucht leiden, viermal so viele Soziopathen wie Schizophrene, und hundertmal so viele Soziopathen wie Patienten, die an Darmkrebs, einer bekannten Geißel der Menschheit, leiden.
Als Therapeutin bin ich auf die Behandlung von Patienten spezialisiert, die ein psychisches Trauma erlebt haben. Im Laufe der vergangenen 25 Jahre haben sich Hunderte von Erwachsenen in meiner Praxis eingefunden, die an jedem Tag ihres Lebens seelische Qualen zu ertragen hatten, wegen Mißbrauchs im Kindesalter oder anderer entsetzlicher Erlebnisse. In meinem Buch The Myth of Sanity (Der Mythos Vernunft) habe ich anhand von Fallbeispielen die zahllosen Leiden meiner Traumapatienten beschrieben, zum Beispiel chronische Angstzustände, lähmende Depressionen und dissoziative Zustände. Viele von ihnen haben sich in dem Gefühl, ihr Leben sei unerträglich, nach überwundenen Suizidversuchen an mich gewandt. Einige sind von Naturkatastrophen wie Erdbeben traumatisiert worden, andere von menschengemachten Katastrophen wie Kriegen, aber die meisten von ihnen sind durch einzelne menschliche Täter unterdrückt und psychisch vernichtet worden, und zwar oft durch Soziopathen – manchmal durch ihnen fremde Soziopathen, aber häufiger durch soziopathische Eltern, ältere Verwandte oder Geschwister. Bei dem Versuch, meinen Patienten und ihren Familien bei der Bewältigung der ihnen zugefügten Verletzungen zu helfen, habe ich erkannt, daß die von den Soziopathen in unserer Mitte verursachten Schäden schwerwiegend und dauerhaft, oft in tragischer Weise tödlich und erschreckend alltäglich sind. Bei der Arbeit mit Hunderten von Überlebenden habe ich die Überzeugung gewonnen, daß es eine dringende Notwendigkeit für uns alle ist, offen und direkt mit den Umständen der Soziopathie umzugehen.

Etwa eine von fünfundzwanzig Personen ist soziopathisch, was im Wesentlichen heißt, daß sie kein Gewissen hat. Es ist nicht etwa so, daß diese Personengruppe den Unterschied zwischen gut und böse nicht erkennen könnte; vielmehr hat der Unterschied keinen Einfluß auf ihr Verhalten. Die rationale Unterscheidung zwischen gut und böse löst nicht den emotionalen Alarm aus – oder die Gottesfurcht –, die wir anderen erleben. Ohne das geringste Gefühl von Schuld und ohne Reue kann eine von 25 Personen jegliche Schandtat begehen.

Die große Verbreitung von Soziopathie in der menschlichen Gesellschaft hat gravierende Auswirkungen auf uns andere, die wir auch auf diesem Planeten leben müssen, und zwar auch auf jene, die nicht traumatisiert worden sind. Die Individuen, aus denen diese vier Prozent bestehen, plündern unsere Beziehungen, Bankkonten und unser Selbstwertgefühl aus und stören unseren Frieden auf Erden. Und doch wissen die meisten Menschen erstaunlicherweise nichts über diese Persönlichkeitsstörung, und wenn doch, denken sie nur an gewalttätige Psychopathen, an Mörder, Serienkiller oder Massenmörder, an Individuen, die immer wieder auf spektakuläre Weise das Gesetz gebrochen haben und die, falls sie gefaßt werden, durch unsere Strafjustiz eingesperrt oder gar zu Tode gebracht werden. Für gewöhnlich sind wir uns der viel größeren Anzahl nicht-gewalttätiger Soziopathen unter uns nicht bewußt, und normalerweise erkennen wir sie nicht – Menschen, die nicht in eklatanter Weise die Gesetze brechen und vor denen unser Rechtssystem kaum einen Schutz bietet.

Die meisten Menschen würden keinen Zusammenhang erkennen zwischen der Planung eines Völkermordes und zum Beispiel dem schamlosen Anschwärzen eines Kollegen bei dessen Chef. Aber der psychische Zusammenhang existiert nicht nur, er ist beklemmend. Die Verbindung besteht schlicht und ergreifend darin, daß der innere Mechanismus fehlt, der uns – emotional gesprochen – in die Zange nimmt, wann immer wir eine Entscheidung treffen, die wir als unmoralisch, unanständig, verantwortungslos oder egoistisch ansehen. Die meisten von uns werden einen Anflug von Schuld verspüren, wenn wir das letzte Stück Kuchen in der Küche nehmen – ganz zu schweigen von dem, was wir fühlen würden, wenn wir vorsätzlich und systematisch den Plan fassen würden, einen anderen Menschen zu verletzen. Diejenigen, die keine Spur eines Gewissens haben, sind eine Gruppe für sich, seien sie nun mörderische Tyrannen oder lediglich rücksichtslose Sozialschmarotzer.

Das Vorhandensein oder Fehlen des Gewissens ist eine tiefe Kluft, die die Menschheit spaltet, wohl signifikanter als Intelligenz, Rasse oder sogar das Geschlecht. Was einen Soziopathen, der von der Arbeit anderer lebt, von einem unterscheidet, der bei Gelegenheit einen Supermarkt ausraubt oder der ein Gangsterboß ist – oder was den Unterschied zwischen einem gewöhnlichen Rowdy und einem soziopathischen Mörder ausmacht – ist nicht mehr als gesellschaftliches Ansehen, Zielstrebigkeit, Intelligenz, Mordlust oder schlichtweg die passende Gelegenheit. Was alle diese Individuen von uns anderen unterscheidet, ist das gähnende Loch an der Stelle ihrer Seele, wo sich eigentlich die am höchsten entwickelte menschliche Qualität befinden sollte.

Für etwa 96 Prozent von uns ist das Gewissen so selbstverständlich, daß wir kaum je darüber nachdenken. Meist funktioniert es wie ein Reflex. Falls die Versuchung nicht gerade unwiderstehlich ist (was im Alltag zum Glück nur selten vorkommt), reflektieren wir keineswegs jede einzelne moralische Entscheidung, die sich uns stellt. Wir fragen uns nicht ernsthaft, "Soll ich meinem Sprößling heute Geld fürs Schulessen mitgeben oder nicht?" – "Soll ich meinem Kollegen heute die Aktentasche klauen oder nicht?" – "Soll ich heute meinen Ehepartner verlassen oder nicht?" Das Gewissen trifft alle diese Entscheidungen für uns, in aller Stille, automatisch und ständig, so daß wir uns selbst in unseren kühnsten Phantasien ein Leben ohne Gewissen nicht vorstellen könnten. Und so können wir natürlich, wenn sich jemand völlig gewissenlos verhält, auch nur Erklärungen finden, die nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein könnten: "Sie muß vergessen haben, dem Kind Essensgeld zu geben." – "Sein Kollege muß seine Aktentasche selbst verlegt haben." – "Seine Frau muß unausstehlich gewesen sein." Oder wir denken uns Erklärungen aus, die das jeweilige unsoziale Verhalten beinahe erklären könnten, wenn man es nicht allzu genau nähme: Er ist "exzentrisch" oder "künstlerisch" oder "sehr ehrgeizig" oder "faul" oder "hat keine Ahnung" oder war "schon immer ein Schlawiner".

Abgesehen von den psychopathischen Monstern, die man im Fernsehen sieht, und deren Untaten ohnehin zu entsetzlich für eine Erklärung sind, können wir gewissenlose Menschen fast nie erkennen; sie sind unsichtbar für uns. Wir interessieren uns sehr dafür, wie klug wir sind, und für die Intelligenz anderer Menschen. Das kleinste Kind erkennt den Unterschied zwischen einem Jungen und einem Mädchen. Wegen der Zugehörigkeit zu verschiedenen Rassen werden Kriege geführt. Aber das möglicherweise bedeutendste einzelne Unterscheidungsmerkmal, das die Menschheit spaltet – das Vorhandensein oder Fehlen eines Gewissens – bleibt uns verborgen.

Nur sehr wenige Menschen, wie gebildet sie auch anderweitig sein mögen, kennen die Bedeutung des Wortes soziopathisch. Und noch viel weniger ist ihnen klar, daß sehr wahrscheinlich dieses Wort zu Recht auf eine handvoll Menschen angewendet werden könnte, die sie kennen. Und selbst nachdem wir den Begriff kennengelernt haben, ist es für die meisten Menschen nicht möglich, sich das Fehlen eines Gewissens vorzustellen. In der Tat ist es schwierig, sich eine Situation vorzustellen, die sich so beharrlich dem Verständnis entzieht. Völlige Blindheit, krankhafte Depressionen, schwere Wahrnehmungsstörungen, ein Lotteriegewinn und tausende anderer extremer menschlicher Erfahrungen, selbst eine Psychose, können wir uns vorstellen. Wir alle haben uns schon einmal in der Dunkelheit verlaufen. Wir sind alle schon niedergeschlagen gewesen. Wir sind uns alle schon dumm vorgekommen, zumindest ein- oder zweimal. Die meisten von uns haben schon einmal in Gedanken eine Liste aufgestellt, was sie mit einem plötzlichen, unverhofften Vermögen anstellen würden. Und des Nachts in unseren Träumen sind unsere Gedanken und Vorstellungen verwirrt.

Aber sich überhaupt nicht zu scheren um die Folgen unseres Verhaltens für die Gesellschaft, für Freunde, Verwandte, für unsere Kinder? Wie, um Himmels Willen, wäre das? Was würden wir mit uns selbst anfangen? Nichts in unserem Leben, wach oder im Schlaf, gibt uns dafür einen Anhaltspunkt. Am nächsten kämen wir vielleicht durch die Erfahrung so großer körperlicher Schmerzen, daß es uns vorübergehend unmöglich wäre, zu handeln oder klar zu denken. Aber selbst unter Schmerzen existiert Schuldbewußtsein. Ein völliges Fehlen von Schuldbewußtsein übersteigt die Vorstellungskraft.

Das Gewissen ist unser allwissender Zuchtmeister; es diktiert die Regeln für unser Verhalten und verhängt emotionale Strafen, wenn wir die Regeln brechen. Wir haben nie um ein Gewissen gebeten. Es ist einfach da, immer, wie die Haut, die Lunge oder das Herz. Man könnte sagen, daß das noch nicht einmal unser Verdienst ist. Und wir können uns nicht vorstellen, wie wir uns ohne Gewissen fühlen würden.

Das Fehlen des Schuldbewußtseins ist auch als medizinisches Konzept seltsam widersprüchlich. Ganz im Gegensatz zu Krebs, Magersucht, Schizophrenie oder sogar den anderen "Charakterstörungen", wie zum Beispiel Narzißmus, scheint Soziopathie auch einen moralischen Aspekt zu haben. Soziopathen werden fast immer als böse oder diabolisch angesehen, selbst (oder gerade) von Psychologen, und das Gefühl, daß diese Patienten irgendwie moralisch anstößig und beängstigend sind, schlägt sich lebhaft in der Literatur nieder.

Robert Hare, Professor der Psychologie an der Universität von British Columbia in Kanada, hat die Psychopathie-Checkliste entwickelt, einen Fragebogen, der mittlerweile weltweit unter Forschern und Klinikern als Standard-Diagnoseinstrument anerkannt ist. Über seine Probanden schreibt Hare, der leidenschaftslose Wissenschaftler:

Jeder Mensch, einschließlich der Experten, kann von ihnen vereinnahmt, manipuliert, betrogen und verwirrt zurückgelassen werden. Ein geschickter Psychopath kann ein Konzert auf der Gefühlsklaviatur jedes Menschen spielen. ... Ihr bester Schutz ist es, das Wesen dieser Raubtiere in Menschengestalt zu verstehen.

Und Hervey Cleckley, Autor des 1941 erschienenen Klassikers The Mask of Sanity (Die Maske der Vernunft), beklagt sich so über den Psychopathen:
Schönheit und Häßlichkeit – es sei denn, in einem sehr oberflächlichen Sinne – bedeuten ihm nichts. Das Böse, die Liebe, das Grauen und der Humor können ihn nicht berühren.

Man könnte sich leicht auf den Standpunkt stellen, daß die Bezeichnungen "Soziopathie" und "antisoziale Persönlichkeitsstörung" falsch gewählt sind und eine variable Ansammlung von Ideen reflektieren, und daß das Fehlen eines Gewissens als psychiatrische Kategorie ohnehin nicht sinnvoll ist. In diesem Zusammenhang muß beachtet werden, daß alle anderen psychiatrischen Befunde (einschließlich des Narzißmus) mit einem gewissen Ausmaß an subjektiv empfundenem Leiden oder Unbehagen des Patienten einhergehen. Soziopathie ist somit die einzige "Störung", die den Betroffenen nicht stört – sie verursacht keine subjektiven Beschwerden. Soziopathen sind oft ganz zufrieden mit sich und ihrem Leben, und vielleicht gibt es gerade deswegen keine wirksame "Therapie". In der Regel begeben sich Soziopathen nur dann in eine Therapie, wenn das von einem Gericht angeordnet wurde oder wenn anderweitige Vorteile durch den Status als Patient erlangt werden können. Der Wunsch, sich zu bessern, ist selten der wahre Beweggrund. All dies wirft die Frage auf, ob ein fehlendes Gewissen eine psychiatrische Störung oder ein strafrechtlich relevanter Umstand ist – oder gar etwas völlig anderes.

Einzigartig in seiner Eigenschaft, selbst gestandene Fachleute zu enervieren, nähert sich das Konzept der Soziopathie bedrohlich unseren Vorstellungen von Seele und dem Kampf des Guten gegen das Böse, und diese Assoziation erschwert es, sachlich mit dem Thema umzugehen. Und der unvermeidliche, dem Problem innewohnende Standpunkt des "die gegen uns" wirft wissenschaftliche, moralische und politische Fragen auf, an denen man verzweifeln könnte. Wie kann man ein Phänomen wissenschaftlich untersuchen, das zumindest teilweise moralischer Natur ist? Wer sollte unsere professionelle Hilfe und Unterstützung empfangen, die "Patienten" oder die Menschen, die sie ertragen müssen? Indem die psychologische Forschung Methoden entwickelt, Soziopathie zu "diagnostizieren" – wen sollten wir testen? Sollte überhaupt ein Bürger einer freien Gesellschaft einer solchen Diagnose unterzogen werden? Und nachdem jemand unzweifelhaft als Soziopath diagnostiziert worden ist, was – wenn überhaupt etwas – kann die Gesellschaft mit dieser Information anfangen? Kein anderer Befund wirft solcherlei ethisch und fachlich unstatthafte Fragen auf. Die Soziopathie, mit ihrer bekannten Verbindung zu Verhaltensweisen wie Prügel und Vergewaltigung in der Ehe über Serienmord bis hin zur Anstiftung von Kriegen ist im gewissen Sinne die letzte und beängstigendste Herausforderung der Psychologie.

In der Tat, die irritierendsten Fragen werden kaum jemals auch nur geflüstert: Können wir mit Sicherheit sagen, daß sich Soziopathie nicht für das jeweilige Individuum auszahlt? Ist Soziopathie überhaupt eine Störung, oder ist sie nicht vielmehr zweckmäßig? Ebenso lästig ist die Unsicherheit auf der Rückseite der Medaille: Zahlt sich das Gewissen aus für das Individuum oder die Gruppe, die es besitzt? Oder ist das Gewissen lediglich, wie es gerne von Soziopathen behauptet wird, ein psychologischer Pferch für die Massen? Ob wir sie nun laut aussprechen oder nicht, solche impliziten Zweifel ragen bedrohlich über einem Planeten empor, dessen größte Berühmtheiten der Geschichte seit Jahrtausenden, bis hin zum heutigen Tag, stets Gestalten waren, deren Unmoral jeden Maßstab gesprengt hat. Und in unserer heutigen Kultur ist es fast schon in Mode, andere Menschen auszunutzen, und skrupellose Geschäftspraktiken scheinen mit grenzenlosem Reichtum belohnt zu werden. Aus ihrer persönlichen Erfahrung können die meisten von uns Beispiele dafür anführen, daß ein skrupelloser Mensch gewonnen hat, und manchmal scheint es fast so, als sei ein anständiger Mensch nur ein Trottel.

Stimmt es wirklich, daß Lügen kurze Beine haben, oder ist es nicht letztlich doch so, daß der nette Kerl als letzter durchs Ziel geht? Wird die Minderheit der Schamlosen tatsächlich die Erde übernehmen?

Solche Fragen reflektieren ein Thema, das ein zentrales Anliegen dieses Buches ist. Es beschäftigt mich seit der Zeit kurz nach den Katastrophen vom 11. September 2001, die allen rechtschaffenen Menschen große Pein verursacht haben und einige hat verzweifeln lassen. Ich bin ein durchweg optimistischer Mensch, aber seinerzeit haben ich und einige andere Psychologen und Studenten befürchtet, daß unser Land und viele andere Nationen für lange Jahre in haßerfüllten Konflikten und von Rachegefühlen angestachelten Kriegen versinken würden. Wenn ich versucht habe, mich zu entspannen oder einzuschlafen, kam mir immer wieder aus dem Nichts eine Zeile aus einem dreißig Jahre alten apokalyptischen Lied in den Sinn: "Lachend entfaltet Satan seine Schwingen." Der beflügelte Satan vor meinem geistigen Auge war kein Terrorist, sondern ein dämonischer Manipulator, der die Anschläge der Terroristen benutzt hat, um auf der ganzen Welt Haß zu schüren.

Das Interesse an meinem speziellen Thema "Soziopathie gegen Gewissen" wurde bei mir in einem Telefongespräch mit einem Kollegen geweckt, einem guten Menschen, der für gewöhnlich optimistisch und voller Zuversicht ist, aber seinerzeit – wie der Rest der Welt – wie benommen und demoralisiert war. Wir sprachen über einen gemeinsamen Patienten, dessen suizidale Tendenzen sich in beunruhigendem Maße verstärkt hatten, anscheinend wegen der Katastrophen in den USA (und dem es inzwischen wieder erheblich besser geht, wie ich erleichtert berichten möchte). Mein Kollege sprach davon, wie zerrissen er sich selbst fühlte und daß er deswegen vielleicht nicht das übliche Maß an emotionaler Kraft für seinen Patienten würde aufbringen können. Dieser außerordentlich fürsorgliche und verantwortungsvolle Therapeut befürchtete, daß er – wie jedermann überwältigt von den Ereignissen – seine Pflicht vernachlässigen könnte. Mitten in seiner Selbstkritik hielt er inne, seufzte, und sagte mir in einem für ihn gänzlich untypischen Tonfall: "Weißt du, manchmal frage ich mich: Warum sollte man ein Gewissen haben? Damit wird man doch nur zum Verlierer."

Ich war außerordentlich irritiert durch seine Frage, vor allem weil Zynismus so gar nicht zu seinem Wesen paßt, das man wohl sonst als gesund und munter bezeichnen kann. Nach einer Weile antwortete ich mit einer Gegenfrage: "Dann sage mir doch, Bernie, wenn du die Wahl hättest, ich meine, eine wirklich freie Wahl in der Angelegenheit – die du natürlich nicht hast –, würdest du dich dafür entscheiden, ein Gewissen zu haben, so wie du jetzt eines hast, oder würdest du es vorziehen, ein Soziopath zu sein und also jeder Schandtat fähig zu sein?"

Er dachte einen Moment nach und sagte dann: "Du hast Recht," (obwohl ich keine Gedankenübertragung versucht hatte). "Ich würde mich für ein Gewissen entscheiden."
"Warum?" drängte ich ihn.

Nach einer Pause und einem langgezogenen "Na ja ..." sagte er schließlich: "Also, Martha, ich weiß nicht, warum. Ich weiß einfach nur, daß ich mich für das Gewissen entscheiden würde."

Und vielleicht wünsche ich mir das nur, aber ich hatte den Eindruck, daß sich Bernies Tonfall nach dieser Aussage ein wenig geändert hat. Er klang etwas weniger resigniert, und wir begannen darüber zu sprechen, wie eine unserer Standesorganisationen die Menschen in New York und Washington unterstützen wollte.

Für lange Zeit nach diesem Gespräch war ich fasziniert von dieser Frage meines Kollegen "Warum sollte man ein Gewissen haben?" und von seiner Entscheidung, lieber mit einem Gewissen zu leben als davon frei zu sein, und von dem Umstand, daß er nicht sagen konnte, warum er sich so und nicht anders entscheiden würde. Ein Moralist oder Theologe hätte vielleicht geantwortet "Weil es richtig ist" oder "Weil ich ein guter Mensch sein will". Aber mein Freund, der Psychologe, konnte keine psychologisch begründete Antwort geben.

Ich bin der festen Überzeugung, daß wir den psychologischen Grund herausfinden müssen. Gerade jetzt, in einer Welt, die am Rande der Selbstzerstörung durch Wirtschaftskriminalität im globalen Ausmaß, Terrorismus und Kriege des Hasses zu stehen scheint, müssen wir wissen, warum – im psychologischen Sinne – ein Mensch mit einem Gewissen besser ist als ein Mensch, der nicht von Gefühlen der Schuld oder der Reue eingeschränkt wird. Zum Teil ist dieses Buch meine Antwort als Psychologin auf diese Frage, "Warum sollte man ein Gewissen haben?" Um den Gründen näherzukommen, werde ich zunächst Menschen beschreiben, die kein Gewissen haben, die Soziopathen – wie sie sich verhalten, wie sie fühlen. Anschließend will ich mithilfe der so gewonnenen Einsichten für die restlichen 96 Prozent von uns untersuchen, was es wert sein könnte, mit einer Eigenschaft ausgestattet zu sein, die einem oft das Leben erschwert, Schmerzen verursacht und – ja, in der Tat – einen einschränkt.

Dieses Buch ist auch mein Versuch, ehrenhafte Menschen vor "dem Soziopathen von nebenan" zu warnen und dabei zu helfen, mit ihm umzugehen. Als Psychologin und als Mensch habe ich mit ansehen müssen, wie allzu viele Leben fast zerstört worden sind durch die Entscheidungen und Handlungen einiger weniger gewissenloser Menschen. Diese Wenigen sind sowohl gefährlich als auch verblüffend schwierig zu erkennen. Selbst wenn sie nicht körperlich gewalttätig sind – und gerade dann, wenn sie uns vertraut sind und nahestehen –, sind sie doch mit Leichtigkeit imstande, das Leben einzelner Menschen durcheinander zu bringen und die menschliche Gesellschaft insgesamt unsicher zu machen. Meiner Ansicht nach ist die Dominanz von gewissenlosen Menschen über uns andere ein besonders verbreitetes und abstoßendes Beispiel für das, was der Romancier F. Scott Fitzgerald als "die Tyrannei der Schwachen" bezeichnet hat. Und ich meine, daß alle ehrenhaften Menschen erfahren sollten, wie sich solche unmoralischen und skrupellosen Menschen im Alltag verhalten, um sie besser erkennen und effektiver mit ihnen umgehen zu können.

Wenn es ums Gewissen geht, scheinen wir eine Gattung der Extreme zu sein. Wir müssen nur unsere Fernseher einschalten, um diese verwirrenden Gegensätze zu erleben: Wir sehen Bilder von Menschen auf den Knien, um einen Welpen aus einem Abflußrohr zu retten, gefolgt von Berichten über andere Menschen, die Frauen und Kinder abschlachten und die Leichen zu Stapeln aufschichten. Und in unserem gewöhnlichen Alltagsleben sind die Kontraste ebenso vielfältig, wenn auch vielleicht nicht so spektakulär. Am morgen läuft jemand hinter uns her, um uns lächelnd den Geldschein zurückzugeben, den wir verloren haben, während uns am Nachmittag ein anderer grinsend im Verkehr den Weg abschneidet.

Bedenkt man das so radikal gegensätzliche Verhalten, das wir jeden Tag erleben, müssen wir offen über beide Extreme menschlichen Wesens und Verhaltens sprechen. Um eine bessere Welt zu schaffen, müssen wir den Charakter von Menschen verstehen, die wie selbstverständlich gegen das Gemeinwohl handeln, ohne jegliche emotionale Hemmung. Nur durch den Versuch, das Wesen der Gewissenlosigkeit zu verstehen, können wir die vielen Möglichkeiten erkennen, sich dagegen zu behaupten, und nur, indem wir die Dunkelheit durchdringen, können wir dem Licht zu mehr Kraft verhelfen.

Ich habe die Hoffnung, daß dieses Buch dazu beitragen wird, den zerstörerischen Einfluß der Soziopathen auf unsere Leben zu begrenzen. Jeder einzelne ehrenhafte Mensch kann lernen, den "Soziopathen von nebenan" zu erkennen und dieses Wissen dazu einsetzen, seine gänzlich selbstsüchtigen Pläne zu durchkreuzen. Zumindest jedoch kann man sich und seine Lieben vor dessen schamlosen Manövern schützen.

...

Menschen aus Eis: die Soziopathen

Das Gewissen ist das Fenster der Seele; das Böse ist der Vorhang. Doug Horton

Als Skip heranwuchs, hatte seine Familie ein Ferienhaus an einem kleinen See in den Hügeln von Virginia, wo sie alljährlich einen Teil des Sommers verbrachte. Sie machten dort Urlaub, seit Skip acht Jahre alt war, bis er in Massachusetts zur High School ging. Skip pflegte sich auf seine Sommer in Virginia zu freuen. Es gab dort nicht viel zu unternehmen, aber der eine Zeitvertreib, den er sich ausgedacht hatte, machte so großen Spaß, daß er die allgemeine Langeweile aufwog. Wenn er im Winter wieder die Grundschule besuchte und seinen Gedanken nachhing, während ein stupider Lehrer sich endlos über etwas Belangloses ausließ, lachte er tatsächlich manchmal leise in sich hinein, wenn er sich vorstellte, wie er am Ufer des warmen Sees in Virginia sein Spiel spielte.

Skip war schon als Kind intelligent und hübsch. "Intelligent und hübsch", stellten seine Eltern, die Freunde seiner Eltern und auch seine Lehrer immer wieder fest. Und so konnten sie nicht verstehen, warum seine Noten so mittelmäßig waren oder warum er, als er älter wurde, so wenig Interesse daran zu haben schien, mit Mädchen auszugehen. Sie wußten nicht, daß er schon, seit er elf war, mit vielen Mädchen zusammen gewesen war, aber nicht ganz so, wie seine Eltern und Lehrer sich das vorgestellt hatten. Immer war ein – meist älteres – Mädchen zur Stelle, das willens war, Skips Schmeichelei und seinem charmanten Lächeln zu erliegen. Oft würde ihn das Mädchen auf ihr Zimmer schmuggeln, aber manchmal würden er und ein Mädchen sich einfach eine abgelegene Stelle auf einem Spielplatz oder unter den Tribünenplätzen auf dem Sportplatz suchen. Was seine Noten angeht, war er äußerst aufgeweckt – er hätte glatte Einser haben können –, aber Dreier konnte er ohne jede Anstrengung erreichen, und so hielt er es auch. Manchmal bekam er sogar eine Zwei, was ihn amüsierte, da er nie für die Schule lernte. Die Lehrer mochten ihn, schienen fast so anfällig für sein Lächeln und seine Komplimente zu sein wie die Mädchen und so erwartete man, daß der gute brave Skip eine gute High School und dann ein ordentliches College besuchen würde, seiner Noten ungeachtet.

Seine Eltern waren sehr vermögend – "megareich", wie die anderen Kinder es nannten. Einige Male, als er etwa zwölf war, saß er an dem altmodischen Sekretär, den seine Eltern für sein Schafzimmer gekauft hatten, und versuchte auszurechnen, wieviel Geld er bekommen würde, wenn seine Eltern starben. Grundlage seiner Kalkulationen waren einige finanzielle Unterlagen, die er aus dem Arbeitszimmer seines Vaters gestohlen hatte. Die Unterlagen waren verwirrend und unvollständig, aber wenn er auch nicht zu einem genauen Ergebnis gelangen konnte, war Skip klar, daß er eines Tages ziemlich reich sein würde.

Und doch hatte Skip ein Problem: Meistens langweilte er sich. Die Zerstreuungen, denen er nachging, selbst die Mädchen, selbst das Foppen der Lehrer, selbst die Gedanken an sein Geld, konnten ihn nicht länger als vielleicht eine halbe Stunde am Stück beschäftigen. Das Familienvermögen schien den größten Unterhaltungswert zu versprechen, aber es war noch nicht unter seiner Kontrolle – er war schließlich noch ein Kind. Nein, der einzige wirkliche Ausweg aus der Langeweile war der Spaß, den er in Virginia haben konnte.

Die Ferien waren gute Zeiten. In jenem ersten Sommer, als er acht war, hatte er einfach die Ochsenfrösche mit einer Schere abgestochen, mangels einer anderen Methode. Er hatte herausgefunden, daß er die Frösche an den morastigen Ufern des Sees ganz einfach mit einem Kescher aus dem Angelschuppen einfangen konnte. Er pflegte sie auf den Rücken zu drehen und festzuhalten, stach in ihre hervorstehenden Bäuche und drehte sie dann wieder um, damit er zusehen konnte, wie ihre blöden, glitschigen Augen abstarben, während sie verbluteten. Dann schleuderte er die Kadaver so weit wie möglich hinaus auf den See und kreischte ihnen nach, "Pech gehabt, du blödes kleines Arschgesicht!"

Es gab so viele Frösche an dem See. Er konnte Stunden damit verbringen, sie abzumurksen, und trotzdem schienen Aberhunderte für den nächsten Tag übrig zu bleiben. Aber bis zum Ende jenes ersten Sommers hatte Skip beschlossen, daß er es noch besser machen könnte. Es wäre großartig, wenn er sie in die Luft sprengen könnte; er brauchte etwas, womit er die fetten kleinen Kröten explodieren lassen konnte, und so entwickelte er einen prima Plan. Zu Hause kannte er jede Menge älterer Jungs, und er wußte, daß einer von ihnen immer im April in den Frühjahrsferien mit seiner Familie nach South Carolina fuhr. Skip hatte gehört, daß in South Carolina Feuerwerkskörper verkauft werden und daß man leicht an sie herankommen konnte. Motiviert durch ein kleines Schmiergeld von Skip sollte ihm sein Freund Tim dort Knallkörper besorgen und am Boden seines Koffers zurück nach Hause schmuggeln. Tim hatte Angst, das zu machen, aber mit aufmunterndem Zuspruch von Skip und genug Bestechungsgeld willigte er schließlich ein. Im darauffolgenden Sommer würde Skip keine Schere, sondern Knallkörper haben!

Bargeld im Haus zu finden war kein Problem, und der Plan klappte bestens. Im April besorgte er zweihundert Dollar für eine Sortimentspackung Knallkörper namens "Star-Spangled Banner", für die er eine Anzeige in einer Waffenzeitschrift gesehen hatte, und weitere hundert Dollar, um Tim das Geschäft schmackhaft zu machen. Als Skip endlich die Packung in Händen hielt, fand er sie großartig. Er hatte "Star-Spangled Banner" ausgesucht, weil sie die größte Anzahl an Knallern enthielt, die klein genug waren, um (fast) in das Maul eines Ochsenfrosches zu passen. Die Packung enthielt winzige Sprühkerzen und einige "Lady Fingers" – das waren schlanke, kleine, rote Böller – und einen Batzen Ein-Zoll-Böller namens "Wizards" und seine Favoriten: einige Zwei-Zoll-Böller in einer Schachtel, die sich mit der Bezeichnung "Mortal Destruction" und einem Totenschädel schmückte.

Im Sommer steckte er dann die Knallkörper, einen nach dem anderen, in die Mäuler gefangengenommener Frösche, zündete sie an und warf die Frösche über dem See hoch in die Luft. Oder manchmal setzte er einen Frosch mit entzündeter Lunte auf den Boden, lief ein Stück weg und beobachtete aus einiger Entfernung, wie das Tier am Boden explodierte. Die Vorstellung war prächtig – Blut, Gekröse und Blitze, manchmal ein lauter Knall und diese bunten, blumigen Formen. So wundervoll waren die Ergebnisse, daß er sich bald nach einem Publikum für sein geniales Werk sehnte. Eines Nachmittags lockte er seine sechsjährige Schwester Claire hinunter an den See, ließ sich von ihr helfen, einen Frosch zu fangen und ließ ihn dann vor ihren Augen in der Luft explodieren. Claire fing an, hysterisch zu schreien und rannte zurück zum Haus, so schnell sie konnte.

Das imposante "Ferienhaus" der Familie stand etwa einen Kilometer vom See entfernt hinter einer beschaulichen Gruppe von 30 Meter hohen Schierlingstannen. Die Entfernung war nicht so groß, daß Skips Eltern nicht den Lärm der Explosionen hätten hören können, und sie dachten, er würde am See Feuerwerkskörper zünden. Aber es war ihnen schon lange klargeworden, daß er kein Kind war, das man hätte disziplinieren können und daß sie sehr sorgfältig abwägen mußten, welche Auseinandersetzungen sie austragen wollten. Die Sache mit den Knallkörpern gehörte nicht dazu, selbst dann nicht, als die sechsjährige Claire ins Haus gerannt kam und ihrer Mutter erzählte, daß der gute Skip Frösche in die Luft jagte. Skips Mutter stellte den Plattenspieler in der Bibliothek auf volle Lautstärke und Claire versuchte, ihre Katze Emily in Sicherheit zu bringen.

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