Auszüge aus Wilhelm Reich's
"Äther, Gott und Teufel"

Zur Einführung in die Werkstätte des orgonomischen Funktionalismus

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Die Werkstätte des orgonomischen Funktionalismus

Die kosmische Orgonenergie wurde infolge konsequenter Anwendung der funktionellen Denktechnik entdeckt. Es waren methodisch streng kontrollierte Denkakte, die von einer Tatsache zur anderen hinführten, über eine Zeitspanne von etwa 25 Jahren scheinbar weitab voneinander liegende Tatsachen zu dem einheitlichen Bilde der Naturfunktion verwoben, das heute, 1947, als noch unfertiges Lehrgebäude der Orgonomie dem Urteil der Welt überlassen ist. Es ist daher notwendig, die "Funktionelle Denktechnik" zu beschreiben.

Es ist vorteilhaft, den ernsten Studenten der Naturwissenschaft nicht nur das Ergebnis sehen zu lassen, sondern ihn auch in die Geheimnisse der Werkstätte einzuweihen, in der das Produkt sich mit mühevoller Anstrengung formt. Ich betrachte es als einen Fehler im wissenschaftlichen Verkehr, daß meist nur die schön polierten und einwandfreien Ergebnisse der Naturforschung wie in einer Kunstausstellung vorgeführt werden. Eine Schaustellung der fertigen Produkte allein enthält viele Nachteile und Gefahren, sowohl für ihren Schöpfer wie für ihre Nutznießer. Der Schöpfer des Produkts wird leicht allzusehr darauf bedacht sein, Vollkommenheit und Fehlerfreiheit zu demonstrieren, dagegen die Lücken, Unsicherheiten und disharmonischen Widersprüche in der Naturerkenntnis zu verbergen. Dadurch schädigt er den Sinn für den wirklichen Prozeß der Naturforschung. Der Genießer des Produkts wird keinen Sinn für die Härte und Strenge der Anforderungen haben, die an den Naturforscher gestellt sind, wenn er Rätsel der Natur brauchbar enthüllen und beschreiben soll. Er wird es nie lernen, selbst mitzudenken und mitzusorgen. Die wenigsten Autofahrer haben eine korrekte Vorstellung von der Fülle menschlicher Anstrengung, von der Konipliziertheit der Denkakte und der Handgriffe, die zur Herstellung eines Automobils notwendig sind. Es sähe in unserer Welt besser aus, wenn die Nutznießer der Arbeit mehr über den Prozeß der Arbeit und das Erlebnis des Arbeitenden wüßten; wenn sie die Arbeitsfrüchte anderer nicht so sorglos pflückten.

Die Darstellungen eines Stücks der Werkstättenarbeit ist im Falle der Orgonomie besonders geboten. Die größte Schwierigkeit, die Orgontheorie zu begreifen, ist die, daß die Entdeckung des Orgons zu viele und zu große Probleme auf einmal gelöst hat: das biologische Fundament der seelischen Erkrankungen, die Biogenese und damit die Krebsbiopathie, den Äther, die kosmische Sehnsucht der Menschentiere, eine neue physikalische Energie u.s.f. Es war immer zu viel, was sich in der Werkstätte abspielte und darbot: Ein Zuviel an Tatsachen, neuen Zusammenhängen, Korrekturen alter und unrichtiger Anschauungen, an Verbindungen der verschiedenen Zweige der naturwissenschaftlichen Spezialforschung. Demzufolge hatte ich mich oft gegen den Vorwurf zu verteidigen, daß ich mich wissenschaftlich nicht beschränkte, daß ich "zu viel auf einmal" unternommen hätte. Ich habe nicht zu viel auf einmal unternommen, und ich war nicht wissenschaftlich unbescheiden. Das Zuviel ist von niemandem so schmerzlich empfunden worden wie von mir selbst. Ich bin nicht den Tatsachen nachgegangen, sondern die Tatsachen und Zusammenhänge strömten mir in Überfülle zu. Ich hatte Mühe, ihnen aufmerksam zu begegnen und sie säuberlich zu ordnen. Viele, sehr viele Tatsachen von großer Bedeutung gingen dabei verloren, andere blieben unverstanden. Doch das Wesentliche und Grundsätzliche an der Entdeckung der kosmischen Energie scheint mir gesichert und so weit brauchbar geordnet zu sein, daß andere fortfahren können, am Gerüst zu bauen, das ich nicht vollenden konnte. Die Fülle der neuen Tatsachen und der Zusammenhänge, besonders der Beziehungen des Menschentiers zu seinem Universum, läßt sich auf eine sehr einfache Weise erklären:

Hat Kolumbus New York entdeckt oder Chikago, die Fischereien in Maine, die Plantagen im Süden, die großen Wasserwerke oder die Naturschätze an der Westküste Amerikas? Er hat all dies nicht entdeckt, nicht gebaut, nicht im Detail erarbeitet. Er hat nur ein Stück Meeresküste entdeckt, das bis zu dem Zeitpunkt dem europäischen Menschen unbekannt war. Die Entdeckung des Küstenstriches am atlantischen Ozean war der Schlüssel zu allem, was im Verlaufe weniger Jahrhunderte "Nordamerika" geworden ist. Kolumbus‘ Leistung bestand nicht in der Konstruktion Amerikas, sondern in der Überwindung scheinbar unverrückbarer Vorurteile und Schwierigkeiten, die sich ihm in den Weg stellten, in der Vorbereitung seiner Seefahrt, in ihrer Durchführung, in der Landung an fremden, gefährlichen Gestaden.

Die Entdeckung der kosmischen Energie erfolgte in ähnlicher Weise. Ich habe in Wirklichkeit nur eine einzige Entdeckung gemacht: Die Funktion der orgastischen Plasmazuckung. Sie stellt den Küstenstrich dar, von dem aus sich alles weitere ergab. Die Überwindung des menschlichen Vorurteils, sich mit der biophysikalischen Emotion zu befassen, die ihn am tiefsten und nachteiligsten bewegt, war weit schwieriger als die im Vergleich dazu einfache Beobachtung der Bione oder die ebenso einfache und selbstverständliche Tatsache, daß die Krebsbiopathie auf allgemeiner Schrumpfung und Fäulnis des Lebensapparats beruht.

"Was ist das Schwerste von allem? Was dir das Leichteste dünket: Mit den Augen zu sehen, was vor den Augen dir liegt", sagte Goethe.

Als erstaunlich erschien mir stets nicht, daß das Orgon existiert und funktioniert, sondern daß man es im Verlaufe von 20 Jahrhunderten so gründlich übersah oder wegdisputierte, wo es von einzelnen lebensnahen Forschern gesichtet und beschrieben wurde. In einer Hinsicht unterschied sich die Entdeckung des Orgons von der Entdeckung Amerikas: Die Orgonenergie funktioniert in jedem Menschen und vor aller Augen. Amerika mußte erst aufgefunden werden.

Ein sehr wesentliches und umfassendes Stück meiner Werkstättenarbeit bestand darin, daß ich nun zu begreifen hatte, weshalb die Menschen im allgemeinen und die Naturforscher im besonderen vor der so grundsätzlichen Erscheinung der orgastischen Zuckung zurückschrecken. Ein weiteres Stück Werkstättenarbeit, die mit viel Schmutz, Staub und Abfallspänen einherging, bestand darin, den bitteren Haß zu merken, zu spüren, zu begreifen und zu überstehen, der sich meiner Orgasmusforschung überall bei Freund und Feind in den Weg stellte. Ich glaube bestimmt, daß die Biogenese, die Ätherfrage, die Lebensfunktion und die "menschliche Natur" längst von vielen wissenschaftlichen Arbeitern erobert worden wären, wenn diese Kernfragen der Naturwissenschaft nicht nur einen Zugang gehabt hätten: den über das Problem der orgastischen Plasmazuckung.

Als es mir gelang, mich trotz aller Hindernisse und Anfeindungen auf dieses eine Problem drei Jahrzehnte lang zu konzentrieren, es zu bewältigen, mich daran als einer fundamentalen Naturfunktion zu orientieren, begann ich zu merken, daß ich den Denkrahmen der bestehenden menschlichen Charakterstruktur und damit der Zivilisation der letzten 5000 Jahre überschritten hatte. Ich befand mich, ohne es zu wollen, außerhalb ihrer Grenzen. Deshalb hatte ich zu gewärtigen, daß man mich nicht begreifen würde, auch wenn ich die einfachsten und leichtest zu kontrollierenden Tatsachen und Beziehungen vorbringen würde. Ich fand mich in einen neuen, andersartigen Denkbereich hineingestellt, den ich erst zu ergründen hatte, ehe ich weitergehen konnte. Diese Orientierung im neuen, funktionellen Denkbereich im Gegensatz zum mechanisch-mystischen der patriarchalischen Zivilisation nahm etwa 14 Jahre in Anspruch, von etwa 1932 bis zur Niederschrift dieser Abhandlung 1946/47.

Gegen meine Schriften wird oft der Vorwurf erhoben, daß sie viel zu konzentriert seien und daher den Leser zu angestrengtem Nachdenken zwingen. Man möchte, so heißt es, ein wichtiges Buch in der gleichen Weise genießen wie man, in einem bequemen Wagen langsam kreuz und quer reisend, eine schöne Landschaft genießt. Man möchte nicht in rasendem Tempo in gerader Linie auf ein bestimmtes Ziel zueilen.

Ich gebe zu, daß ich Die Funktion des Orgasmus auf 1000 statt auf 300 Seiten und die Orgontherapie der Krebsbiopathie auf 500 statt auf 100 Seiten hätte darstellen können. Ich gebe weiter zu, daß ich mir niemals die Mühe nahm, die Leser meiner Schriften mit der Denk- und Forschungsmethode gründlich vertraut zu machen, die den Ergebnissen der Orgonomie zugrundeliegen. Das hat sicher viel Schaden gestiftet. Ich kann zu meiner Entschuldigung anführen, daß ich mehrere wissenschaftliche Gebiete im Laufe der Jahrzehnte erschlossen habe, die ich zunächst in knapper übersichtlicher Form darstellen mußte, um Schritt mit der Entwicklung meiner Forschung zu halten. Ich weiß, daß ich nicht mehr als Gerüste und Fundamente gebaut habe, daß an vielen Stellen am Gebäude Fenster, Türen und wichtige innere Einrichtungen fehlen, daß es also noch keinen behaglichen Aufenthaltsort darbietet.

Ich bitte darum, den Pioniercharakter dieser so grundsätzlich andersartigen Forschung als Entschuldigung gelten zu lassen. Ich mußte meine wissenschaftlichen Schätze rasch sammeln, wo immer und wie immer ich sie vorfand; dies geschah in den kurzen Perioden zwischen sechs Wechseln meines Wohnorts, die teils durch "friedliche", teils aber durch höchst rabiate soziale Umstände aufgezwungen wurden. Ich mußte ferner meinen Lebensunterhalt immerfort neu aufbauen, erst 1930 in Deutschland, dann 1933 in Kopenhagen, 1934 in Schweden und im selben Jahre in Norwegen, 1939 wieder in Amerika. Zurückblickend frage ich mich, wie es möglich war, daß es überhaupt gelang, das Wesentliche zu schaffen. Ich lebte und wirkte fast zwei Jahrzehnte lang zwischen Tür und Angel sozusagen. All dies zusammengenommen machte eine behagliche Atmosphäre unmöglich; und ohne behagliche und gesicherte akademische Atmosphäre ist es nicht möglich, behaglich breite Darstellungen von Entdeckungen zu geben. Den anderen Vorwurf, ich hätte das Publikum durch das Wort "Orgasmus" im Titel eines Buches unnötig provoziert, muß ich zurückweisen. Es besteht nicht der geringste Grund, sich dieser Funktion zu schämen. Wer sich darüber entrüstet, braucht ja nicht weiterzulesen. Wir anderen aber wollen uns keine Grenzen in der wissenschaftlichen Forschung diktieren lassen.

Als ich an die Niederschrift des vorliegenden Buches ging, nahm ich mir vor, nachzuholen, was ich an Breite und Behaglichkeit der Darstellung mir selbst und anderen so lange hatte vorenthalten müssen. Ich hoffe, mich wird nun der Vorwurf verschonen, daß ich meine Forschung "zu wichtig" genommen hätte, indem ich ihr nun "so viel" Raum gebe.

Da alles in der Natur miteinander in der einen oder anderen Weise zusammenhängt, ist das Thema "Orgonomischer Funktionalismus" praktisch unerschöpflich. Es waren im wesentlichen die humanistischen und wissenschaftlichen Leistungen des 19. und des Anfangs des 20. Jahrhunderts, die mit meinen naturwissenschaftlichen Interessen und Studien zu dem lebendigen Ding verschmolzen, das später als "Energetischer Funktionalismus" brauchbare und anwendbare Form annahm. Obgleich die funktionelle Denktechnik hier zum ersten Male systematisch beschrieben wird, wurde sie doch von vielen Forschern mehr oder minder bewußt angewendet, ehe sie die starren Grenzen in der Naturforschung endgültig in Form der Orgonomie überwand. Ich möchte nun die Namen derer nennen, deren Trägern ich besonders viel zu danken habe: De Coster, Dostojewski, Albert Lange, Friedrich Nietzsche, Lewis Morgan, Charles Darwin, Friedrich Engels, Semon, Bergson, Freud, Malinowski. Wenn ich früher sagte, ich hätte mich in einen ,neuen Denkbereich‘ hineingestellt gefunden, so ist das nicht so aufzufassen, als ob der energetische Funktionalismus "fertig" gewesen und auf mich nur gewartet hätte; oder daß ich die Denktechnik von Bergson oder Engels einfach aneignen und auf mein Problemgebiet hätte glatt anwenden können. Die Formung der Denktechnik war selbst ein Stück Arbeit, die im Kampfe meiner praktischen Tätigkeiten als Arzt und Forscher gegen die mechanistischen und die mystischen Deutungen des Lebendigen geleistet werden mußte. Ich habe also nicht etwa eine "neue Philosophie" entwickelt, die neben anderen oder in Zusammenarbeit mit anderen Lebensphilosophien das Lebendige menschlichem Begreifen näherzubringen versuchte, wie manche meiner Freunde glauben. Nein, es liegt überhaupt keine Philosophie vor. Es geht vielmehr um ein Denkwerkzeug, das man gebrauchen lernen muß, wenn man das Lebendige erforschen und handhaben will. Der energetische Funktionalismus ist also kein Luxusgegenstand, den man beliebig tragen oder ablegen kann. Er faßt die Denkgesetze und Wahrnehmungsfunktionen zusammen, die man beherrschen muß, wenn man Kinder und Jugendliche lebenspositiv in diese Welt hineinwachsen lassen will; wenn man das Menschentier wieder in Einklang mit seiner natürlichen Konstitution und mit der umgebenden Natur bringen will. Man kann aus philosophischen oder religiösen Gründen gegen ein solches Ziel sein. Man kann "rein philosophisch" erklären, daß "Einheit von Natur und Kultur" unmöglich, oder schädlich, oder unethisch, oder unwichtig wäre. Aber niemand darf heute mehr auftreten und behaupten, daß die Aufsplitterung des Menschentiers in ein kulturelles und ein privates, in ein offizielles und ein persönliches Wesen, in einen ,Vertreter der höheren Werte‘ und ein ,orgonotisches Energiesystem‘ seine Gesundheit im wahrsten Sinne des Wortes nicht untergrabe, seine Intelligenz nicht schädige, seine Lebensfreude nicht zerstöre, seine Initiative nicht ersticke, seine Gesellschaft nicht immer wieder in Chaos stürze. Der Schutz des Lebendigen fordert das funktionelle Denken (im Gegensatz zu Mechanismus und Mystizismus) als Kompaß dieser Welt, wie der Schutz der Verkehrssicherheit gute Bremsen und tadellos arbeitende Signalapparate fordert.

Ich möchte mich hier zur strengsten wissenschaftlichen Ordnung der Freiheit bekennen. Es ist nicht eine Frage der Philosophie oder Ethik, sondern der Sicherheit des sozialen Funktionierens, ob ein Kind von vier Jahren seine ersten genitalen Erregungen mit oder ohne Angst erlebt. Man kann über die sadistischen und pornographischen Phantasien, die ein pubertierender Junge oder ein reifendes Mädchen unter dem Drucke des Moralismus entwickelt, als Arzt, Erzieher oder sozialer Administrator nur eine und nicht fünf Meinungen habeh. Es ist nicht eine Frage philosophischer Möglichkeiten, sondern sozialer und persönlicher Notwendigeiten, zu verhindern, mit allen Mitteln zu verhindern, daß Tausende Frauen an Gebärmutterkrebs zugrundegehen, weil sie zur Abstinenz erzogen worden waren, weil Tausende Krebsforscher dies nicht wissen wollen oder aus sozialer Angst nicht aussprechen. Es ist eine mörderische Philosophie, die noch immer für die Unterdrückung der natürlichen Lebensfunktionen der Kleinkinder und Jugendlichen eintritt.

Geht man den Ursprüngen und den vielfältigen Verzweigungen der öffentlichen Meinungsbildung besonders in Fragen des persönlichen Lebens der Menschenmassen nach, so gelangt man immer wieder zu uralten, klassischen "Philosophien" über das Leben, den Staat, die absoluten Werte, den Weltgeist, die unbesehen in eine Zeit übernommen werden, die an den Folgen dieser "harmlosen" Philosophien chaotisch entartete; in der das Menschentier seine Orientierung verlor, sein Selbstbewußtsein einbüßte und sein Leben sinnlos verspielte. Es geht also nicht um Philosophien, sondern um praktische, entscheidende Handwerkzeuge zur Formung des menschlichen Lebens; es geht um die Wahl zwischen guten und schlechten Werkzeugen im Aufbau und in der Reorganisation der menschlichen Gesellschaft.

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Das Reich des Teufels

Jede echte Religion enspricht der kosmischen, der "ozeanischen" Erfahrung des Menschen. Jede echte Religion enthält die Erfahrung des Einsseins mit einer allgegenwärtigen Macht und zugleich einer zeitweiligen, schmerzlichen Trennung von dieser Macht. Die ewige Sehnsucht nach Rückkehr zum eigenen Ursprung ("Rückkehr in den Mutterleib"; "Rückkehr in das gute Land, aus dem man kam"; "Rückkehr in die Arme Gottes" usw.) nach dem Wiedereingebettetsein im "Ewigen", durchzieht alle menschliche Sehnsucht. Sie wirkt am Grunde der großartigen intellektuellen und künstlerischen Schöpfungen des Menschen; sie ist im Innern aller Sehnsucht der Jugendzeit; sie beflügelt alle großen gesellschaftlichen Entwürfe. Es scheint so, als strebe der Mensch danach, seine Trennung vom kosmischen Ozean zu begreifen; Vorstellungen wie "Sünde" haben ihren Ursprung in einem Versuch, diese Trennung zu erklären. Es muß einen Grund dafür geben, daß der Mensch nicht mit "Gott" vereint ist; es muß einen Weg geben, diese Vereinigung wieder herzustellen, zurückzukehren, heimzukommen. In diesem Kampf zwischen dem kosmischen Ursprung und der individuellen Existenz des Menschen kam irgendwie die Idee des "Teufels" auf. Es ist das gleiche, ob man "Inferno" oder "Hölle" oder "Hades" sagt.

Die Menschheit hat nichts über den "Äther" im physikalischen Sinne gewußt. Sie hat den Äther als "Gott", "Prana", "Entelechie" usw. wahrgenommen. Ihre Vorstellungen von einer "besseren Zukunft" oder von einem "Paradies" kreisten um den Gedanken einer "Einheit mit Gott". Aber Gott, der im Verständnis des Menschen den Lebensprozeß repräsentierte, war unerreichbar und blieb für immer unzugänglich. Als winziger Bestandteil des kosmischen Orgon-Ozeans konnte das Tier Mensch nicht hoffen, den allumfassenden Schöpfer zu erreichen. Was er tun konnte, war jedoch, auf eine Errettung durch die Auferstehung des Messias zu hoffen, der ihn von seinen Sünden befreien würde und seine Seele wieder mit dem kosmischen Orgon-Ozean ("Nirwana", "Rückkehr zu Gott") vereinen würde. Warum, müssen wir fragen, fühlte sich der Mensch nicht von vorneherein mit seinem Gott vereint? Warum fühlte er sich sündig? Warum war die Erlösung notwendig, wie in der christlichen Religion, oder die strenge Bestrafung, wie in der jüdischen?

Welche Realität liegt der Vorstellung vom "Teufel" und ähnlichen phantastischen Produkten des menschlichen Geistes zugrunde?

Den meisten religiösen Philosophien und wissenschaftlichen Untersuchungen über Religion gelang es nicht, den Teufel zu erklären, weil sie sich innerhalb und niemals außerhalb des Bereiches des herrschenden menschlichen Denkens bewegten. Sie beschrieben oder untersuchten nicht den menschlichen Charakter vom Standpunkt seiner kosmischen Umgebung, sondern sie erklärten im Gegenteil die Welt vom Standpunkt der menschlichen Natur. Entsprechend existierte solch ein Wesen wie der Teufel oder ein anderes schlechtes Wesen als der Gegenspieler zu Gott. Gott war das Gute und der Teufel war das Böse. Gott war unerreichbar, unerkennbar, unverständlich für den menschlichen Geist, aber die Seele des Menschen war in den Klauen des Teufels gefangen. Gott und Teufel waren absolute Gegensätze. Beide Vorstellungen ergaben sich aus gewaltigen Irrtümern. Beide haben ihren Ursprung innerhalb der menschlichen Charakterstruktur. Beide waren sehr große Hindernisse auf dem Weg des Menschen, seine eigene wahre Natur zu verstehen und sich selbst zu erkennen.

Einfache Lebensfunktionen wie die natürlichen Arbeitsbeziehungen zwischen den Menschen blieben unzugänglich. Sie waren in der Tat die Grundlage der menschlichen Existenz, aber der Mensch wußte es nicht. Mehr noch, er verstand es nicht und hielt es für sonderbar, wenn man ihn darauf aufmerksam machte. Andererseits beschäftigte gerade das, was keinerlei Grundlage in der menschlichen Existenz hat, der Politiker, der Ritter, der König, der Vertreter Gottes gegen den Teufel usw., das menschliche Gehirn zu allen Zeiten sehr.

Der arbeitende Mensch trug eine große Verantwortung, wenn er Brücken baute, Züge fuhr oder Kinder erzog. Er hatte diese Verantwortung in jeder Bewegung seines Körpers, aber er war sich ihrer nicht bewußt. Er dachte, daß er ein Niemand sei und daß nur sein Chef, der Richter oder der Polizeichef diejenigen seien, die soziale Verantwortung tragen.

Der arbeitende Mensch sah durch die Jahrtausende die Natur in seinen Kindern wirken. Er sah, daß seine Kinder als kleine Tiere geboren wurden mit Genitalien und natürlichen Bedürfnissen. Aber er verstand es nicht und bestrafte seine Kinder dafür, daß sie Tiere waren. In Wirklichkeit war es Gott, der alles, einschließlich der Genitalien, geschaffen hafte. Offensichtlich wurden Kinder überhaupt nur aufgrund von genitaler Betätigung geboren. Aber andererseits war es schändlich, Genitalien zu haben, irgendwie einer teuflischen Einrichtung zu verdanken; sie zu berühren war eine große Sünde. Über Tausende von Jahren predigte eine äußerst mächtige Organisation, daß Lustempfinden bei der genitalen Vereinigung sündhaft sei. Und der Mensch glaubte es, spürte nicht seinen eigenen Körper, vertraute nicht seinen eigenen Sinnen, ignorierte seinen eigenen Ursprung und verlor den Schlüssel zu seiner Fruchtbarkeit.

Der arbeitende Mensch hielt die ganze Macht in seinen Händen, die er brauchte, um wirklich frei zu sein, aber er war sich dessen nicht bewußt und gab sie an einen Herrn. Jeden einzelnen Krieg in der Geschichte der Menschheit hätte er verhindern können, aber er wußte nicht, daß er es tun konnte. Sein wahres Leben war hier, seine Ideen über sein Leben waren dort. Das, was Leben erst ermöglichte, wurde gering geschätzt: körperliche Arbeit, die Liebe der Jugend, die sexuellen Spiele der Kinder, die Freude am Leben. Das hingegen, was Leben vernichtet, stand in hohen Ehren: Der Kaiser, der Jesuit, der berufsmäßige Mörder (Soldat). Sobald der Mensch etwas Reife in politischen Dingen erlangt hatte, wählte er zwar einen Minister, aber er hatte keine Wahl für oder gegen den Krieg. Der Mensch steckte voller sexueller Neugier und sexuellem Elend; seine Feste, seine Träume und seine Zeitungen barsten vor "Sex". Aber aus seinen Universitäten hatte er das Wissen über die orgastische Plasmazuckung und über das Leben verbannt.

Was hat das alles zu bedeuten? Welcher Sinn liegt in diesem Unsinn? Es muß ein Sinn darin liegen, wie in jeder Art von irrationalem Verhalten. Man kann die menschliche Existenz nicht verbessern, indem man diesen oder jenen für dies oder jenes verantwortlich macht. "Den schwarzen Peter weiterzugeben", wie der Volksmund sagt, nützt nichts. Ich bin anderer Auffassung als meine Freunde, die den gesellschaftlichen Status quo zwar korrekt kritisieren, aber nicht bis zu seinem Grundfaktor vordringen, die gepanzerte, biologisch zerspaltene menschliche Struktur, die diesen Status quo laufend produziert.

Selbst auf das Risiko hin, "einseitig" oder "fanatisch aggressiv" zu erscheinen, wage ich die Behauptung, daß die meisten Philosophien über das menschliche Elend das Wesentliche umgehen. Darüber hinaus wage ich zu behaupten, daß jeder einzelne lebende oder noch ungeborene Mensch genau weiß bzw. wissen wird, woher das ganze Elend stammt. Ebenso wie ein amerikanischer Farmer meint, daß er ein Niemand ist, ein mystischer Wirrkopf von einem Ex-Vizepräsidenten dagegen eine wichtige Person, so kennt auch jeder einzelne Mensch die Wahrheit über sich und seine Welt, aber er hält sich selbst gleichzeitig für unwichtig.

Das Reich des Teufels ist ein Teufelskreis. Je stärker man sich bemüht hinaus zu gelangen, desto tiefer verstrickt man sich darin. Das ist kein Bonmot [geistreiche Wendung] und kein Witz. Es ist todernst. Der Teufel ist eine wesentliche Funktion des gepanzerten Tiers, des Menschen. Verschaffen wir uns deshalb noch einmal einen Überblick über seine wichtigsten Eigenschaften.

Der gepanzerte Mensch ist vom unmittelbaren Kontakt mit der Natur, den Menschen und den Prozessen abgeschnitten. Deshalb entwickelt er einen Ersatzkontakt, der grundsätzlich durch einen Mangel an Echtheit charakterisiert wird. Je größer eine Stadt, desto einsamer sind die Einzelnen in ihr.

Jeder Liebesimpuls trifft auf die Barriere des Panzers. Um sich selbst Ausdruck zu verschaffen, muß er die starre Wand gewaltsam durchbrechen; dabei wird er unvermeidlich in Grausamkeit und Haß umgewandelt.

Der ursprüngliche Liebesimpuls wird nur zusammen mit dem späteren Haßimpuls in Erscheinung treten, und zwar als eine allgemeine Haltung von Unentschiedenheit, Ambivalenz, Selbsthaß und Abhängigkeit von allem, was Erlösung von Spannung verspricht.

Der Körperpanzer macht die wesentlichen Organempfindungen unzugänglich und damit auch das echte Gefühl des Wohlbefindens. Das Gefühl für den eigenen Körper geht verloren und damit auch das natürliche Selbstvertrauen. Beides wird gewöhnlich durch unechtes, angeberisches Auftreten und falschen Stolz ersetzt.

Der Verlust der natürlichen Selbstwahrnehmung spaltet die Person weitgehend in zwei gegensätzliche und unvereinbare Teile: Der Körper hier verträgt sich nicht mit der Seele bzw. dem Geist dort. Die "Gehirnfunktion", der "Intellekt" wird vom Rest des Organismus abgespalten; letzterer wird als das "Emotionale" und das "Irrationale" "beherrscht". Was bei all dem besonders übel ist, ist die Tatsache, daß innerhalb des Rahmens der Existenz des gepanzerten Menschen alles ganz korrekt und logisch ist.
Da zwischen dem inneren, natürlichen Kern ("Gott", "Jesus", "das Gute", "Seele" etc.) und der äußeren Erscheinung eine Schicht von Bösartigkeit sitzt, wird die ursprüngliche "Gutheit" abgeschnitten und unzugänglich. Ganz logisch und korrekt werden daher die Gefühle als "schlecht" und der Intellekt als "gut" angesehen. Koexistenz und Zusammenwirken gesunder Emotionen und eines gesunden Intellekts sind undenkbar. Alle Einrichtungen des gepanzerten Menschentiers sind an dieser Dichotomie orientiert. Die Lebensfunktion wird zur mystischen und der "Verstandeskram" zur mechanischen Art der Existenz pervertiert. Die "schlechten" Instinkte werden durch die "gute" Moral in Schach gehalten. Dies ist wiederum völlig logisch und korrekt innerhalb des gegebenen Denkrahmens. Diejenigen, die lediglich die moralistische Struktur unserer Gesellschaft verfluchen, ohne die Logik in ihr zu sehen und zu verstehen, würden kläglich scheitern, wenn sie in die Lage kämen, die Leitung der Gesellschaft und der Menschenmassen zu übernehmen. Die schlechten Instinkte werden unter dem Oberbegriff Teufel, die moralischen Forderungen unter dem Oberbegriff Gott zusammengefaßt. Somit bekämpft Gott den Teufel, und der Teufel versucht ständig, den armen Menschen zur Sünde gegen Gott zu verführen.

Abgesehen von der Unzahl von Krankheiten, die er verursacht, macht der Prozeß der frühkindlichen Panzerung jede Lebensäußerung kantig, mechanisch und starr sowie unfähig zur Veränderung und Anpassung an die lebendigen Funktionen und Prozesse. Die Organempfindungen, die der Selbstwahrnehmung unzugänglich geworden sind, bilden dann die Grundlage aller möglichen Ideensysteme, die sich um das "Übernatürliche" drehen. Auch das ist auf tragische Weise logisch. Das Leben ist außer Reichweite, "transzendental". Damit wird es zum Zentrum des religiösen Verlangens nach dem Erretter, dem Heiland, dem "Jenseits". Genauso wie die Organempfindungen unzugänglich geworden sind, ist auch die intellektuelle Fähigkeit, das Lebendige zu erfassen, blockiert. Mehr noch, da die abgekapselte Lebenssphäre sich dadurch äußert, daß sie mit Angst reagiert, wann immer die Selbstwahrnehmung die starre Barriere zu durchbrechen versucht, erhält die Sehnsucht nach dem "Jenseits" bald zwei Verbündete: der eine ist die Brutalität, die aus dem ständigen Bemühen herrührt, die Starrheit des Organismus zu durchbrechen, der zweite ist der tiefsitzende Schrecken, den man als Todesangst erfährt, wann immer man an das "verlorene Paradies" erinnert wird. Deshalb ist es wiederum ganz logisch, daß der gepanzerte homo normalis Mystizismus, Brutalität und Angst vor den natürlichen Lebensfunktionen, besonders vor der Funktion des Orgasmus, miteinander verschmilzt. Die Ideen des "Absoluten", des "Ewigen" und der "Sünde" entspringen auch dieser bereits zuvor diskutierten Persönlichkeitsspaltung. Das "Absolute" spiegelt die Starrheit wider, die Idee des "Jenseits" die Unzugänglichkeit des biologischen Kerns; die Brutalität ist ein Ausdruck des dauernden Ausbruchsversuches; und die tiefsitzende Lebensangst zeigt, daß der gepanzerte Mensch unfähig geworden ist, in der sich natürlich selbstregulierenden Art des genitalen Charakters zu funktionieren.

Wir können die soziale Verankerung dieser Spaltung die gesamte geschriebene Geschichte der Menschheit hindurch verfolgen, durch ihre Religionen, ihre Moralsysteme, ihr ewiges Schwanken zwischen Gesetz und Verbrechen, zwischen absoluter Autorität und Unverantwortlichkeit der arbeitenden Volksmassen.

Wer feststellt, daß unsere Kultur (und jede in dieser Hinsicht vergleichbare Kultur), die sich aus dieser Struktur des Menschen und seiner Gesellschaft entwickelt, hat, sich im Zerfall befindet, wird mir ohne Zögern beipflichten, daß keine Schuld- oder Moral-Ideologie jemals den tragischen Widerspruch in der menschlichen Existenz lösen wird. Man kann den Teufelskreis nicht durchbrechen, indem man einen seiner zwei Bestandteile verstärkt. Wenn man die Moral zu stärken versucht, werden Perversionen und Brutalität zunehmen. Wenn man die Brutalität zur Überwindung der Moral einsetzt, wird eine stärkere und strengere Moral das Resultat sein, wie im imperialistischen Rußland des 20. Jahrhunderts.

Um aus dem Teufelskreis, in dem sich der Mensch gefangen findet, auszubrechen, ist es notwendig:

1.  Sowohl das Rationale und Brauchbare als auch das Unnütze im Irrationalen innerhalb (und nur innerhalb) des gegebenen Rahmens des Lebens und Denkens zu verstehen und zu akzeptieren. Ohne ein solches Verstehen wird jeder Versuch zur Verbesserung des menschlichen Schicksals zwangsläufig mißlingen und in noch schlechteren Bedingungen enden als denen, die er verbessern wollte.

2.  Mit der Verkündung neuer politischer Programme aufzuhören. Der Mensch ist vor sich selbst stets weggelaufen, seit er sich seines Elends bewußt zu werden und sich nach Freiheit zu sehnen begann; deshalb wurde ein Programm nach dem anderen verkündet, und ein jedes ist elend gescheitert. Der Fehler liegt nicht in den Programmen, sondern im Flüchten vor ihrer echten Verwirklichung. Jede größere religiöse oder soziale Bewegung war in ihren Anfängen rational. Früher oder später aber scheiterte sie stets und degenerierte, indem sie mehr oder weniger Grausamkeit entwickelte. Jede neue Bewegung gab jemand anderem die Schuld am Elend des Menschen. Die Christen beschuldigten die Juden und die Juden beschuldigten die Christen. Die Bourgeoisie beschuldigte die Feudalherren und die Feudalherren beschuldigten das Volk. Das Proletariat beschuldigte die Bourgeoisie und die Bourgeoisie beschuldigte das Proletariat. Es ist höchste Zeit, mit den Beschuldigungen aufzuhören. Es ist an der Zeit, den gemeinsamen Nenner dieser Dauerkatastrophe des verkommenen Denkens zu suchen. Es ist an der Zeit, zu den Ursprüngen all der Versuche zur Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen zurückzukehren. Man wird feststellen, daß diese zahlreichen Bestrebungen in Ideen, Programmen oder politischen Ideologien gar nicht so weit voneinander entfernt liegen, wie diejenigen glauben, die meinen, daß alle anderen schuld sind, nur nicht sie selbst.

Der gemeinsame Nenner allen grausamen Scheiterns ist der Mensch, der sich selbst von seiner eigenen Natur abgeschnitten hat. Was immer er unternehmen mag, muß scheitern, solange er nicht endlich seine eigene biophysikalische Struktur angreift. Und das ist nicht mehr eine Frage der "Politik", sondern eine Frage der Entpanzerung des Menschentiers, eine Frage der Art und Weise, wie unsere neugeborenen Kinder aufwachsen.

In den frühen 20er Jahren hatte die noch in ihren Anfängen steckende sexualökonomische Forschung eindeutig jene natürlichen Funktionen im Kleinkind nachgewiesen, die Selbstregulierung aufrechterhalten. Der Kern ist die biosexuelle Funktion, die sich um die genitale Entwicklung bewegt. Selbstverwaltung im sozialen Bereich ist ganz und gar abhängig von der natürlichen Selbstregulierung in jedem Neugeborenen. Der Mensch ist immer wieder vor dieser einfachen, klaren und entscheidenden Tatsache weggelaufen – in den künstlichen Rahmen der experimentellen Psychologie, in die "kulturelle Anpassung" der Psychoanalyse, in den Klassenschwindel der sozialen Massenbewegung.

Alexander Neill hat in jahrzehntelanger Arbeit den praktischen Nachweis für meine Ansicht erbracht, daß eine natürliche, selbstregulierende Entwicklung von Kindern möglich ist. Bronislaw Malinowski hat die gleiche Ansicht durch seine Studien der Gesellschaft der Trobriander erhärtet. Die Funktion der Selbstregulierung ist nicht länger das Problem. Das Hauptproblem ist jetzt – und für lange Zeit –, wie man dieses natürliche Heranwachsen der Kinder gegen eine öffentliche Meinung schützt, die der homo normalis bestimmt, dieses gepanzerte, starre, leblose, ängstliche und hoffnungslose Tier.
Es ist klar, daß der Mensch aufhören muß, vor sich selbst, vor seinen eigenen Programmen, Absichten und Fähigkeiten wegzulaufen. Die Leute reden zuviel, schreiben zuviel, machen zuviel Ausflüchte, um ihre eigene innere Leere hinauszuschreien, um die Hauptsache zu umgehen: die Ursache für die große Vermeidungsstrategie, das Flüchten.

3.  Den Denkrahmen des "Absoluten" der ewigen Werte, der Antithese von Gott und Teufel, von gut und böse, von Intellekt und Gefühl, zu verlassen, frische Luft zu atmen und die Dinge gründlich neu zu überdenken. In diesem gründlichen, schmerzlichen Prozeß der Neuorientierung ist es nötig, sich zu verhalten wie ein fähiger Arzt bzw. ein guter Psychiater – nämlich sich freizuhalten vom irrationalen Durcheinander und Chaos der Welt des homo normalis. Wenn man erst einmal seinen Standpunkt außerhalb dieses Holocaust gefunden hat, werden die Dinge einfach: Was vorher bedrückend war, erscheint als krank, was als normal erschien, wird verrückt, z. B. die Vorstellungen von vorehelicher Enthaltsamkeit oder von sexuell unschuldigen Kindern oder von den Schrecken der Angstträume der Kinder.

Außerhalb der vorgegebenen sozialen oder moralischen Struktur zu stehen, ist nicht gleichzusetzen mit Anarchie oder einem bloß negativen Rückzug ins Private. Im Gegenteil, es bedeutet, das Geschehen, die Ideologien, die Parteiprogramme usw. vom Blickwinkel des ungepanzerten Lebens zu betrachten. Von einem solchen Blickwinkel aus wirkt der Senator, der ein Lied vor einer Versammlung singt, um zu zeigen, wie "volkstümlich" und "demokratisch" er ist, und dadurch mehr Stimmen zu erhalten, vollkommen lächerlich. Dasselbe gilt für jenen Mystizisten, der seine Vorliebe für Rußland nicht 1918 entdeckte, als es hart für ein neues Leben kämpfte, sondern im Jahre 1948, nachdem ein grausamer, bösartiger und hinterhältiger Diktator – nennen wir ihn "Iwan der Schreckliche" – 200 Millionen Menschen in äußerstes Elend geführt hatte. Das Problem besteht darin, wie wir unseren Neugeborenen ein neues Leben sichern können gegen die Dummheit aller möglichen "Volksvertreter", die in unverantwortlicher Weise das Paradies auf Erden versprechen, ohne den arbeitenden Menschen die volle Verantwortung für ihre Existenz, soweit sie sie tragen können, aufzubürden; aber auch gegen die Dummheit der Tausende, die diesen zujubeln. Das Problem liegt darin, wie man die Grenzen des heutigen Denkens überschreitet und außerhalb sicher genug bleibt, um das Gebiet überblicken und nach Mitteln und Wegen suchen zu können, den Menschen und seine Gesellschaft an die Prinzipien des Lebens anzupassen und nicht die Prinzipien des Lebens an die Staatsidee eines lästigen, kriminellen und nichtsnutzigen Politikers. Das Problem ist, wie man dieses große Unterfangen schützt gegen alte, frustierte Jungfern, gegen neurotische Spinner in hohen Positionen, gegen rote Faschisten und gegen eigenmächtige Regierungsbeamte, die Dinge "untersuchen", die sie nichts angehen und von denen sie keine Ahnung haben, die damit lebenswichtige Arbeit, wichtig für Millionen von Menschen, für Monate lahmlegen. Das Problem ist, welcher organisatorische Aufwand nötig ist, die Mitglieder der arbeitenden Bevölkerung sich selbst wieder nahe zu bringen, sie von den unzähligen üblen, abstoßenden und zerstörerischen Vorgängen in der Welt der Politik, der unsauberen Geschäfte, der neurotischen Erziehung und feigen Medizin zu befreien; wie man ihnen helfen kann, sich selbst zu regieren, ohne neuen Diktatoren, neuen schrecklichen Politikern, neuen Spinnern oder Ideologen zum Opfer zu fallen. Das sind die Probleme und es gibt noch viele weitere. Deshalb liegt das Problem nicht darin, zu erörtern, was getan werden sollte und könnte; das wäre relativ einfach. Das wahre Problem ist, wie man praktisch beginnt.

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