Horst-Eberhard Richter

Wer nicht leiden will, muß hassen
Zur Epidemie der Gewalt
Mit dem Schwinden der Atomkriegsdrohung, der Beendigung des kalten Krieges, dem Umbruch in Osteuropa und mit der deutschen Vereinigung schien einen Augenblick lang das von Gorbatschow proklamierte Neue Denken zu triumphieren. Es sah so aus, als könnten sich endlich großartige Kräfte für die Gestaltung eines friedlicheren, sozial gerechteren und ökologischen Zusammenlebens entfalten. Andrej Sacharov, ehedem von den Stalinisten verbannt, fortan an der Seite Gorbatschows, war für kurze Zeit die Symbolfigur eines anscheinend unaufhaltsamen humanistischen Aufbruchs. Es folgte der große Rückschlag: militante Nationalismen, eine Vielzahl neuer Kriege,
Ratlosigkeit in der Nord-Süd-Krise, die schleichende, immer bewußter werdende ökologische Katastrophe, in unserem Land die mißglückende Verständigung, schließlich
der Durchbruch eines neuen Rechtsextremismus und einer erschreckenden Jugendgewalt. Die Enttäuschung bildet sich in verschiedenen Reaktionen ab. Eine ist der Rückzug in eine partielle Abstumpfung. In der Fachsprache reden wir von Spaltung oder Ich-Einschränkung. Man kann sich den Prozeß bildhaft als einen Rückzug des Ich vorstellen, das nur noch einen kleinen individuellen Ausschnitt der Welt mit Gefühlen besetzt. Das Interesse begrenzt sich auf die private Lebenssphäre, auf die Selbstbehauptung und das dazu Machbare. Übergreifende gesellschaftliche Probleme, Schreckensnachrichten über Anschläge, Krieg oder Umweltkatastrophen verblassen zu leerer Abstraktheit. Sich darüber aufzuregen wäre ungesund, destabilisierend, also tut man es nicht. Diese Reaktion wurde in West-Deutschland durch einen schon lange sichtbaren Trend erleichtert, den wir durch eine vergleichende Längsschnittstudie nachgewiesen hatten. Als wir von unserem Gießener Zentrum für Psychosomatik aus die Selbsteinschätzung der westdeutschen Erwachsenen seit 1975 mit repräsentativen Erhebungen verfolgten, stießen wir auf einen markanten Rückgang von sozialer Anteilnahme zugunsten einer rücksichtsarmen Ichbezogenheit.
Eine andere Art, die Enttäuschung zu verarbeiten, führt zum Zynismus. Hierbei wird die niederdrückende Stimmung nicht durch Abstumpfung bzw. Spaltung, sondern durch Wendung in Aggressivität entschärft. »Versteck, du Narr, dein blutend Herz in Spott und Hohn!« dichtete Nietzsche. »Kein Zyniker zu sein, ist in der heutigen Zeit geradezu lebensgefährlich«, so Rudolf Augstein zu seinem Interviewer André Müller. »Weil man ohne Zynismus am Leben verzweifeln würde?« Augstein: »Könnte sein. Im Westen hatten viele engagierte Jugendliche von der 68er Rebellion die Befreiung besonderer menschlicher Qualitäten durch Abbau gesellschaftlicher Repression erhofft. Inzwischen haben manche ihr idealisiertes Menschenbild von damals ins Gegenteil verkehrt. Insgeheim schmerzt sie ihr verlorenes Ideal, während sie sich zynisch an denen abreagieren, die unentwegt hoffen. Diese werden dafür gescholten, daß sie jenen die Verdrängung schwermachen. In beiden Landesteilen sind Konvertiten am Werk, die in der Projektion mit der eigenen Vergangenheit zu Gericht gehen – im Grunde ein altbekanntes Phänomen.« Zynismus manifestiert sich in Abstufungen von der milden Verspottung bis zur giftigen Häme. In der sanftesten Form funktioniert er noch eher als Abstumpfungshilfe. Das klingt wie ein autogenes Beschwichtigungstraining: Angst, Entsetzen, Verzweiflung, Trauer können mich nicht mehr erschüttern. Alle diese Regungen sind ohnehin nur flüchtig oder gar unecht. Man trägt sie als Mode, als Masche, denkt an den Effekt. Was Mitscherlich als Trauerarbeit bezeichnet, schrumpft bei Eckhard Henscheid zur bloßen Präsentation einer »bestenfalls törichten Wohlgesinnung, die ›Hitlerbarbarei‹ und/oder die Juden und überhaupt alles zu betrauern«. Während von ergreifenden Gefühlen und moralisch klingenden Bestrebungen geredet werde, stecke hinter den Worten nichts. Es ist nur Falschgeld, sagen Gerhard Henschel und Klaus Bittermann in ihrem hochgelobten
WÖRTERBUCH DES GUTMENSCHEN. Zu ihrem Spottkatalog gehören: Hoffnung, Glaubwürdigkeit, Trauerarbeit, Menschlichkeit, Versöhnung.

Der Gotteskomplex
Horst-Eberhard Richter beschreibt die moderne westliche Zivilisation als psychosoziale Störung. Er analysiert die Flucht aus mittelalterlicher Ohnmacht in den Anspruch auf egozentrische gottgleiche Allmacht. Anhand der Geschichte der neueren Philosophie und zahlreicher soziokultureller Phänomene verfolgt er den Weg des angstgetriebenen Machtwillens und der Krankheit, nicht mehr leiden zu können. Die Überwindung des Gotteskomplexes wird zur Überlebensfrage der Gesellschaft. Das Problem, dem sich dieses Buch widmet, ist seit dessen erstem Erscheinen laufend schärfer hervorgetreten. Im Banne des westlichen Fortschrittsmythos, der den Rang des Menschen in der Welt stetig zu erhöhen verhieß, drohen wir uns selbst und alles Naturleben zu zerstören, wenn wir nicht noch umzudenken vermögen. Die Macht unserer wissenschaftlich-technischen Mittel mißbrauchen wir zur rasch fortschreitenden Umweltzerstörung und zur Anhäufung immer schwerer kontrollierbarer atomarer Vernichtungsarsenale. Diese Gefahren erzeugen wir nicht aus Versehen, aus Achtlosigkeit, vielmehr zielstrebig als Ergebnis unserer verfehlten Grundhaltung zur Welt und unseres Selbstverständnisses. Wir erzeugen sie aus einem zügellosen Bemächtigungsdrang, der uns beherrscht, seitdem wir dereinst unsere Sicherheit in Gott verloren haben. Seit dem Verlust der mittelalterlichen Gotteskindschaft leben wir in einer unergründlichen heillosen Angststimmung, gegen die uns nur ein einziges Rezept eingefallen ist: uns selbst die totale Kontrolle über alle Ursachen und Kräfte aneignen zu wollen, von denen uns je Ungemach drohen könnte. Das Entsetzen vor einer unerträglichen Verlorenheit und Ohnmacht in der Welt ist somit die eigentliche Antriebsenergie, die sich hinter dem Drang nach technischer Allmacht verbirgt. Auf diese Weise haben wir den Sinn für unsere Grenzen verloren. Deshalb legen wir an die Natur selbst dort Hand an, wo wir sie zum eigenen Schutz dringend unangetastet lassen müßten. Deshalb lassen wir – nachdem wir uns schon heute gegenseitig mehrfach atomar auslöschen könnten – immer noch gewaltigere Zerstörungswaffen bauen und fallen der irrwitzigen Idee des amerikanischen Präsidenten anheim, auch noch zur Militarisierung des Weltraums die Mittel zu verschleudern, mit denen wir Hunger und Elend in weiten Teilen der Erde wirklich lindern könnten.

Die Krise der Männlichkeit in der unerwachsenen Gesellschaft
Als Freud 1930 sein berühmtes Werk über DAS UNBEHAGEN IN DER KULTUR schrieb, fürchtete er noch, daß sich die Männer durch das weniger sublimierte Bindungsverlangen der Frauen zu viel von der Energie entziehen lassen könnten, die sie selber für ihre Kulturarbeit nötig hätten. Dabei dachte er vor allem an den Fortschritt der wissenschaftlich-technischen Naturbeherrschung. Vor ihm hatte ja bereits Schopenhauer festgestellt, daß die Frauen zwar den Männern in der Kraft des Mitfühlens und des Mitleids überlegen seien, worin die Tugenden der Gerechtigkeit und der Menschenliebe wurzelten. Aber bedauerlicherweise fehle es den Weibern an Vernunft, an Gewissenhaftigkeit und an der Fähigkeit zu unanschaulichem Denken. Der Gedanke, Weiber das Richteramt verwalten zu sehen, errege z.B. Lachen.
Nun sind Frauen Kanzlerin, Ministerin, Präsidentin des höchsten Gerichtes, erfolgreich in der Spitzenforschung und haben sich emanzipiert, wo immer ihnen die Männer auf ewig voraus zu sein glaubten. Und die Männer? Bereits vor einem halben Jahrhundert hatte der Psychologe C. G. Jung prophezeit: "So wird sich der Mann gezwungen sehen, ein Stück Weiblichkeit zu entwickeln, d.h. psychologisch und erotisch sehend zu werden, um nicht hoffnungslos und knabenhaft bewundernd der vorausgehenden Frau nachlaufen zu müssen, auf die Gefahr hin, von ihr in die Tasche gesteckt zu werden." Aber die Männer haben Jungs Warnung mißachtet. Sie sind hinter den verselbständigten Frauen zurück und in der Illusion steckengeblieben, mit ihren wissenschaftlich-technischen Eroberungen ihre heimlichen Entmännlichungsängste beschwichtigen zu können. Was immer ihr Bemächtigungswille ihnen durch neue Erfindungen an phallisch narzißtischen Triumphen einbrachte, ihre Verunsicherung durch das Aufstreben der Frauen konnte es nicht wettmachen. Immer noch verwechseln sie ihre technischen Prothesen, mit denen sie sich aufrüsten, mit eigener Stärke und vertrauen auf das Anwachsen der künstlichen Intelligenz, ohne in der Verantwortungsreife für deren Gebrauch entsprechend mitzuwachsen.

Moral in Zeiten der Krise
Horst-Eberhard Richter, der Vater der deutschen Friedensbewegung, behandelt die großen Fragen, vor denen wir heute stehen. Nicht andere, sondern wir allein seien schuld an der Finanzkrise und der Klimabedrohung. Und einer ratlosen Politik, so schreibt er, fehlen die moralischen Kräfte, die für soziale Gerechtigkeit und die Zukunftsvorsorge in unserer Gesellschaft unentbehrlich sind. Auch in Europa stiftet Barack Obamas Finanzmarktreform Hoffnung. Doch Horst-Eberhard Richter hat eine klare Botschaft: Kein anderer Weg kann uns aus den Krisen herausführen als das Erstarken eines neuen moralischen Verantwortungsbewußtseins.

Als Einstein nicht mehr weiter wußte
Ein himmlischer Krisengipfel
Sicher nicht ohne Vorbilder („Sofies Welt“ läßt grüßen!), entwirft Richter ein Szenario der besonderen Art. Unter der kundigen Moderation von A. Einstein (alias Richter) kommen ausgewählte Geistesgrößen der Menschheit, wie Freud, Konfuzius, Buddha, Platon, Augustinus, Descartes und Marx, in einer Himmelkonferenz zu einem Krisengipfel zusammen, um sich – als „Selbsthilfegruppe“ – gemeinsam Rechenschaft über ihren Beitrag zur Herausbildung der gegenwärtig sich anbahnenden Katastrophe der Umwelt und der Herzen abzulegen und gleichzeitig – im Sinne einer „Gedankenwerktstatt“ – darüber nachzusinnen, wie die Irdischen vielleicht doch noch aus der Krise herausfinden könnten. Geschickt nach Art der sokratischen Methode läßt Richter die Protagonisten ihre Argumente austauschen, kritisch abwägen und in einem Konsens verdichten, der – hier wieder Richter in Reinkultur! – die kleinen, politisch aktiven Gruppierungen der Zeit zu Hoffnungsträgern für
eine humanere Welt stilisiert. Ein choreographischer und intellektueller Geniestreich, lehrreich und hochmoralisch in einem.