Johann H. Burgess:
"Etikettieren von Geisteskrankheiten "

eine fragwürdige Methode

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Unter den Anhängern der Allgemeinsemantik gilt die weitverbreitete Anwendung von Prinzipien wie "Signalreaktion", "intensionale Einstellung" und "Etikettierung" als allgemein anerkannte Tatsache. Trotzdem bleibt das Ausmaß, in dem diese Prinzipien das Individuum und seine gesellschaftlichen Institutionen beeinflussen, ungewiß und rätselhaft. Das Prinzip des Etikettierens als Sonderfall der Beeinflussung eignet sich vielleicht besser als die anderen Prinzipien für eine genauere Untersuchung, da die Methode des Etikettierens auf jeder gesellschaftlichen Ebene sowohl von Individuen als auch Institutionen angewandt wird.

Etiketten lassen sich nach ihrer typisierenden Verwendung katalogisieren, beispielsweise strafende, irreführende, ergänzende, funktionale, abschätzige usw. Funktionale Etiketten beispielsweise dienen zur Regelung des Verhaltens oder Tuns, etwa wo der Eingang in ein Gebäude ist, wie man Wegweiser liest und Maschinen in Gang setzt usw. Abschätzige Etiketten sind solche, die einen Menschen brandmarken und gesellschaftlich verfemen, etwa wie "Kommunist", "Verbrecher", "Geisteskranker" usw. Solche Etiketten bewirken eine feststehende Identifikations- und Verhaltensreaktion sowohl bei dem, der sie anwendet, als auch bei dem, auf den sie sich richten.

Viele Forscher auf dem Gebiet der geistigen Gesundheit haben tatsächlich erkannt, daß dieses Etikettieren eine immer größere Rolle beim Problem der geistigen Gesundheit spielt. Auch hier ist es unklar, in welchem Ausmaß das Etikettieren selbst an der Entstehung, Verschärfung und Fortdauer des Problems der geistigen Gesundheit beteiligt ist.

1 Das diagnostische Etikettieren in der Psychiatrie

Innerhalb des Rahmens der medizinischen Denkweise wird das diagnostische Etikettieren als wissenschaftlicher Vorgang des Einordnens angesehen. Das psychiatrische Etikettieren besteht darin, daß man jede einzelne Situationsklasse erkennt. In seiner Berufsausbildung lernt der Psychiater auf verbaler Ebene in Vorlesungen und bei der Lektüre, wie krankhafte Störungen klassifiziert, behandelt und erkannt werden. Zunächst übersetzt er in Worte, was er sieht; dann erkennt er in den Worten die Erkrankungen, die er beim Patienten beobachtet, und er lernt, welche Reize mit den erlernten Worten assoziiert werden müssen. Bei diesem Etikettieren wird eine der Diagnose entsprechende Behandlung oder Rezeptur in Übereinstimmung mit der medizinischen Betrachtungsweise vorgenommen.

Bei dieser diagnostischen Etikettierung hat sich zwischen verschiedenen Psychiatern und Diagnostikern eine Übereinstimmung nur auf der allgemeinen Ebene abstrakter Kategorien wie Psychose oder organische Erkrankungen ergeben. Dieser Mangel an Übereinstimmung, zusammen mit der logischen Folgerung der Ungeeignetheit medizinischer Modellvorstellungen bei der geistigen Gesundheit, erweckt natürlich erhebliche Zweifel an dem Wert der medizinischen Einstellung sowie der wissenschaftlichen Gültigkeit solchen Etikettierens.

Auf dem Gebiet der geistigen Gesundheit wird das Etikettieren immer mehr in Frage gestellt, weil die Wahl der richtigen Pille oder der richtigen Behandlung im Sinne der Diagnose nur dann als angemessen gilt, wenn das Krankheitsmodell gültig ist. Und doch bleibt die Macht des Etikettierens auf dem Gebiete der geistigen Gesundheit bestehen, und die Praxis stellt sich äußerst langsam auf neue Einsichten um, weil sie aus dem festgefahrenen Beglaubigungswesen der Spezialisten auf diesem Gebiet nicht herauskommt. Außerdem muß man fragen, ob dieses Etikettieren nicht tatsächlich den Fortschritt bei der Entwicklung neuer und bahnbrechender Methoden hindert, mit denen man den geistesgestörten und gequälten Menschen helfen könnte, die sich in psychiatrische Behandlung begeben.

Haben solche Etikettierungen bei sensitiven Menschen nicht viel eher die Wirkung, daß in ihnen eine Reaktion im Sinne des Etiketts ausgelöst und zu einem Dauerzustand gemacht wird und daß auch die Gesellschaft sich diese Reaktion zu eigen macht? Wir können aber auch fragen, ob das Etikettieren, welches oft ebenso eine Funktion des Etikettierenden wie des Etikettierten ist, nicht ein Hinweis darauf ist, wie weit der Etikettierende durch vorherrschende "Krankheiten" innerhalb der Gesellschaft beeinflußt wird. Es hat den Anschein, daß diese beiden Fragen für die Lösung des Rätsels geistiger Gesundheit von erheblicher Bedeutung sein könnten; es fragt sich nämlich, ob Etiketten der geistigen Gesundheit dienen, oder ob geistige Störungen oft gerade durch den Gebrauch von Etiketten hervorgerufen und zu einem Dauerzustand gemacht werden.

2 Die operationale Macht von Etiketten

Die allgemeine Erfahrung hat gezeigt, daß Menschen dazu neigen, sich nach den auf sie angewandten Etiketten zu richten und danach zu handeln. Der zornige Satz: "Wenn die mich für unehrlich halten, dann werde ich ihnen zeigen, wie unehrlich ich sein kann", oder die stumme Reaktion eines Kindes, das man "dumm" genannt hat, sind häufig beobachtete Reaktionen. Strafende und abwertende Etiketten spiegeln die Wertung durch Einzelne oder durch die Gesellschaft wider, sie drücken dem Opfer ein Schandmal auf und erniedrigen es vor sich selbst, wie Maddox und andere bei der Untersuchung von übergewichtigen oder fetten Menschen gefunden haben.

Die von Merton dargelegte Theorie der "sich selbst erfüllenden Prophezeiung" besagt in ihrem Kern, daß Ängste und Erwartungen als Funktion des gesellschaftlichen Fatalismus, der in unsrer Gesellschaft herrscht, in die Wirklichkeit übertragen werden können. Die Nachprüfung der Einweisungsakten in Heilanstalten hat ergeben, daß der Anstoß zur Einweisung nicht so sehr von Eigenschaften des Eingewiesenen ausgeht, sondern vielmehr von seinen gesellschaftlich-wirtschaftlichen Umständen und von der Kennzeichnung durch Personen, die die Einweisung veranlassen, z.B. "gefährlich", "hilflos", "verweigert Zusammenarbeit" usw.

Dabei bleibt unklar, ob das Verhalten der Person die Erwartungen von andern bestimmt, oder ob deren Erwartungen sein abweichendes, befremdendes Verhalten noch viel stärker beeinflußen. Orne berichtet über ein Experiment, bei dem einer Psychologieklasse gesagt wurde, zum typischen Verhalten hypnotisierter Versuchspersonen gehöre das spontane Heben eines Armes. Als Angehörige der Klasse danach hypnotisiert wurden, hoben sie spontan einen Arm.

Es ist völlig einleuchtend, daß etwas Erwartetes tatsächlich eine Rolle beim Entstehen abnormen Verhalten bei einem Patienten spielt; aber das Ausmaß, in dem das von der Gesellschaft oder sogar vom Diagnostiker Erwartete das abweichende Verhalten formt und verstärkt, kann nur vermutet werden. Peters fand Beweise für ein ausgesprochen intensionalisiertes Denken in einer großen Gruppe von Geisteskrankheiten, die eine deutliche Tendenz zur Reaktion auf Etiketten zeigten. Dadurch wird das Problem der Geisteskrankheit noch mehr erschwert, wo eine abnorme Reaktion gerade bei solchen Personen auftreten könnte, die besonders leicht dazu neigen, auf Etiketten und gesellschaftliche Erwartungen zu reagieren.

Die Praxis des Etikettierens im medizinischen Zusammenhang stellt psychodynamisch-orientierte intrapsychische Konflikte und Entwicklungsfehler in den Mittelpunkt und nicht so sehr das, was der Patient der Gesellschaft schuldig geblieben zu sein glaubt. Dies verleitet den Psychiater in seiner Neigung zum Etikettieren dazu, sein gewohntes Rüstzeug an diagnostischen und organischen Methoden für die Heilung des Patienten zu verwenden, wodurch er vielleicht dessen Probleme weiter verschlimmert, da er fragwürdige Heilmethoden anwendet, die auf dem Etikettierungsvorgang beruhen.

3 Der vielfältige Charakter des Etikettierungsvorgangs

Außer der Kunst des Katalogisierens geistiger Krankheiten, die der Psychiater und Diagnostiker in seiner medizinischen Ausbildung lernt, muß man bei ihm auch mit der Möglichkeit rechnen, daß er in seiner Person auf Wertungen der Gesellschaft reagiert und den herrschenden gesellschaftlichen Strömungen folgt. So hat Goffman erkannt, daß die Symptomatologie der Geisteskrankheiten mehr mit der Struktur der gesellschaftlichen Ordnung als mit der Natur der Geisteskranken zu tun hat.

In einer neueren Untersuchung sind am Adolf-Meyer-Center diagnostische Etiketten untersucht worden, mit denen 210 ältere Geisteskranke belegt wurden, welche im Laufe der fünf Jahrzehnte von 1920 bis 1970 in ein staatliches Krankenhaus aufgenommen wurden. Man kann vermuten, daß jedes Jahrzehnt dem jeweiligen Gesellschafts- und Zeitgeist entsprechend einen anderen Einfluß auf den Etikettierenden gehabt hat. Da es sich durchweg um ältere Patienten handelt, wurde die Aufnahmediagnose natürlich zu einem Zeitpunkt gestellt, als die Patienten in verschiedenem Alter unter dem Zeichen des Jahrzehnts standen, in dem sie aufgenommen wurden. Abgesehen von organischen Diagnosen, die bei Personen über 65 vorherrschten, treten keine größeren Unterschiede im diagnostischen Etikettieren auf, als sie durch das Alter bedingt sind.

Untersucht man den prozentualen Anteil der diagnostischen Etiketten von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, so findet man, daß in den zwanziger und dreißiger Jahren die Diagnose "hebephrenische Schizophrenie" überaus häufig war. Man könnte vermuten, daß die Psychiater eine Hebephrenie (Jugendirresein) bei ihren Patienten aus der verbreiteten Blödheit der "Tollen Zwanziger" und aus dem überkompensierenden Humor der "Müßigen Dreißiger" ableiteten. Das Etikett "Katatonie" verschwand bei Kriegsbeginn in den Vierzigern, ja schon seit den Dreißigern, mit der Veränderung des Zeitgeistes, den man als Ausdruck äußerster Sinnlosigkeit während der großen Wirtschaftsdepression auffassen könnte.

Die Verwendung des Etiketts "Paranoid" erreichte ihrer Höhepunkt in den fünziger Jahren, fast als ob die Psychiater darin die Diagnose der paranoiden Fixierungen der fünfziger Jahre während der Ära des Senators Joe McCarthy erblickt hätten. Das Etikett "Alkoholiker" fehlte praktisch in den Diagnosen der zwanziger und dreißiger Jahre. Man war gewöhnt, den Alkoholismus als moralisches Problem aufzufassen. Ende der vierziger Jahre jedoch fing man an, das Problem als medizinische Frage aufzufassen, die in dem umfassenden Gesetz zur Bekämpfung des Alkohols von 1970 ("Comprehensive Alcohol Abuse and Alcoholic Treatment Act") gipfelte. Demnach trat die Diagnose "Alkoholiker" erstmals in den fünfziger Jahren auf.

Aus Vergleichen dieser Art geht hervor, daß die Praxis des Etikettierens von der Definition der Probleme und dem allgemeinen gesellschaftlichen Klima ebenso entscheidend abhängt wie von der wissenschaftlichen Krankheitslehre.

4 Diagnostisches Etikettieren – wissenschaftlich oder abwertend

Da die Diagnostiker selbst vielleicht auf persönliche Wertvorstellungen, auf herrschende soziokulturelle Mißstände und sogar auf gesellschaftspolitische Konflikte reagieren, wenn sie Geisteskrankheiten diagnostizieren, bleibt der Wert der Diagnose für die Heilung des Patienten fraglich. Nehmen wir eine Analogie aus der Medizin selbst: falls eine Arznei oder eine Behandlungsmethode nachteilige Nebenwirkungen oder sogar schwere Schäden zur Folge hat, wird sie sofort zurückgezogen bzw. aufgegeben. Ihre Anwendung kann verboten werden, und sie verschwindet medizinisch und rechtlich aus der ärztlichen Praxis.

Neuerdings häufen sich Anzeichen dafür, daß vielleicht auch das diagnostische Etikettieren bei Geisteskrankheiten schwere Schäden hervorbringen kann. Solange der Wert der bisher üblichen Diagnosen von Geisteskrankheiten nicht erwiesen ist und Nebenwirkungen großzügig in Kauf genommen werden, sollte man aus ärztlichem Verantwortungsgefühl auch das Etikettieren aufgeben und aus der weiteren Praxis streichen.

Wir müssen ganz energisch neue und funktionsgerechte Alternativen zu den Etikettierungsmethoden im Bereich der Geisteskrankheiten suchen. Den Anfang könnte man in der medizinischen Ausbildung machen, wo man die Psychiater zu größerem Mißtrauen gegen das Etikettieren von Geisteskrankheiten erziehen sollte. Man sollte den Patienten den Rat geben, den ihnen angehängten Etiketten entgegen zu handeln und den etikettierenden Arzt absichtlich zu widerlegen. In der ärztlichen Betreuung von Geisteskranken sollte die medizinische Seite immer mehr zurücktreten. Zum Beispiel sollte abnormes Verhalten nicht rein medizinisch beschrieben werden; so könnten z.B. Halluzinationen als Wahrnehmungsstörung oder etwas ähnliches, jedoch nicht als geistige Erkrankung eingestuft werden.

Der Hinweis auf die Notwendigkeit, mit Kollegen gut auszukommen, könnte das übliche Wichtignehmen von Symptomen ersetzen. Führte man dem Patienten und seinen Angehörigen die Aussicht auf ein erfülltes Leben vor Augen, so könnte man den Blick von der Krankheit oder dem Fehlverhalten ablenken und auf die Erreichung naheliegender sinnvoller Ziele richten. Würde man Verhaltensnormen in verschiedenen Subkulturen, z.B. Promiskuität, Gewalttätigkeit usw., weniger starr definieren, dann könnten wir uns leichter mit Erscheinungen abfinden, die von einem durchschnittlichen Therapeuten auf der Suche nach geeigneten Etiketten als anormal oder krankhaft angesehen werden.

Würde man den Geisteskranken bei bürgerlichen Rechtsgeschäften und bei Straftaten im Besitz seiner bürgerlichen Rechte und Geschäftsfähigkeit belassen, so könnte man sein Verantwortungsgefühl stärken, statt ihn zu ermutigen, in die Rolle des Kranken und Abhängigen zurückzufallen. Würde man mehr die normalen Anpassungsmechanismen anwenden, anstatt sich auf die Verschreibung von verdummenden Medikamenten oder auf mehr oder weniger strafende Eingriffe wie Elektroschock und Gehirnoperationen zu verlassen, dann könnte auch dies die Genesung fördern.

Solange nicht solche Gedanken und Methoden als Alternativen zu den diagnostischen Etikettierungsmethoden sorgfältig bedacht zu werden, lassen sich die unglücklichen Folgen des Etikettierens nicht erkennen. Eine auf breiter experimentieller Basis beruhende Anerkennung von Alternativen, bei denen nur funktionale, nicht abwertende Etiketten verwendet werden, könnte viel dazu beitragen, den Dunst und das Geheimnis aufzuhellen, die das Feld der Geisteskrankheiten und ihre Etiketten vernebeln.

Literatur: John H. Burgess, Das Etikettieren von Geisteskrankheiten – eine fragwürdige Methode in "Wort und Wirklichkeit", Beiträge II zur Allgemeinen Semantik, Hrsg. Günther Schwarz, Darmstadt 1968.

 

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