Niklas Luhmann

geboren am 8. Dezember 1927 in Lüneburg; gestorben am 6. November 1998 in Oerlinghausen) war ein deutscher Soziologe und Gesellschaftstheoretiker. Als wichtigster deutschsprachiger Vertreter der soziologischen Systemtheorie und der Soziokybernetik zählt Luhmann zu den herausragenden Klassikern der Sozialwissenschaften im 20. Jahrhundert.

Der neue Chef

Die bürokratische Verwaltung fordert im Prinzip einen unpersönlichen Arbeitsstil. Die Voraussetzung dafür schafft sie durch Garantie einer Verhaltensordnung, in der hohe Erwartungssicherheit herrscht. Der Alltag ist für den Beamten geregelt. Er kann seine Gefühle daher für sich behalten. Aber es gibt Situationen, in denen diese Rechnung nicht aufgeht. Eine von ihnen tritt unvermeidlich von Zeit zu Zeit ein: Hin und wieder bekommt eine Behörde, eine Abteilung oder Gruppe einen neuen Chef. Der Wechsel des Vorgesetzten gehört zu den wenigen aufregenden Ereignissen im Verwaltungsalltag. Man fühlt die Nervosität auf den Fluren der Ministerien, wenn die Wahlresultate bekanntwerden und ein neues Regime in Aussicht steht. Dann setzt die Arbeit fast aus, weil niemand recht weiß, was zu erwarten ist, und man findet für eine Weile in Gerüchten eine Art Ersatzsicherheit. Wenn ein Abteilungsleiter ausscheidet, ist die Breitenwirkung geringer, aber auch hier wird ein besonderes Interesse lebendig. Nachfolgeprobleme sind bis in die untersten Ränge beliebter Gesprächsstoff. Auf allgemeine Anteilnahme kann zählen und Prestigegewinne ernten, wer im kritischen Moment mehr weiß als die anderen.

Kontingenz und Recht

Welchen Beitrag kann die Soziologie zu einer modernen Theorie des Rechts leisten? Das war eine der zentralen Fragen, mit denen sich der große Soziologe Niklas Luhmann als ausgebildeter Jurist und ehemaliger Verwaltungsbeamter in seinem gesamten wissenschaftlichen Werk wiederholt befaßt hat. Das vermutlich im Jahr 1971 entstandene und nahezu vollständig abgeschlossene Buch Kontingenz und Recht eröffnet nun einen fesselnden Einblick in Luhmanns ersten Versuch einer Antwort. Luhmann zeigt, wie durch die Klärung der bereits hier systemtheoretisch gefaßten Voraussetzungen einer Soziologie des Rechts eine großangelegte Uminterpretation etablierter Probleme der Rechtswissenschaft möglich wird. Im Mittelpunkt dieses ambitionierten Unternehmens steht der Begriff der Kontingenz, das Faktum alternativer Möglichkeiten im gesellschaftlichen Verkehr und die sich daraus ergebende Unsicherheit der Erwartungsbildung, die das Recht nötig machen. Die Produktivität des Rechts sieht eine systemtheoretische Rechtstheorie nun nicht mehr in der Bekämpfung von Unrecht, sondern in Generalisierungsleistungen, die Recht/Unrecht-Konstellationen von höherer Komplexität und damit eine komplexere gesellschaftliche Wirklichkeit koordinierbar machen. Die Funktion des Rechts liegt aus dieser Perspektive in der kontrafaktischen Stabilisierung von Erwartungserwartungen. Kontingenz und Recht zeigt Luhmann durch seine vielfältigen Bezugnahmen nicht nur auf der Höhe der rechtstheoretischen Diskussion seiner Zeit, sondern veranschaulicht auch den heuristischen Wert seines von der Rechtsdogmatik abstrahierenden Zugriffs mittels einer kontingenztheoretischen Perspektive.

Macht im System

Niklas Luhmann hat bekanntlich eine allgemein ansetzende Theorie der Macht entworfen, die zeigt, wie sehr Machtlagen von Gesellschaftsstrukturen und insbesondere von Differenzierungsformen abhängen und sich mit ihnen ändern. Macht im System entstand in den späten 1960er Jahren und zeugt von der Bedeutung des Themas im Frühwerk Luhmanns. Anders als in späteren Fassungen seiner Machttheorie argumentiert er hier eher systemtheoretisch als kommunikationstheoretisch. Macht im System ist somit auch ein aufschlußreiches Dokument der Systemtheorie im Werden.

Macht

Es gibt zahlreiche, widerspruchsreiche Versuche, das Phänomen der Macht auf einen theoretisch und empirisch erfolgreichen Begriff zu bringen. Angesichts dieser Lage kann eine Theorie der Macht sich nicht mit einer beschreibenden Deutung, mit einer Wesensanalyse begnügen, die mehr oder weniger voraussetzt, was sie als Resultat herausholt. Auch Versuche, den Begriff an sich selbst zu analysieren und in seine verschiedenen Bedeutungen auseinanderzulegen, führen nicht weiter – es sei denn zu Vorsicht und schließlich zu Resignation. Man wird unter diesen Umständen nicht punktuell vorgehen können, je schon voraussetzend, was Macht ist, sondern muß allgemeinere Konzepte zu benutzen versuchen, die auch sonst Verwendung finden, die dem Transfer bereits bewährter Fragestellungen und Begriffsbildungen dienen, Vergleiche ermöglichen und Anschlußforschungen in anderen Sachbereichen vermitteln. Sucht man nach Angeboten dieser Art, so findet man zunächst die Vorstellung, Macht sei ein Bewirken von Wirkungen gegen möglichen Widerstand, sozusagen Kausalität unter ungünstigen Umständen; sowie neuerdings tausch- und spieltheoretische Konzepte, die die kalkulatorische Seite eines immer noch kausal begriffenen, aber alternativenreichen Prozesses herausstellen1. Deren Analyse kann verschiedene Wege gehen.

Politische Soziologie

Der Band bietet ein spektakuläres Stück aus Niklas Luhmanns Nachlaß: eine umfassende Darstellung seiner politischen Soziologie. Er zeigt, wie Luhmann zu der Zeit, als er Adorno in Frankfurt vertritt, eine Theorie der Politik formuliert, an deren Grundzügen er auch später festhalten wird. Zu den Themen zählen die Bedeutung des Publikums für Verwaltung und Politik sowie die politischen Systeme in den sozialistisch regierten Ländern. Er bietet somit thematisch Neues, ohne methodisch hinter dem Stand der späteren Schriften zu bleiben. Die beste verfügbare Einführung in Luhmanns politische Soziologie.

Vertrauen

Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität
Ob man der Soziologie raten sollte, Worte des täglichen Sprachgebrauchs und Begriffe der traditionellen ethischen Vorstellungswelt zu verwenden, ist ernsthafter Überlegung wert. Bei einer solchen Umrüstung moralischer in soziologische Begriffe scheinen zunächst Vorteile und Nachteile sich die Waage zu halten; sie lassen sich aber weitgehend trennen. Bleibt man auf der Ebene der kritischen Zersetzung und überraschender Verfremdung, der Ideologieentlarvung durch kausale Erklärung oder des Nachweises heimlicher Nebenzwecke stehen, überwiegen die Nachteile. Die Identität des benutzten Wortes wird dann zur Diskreditierung seines hergebrachten Bedeutungshorizontes mißbraucht. Das ist in der geistigen Situation der Gegenwart ein leichtes Geschäft – und vielleicht zu leicht, als daß die Soziologie daran lernen und an dieser Aufgabe eine eigene Theorie heranbilden könnte. Gelänge es ihr dagegen, diese Ebene zu verlassen und ihre geistige Position positiv, das heißt durch eine eigene Theorie, zu festigen, von der aus sie dann ein Gespräch mit dem Alltagsverständnis der sozialen Welt und dessen Ausformung durch die Ethik zu führen vermöchte, könnte es sein, daß die Vorteile eines gewissen gemeinsamen Vokabulars die Nachteile überbieten. Die folgenden Überlegungen zum Begriff des Vertrauens möchten in diesem Sinne zur soziologischen Theoriebildung beitragen.

Jörg Kichelmann:
Moralische Erziehung im Horizont der Sozialtheorien von Niklas Luhmann und Jürgen Habermas

Moralische Erziehung beinhaltet immer eine Problembeziehung zwischen der Frage, was überhaupt moralisch erstrebenswert ist, und den Möglichkeiten, diese Vorstellungen, wie immer sie auch aussehen mögen, Kindern und Heranwachsenden inhaltlich zu vermitteln. Die Antwort auf die Frage, was moralisch sei, versucht traditionell die Moralphilosophie zu geben.