18. November 2005
Günstige Manipulations-Voraussetzungen I
Warum sind wir so leicht zu manipulieren?

Dem heutigen Referat liegt eine erweitere Definition des Manipulations-Begriffs zugrunde, die womöglich ein brauchbareres Modell abgibt als die oberflächliche.

Manipulation ist ein wesentlicher Bestandteil des menschlichen Umgangs, der weder praktisch noch theoretisch wegzudenken wäre. Hier möchte ich gleich die erste Unterscheidung einführen, nämlich die Unterscheidung gegenüber der offenen Beeinflussung mittels direkter Überzeugungsarbeit, die sich keiner verdeckten Mittel und Intentionen bedient. Somit ist Manipulation grob gesagt jedwede Beeinflussung, völlig unabhängig vom Zweck und davon, ob sie verdeckt oder offen ausgeführt wird. Die eigentliche Definition des Begriffs Manipulation kann man in vier sich steigernden Kategorien vollziehen. So gibt es die Manipulation, die

Sicher wird der Leser mit mir darin übereinstimmen, daß letztlich nur die beiden letztgenannten Kategorien als moralisch bedenklich bis verwerflich eingestuft werden können und daß man nur die erste Manipulations-Intention als ethisch und moralisch einwandfrei bezeichnen kann. Wenn wir also schon täglich manipulieren müssen – wir können wohl tatsächlich nicht anders –, dann wäre es doch wünschenswert, daß wir darauf achten, keinen Schaden anzurichten. Tatsächlich würde aber die Forderung an den Verkäufer, auch die Nachteile seiner Ware offenzulegen, als unrealistisch oder gar weltfremd abgelehnt werden – was einiges darüber aussagt, wie sehr wir uns bereits an Manipulationen zum Nachteil anderer gewöhnt haben, wie tief wir diese verinnerlicht haben und wie selbstverständlich wir bereit sind, anderen zu unserem Vorteil zu schaden.

Im heutigen modernen Menschen sind unzählige Ansatzpunkte für Manipulation der moralisch verwerflichen Art zu finden. Grundsätzlich läßt sich sagen, daß eine zentrierte und ausgeglichene Persönlichkeit weniger anfällig für Manipulationen ist als eine defizitäre (was im Grunde eine Binsenweisheit darstellt). Meiner Erfahrung nach stellen ausgeglichene Menschen mit intaktem Selbstwertgefühl und funktionierender Innenlenkung heute eine absolute Rarität dar. Vor allem in der Bevölkerungsschicht des sogenannten Kleinbürgertums (einfache Arbeiter und Angestellte), in der ich mich ein Leben lang bewege, sind fast ausschließlich mehr oder weniger ängstliche Menschen anzutreffen. Gespräche mit Menschen aus Gesellschafts-Schichten, die in der Hierarchie höher angesiedelt sind, haben mir jedoch eröffnet, daß auch dort ein nicht zu verachtender Anteil von Getriebenen, Ängstlichen, Workaholics, Resignierten, Geizigen, Ungeliebten (u.v.a.m.) zu finden ist. Für den Unkundigen sind solche Defizite und die daraus resultierende Manipulierbarkeit allerdings nicht leicht auszumachen, was zum einen damit zusammenhängen mag, daß gewöhnlich niemand sich für manipulierbar hält, am wenigsten jene, die die entsprechenden Voraussetzungen mitbringen, zum anderen aber auch an dem auffallenden Widerwillen der meisten Menschen, sich mit dieser Thematik überhaupt zu befassen. Nicht selten wird auch der klare Blick z.B. eines Untergebenen auf den Vorgesetzten durch dessen imaginäre Größe, die Letztgenannter mehr seiner Position als seinen Können verdankt, verstellt.

Der Mensch ist nie fertig oder gar vollkommen, sondern immer in der Entwicklung begriffen – sieht man einmal von jenen bedauernswerten Fällen ab, in der jegliche Weiterentwicklung aus unterschiedlichen Gründen verweigert wird oder längst eingestellt wurde. Diese Unfertigkeit vermittelt nicht Wenigen das Gefühl einer generellen Heimatlosigkeit, oder besser gesagt, einer quälenden Unvollkommenheit. Irgend jemand hat einmal gesagt, daß der gewöhnliche Mensch von sich selbst wenger weiß als von den Tieren, vom Universum oder von der Welt, die ihn umgibt. Man mag es für trivial halten – aber die geistige und emotionale Entwicklung eines Individuums schreitet so lange fort, bis sie durch Krankheit oder Tod beendet wird. Ein Menschenleben ist (noch?) viel zu kurz, um hier ein erreichbares Ziel überhaupt ins Auge fassen zu können. Man kennt Beschreibungen vom Ende geistiger und emotionaler Entwicklung meist nur von depressiven Menschen ... Jeder psychisch einigermaßen gesunde Mensch sollte also darum wissen, daß er niemals alles wissen kann. Entwicklungs-Ziele sind daher besser als Orientierungspunkte aufzufassen: der Weg ist das Ziel. Keinem Seefahrer würde es einfallen, zur Venus reisen zu wollen, nur weil er ihre Position zur Orientierung verwendet. Solche Orientierungspunkte nennt man gewöhnlich Ideale.

Die soeben beschriebene konstitutionelle Unfertigkeit des Menschen stellt eine der wesentlichen Voraussetzungen für Manipulierbarkeit dar. Früher boten (und bieten im Grunde noch heute) hier die Religionen einen "Mörtel" an, um damit diese Lücke zu füllen, heute im Zeitalter einer alles vereinnahmenden Rationalität steht sie schmerzhaft offen. Diesen Leidensdruck – ob nun bewußt oder unbewußt wahrgenommen – nutzen viele Manipulationstechniken aus, die beispielsweise mit einem Reizwort wie "Freiheit" arbeiten. Fragt man hundert Menschen danach, was sie unter dem Begriff der Freiheit verstehen, erhält man mit absoluter Sicherheit hundert verschiedene Antworten, und zwar größtenteils nichtssagende und unkonkrete. Die Faszination, die das Wort "Freiheit" auf uns ohne Zweifel ausübt, liegt in einer erlernten Assoziation begründet: alles, was mit Freiheit zu tun hat, erscheint uns erst einmal anziehend, auch wenn wir keine Ahnung davon haben, was dieser Begriff eigentlich meint. Tatsächlich ist "Freiheit" ein leerer Begriff, wenn nicht klar ist, was konkret damit gemeint ist. Es gibt z.B. neben der "Freiheit-von" – von Zwängen, von Krankheit, von Armut ... – auch die "Freiheit-zu" – "ich bin so frei und nehm' mir noch'n Stück", oder die Freiheit zur Kreativität und eigenverantwortlicher Lebensgestaltung. Zunächst einmal meint Freiheit das Fehlen von inneren Zwängen, weil die meisten äußeren Zwänge Ausdruck innerer Zwänge sind. Erst diese innere Freiheit läßt uns eine gegebene äußere Freiheit sinnvoll einrichten und nutzen. Ein Großteil der arbeitenden Bevölkerung weiß heute nichts wirklich Sinnvolles mit seiner freien Zeit (Feierabend, Urlaub, Rente) anzufangen, weil diese Menschen sich innerlich nicht freizumachen verstehen. Allein die äußere Freiheit macht also nicht frei – ohne die innere Freiheit ähnelt sie der Freiheit eines streunenden Hundes.

Und genau hier setzt die Manipulation ein, die sich zur Verführung ihrer Opfer des Freiheitsbegriffs bedient. Die marxistische Ideologie beispielsweise lockte ihre potentiellen Anhänger mit dem Versprechen auf ein Leben in Freiheit, ohne Entfremdung, ohne Ausbeutung usw.* Die Demagogen des dritten Reiches versprachen dem Kleinbürgertum, das sich auch heute noch in einer ständigen Identitätskrise befindet, Macht und Ansehen durch unbedingten Gehorsam und treue Gefolgschaft. Die Priester der katholischen Kirche verwiesen den versklavten Menschen des Mittelalters auf die Freiheit und Herrlichkeit im Jenseits, die nur zu erreichen war, wenn er im diesseits tat, was man von ihm verlangte. Der vieldiskutierte Neoliberalismus hält es ebenso: Liberalität hat etwas mit Freiheit zu tun, Liberalismus dagegen weniger, da er als Bewegung der Unternehmer einzig die Freiheit des Unternehmers meint.

* Man sollte hier nicht den Fehler begehen, die Werke von Karl Marx mit der marxistischen Ideologie gleichzusetzen. Marx ist in vielen seiner Thesen zwar längst überholt und widerlegt, aber eben nicht in allen und nicht grundsätzlich, wie das auch bei Freud, Pawlow und vielen anderen Wissenschafts-Pionieren der Fall ist. Aber das ist mal wieder eine andere Geschichte. (Auf weitere unsinnige Anschuldigungen diverser Paranoiker hier, ich sei ein strammer Kommunist, ein Marxist, ein Volksverführer, ein ... werde ich grundsätzlich nicht mehr eingehen. Hängt euch die Schilder selber um, wenn euch das so viel Freude macht.)

Hier scheint nun langsam durch, worum es bei der Manipulation mit dem Freiheitsbegriff ankommt: es ist größtenteils das Gefühl von bzw. die Hoffnung auf Freiheit, die jene starken Gefühlsströme freisetzt, die der Manipulator für seine eigenen Zwecke zu kanalisieren weiß. Tatsächlich lassen sich überraschend viele Menschen durch Freiheitsgefühle manipulieren, die faktisch aber noch lange keine Freiheit im oben beschriebenen Sinn bedeuten. Ein gutes Beispiel dafür ist das Autofahren, das zwar die vorübergehende Empfindung subjektiver Freiheit gewährt, jedoch den Zwang bedeutet, horrende Summen für Kauf und Unterhalt des Kraftfahrzeugs auszugeben und enorme Risiken im Straßenverkehr einzugehen.

Manche philosophische Richtungen vertreten die Ansicht, daß es so etwas wie Freiheit nicht wirklich gäbe. Der Mensch erlebe nur hin und wieder kurzfristige Freiheitsgefühle, die auf Selbsttäuschung beruhen würden. Andere Philosophen behaupten, daß der Mensch grundsätzlich frei sei, er müsse sich die Freiheit nur nehmen oder schaffen, er müsse sie zu leben lernen.

Fazit: wer die Freiheits-Fahne schwenkt, hat meist nur im Sinn, genügend Dumme zu finden, die ihm hechelnd folgen. Die wahre Freiheit kommt von innen, sie ist die einzige, die zu erringen sich lohnt. Denn merke: zu einem Herr-Knecht-Verhältnis gehören immer zwei ...