Angst & Gier

Jeder kennt diese beiden Begriffe, sie gehören zum Grundwortschatz der deutschen Sprache. Wie es jedoch nun einmal ist, verfügen keine zwei Menschen über dieselben Vorstellungen davon, was diese Wörter bedeuten: Jeder hat da seine eigenen Definitionen im Kopf, auch wenn sich dabei weite Bereiche überschneiden mögen. Um die Gefahr von Mißverständnissen beim Lesen des folgenden Textes auf ein Minimum zu reduzieren, möchte ich diesem Aufsatz meine eigenen Vorstellungen, die sich mir mit diesen beiden Begriffen verbinden, voranstellen.

Angst ist ein uraltes Gefühl, das nicht erst der Mensch entwickelt hat, sondern den allermeisten Tiere ebenso zur Orientierung verhilft, wenn es darum geht, Gefahren auszuweichen oder in Gefahrensituationen bestimmten – häufig lebensrettenden – Verhaltensmustern zu folgen. Ein Sprichwort sagt: »Wer keine Angst verspürt, ist dumm.« Damit ist jedoch nicht gemeint, daß man in jeder Situation Angst haben muß oder daß man gar, wie man es Psychopathen nachsagt, überhaupt nicht in der Lage ist, Angst zu verspüren. Nein, es geht darum, daß man – z.B. aus narzißtischen Gründen, da Angst ja als Ausdruck verachtenswerter Schwäche gilt – seine Angst zu unterdrücken gelernt hat und sie deshalb nicht wahrnimmt. Das mag in manchen Fällen sogar sinnvoll erscheinen, z.B. bei öffentlichen Auftritten, bei denen man gewöhnlich Selbstsicherheit und Zuversicht auszustrahlen hat, oder wenn man durch Angst hervorgerufenes Zögern überwinden muß, weil eine dringende und wichtige Entscheidung ansteht. Man kann auch im Verlauf einer Psychotherapie-Sitzung vom Therapeuten dazu aufgefordert werden, die Angst vorerst zu ignorieren, um auf diese Weise etwas erkennen zu können, was zuvor von der Angst, genauer hinzuschauen, verhindert wurde. Traumatherapeuten ermutigen dadurch ihren Patienten, sich einer traumatischen Situation zu stellen, um die eingeprägte Angst davor ein für alle Mal aufzulösen.

Angst ist aber auch ein äußerst ungutes Gefühl, das uns nervös macht und unheilvolle Erwartungen auslöst. Doch handelt es sich wirklich immer um dasselbe Gefühl? Meiner Erfahrung und Kenntnis nach ist der Mensch zwei ganz unterschiedlichen Formen der Angst ausgesetzt. Da hätten wir einmal die berechtigte Angst in einer konkreten Gefahrensituation. Wenn ich z.B. an einem Abgrund hänge und mich gerade noch mit letzter Kraft festzuhalten vermag, so daß der bevorstehende Absturz unausweichlich scheint, empfinde ich Furcht. Oder wenn ich plötzlich einem zähnefletschenden und bösartig knurrenden Rottweiler oder einer beißwütigen Dogge gegenüberstehe und fürchten muß, jederzeit angegriffen und mit einem Biß in die Kehle getötet zu werden, ist meine Angst sehr real begründet. Diese Unterscheidung habe ich mir inzwischen angewöhnt und bezeichne daher als Furcht die Angst im Angesicht realer, konkreter Ängste, denen ich mich im Augenblick ausgesetzt sehe. Furcht sei also auch im weiteren Verlauf dieses Aufsatzes die konkrete, begründete Angst in einer unmittelbar erlebten Gefahrensituation.

Unter Angst dagegen verstehe ich alle furchteinflößenden und -auslösenden Impulse, die sich lediglich aus unserer Vorstellung ergeben. Die Angst des traumatisieren Mitmenschen ist eine solche Gelegenheit, durch Vorstellungskraft erzeugte Bilder und Situationen vor unserem geistigen Auge vorzufinden. In diesem Fall befindet sich der Betroffene nicht in einer realen Gefahrensituation, sondern visualisiert eine solche Situation lediglich; er erinnert sich an heftige Furchtgefühle aus seiner Vergangenheit und fühlt urplötzlich, wie sein Herz wie damals wieder bis zum Hals klopft. Nicht selten wissen Betroffene gar nicht mehr, woher diese Ängste stammen, dann leiden sie womöglich unter sogenannten Angstattacken. Man könnte jetzt vermuten, daß sich diese Fähigkeit, einstmals erlebte Furchtsituationen in Form akuter Angst wiedererleben zu können, entwickelt hat, um des Menschen Lernenfähigkeit zu verbessern. Tatsächlich hat sich diese Fähigkeit wohl eher deshalb evolutionstechnisch betrachtet »durchgesetzt«, weil sie gewisse Vorteile bot. Wer als Steinzeitjäger und -sammler einmal gesehen hat, wie ein Mammut seinen Freund mit den Füßen zertrampelt und zerquetscht hat, tut gut daran, diese Erfahrung mit Angst zu verknüpfen, wenn er bei der Jagd nicht dasselbe Schicksal erleiden will. Auf zehntausende von Jahren hinweg betrachtet konnten dann, wie die Evolutionswissenschaft es ausdrückt, eben nur jene überleben und sich fortpflanzen können, die sich von dieser Angst haben leiten ließen, dem Tier nicht zu nahe zu kommen und immer auf der Hut zu sein nicht nur vor seinen Trampelfüßen, sondern auch vor seinen Stoßzähnen.

Über Furcht wäre dann eigentlich nicht mehr viel zu sagen, über Angst dagegen schon. Unser Körper bzw. unser Nervensystem unterscheidet jedoch nicht zwischen Angst und Furcht; diese Abgrenzung ist eine rein gedankliche: Ich weise dem einen Wort diese und dem anderen jene Bedeutung zu, um mit einer von mir als sinnvoll erkannten Unterscheidung kalkulieren zu können. Die Furcht ist im Grunde unproblematisch, sie dient uns als wirkungsvoller Schutz in akuten Gefahrensituationen. Dasselbe kann man von der Angst jedoch nicht so pauschal behaupten, denn zahllose Ängste behindern uns häufig in unserer Weiterentwicklung, und nicht selten treiben sie uns sogar dazu an, Kontrolle über alles und jeden ausüben zu wollen, um die eigene Angst nicht in Panik ausarten zu lassen – womit wir zum nächsten Aspekt der Angst, die sich rein aus gedanklichen Vorstellungen speist, gelangen.

Das Bedürfnis nach Kontrolle über die Belange des eigenen Lebens eignet nicht nur allen Menschen, sie kann auch bei zahllosen Tierarten beobachtet und daher als natürlich betrachtet werden. Was würde mir eine Symbolmaschine im Kopf auch nützen, die zwar in der Lage ist, Landkarten meines geographischen Umfeldes, meines sozialen Umfeldes, meiner Erfahrungen, Erlebnisse und erprobten Verhaltensmuster herzustellen, all diese Inhalte sinnvoll miteinander zu verknüpfen, wenn ich sie dann nicht anwenden kann? Genau das ist die Bedeutung von Kontrolle: Man beeinflußt und manipuliert Objekte im eigenen Umfeld so, wie man überzeugt ist, sie haben zu wollen oder zu benötigen. Ob sich die jeweilige Manipulation bei der Ausübung von Kontrolle dann auch zuverlässig als hilfreich erweisen wird, steht auf einem anderen Blatt. Je einfühlsamer der Mensch, je behutsamer er vorgeht und je stärker er mit seiner Umwelt in lebendigen Beziehungen verbunden ist, desto mehr erfährt er über die eigenen Lebensbedingungen wie auch die der anderen, und desto mehr erfährt er auch über sein Umfeld und über deren mannigfaltige Zusammenhänge, als dies einem weniger oder kaum mit seinem Umfeld in lebendigen Beziehungen stehender Zeitgenosse vermochte. Ein verbundener, wenig bis gar nicht entfremdeter Mensch zeigt sich bei seinen Kontrollakten daher rücksichtsvoller und behutsamer, als ein Mensch, der sozusagen autoritäre Kontrolle in der groben Form der Macht des Stärkeren ausübt.

Die autoritäre, aus der Machtposition des Stärkeren heraus motivierte Kontrolle vor allem über die Mitmenschen entspringt einem Bedürfnis nach Kompensation (hier: seelischer Ausgleich) und stellt damit eine Art Suchtverhalten dar: Seht der »Suchtstoff« Kontrolle nicht zur Verfügung, fühlt sich der Betroffene der Angst vor seinen Mitmenschen hilflos ausgeliefert. Die Dinge scheinen ihm gleichsam zu entgleiten, wodurch die Angst ansteigt. Er will diese Angst aber nicht wahrnehmen müssen, verdrängt sie daher und wird dann in aller Regel wütend auf jene, die diese Angst in ihm ausgelöst (fachsprachlich: getriggert) haben. Mit seinen Wutäußerungen bedroht er seine Mitmenschen, wovon viele sich einschüchtern lassen und – ebenfalls aus Angst – in den Gehorsams- und Unterwerfungsmodus wechseln. Andere dagegen bleiben mehr oder weniger standhaft, geraten unter Umständen dabei selbst in Zorn und fühlen sich nun ihrerseits angegriffen. Nur sehr wenige scheinen in solchen Situationen einigermaßen ruhig und gelassen bleiben zu können, vielleicht weil sie wissen, daß man einen solchen Wutanfall nicht noch mit hineingegossenem Öl befeuern soll, sondern ruhig abzuwarten gelernt haben, daß dem Wutanfall erfahrungsgemäß die Energie bald ausgehen und der »Wutmensch« sich wieder beruhigen wird.

Um Kontrolle ausüben zu können, benötig man gewisse Kontrollmöglichkeiten. Diese erwirbt man sich in Form von Macht, sei es durch körperliche Überlegenheit über andere, Waffenbesitz oder die Verfügbarkeit sonstiger Drohpotentiale, wie man sie z.B. in Ämtern, Führungspositionen und sonstigen gesellschaftlich als Autoritäten anerkannten Positionen verliehen bekommt. Mit Macht meine ich hier daher in der Hauptsache die Macht über Mitmenschen; selbstverständlich gilt vieles, was ich im Folgenden darzustellen versuche, auch für die sogenannte Selbstermächtigung zum Bewegen der Gliedmaßen, dem Verwenden eines Kommunikationsmittels wie z.B. der Sprache und etlichen weiteren im Grunde eher unproblematischen Handlungsmöglichkeiten. Ich glaube, es ist daher nicht von der Hand zu weisen, daß man Kontrolle in zwei grundsätzliche Kategorien aufteilen muß: Jene, die zum ganz natürlichen Handlungsspielraum des Menschen gehören und nicht dazu geeignet sind, den Mitmenschen oder der jeweiligen Gemeinschaft, in der man lebt, Schaden zuzufügen. Die zweite Kategorie wäre dann die mißbräuchliche Anwendung von autoritärer Kontrolle durch Anwendung von Macht bzw. aus Machtpositionen heraus.

Der Fährtenleser, der Richung und Verhalten der Wandergruppe kontrolliert, tut das gewöhnlich zum Nutzen der Gruppe und wird vor Beginn der Wanderung meist auch von der Gruppe für die Wahrnehmung genau dieser Funktion ausgewählt. Sie folgen daher freiwillig seinen Anweisungen, weil sie davon überzeugt sind, daß er sich besser in der Wildnis auskennt als sie. Kurz: Sie vertrauen ihm, zumindest hinsichtlich seiner Fähigkeiten in und seiner Kenntnisse über die Wildnis. Ganz anders dagegen verhält sich das bei der mißbräuchlichen Kontrolle: Hier werden die zu kontrollierenden Menschen regelrecht gezwungen, den Anweisungen einer Autoritätsperson Folge zu leisten. Sie tun es nicht freiwillig, sie würden ohne diesen Zwang womöglich anders handeln. Und sie haben Angst vor den Konsequenzen, die Ungehorsam in einem solchen Fall haben könnte oder mit Sicherheit haben wird.

Hier kristallisiert sich bereits eine weitere hilfreiche Unterscheidung heraus, nämlich die hinsichtlich der Bedeutung des Begriffs Autorität. Im Gegensatz zur Wikipedia-Definition begreife ich den Autoritätsbegriff in erster Linie vom Begriffs-Ursprung her: Als eine auf einem bestimmten Fachgebiet wegen ihrer umfangreichen Kenntnisse und Fähigkeiten anerkannte Person, wogegen die zweite, meines Erachtens historisch später eingeführte Definition ausschließlich die gesellschaftliche Machtposition beschreibt. Beide Definitionen müssen in einer hierarchischen Gesellschaft wie der unseren nicht zwangsläufig in derselben Autoritätsperson zusammenfallen. Ganz im Gegenteil kann man heute sehr häufig beobachten, daß Autoritäten lediglich gesellschaftliche oder politische Funktionsträger sind, die – von vielen kaum wahrgenommen – eben nicht über die fachliche Kompetenz verfügen, die ihr Amt oder ihre Stellung erfordern würde. Das beste Beispiel dafür stellen Politiker dar, die zum Minister für ein Gebiet ernannt wurden, von dem sie kaum Ahnung haben. Was zum Beispiel soll eine drittklassige Physikerin dazu qualifizieren, Bundeskanzlerin zu werden? Erich Fromm meint zu Autorität:
»Autorität ist keine Eigenschaft, die jemand hat in dem Sinn, wie er Besitz oder körperliche Eigenschaften hat. Autorität bezieht sich auf eine zwischenmenschliche Beziehung, bei der der eine den anderen als ihm überlegen betrachtet. Aber es besteht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen einer Überlegenheits-Unterlegenheits-Beziehung, die man als eine rationale Autoritätsbeziehung bezeichnen, und einer solchen, die man als hemmende Autoritätsbeziehung beschreiben kann.« (aus: Die moralische Verantwortung des modernen Menschen)
Diese Unterscheidung ist deshalb wichtig und unersetzlich, weil wir sonst nicht in der Lage wären zu erkennen, daß Menschen, die Machtpositionen innehaben, nicht zwangsläufig auch über die jeweils erforderlichen Kenntnisse verfügen müssen. Die meisten Leute glauben jedoch, daß wer eine entsprechende Machtposition begleitet, schon wissen wird, was er tut, denn sonst hätte man ihn ja wohl nicht auf diesen Posten gesetzt. Sie können diese fehlenden Voraussetzungen zum, sagen wir mal, »echten« und wahrhaftigen Finanzminister gar nicht erkennen, weil sie gar nicht erst darauf achten, sondern naiverweise annehmen, daß wer eine bestimmte politische Funktion innehat, zwangsläufig auch auf dem betreffenden Gebiet fundierte Sachkenntisse haben muß. Ein schönes Beispiel dafür ist unser allseits »geliebter« Rollstuhlfahrer Wolfgang Schäuble, wie in diesem Video offenbar wird. Da wird ein Politiker, der 100.000 DM, die er von einem Waffenhändler erhalten und dann angeblich vergessen hat und zudem die Aussage über die näheren Umstände verweigert, zum Finanzminister ernannt, nur weil er das fragwürdige Vertrauen der Bundeskanzlerin genießt – einer drittklassigen Physikerin, die sich schon in der DDR durch Anpassung und Unterwerfung (auch als Schleimen bekannt) in der SED hochgedient hatte. Doch zurück zum Thema:

Es gibt sehr ängstliche Menschen und weniger ängstliche: Die einen leben fast ständig in Angst, weil sie derart massiv und nachhaltig traumatisiert wurden, daß sie beinahe vor allem und jedem Angst haben. Andere wurden weniger stark traumatisiert und erleben daher weniger Angstsituationen, wenige wurden kaum traumatiert, für sie stellen Angstsituationen daher eine Ausnahmesituation dar. Ob auch Menschen existieren, die während ihres Heranwachsens überhaupt nicht traumatisiert wurden, kann ich nicht beurteilen, ich habe meines Wissens nach noch keinen getroffen.

Des weiteren kann man unterscheiden zwischen Menschen, die sich ihrer Angst mehr oder weniger vollständig ergeben und jenen, die ihre Ängste nachhaltig unterdrücken und aus dem Bewußtsein heraushalten, indem sie sich ständig künstliche Überlegenheitsgefühle verschaffen – und genau das ist Sinn und zweck der Machtausübung gegenüber anderen Menschen. Hätte man keine Angst vor seinen Mitmenschen, bräuchte man sie auch nicht kontrollieren; ein derartiges Bedürfnis würde erst gar nicht entstehen. Anders ausgedrückt dient die Gier nach Macht und Einfluß vor allem dem Bestreben, sich vor dem Einfluß und den damit drohenden Gefahren, ob nun eingebildet oder real, zu schützen. Daß in geläufigen Rechtfertigungen von Machtansprüchen genau dieser Umstand niemals Erwähnung findet, kann man daher nicht wirklich als bösartige Absicht beurteilen, sondern ist dem eben erwähnten Umstand geschuldet, daß nach Macht strebende Menschen ihre Ängste mit der Macht in Schach zu halten wissen. Die meisten Machthaber egal welcher Größe wären vermutlich ehrlich überrascht, wenn man ihnen nachweisen würde, daß sie all dieses Machtgerangel und ihre Machtpolitik allein aus Angst vor ihren Mitmenschen veranstalten. Sie werden zu kleinen oder großen Tyrannen.

Die kleinen Tyrannen piesacken ihre Mitmenschen mit häufig ausgeführten kleinen Gemeinheiten, um auf diese Weise eine ganz bestimmte Reaktion aus ihren Opfern herauszukitzeln: Sie wollen sie leiden sehen, denn geäußertes Leid, Schmerzensschreie, wenn auch nur virtuell in einem Forum, sind den kleinen Tyrannen ein Zeichen für Schwäche; damit fühlen sie sich dann für eine kleine Weile dem vermeintlich Schwachen überlegen und grinsen zu Hause vor dem Bildschirm hämisch-triumphierend in sich hinein. Doch die »Energie«, die sie sich auf diese Weise zuführen, hält nicht allzu lange an, so daß sie sich gleich wieder auf die Suche nach dem nächsten Opfer machen müssen.

Die großen Tyrannen gehen da viel systematischer vor. Sie verfügen meist schon über viel Geld und Einfluß und setzen diese dazu ein, noch mehr Geld, Macht und Einfluß zu erlangen, weil es immer welche gibt, die noch mächtiger sind als sie. Ihnen genügt es nicht, hin und wieder ein paar Mitmenschen zu drangsalieren oder in ihrer Familie den Ton anzugeben, nein, sie streben nach mehr, nach viel mehr, nach immer noch mehr und mehr und mehr ... Das nennt man Gier. Gier entwickelt sich immer im Zusammenhang mit Ersatzbefriedigungen: Weil die Ersatzfunktion künstlicher Selbsterhöhung durch das Abwerten seiner Mitmenschen nicht wirklich zufriedenstellt, denn es entsteht dadurch kein nachhaltiges gutes Selbstwertempfinden, »sättigt« die Ersatzbefriedigung nicht wirklich. Die Zufriedenheit, die sich kurzfristig einstellt, hält nicht lange an, denn aus den Tiefen der eigenen Seele taucht immer wieder der Schrei der unterdrückten Selbstanteile auf, die niemals müde werden beim Versuch, endlich auch einmal das Licht des Bewußtseins zu erreichen, um sich Ausdruck zu verschaffen.

Diese Impulse der verdrängten oder abgespaltenen, weil unerwünschten Selbstanteile geben erst Ruhe, nachdem man sie ins Bewußtsein integriert hat, oder anders gesagt: Nachdem man wieder – oder besser: erstmalig zu einem vollständigen Selbst geworden ist. Erst dann kann sich ein nennenswertes Selbstwertempfinden entwickeln, zuvor fühlt man sich unvollständig und daher minderwertig. Weil aber die Nervosität und innere Aufwühlung, die diese unerwünschten Impulse aus dem eigenen Inneren kaum auszuhalten ist, muß man dagegensteuern, und wenn man nicht an die tatsächlichen Ursachen der seelischen Fragmentierung herankommt, bastelt man sich eben eine künstliche, eine gedachte Vollkommenheit zusammen. Da man aber mit echter Vollkommenheit kaum Erfahrung hat, übertreibt man's dabei in der Regel, die einen mehr, die anderen weniger. Das Resultat ist der bekannte Narzißmus: eine künstliche Selbsterhöhung durch ausgedachte und phantasierte Eigenschaften der eigenen Person, die regelrecht eingeübt wird, häufig sogar vor dem Spiegel, um auf diese Weise die bei anderen beobachtete Mimik und Gestik perfekt nachbilden zu können und so die Mitmenschen davon zu überzeugen, daß man das, was man sich sozusagen als Theaterrolle ausgedacht hat, auch wirklich sei. Erwing Goffman hat in seinem Buch Wir alles spielen Theater in vortrefflicher Weise zahlreiche Szenen aus dem Alltag analysiert und dargestellt:
Die Verkäufer von Herrenbekleidung können beobachten, daß die Behauptung vieler Männer, es sei ihnen egal, wie sie aussehen, häufig Theater ist und daß schweigsame Männer einen Anzug nach dem anderen und einen Hut nach dem anderen anprobieren, bis sie im Spiegel so aussehen, wie sie sich selbst sehen wollen. Auch Polizisten schließen aus den Dingen, die angesehene Geschäftsleute von ihnen erwarten oder gerade nicht erwarten, daß die Säulen der Gesellschaft auf wackeligen Fundamenten stehen.182 Zimmermädchen in Hotels entdecken, daß die Gäste, die ihnen auf dem Korridor nachstellen, nicht ganz so sind, wie es ihr gemessenes Verhalten im Speisesaal vermuten läßt.183 Hoteldetektive finden beispielsweise im Papierkorb zwei unbenützte Entwürfe für den Abschiedsbrief eines Selbstmörders: »Geliebte – bis Du diesen Brief bekommst, werde ich da sein, wo mir nichts, das Du zu tun imstande bist, weh tun wird. – Wenn Du dies liest, wird mir nicht mehr weh tun können, was Du tust.« Sie stellen also fest, daß die letzten Gefühle eines verzweifelten Menschen, der zu keinem Kompromiß mehr bereit war, ein klein wenig geprobt waren, um genau den richtigen Ton zu treffen, daß sie also nicht ganz so endgültig waren. Wartungsspezialisten zweifelhaften Rufes, die ihr Büro in der Hinterregion der Stadt haben, damit man die Kunden nicht sieht, die ihre Hilfe suchen, sind offenbar ein weiteres Beispiel. ... Man beobachtet übrigens, daß sich die Strukturähnlichkeiten anscheinend verschiedenartiger Rollen sehr exakt in den gleichen Überzeugungen spiegeln, die ihre Regisseure auf der ganzen Welt entwickeln. Ob es sich um eine Beerdigung, eine Hochzeit, eine Bridge-Party, einen Ausverkauf, eine Hinrichtungoder ein Picknick handelt, der Regisseur neigt dazu, die Vorstellung danach zu beurteilen, ob sie »glatt«, »wirkungsvoll« und »reibungslos« abgelaufen ist und ob man auf alle möglichen Störungen im voraus gefaßt war.
Wir haben nun erfahren, daß und wie Angst und Gier sehr eng zusammenhängen, sich gegenseitig geradezu bedingen und daher das eine ohne das andere kaum sinnvoll zu erklären wäre. Diese Erkenntnis versetzt uns in die Lage, Verständnis zu entwickeln – nicht zu verwechseln mit Billigung, Duldung oder Anerkennung. Verständnis bedeutet nichts weiter als das Nachvollziehen kausaler Zusammenhänge, das echte Verstehen von Wirkungszusammenhängen. Man hat verstanden, wie Dinge zusammenhängen, wenn man ihre nachweisbaren Einflüsse aufeinander rational und emotional erkannt und nachvollzogen hat. Dann muß man auch nicht mehr auf schwammige Begriffe wie »gut« und »böse« zurückgreifen, die im Gegensatz zum weitverbreiteten Glauben nichts bezeichnen, das wirklich existiert, also im Grunde Nullbegriffe sind, Dummies, die man im Laufe der Zeit mit weitreichenden Bedeutungsinhalten versehen hat, die ebenfalls nichts bezeichnen, das nachweisbar existiert. Die angebliche Bosheit in einem Menschen stellt nämlich nichts weiter als eine Zuweisung dar, eine Etikettierung, wie man einer Ware den Preis aufklebt: Böse ist, wer oder was mir schadet, und Gut ist, was mir hilft und nützt. Diese Definition ist sehr einfältig, denn sie vernachlässigt die Relativität des Gut-Böse-Antagonismus. In Wirklichkeit fühlt sich kaum ein Mensch wirkich böse, sondern hat immer mehr oder weniger »gute« Gründe dafür, sich so zuverhalten, daß er z.B. anderen schadet und diese ihn dann als bösartig einstufen. Mancher geht über den Schaden, den er seinen Mitmenschen zufügt, leicht hinweg, ignoriert ihn geflissentlich und erklärt sich die Notwendigkeit, so handeln zu müssen, mit angeblichen Natur- und Evolutionsgesetzen: »In der Natur gilt ebenso das Prinzip des Fressens oder Gefressenwerdens. Also was soll's, ich bin eben erfolgreicher als andere, da läßt sich's nunmal nicht vermeiden, daß der eine oder andere auf der Strecke bleibt, ich bin eben einfach besser und deshalb gut. Was gehen mich die anderen an mit ihrem bösartigen Neid, nur weil sie zu blöde sind oder zu faul?« Auch hier dienen die Begriffe Gut und Böse in der Hauptsache der praktischen Handhabbarkeit im Alltag, erweisen sich aber für die Klärung von Motiven, die z.B. zu Gier und Machstreben führen, als völlig untauglich. Wer sich mit innerseelischen Vorgängen wenig bis gar nicht auskennt, weil er sich noch nie wirklich und ausdauernd damit befaßt hat, ist quasi auf die Kategorien Gut und Böse angewiesen, um sich vor gewissen Mitmenschen zu schützen, indem er sie je nach seiner individuellen Erfahrung, die er mit ihnen gemacht hat oder zu machen fürchtet, in die eine oder die andere Schublade schiebt. Das ist quasi ein erlernter Überlebensmechanismus, der nicht zwingend voraussetzt, die tatsächlichen Zusammenhänge zu kennen oder auch nur zu erahnen.

So kann es durchaus geschehen, daß wir einen Menschen als »gut« einstufen, der es gar nicht wirklich gut mit uns meint, sondern uns sein »Gutsein« – seine Freundlichkeit, sein Entgegenkommen, seine Großzügigkeit usw. – nur vorspielt, um dadurch ein Ziel zu erreichen, von dem wir nicht das Geringse ahnen. Gemeint sind unter anderem Narzißten und Psychopathen, die gelernt haben, sich in der Öffentlichkeit, wo sie unter Beobachtung stehen, stets wohlanständig und angemessen zu verhalten, dann aber, wenn sie glauben, daß keiner außer ihrem jeweiligen Opfer was mitbekommt, die Maske fallenlassen, die zuvor gespielte Rolle gänzlich aufzugeben und ihr wahres Gesicht zu zeigen. Umgekehrt kommt es aber auch nicht selten vor, daß Menschen, die es wirklich gut mit einem anderen meinen, die vielleicht sogar empathischer sind als die Mehrheit, die zu Verständnis und Mitgefühl fähig sind, beim anderen gar nicht gut ankommen, weil sie z.B. nicht die üblichen, erwarteten Verhaltensmuster zeigen und von den meisten »Normalbürgern« sofort in die Schublade mit der Aufschrift »Sonderling«, »komischer Typ«, »Schwächling« oder gar »Psycho« gesteckt werden. Wenn ich mir zu Wahlkampfzeiten anschaue, wie da überall mit irgendwelchen gestellten Gesichtausdrücken Reklame für Kandidaten gemacht wird, und dabei ebenfalls beobachte, wie die Leute immer wieder auf diesen Personenkult reinfallen und immer wieder genau jene wählen, die den Karren zielsicher in den Dreck zu fahren drohen, weiß ich inzwischen, daß diese leidvolle Tatsache genau diesem Umstand zu verdanken ist: Man läßt sich von einem freundlichen Lächeln darüber hinwegtäuschen, daß Politiker allesamt Narzißten sind, ja sein müssen, um überhaupt einen Sinn im politischen Personenkult finden zu können. Für Politiker sind wir, die Wähler, nichts weiter als Wahlvieh, das es vor der Wahl ordentlich zu manipulieren gilt, ähnlich wie man vor dem Melken den Euter einer Kuh sanft massiert, damit sie sich entspannt und die Milch widerstandslos hergibt.

Fassen wir also zusammen: Ängste, vor allem die vor den Mitmenschen, führen zum Bedürfnis nach Kontrolle über das soziale Umfeld. Die Ängste entstehen meist dadurch, daß man früh traumatisiert wurde und in der Folge keine nennenswerte Empathiefähigkeit für seine Mitmenschen entwickeln konnte. Durch die mangelhafte Empathiefähigkeit – mit deren Hilfe man sich in emotionale Zustände und in Situationen seiner Mitmenschen einfühlen könnte und so keine Angst mehr vor ihnen haben müßte – weiß man nicht so recht, wie andere »ticken«, was sie vorhaben, planen oder ob sie vielleicht beabsichtigen, einem zu schaden. Man möchte sie daher kontrollieren, um sich selbst zu schützen. Um eine wirkungsvolle Kontrolle ausüben zu können, benötigt man Macht. Machstreben wird dann für viele zum hauptsächlichen Lebenszweck, vor allem, wenn sie die ersten Hürden überwunden und bereits eine gewisse Machtposition erklommen haben, oder wenn sie bereits in bestehende Machtpositionen hineingeboren wurden und von ihren Erziehern ganz gezielt für die spätere Übernahme dieser Machtpositionen abgerichtet werden. Da Machtausübung und Kontrolle aber immer nur kurzfristig wie eine Beruhigungspille wirken und die Ängste alsbald wieder an die Oberfläche zu steigen drohen, wird der Mächtige durch seine Aktionen niemals zufriedengestellt. Nie ist ihm das Machtgefälle zwischen den Mitmenschen und sich selbst groß genug, er strebt nach immer mehr Macht, auch weil es immer andere gibt, die bereits noch mehr Macht unter sich zu versammeln wußten, sich einverleibt haben, so daß er nie zum Ziel gelangt, für alle Zeiten der Mächtigste und Größte zu sein. Machstreben stellt daher ein Suchtverhalten dar, löst eine Gier nach immer mehr aus und macht damit nicht nur die Mächtigen schwer krank, sondern auch ihre Opfer.

Wilfried Schmickler hat dazu in der Anstalt vom 22.03.2011 ein vortreffliches Gedicht vorgetragen:

Nur wennn es welche gibt, die etwas haben, was die anderen nicht haben,
was sie aber auch unbedingt haben wollen, nur dann entsteht diese Kraft,
die letztendlich Wachstum schafft: Die Gier.

Was ist das für ein Tier, die Gier?
Es frißt in mir, es frißt in dir,
will mehr und mehr und frißt uns leer.
Wo kommt das her, das Tier, und wer
erschuf sie nur, die Kreatur?

Wo ist das finstre Höllenloch,
aus dem die Teufelsbestie kroch?
Die sich allein dadurch vermehrt,
indem sie dich und mich verzehrt.

Und wann fängt dieses Elend an,
daß man genug nicht kriegen kann,
und plötzlich einfach so vergißt,
daß man doch längst gesättigt ist
und weiter frißt und frißt und frißt?

Und trifft dann so ein Nimmersatt
auf jemanden, der etwas hat,
was er nicht hat und gar nicht braucht,
dann will er's auch.

Wie, das soll's schon gewesen sein?
Nein, einer geht bestimmt noch rein.
Und überhaupt, da ist doch wer,
der frißt tatsächlich noch viel mehr!

Und plötzlich sind sie dann zu zweit:
Die Gier und ihre Brut, der Neid.
Das bringt mich einmal noch ins Grab,
daß der was hat, was ich nicht hab,
daß der wo ist, wo ich nicht bin,
das will ich auch, da muß ich hin.

Warum denn der, warum nicht ich?
Was der für sich, will ich für mich!
Der lebt ins Saus und lebt in Braus,
mit Frau und Hund und Geld und Haus
und hängt den coolen Großkotz raus.
Wahrscheinlich alles auf Kredit.

Der protzt und prahlt und strotzt und strahlt.
Wie der schon geht, wie der schon steht,
wie der sich um sich selber dreht,
und wie der aus dem Auto steigt
und aller Welt den Hintern zeigt.
Blasierte Sau, und seine Frau
ist ganz genau so arrogant und dick und stramm.

Und diese Blagen, die es wagen,
die Nasen so unendlich hoch zu tragen.
Da hört er aber auf, der Spaß.
So kommt zu Neid und Gier der Haß.

Und sind die erst einmal zu Dritt,
fehlt nur noch ein ganz kleiner Schritt,
bis daß der Mensch komplett verroht,
und schlägt den anderen halb tot.

Und wenn ihr fragt, wer hat ihn bloß  so weit gebracht:
Das hat allein die Gier gemacht.