Auszüge aus Günter Pernhaupt & Hans Czermak's
"Die gesunde Ohrfeige macht krank"

Über die alltägliche Gewalt im Umgang mit Kindern

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Züchtigungsverhalten

Dieses Buch behandelt Aspekte der Erziehungsnormen und des Züchtigungsverhaltens des Österreichers. Es werden in erster Linie Ursachen, Hintergründe und Auswirkungen von Strafsituationen untersucht, denen das Kind vor allem in seiner Herkunftsfamilie, aber auch in anderer Form, im institutionellen Erziehungsfeld ausgesetzt ist.

Mediziner und Pädagogen üben Berufe aus, mit denen ein hohes Maß psychosozialer Verantwortung verknüpft ist, doch ihre Berufsausbildung beachtet diesen Bereich ihres künftigen Wirkens viel zuwenig.

Ein weiteres Manko besteht darin, daß die Kindheit dem Erwachsenen kaum einige Gedanken wert und er deshalb weit davon entfernt ist, ihre volle Bedeutung für die Gesellschaft und die Geschichte zu erfassen. Die großen Revolutionen zerbrachen zwar das autoritär bestimmte Gefüge, das von der Antike bis ins feudale Zeitalter jeden Menschen an seinen angeblich gottgewollten Platz stellte und dort unabänderlich festhielt; doch die Emanzipation des Kindes haben sie nicht erreicht. Nüchtern betrachtet, ist die Einstellung der Erwachsenen zum Kind grausam wie eh und je; so zieht sich eine Linie von der Aussetzung und Ermordung von Kindern bis zu jedweder Art der Vernachlässigung. "Barbarische" Wickelpraktiken, das Nicht-Stillen, Isolieren und vor allem das Prügeln kennzeichnen ihr nach wie vor bestehendes Sklavendasein.

In unseren Familien spielt im Rahmen der Kindererziehung die Körperstrafe – aber auch die nicht-körperliche Strafe – seit jeher eine ganz entscheidende Rolle; ja Erziehung ist ganz allgemein bis zum heutigen Tag ohne Strafe gar nicht denkbar.

Wir übernehmen in der vorliegenden Arbeit die These von Petri, nämlich daß das "gewöhnliche" Schlagen von Kindern, also die Prügelstrafe, von der sogenannten faktischen Kindesmißhandlung nicht prinzipiell unterschieden werden darf; es handelt sich vielmehr nur um schwächere oder stärkere Varianten der physischen Gewalt gegen Kinder: hier die legitimierte, moralisch "berechtigte", und dort die inkriminierte Form der Gewalt. Das Gewohnheitsrecht der Eltern, ihre Kinder zu schlagen, wird um so fester stabilisiert, einzementiert, je intensiver Kindesmißhandlung als grundsätzlich verschieden von den täglichen Schlagritualen in Familie und Schule und als krankhaftes Verhalten einer kleinen "pathologischen" Minderheit betrachtet wird.

Nach eigenen, sehr eingehenden Befragungen junger Mütter werden – im Durchschnitt – schon Säuglinge im Alter von zehn Monaten zum ersten Mal geschlagen, in einem Alter also, in dem das leicht verletzbare Kind mit Sicherheit nicht versteht, warum das umsorgende, liebevolle Pflegeverhalten der Eltern plötzlich in eine schmerzhafte Handlung umschlägt. Der Erfolg dieses Strafens kann nicht Verhaltenskorrektur sein, denn welchen Fehlverhaltens kann sich ein Kind in diesem Alter schon schuldig machen? Gerade an solchen Beispielen ersieht man am klarsten, daß das Schlagen des Kindes in den meisten Fällen lediglich eine emotionelle Abreaktion des "beleidigten" Elternteils darstellt. Bei den Eltern haben die Kontroll- und Bremsmechanismen versagt. Was das für das wehrlose Kind im Extremfall bedeuten kann, läßt sich am Beispiel der Mißhandlungen ablesen.

Damit wollen wir nicht die Eltern weltweit diffamieren; denn zu allen Zeiten und überall waren und sind Eltern ihren Kindern in Liebe zugetan. Die Fehler, die sie begehen, kommen eher aus Unkenntnis und hartnäckigen Vorurteilen, selten aus einer inhumanen Einstellung.

Lehrmeinungen zur Prügelstrafe

Die diesem Buch zugrunde liegende Befragung zeigt, daß der Österreicher – und mit ihm wahrscheinlich die Angehörigen der meisten anderen Nationen – über die physiologische Entwicklung des Kindes, über seine Bedürfnisse und deren Befriedigung sehr wenig weiß. Doch auch die Vertreter der Wissenschaft müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, daß sie sich nicht in entsprechender Weise mit manchen Fragen des Kindesalters beschäftigen. So enthält das "Handbuch der Kinderheilkunde" noch in seiner letzten Ausgabe aus dem Jahre 1967 im Erziehungskapitel von J. Ehrengut-Lange einen Passus über Schlagen, in dem folgende Aussagen gemacht werden:

Bei sehr empfindlichen oder neurotisch Veranlagten sollten Strafen, vor allem die Prügelstrafe, nur sehr dosiert angewandt werden.

Selten wird das Kind – falls es verstandesmäßig bereits die Notwendigkeit einer Bestrafung begreifen kann – dies dem Erzieher nachtragen; im Gegenteil, durch wohlgemeinte Bekundung seiner Zuneigung zu dem kleinen Delinquenten (Hervorhebung durch d. Aut.) wird der Erzieher schnell dessen Herz wieder erobern können.

Manche Psychologen lehnen eine Prügelstrafe völlig ab. Ob diese Nachsichtigkeit (Hervorhebung durch d. Aut.) im Kleinkindesalter völlig berechtigt ist und ob dadurch ein besseres Erziehungstesultat für späterhin erwartet werden darf, mag dahingestellt bleiben.

In einer persönlichen Mitteilung zehn Jahre später schreibt uns Frau Dr. Ehrengut-Lange auf briefliche Anfrage:

Sicherlich würde ich meinen damaligen Artikel heute anders gestalten. Vokabeln wie "Prügelstrafe" nehmen sich in der heutigen Zeit, in der Kindesmißhandlungen an der Tagesordnung zu sein scheinen, sicherlich dramatisch aus. Welchen Stellenwert die "Ohrfeige im Affekt" in der Gesamterziehung besitzt, mag dahingestellt sein. Jede weitere Entgleisung des Erziehers sollte wegen der veränderten Bewußtseinslage (Hervorhebung durch d. Aut.) der Kinder harten Strafen gegenüber und auch im Hinblick auf die Gefahr einer zunehmenden Brutalisierung Jugendlicher entschieden abgelehnt werden.

Schon in einer früheren Studie konnten wir zeigen, daß selbst Fachleute in verantwortungsvoller Tätigkeit eine verdächtig breite Streuung von Antworten auf grundlegende Fragen der Kinderpflege und Kindererziehung bereithielten, die zudem in den meisten Fällen äußerst subjektiv waren und nicht den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen entsprachen.

Als zweites Beispiel möchten wir den Satz "Die erste Stufe, die Erziehung des jungen Säuglings, ist in vielen entscheidenden Punkten Dressur" aus dem ABC für junge Müttervon zwei bekannten deutschen Kinderärzten zitieren. Danach ist es nicht verwunderlich, daß beim Kind die Strafe Instrument der Dressur sem soll, d.h. also, einer Erziehung, die auf erklärende Argumentation und Begründung der gegebenen Ordnung bewußt verzichtet, weil eine solche Kommunikation angeblich vom Kinde noch nicht aufgenommen werden kann.

Mit dieser Begründung wird die Körperstrafe meist vertreten; beim Säugling z.B. in einer leicht dosierten Form, etwa einem Klaps auf die Finger, wenn er zum heißen Ofen greift. Eine ähnliche Meinung verficht die bekannte Kapazität auf dem Gebiet der Sozialpädiatrie, Th. Hellbrügge aus München, wenn er den Wert körperlicher Bestrafung im verhaltenstherapeutischen Modell erklärt:

In nicht wenigen Situationen kann ein kleiner Klaps zur rechten Zeit überhaupt die beste Erziehungshilfe sein ... Es gibt kein wissenschaftlich begründetes Ergebnis, nach dem die körperliche Bestrafung grundsätzlich schlecht ist. ... Wir wissen heute, nicht zuletzt durch die Erkenntnisse der Verhaltenstherapie, daß das kleine Kind durch sofortige Belohnung oder Bestrafung besonders leicht zum richtigen Verhalten geführt werden kann. Wenn ein Kind noch nicht einsehen kann, daß es irgend etwas unter keinen Umständen tun darf, ist es besser, statt zu verbieten, einen Klaps zu geben ...

Aber selbst der bedeutende österreichische Verhaltensforscher und Nobelpreisträger Konrad Lorenz, der sich in einer Arbeit "schon mit den ganz kleinen" Menschen beschäftigt, meint an einer Stelle: "Schon im Alter von wenigen Monaten (Hervorhebung durch d. Aut.) bemißt er sein Geschrei nach dem Erfolg, den er damit bei seiner Mutter hat", und spricht dann von "Brülltyrannen, die sich innerhalb weniger Tage in artige Säuglinge verwandeln und nicht mehr schreien als recht und billig, sowie sie z.B. in einer Kinderklinik oder in einer Krippe – auch nur kurze Zeit dem Einfluß ihrer allzu nachgiebigen Mutter entzogen sind." Derselbe Autor an anderer Stelle:

Die allzu weiche, liebebedürftige Mutter wagt meistens deshalb nicht, die feste Hand zu zeigen, deren ihr Kind bedarf, weil sie fürchtet, seine Liebe zu verlieren. Ein großer Irrtum! Wenn man als Onkel Doktor oder auch als wirklicher Onkel in die Lage kommt, einem solchen bis zum Neurotischwerden verzogenen Kind gegenüber zu kräftigen disziplinarischen Maßregeln zu greifen, so würde man in Anbetracht der sonstigen gehässigen Reizbarkeit und der geradezu affenartigen Bosheit, die das Kind seiner Sklavin Mutter gegenüber entwickeln kann, durchaus erwarten, daß es diese Erziehungsmaßnahmen mit äußerster Abneigung, ja mit Haß gegen den bösen Mann quittiert, der es wagt, seine Majestät zu bestrafen oder gar einmal gelinde übers Knie zu legen ...

Otto Koenig hat diese Passagen aus einer alten Arbeit seines Lehrers neuerdings abgedruckt, um diese – wie er meint richtige – Ansicht nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Moderne Verhaltenstherapeuten hingegen halten zahllose Einwände gegen die körperliche Bestrafung bereit, wie Sozialisierungsangst, Strafe als Entfremdungsinstrument, Erhöhung des Aggressionspotentials und soziale Diskriminierung, um nur einige zu nennen.

Wurzeln der Gewalt

In einer Zeit, in der die Gewalt auf der Tagesordnung steht, in der viele Staaten sich gezwungen sehen, Terrorabwehrkommandos aufzustellen, sahen wir uns veranlaßt, den Wurzeln der Gewalt nachzuspüren. Autorität, Zwang, Fremdbestimmung, drohende und gewaltsame Durchsetzungsformen der Autorität und schließlich Brutalität sind Muster zwischenmenschlicher Aktionen, die eine Generation von der anderen lernt und wieder an die nächste weitergibt. Es sind alles verschiedene Facetten aggressiven Verhaltens, bei dem der Mächtigere dem Ohnmächtigen mehr oder minder deutlich seinen Willen aufzwingt. Menschliches Zusammenleben ist sehr oft ein "Wenn-du-nicht-Status". Jeder Aufforderung ist im allgemeinen die Drohung immanent.

Ein Großteil der Menschen ist roh, gefühllos und rücksichtslos. Im Auto werden sie zu Panzerkämpfern, im Privatleben zu "Prestigetigern", im Geschäftsleben zu "Profitgeiern". Die Konkurrenz wird brutal, im Sport "total", was den höchsten Einsatz, den des eigenen und fremden Lebens bedeutet. Wer heute im Sport nicht mehr sein Leben riskiert wie im Turnier vergangener Zeiten, wird zum Feigling, von einer ganzen Nation verspottet und abgewertet.

Das private Pistolenduell wurde abgeschafft, weil der Waffengang von höchster Stelle politisch sanktioniert werden muß, aber dann gilt er für ganze Völkerschaften und wird zur Pflichtübung. Anstelle der Schießduelle haben wir das Duell auf den Bergen (ohne Sauerstoff), per Ski (190 km/h ohne Sturzraum), den Läufer, der gedopt zu Boden stürzt, und den Formel-I-Piloten, der bei 250 km/h den Gegner von der Piste rammt.

Die Welt wird nicht von der Liebe und gegenseitiger Achtung regiert, sondern von Hunger, Neid und politischen Machtkämpfen. Macht benötigt für ihre Aufrechterhaltung Aggression, Aggression braucht Opfer, Opfer sind die Schwachen. Diese müssen sich entweder fügen oder sterben.

Selbst in der Wissenschaft gelten zum Teil diese Gesetze. Mit der höchsten wissenschaftlichen Ehrung, dem Nobelpreis ausgezeichnete Mediziner sind selten Kliniker, die ihre Tage am Krankenbett verbringen. Heute werden nur Forscher geehrt, die "Grundlagenforschung" betreiben. Grundlagenforschung bedeutet in der Medizin zumeist Tierexperiment, dessen Ergebnisse in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle auf den Menschen nicht übertragbar sind. Es gibt keine Beweise dafür, daß diese Art der Forschung der Medizin bisher großen Fortschritt gebracht hätte. Ein viel sanfterer, umstrittenerer und möglicherweise trotzdem wirksamerer Zweig der Medizin – die Homöopathie –, in dem noch niemals ein Tierexperiment durchgeführt wurde, weil diese Ärzte neue Substanzen nur an sich selbst testen (!), bleibt weiterhin unbeachtet; denn wie kann etwas wirken, das kein Gift mehr enthält?! Die bereits etablierte, aber noch umstrittene Methode der Akupunktur könnte hier als ein weiteres Beispiel angeführt werden. Gefördert wird nur, was spektakuläre Ergebnisse verspricht.

Für Erziehungsforschung werden auf der ganzen Welt nur Brosamen verteilt, für die Erforschung des Weltraums, dessen Nutzen zumindest als problematisch angesehen werden kann, werden Budgets verschwendet, die Millionen Menschen ein menschenwürdigeres Dasein garantieren könnten. Die Beträge, welche die Rüstungsindustrie auf der ganzen Welt verschlingt – in Brotgetreide umgesetzt oder in Reisschalen umgerechnet –, könnten alle Menschen dieser Erde satt machen.

Erziehung – Standort und Zielsetzung

Erziehung ist auf der ganzen zivilisierten Welt eine Ausrichtung zur Fügsamkeit. Fügsamkeit ist die Garantie zur Aufrechterhaltung bestehender politischer Ordnungen, der wirksamste Schutz gegen unliebsame Strukturänderungen. Es gibt nicht nur die große nationale und internationale Politik, deren Aufgabe es ist, Machtansprüche zu verteilen, umzuschichten und zu vereiteln, es gibt auch die kleine Politik in der Familie, der Keimzelle von Herrschaftsdeterminationen. Was die Stärkeren wollen, müssen die Schwächeren dulden. Sie knirschen mit den Zähnen, verdrängen und erinnern sich doch wieder, wenn sie selbst stark geworden sind. Und so entsteht der ewige menschliche Kreislauf; immer die jüngste Generation bekommt die Rache der Elterngeneration zu spüren, die diese gegen die Großelterngeneration aufgespeichert hat. Der Schuß geht nach vorne los, statt nach hinten. Die Kinder erhalten die Ohrfeigen, welche den Großeltern gelten würden, wenn diese die aggressiven Wünsche der Eltern nicht erfolgreich tabuisiert hätten: geschlagen darf immer nur der Schwächere werden. Darum lieben unsere Kinder die Märchen vom Däumling, vom tapferen Schneiderlein und von Hans, dem Riesentöter, in denen sie sich wenigstens in der Phantasie gegen die bösen Erwachsenen austoben können.

Mit dem Gesellschaftsstatus ändern viele Menschen ihre Meinung über Erziehungsfragen, und in Meinungsbefragungen können wir dann leicht das Bild einer besonnenen, vernünftigen, zwanglosen Erziehung gewinnen. Dies täuscht aber. In der Ausnahmesituation, wenn der Erzieher, von seinen Emotionen geleitet, auf seine Verstandesreserven nicht mehr zurückgreifen kann, wird er oft wieder zum blindwütigen Schläger oder bedient sich eines sinnlosen, zwanghaften Bestrafungszeremoniells. Außerdem hat er gelernt, seine Handlungsweise nach außen hin besser zu vertuschen. Was ist schlechter: eine Arbeiterfrau, die ihrem Kind hin und wieder "eine Saftige schmiert", oder eine Akademikerfrau, die darüber lacht, wenn ihre Kinder die Polstermöbel zerschneiden, aber dafür auch ungerührt lächelt, wenn ihr Kind täglich weint, weil es in der Prestigeschule überfordert wird? Das Arbeiterkind kann sich nach der "Watsch’n" wieder erholen, es spürt nur die fallweise auftretende Gewalt, aber es unterwirft sich nicht scheinbar freiwillig einem verlogenen Zwang, acht Jahre lang eine ungeliebte Schule besuchen zu müssen, damit sich seine Eltern brüsten können. Aber was bedeutet nun eigentlich "Erziehung"? Sicherlich nicht, daß jemand ständig an den Ohren gezogen wird. Auch das körperliche Wachstum ist damit nicht gemeint, wie Dr. Schreber grob vereinfachte, indem er Erziehen mit dem pflanzlichen Hochziehen von Bohnenranken verglich und unerwünschte Eigenschaften auch bei seinen Kindern wie "Unkraut" ausrottete. (Sein ältester Sohn wurde übrigens schizophren und lebte jahrelang in Irrenanstalten, der andere Sohn machte in einem Anfall von Depression seinem Leben selbst ein Ende.) Wir sehen in ihm heute einen dem damaligen Zeitgeist entsprechenden Gewalterzieher im Medizinerkittel, der durch seine populären Schriften zur Zwangserziehung mit Folterinstrumenten ein ganzes Jahrhundert der Erziehung im deutschen Sprachraum beeinflußte. Es war dies das höchste Maß an körperlicher und geistiger Unfreiheit in der Neuzeit, unter dem Deckmantel christlicher Ideologie und der unbeabsichtigten Lüge: Alles zum Nutzen des Kindes!

Schrebers Erziehungssystem fußte ideologisch auf der Erziehung im alten Sparta, deren oberstes Ziel Härte, Verzicht und auch die Kunst des Tötens war. Auch heute erziehen ganze Völker ihre Kinder mit hölzernen Schießprügeln, um "gute Staatsbürger" aus ihnen zu machen. Und wir wissen kaum, welchen Gewalttaten Kinder an den Kriegsschauplätzen in aller Welt ausgesetzt sind.

Nun müssen wir aber gerechterweise zugeben, daß es viel leichter ist, zu sagen, was Erziehung nicht sein sollte, als zu präzisieren, wie sie sein sollte, zum Beispiel: Eltern sollten sich niemals als Schreckfiguren aufspielen, weil sie sonst das Vertrauen ihrer Kinder verlieren. Kinder, die kein Vertrauen zu ihren Eltern haben, neigen dazu, sich selbst aufzugeben. Im nachstehenden Fall ist das noch einmal gut gegangen: Ein zehnjähriges Mädchen hat solche Angst vor seinem Vater, einem mächtigen Feuerwehrhauptmann, daß es von zu Hause ausreißt, als der Lehrer mit einer Meldung wegen "vergessener" Hausaufgaben droht. Bevor es wegläuft, gibt das Kind ein Zeichen: es wirft Schultasche und Handarbeitskoffer ins Depot der Feuerwehr. Der Vater wird aufmerksam und leitet eine Großaktion ein, seine Tochter zu suchen. Hat er sie aber jemals vorher "gesucht", oder hat der korpulente Riese, der harte Feuerwehrmänner kommandiert, zu Hause auch nur mit seiner Macht gespielt, um Frau und Kind erbeben zu lassen? Sowohl der Vater als auch der Lehrer kannten die Angst des Kindes, und der Pädagoge setzte bewußt den Vater als Schreckmittel ein! War die Handlung des Kindes, das sich völlig erschöpft zu seinen Großeltern geflüchtet hatte, geeignet, Vater und Lehrer zu lehren, bessere Erzieher zu werden? Wir wissen es nicht. Denn alle waren glücklich, als das Kind gefunden wurde. Wahrscheinlich aber wurde es innerhalb kürzester Zeit wieder angebrüllt und vielleicht sogar geschlagen.

Die Beispiele ließen sich in beliebiger Form fortsetzen. Aber sie würden alle nur das eine ergeben: daß es dringend nötig ist, unsere Einstellung Kindern gegenüber zu ändern. Es klingt ganz einfach und kann doch nicht oft genug gesagt werden: Man muß Kinder wirklich liebhaben, sonst können sie nicht wachsen! Manchmal sterben Kinder aus Mangel an Zärtlichkeit oder werden debil, weil ihre Bedürfnisse nicht erkannt und ihre Fähigkeiten nicht entwickelt werden. Die selbstlose, aufopfernde Liebe der Eltern zu ihren Kindern ist ebenso wichtig wie die Nahrung. Und zur Liebe muß die Geduld kommen. Eltern, die nicht warten können, die keine Zeit haben, für andere da zu sein, schädigen ihre Kinder aufs schwerste. Und was ist nun Erziehung wissenschaftlich gesehen? In erster Linie die Anpassung an die Normen und Institutionen der jeweiligen Gesellschaft. Änderungen dieser Normen sind meist nur von "oben" möglich und gehen nur sehr schleichend vor sich. Die generelle Unzufriedenheit mit solchen entwicklungsunfähigen Gesellschaftsmodellen verursacht in gewissen Abständen immer wieder radikale Änderungen, die aber selbst bald wieder zum System erstarren.

Ein Beispiel dafür bilden die Gemeinschaftsstrafen. Sie sind in unseren Schulen angeblich abgeschafft worden, aber sie kommen, sehr unvollkommen maskiert, als "Extrazetterl" und "Erinnerungsübung" bei der Hintertür wieder herein. Die Erziehungsformen sind noch nicht so weit entwickelt, daß die Erzieher ohne Strafen auskommen könnten. Also ist Erziehung nach wie vor die Durchsetzung der Anerkennung von Forderungen der Erwachsenen unter Zuhilfenahme von Drohungen und Strafen. Unsere heutige Geisteshaltung fußt noch in mancherlei Hinsicht auf den philosophischen Wurzeln früherer Jahrhunderte bis Jahrtausende, die, wie wir heute erkennen, uns in vielem in die Irre geführt haben.

Descartes und die Vertreter vieler noch früher anzusetzender kirchlicher Geisteshaltungen zeigten Verachtung für die animalische Kreatur. Thomas von Aquin sprach sogar der Frau eine Seele ab. Die gefährliche Meinung: Da Kinder noch keine Vernunft hätten, müsse man sie ihnen einbleuen, ist heute noch weit verbreitet. Kinder handeln jedoch genauso vernünftig oder unvernünftig, wie sie es von ihren erwachsenen Vorbildern lernen. Selbst wenn sie sich einer Einsicht widersetzen, zu der sie geistig schon fähig wären, kann man nicht von Schuld sprechen. Es ist schon richtig, daß das Kind bereits sehr früh eine ganz eigene unverwechselbare Persönlichkeit besitzt, die auch in der Lage ist, sich durchaus (falsch?) gegen eine Bestimmung seiner Eltern zu entscheiden. Aber man kann die vermeintlich richtige Einsicht nicht durch Prügel erzwingen, sondern in erster Linie durch Güte, Liebe, Verständnis, Geduld und Zuwendung.

Die Argumentation, nur geschlagene Kinder werden auch gute Kinder, erinnert uns an die Zeiten der Inquisition:

Genau wie im dunklen Mittelalter ihresgleichen die Menschen, die Hexenjagd und religiöse Folterung nicht billigten, als Antihumanitäre und als Ketzer brandmarkten, da ja die Folterungen angeblich der Seelenläuterung dienten, und wie noch im vorigen Jahrhundert diejenigen, die ihr Geld in den Sklavenhandel gesteckt hatten, ihre Gegner bezichtigten, die Wirtschaft zu ruinieren und folglich die Kinder hungern lassen zu wollen.

Ein äußerst gut parierendes Kind läßt den Verdacht aufkommen, daß hier bereits eine Schädigung vorliegt, daß hier eine Zwangsanpassung vorgenommen wurde unter dem Druck einer strengen Erziehung. "Schlimme" Kinder sind seelisch gesündere Kinder, mögen sie noch so strapaziös sein. Brave Kinder sind der Stolz einer Familie, und wer möchte nicht ein "braves" Kind vorzeigen können. Aber bei besonders braven Kindern müssen wir uns genauso wie bei extrem schlimmen Kindern fragen, ob hier nicht mit der Persönlichkeit des Kindes eine oft irreparable Manipulation stattgefunden hat.

Aus einer jüngst vorgestellten Studie der beiden deutschen Erziehungswissenschaftler Walter Schurian und Karl Walter Hors geht hervor, daß besonders aggressive Kinder sich später leichter und besser einordnen als die stillen, wohlerzogenen.

Wie aber sollte oder könnte nun Erziehung auch anders gestaltet werden? Erziehung könnte in erster Linie ein ungehindertes Entstehen lassen, eine möglichst wenig eingeschränkte Entfaltung der kindlichen Persönlichkeit mit Betonung auf Förderung aller Wachstums- und Entwicklungsmöglichkeiten sein. Eine begleitende Betreuung mit vorsichtiger Anpassung ohne Zwang und Gewalt an die Realität ist notwendig und möglich. Erziehung sollte vor allem Erfassung und Einfühlung in die kindliche Persönlichkeit sein. Ein guter Erzieher muß auch nachsichtig sein und Milde walten lassen. Außerdem ist Erziehung keine todernste Angelegenheit, sondern sollte in einem humorvollen Klima vonstatten gehen.

Liebe, Geduld, Nachsicht und Humor sind Grundeigenschaften idealer Erzieher. Liebe kann vereinfacht, aber einprägsam durch die drei großen "Z" ausgedrückt werden: Zärtlichkeit, Zuwendung, Zeit. (Wir halten es übrigens für eine sehr nützliche Anregung, auch in psychologischen Abhandlungen werbetextähnliche Formulierungen als motivierenden Faktor zu verwenden!) In den meisten pädagogischen Schriften vermissen wir außerdem den Humor. Zu den wenigen, die ihn praktizierten und auf seine Bedeutung ganz besonders hingewiesen haben, gehören A. S. Neill und H. Zulliger. Zulliger hat die tiefe pädagogische Bedeutung des Humors erkannt und lehrt uns unter anderem noch zwei wesentliche Dinge: Man soll auch manchmal einem Kind Glauben schenken, wenn es in seiner Not lügt, es nicht um jeden Preis entlarven; und man kann auch einmal eine Sache glatt übergehen. Das kindliche Gewissen kann daraus mehr gewinnen, als wenn man die Angelegenheit zu einer großen Sache aufgebauscht hätte.

Schutz des Kindes

Wir sollten uns einmal folgende alarmierende Zahlen vor Augen halten: In unserem Kulturkreis leiden 15% der Bevölkerung an schweren psychosozialen Störungen, weitere 20% an solchen leichteren Grades.

Leider fehlen gerade in Österreich, der Heimat eines Sigmund Freud und vieler seiner Schüler, die im Ausland hohe Bedeutung erlangten, eine gerechte Einschätzung der Psychotherapie und eine starke psychohygienische Bewegung.

Im besonderen ist die Zahl der kinderpsychiatrischen Einrichtungen in Österreich viel zu klein und außerdem meistens auf Universitätskliniken beschränkt; die Behandlung und Forschung auf dem Gebiet der Jugendpsychiatrie verfügt nur über minimale Möglichkeiten.

Wir sollten uns aber dessen bewußt sein, daß die Medizin, die in den letzten hundert Jahren die großen Volksseuchen in einem eindrucksvollen Siegeszug überwunden hat, im vorgeschrittenen Industriezeitalter die seelische Gesundheit zum vordringlichen Ziel machen muß. Und zwar muß man damit beginnen, die Arbeit im Vorfeld der Psychiatrie voranzutreiben. Das Vorfeld der Psychiatrie fängt in der Schwangerschaft an. Die Vorbereitung nicht nur der Mutter, sondern beider Elternteile und der Geschwister auf die Ankunft eines neuen Erdenbürgers ist von unschätzbarer Bedeutung. Die ungeheuer wichtige Frage der idealen Psychohygiene bei der Geburt wird bei uns gerade erst aufgeworfen, Rooming-in wird erst an wenigen Kliniken praktiziert. Die österreichische Mutter ist stillfaul geworden, darin unterstützt von falschen Ratschlägen vieler Fachleute. Eine Bewegung zur Hebung des Stillbewußtseins und der Stillfreudigkeit ist gerade erst im Entstehen.

Der Mutterberatung müßte eine wirksame Elternberatung zur Seite gestellt werden, psychologische Fragen sind von viel größerer Bedeutung als das Feilschen um einige Gramm bei der Säuglingsernährung. Es ist als sicher anzusehen, daß das Defizit menschlicher, nicht nur mütterlicher Wärme in der allerersten Lebenszeit (Schwangerschaft, Kreißsaal, Wochenbett) eine der Ursachen für die zunehmende Selbstzerstörungstendenz, aber auch für die Feindseligkeit ist, die Menschen gegeneinander hegen. Zwischen den beiden Weltkriegen hat es wesentlich mehr Kinderberatungsstellen gegeben als heute, einige der größten Erziehungswissenschaftler jener Zeit haben in Österreich gewirkt.

Es ist ein großes Verdienst modern denkender Politiker, daß sie sich nicht scheuen, auch unpopuläre wissenschaftliche Untersuchungen zu unterstützen. Nur wenn es der Wissenschaft gelingt, die Öffentlichkeit von der eminenten Bedeutung soziokultureller Forschung zu überzeugen, können vermehrte Anstrengungen in dieser Richtung unternommen werden. Jede menschliche Gemeinschaft, welche die Art und Weise sowie die Hintergründe und Gefahren ihrer Erziehungsnormen und ihres Erziehungsverhaltens nicht laufend kritisch reflektiert, sondern ignoriert oder sogar verleugnet, läuft Gefahr, seelisch und körperlich kranke Kinder zu erzeugen.

Und ist es nicht von erschreckender Symptomatik, daß erst vor einigen Jahren in Österreich ein Verein zum Schutz der Kinder vor Gewaltanwendung gegründet wurde?

Wer eine Bewegung zum Schutz der Kinder startet, kämpft für eine stumme Masse, die, selbst unmündig und nicht fähig, sich zu orientieren, an diesem Kampf nicht teilnehmen kann. Es sei uns ein Vergleich mit den weltweiten Bemühungen um den Schutz aller animalischen Kreatur gestattet:

Alle Tierschutzbewegungen sind im Vergleich zu anderen humanitären Bewegungen im Nachteil. Wer sich als erster für soziale Gerechtigkeit einsetzte, der konnte die Arbeiterklassen zusammenschließen, die persönlich daran interessiert waren. Diejenigen, die als erste in England die Gleichberechtigung der Frau forderten, konnten mit den Frauen als Verbündete rechnen. Diejenigen, die in den Vereinigten Staaten als erste für die Rechte der Neger kämpften, wußten, daß die Neger an dem Kampf teilnehmen würden. Doch diejenigen, die sich für Tiere einsetzen, können nicht mit der Hilfe der Tiere rechnen, sondern sind allein auf sich selbst angewiesen.

Im gleichen Sinne kann man sagen: Diejenigen, die sich für die Kinder einsetzen, können nicht mit der Hilfe der Betroffenen rechnen. Die Kinder sind die größte schweigende Masse dieser Welt!

Das Foto eines durch Hunger ausgezehrten österreichischen Säuglings, der nur einer von mehr als vier Millionen verhungernder Kinder in Europa nach dem Ersten Weltkrieg war, hatte im Jahre 1919 die Engländerin Eglantyne Jebb veranlaßt, einen Kinderhilfsfonds zu gründen und eine Charta des Kinderrechts zu entwerfen. Dieser Kinderhilfsfonds ist heute noch Englands größte internationale Wohltätigkeitseinrichtung. Eglantyne Jebbs Magna Charta für die Jugend wurde später vom Völkerbund übernommen und 1959 in die Deklaration der Vereinten Nationen eingearbeitet.

UNO-Generalsekretär Kurt Waldheim sagte über Frau Jebb, sie habe "eine tiefe Wirkung auf die Wertvorstellungen einer ganzen Generation" gehabt. Mit dem Ausklingen des Jahres des Kindes wollen wir dieser großen Frau gedenken, die Millionen Kindern half, und wir wollen in ihrem Sinne ein Werk fortsetzen helfen, das nicht nur das körperliche Wohlergehen, sondern auch die seelisch-geistige Gesundheit des Kindes im Auge hat. Wir hoffen – was jetzt noch als Utopie erscheinen mag –, die Charta des Kinderrechts möge einmal auch explizit den Passus enthalten, daß Eltern davon Abstand nehmen sollen, ihre Kinder körperlich zu züchtigen.

Vom Sinn und Wert der Strafe

Die Erziehung steht der Beobachtung der Kinder seit Jahrhunderten etwa so gegenüber, wie ein strenger Lehrer, der an die Aufklärung jedes Vorfalles unter seinen Schülern schon mit Ärger und Enttäuschung herangeht. (Anna Freud)

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