Auszüge aus Alice Miller's
"Das verbannte Wissen"

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Vorwort

Im Unterschied zum Tier, das in der Regel kurze Zeit nach der Geburt eigenständig ist, bleibt das menschliche Neugeborene lange, sehr lange auf Hilfe angewiesen. Es kommt als ein Bündel von Bedürfnissen zur Welt und braucht unbedingt die Wärme menschlicher Arme, wachsamer Augen und liebkosender Berührungen. Brutkästen und elektrische Wärme sind nur ein sehr unzulänglicher Ersatz dafür, und die Berührung mit kalten Instrumenten kann eine Folter sein. Das Baby braucht die Gewißheit, daß es in jeder Situation beschützt wird, daß sein Kommen erwünscht war, daß sein Schreien gehört, seine Blicke beantwortet und seine Angst beruhigt werden. Es braucht die Sicherheit, daß sein Hunger und Durst gestillt, sein Körper liebevoll gepflegt und seine Not niemals ignoriert werden.

Ist das zuviel verlangt? Unter Umständen viel zuviel, eine große Bürde, unter anderen Umständen hingegen eine Freude und Bereicherung. Das hängt ganz davon ab, was die Eltern selbst einst erfuhren und was sie zu geben haben. Doch dessen ungeachtet – jedes Kind ist auf die Erfüllung seiner Bedürfnisse angewiesen, weil es sich selbst nicht helfen kann. Es kann zwar schreien, um Hilfe herbeizurufen, aber es ist ganz davon abhängig, daß seine Umgebung den Schrei hört, ihn ernstnimmt, die dahinterliegenden Bedürfnisse erfüllt und nicht die Schreie haßerfüllt bestraft oder sie gar mit Hilfe von Beruhigungsmitteln verhindert.

Die einzige Möglichkeit zur Selbsthilfe, die einem Baby übrigbleibt, wenn sein Schrei nicht erhört wird, ist die Verdrängung der Schmerzen, was eine Verstümmelung der eigenen Seele bedeutet. Denn dadurch wird seine Fähigkeit zu fühlen, wahrzunehmen und sich zu erinnern zerstört.

Wenn diese angeborene Fähigkeit nicht weiter entwickelt werden kann, weiß man später zum Beispiel nicht, was es heißt, schutzlos zu sein, und ist nicht in der Lage, seinem Kind den Schutz und die Liebe zu geben, die dieses ebenfalls dringend brauchen wird. Eltern, die niemals Liebe erfahren haben, die auf Kälte, Stumpfheit, Gleichgültigkeit und Blindheit gestoßen sind, als sie zur Welt kamen, und deren ganze Kindheit und Jugend in dieser Atmosphäre verlief, können Liebe nicht schenken – wie sollten sie auch, wenn sie doch gar nicht wissen, was Liebe ist und sein kann? Trotzdem werden ihre Kinder überleben. Und wie die Eltern werden auch sie sich nicht daran erinnern, welchen Qualen sie einst ausgesetzt waren, weil sowohl all diese Qualen als auch die dazugehörenden Bedürfnisse verdrängt, das heißt aus dem Bewußtsein vollständig verbannt worden sind.

Wenn ein Mensch in eine kalte, gleichgültige Welt hineingeboren wird, betrachtet er diese als die einzig mögliche. Das, was er später glaubt, vertritt, für richtig hält, ist auf diesen ersten prägenden Erfahrungen aufgebaut. Daß dieser Preis des Überlebens nicht nur für einen einzelnen Menschen viel zu hoch ist, sondern sich auch als die größte Gefahr für die ganze Menschheit entpuppt, läßt sich heute bereits nachweisen. Tierexperimente haben schon in den fünfziger Jahren gezeigt: Affen, die man nach der Geburt von ihren Müttern trennte und mit Mutterattrappen aus Stoff aufzog, zeigten keine mütterlichen "Instinkte", wenn sie selbst später Junge zur Welt brachten. Und es liegen bereits Statistiken vor, die klare Zusammenhänge zwischen frühen Verwahrlosungen und Mißhandlungen und der späteren Gewalttätigkeit eines Menschen eindeutig beweisen (vgl. z.B. Newsletter of the American Psychological Association, Dez. 1983). Warum werden kaum Schlüsse aus diesen Statistiken gezogen? Die Verdrängung der einst erlittenen Qualen und deren Preis macht die Menschen taub für die Schreie der Kinder und blind für die offensichtlichen Zusammenhänge. So werden die aus den Statistiken klar ersichtlichen Fakten ignoriert, um den Durchbruch der einst verdrängten Schmerzen, um die Erkenntnis der Wahrheit zu verhindern. ...

Der folgenschwere Schlaf der Menschheit

Eine Sankt-Nikolaus-Feier

Es gibt viele Beispiele dafür, wie die Verdrängung des eigenen Leids unser Mitgefühl für das Leid anderer zerstört. Ich greife ein äußerlich harmloses Beispiel heraus und werde ausführlich darauf eingehen. Auf einem Waldspaziergang stieß ich zufällig auf ein Fest. Mehrere Familien waren mit ihren Kindern gekommen, hatten am Waldrand Lichter angezündet und den Sankt Nikolaus eingeladen. Dieser Einladung geht traditionsgemäß voraus, daß die jungen Mütter den Nikolaus über das Verhalten und Benehmen ihrer Kinder informieren und er die Sünden in einem großen Buch registriert, damit er zu den Kindern so reden kann, als ob er allwissend wäre. Die Mütter erhoffen sich dadurch Unterstützung für ihre Erziehungsmaßnahmen, und sie bekommen sie auch. Denn das ganze Jahr hindurch können sie sich auf dieses Gespräch berufen und sagen: Der Sankt Nikolaus sieht alles, du hast es ja selber erfahren, schau, daß er nächstes Mal mit dir zufrieden ist!

Wie spielte sich die Feier ab, deren Zeugin ich zufällig wurde? Ungefähr zehn Kinder – eins nach dem anderen – wurden vom Sankt Nikolaus zuerst gerügt und dann gelobt. Nur ein einziges Mädchen wurde nicht getadelt, weil seine Mutter offenbar nicht das Bedürfnis gehabt hatte, die Vergehen ihres Kindes vorher schriftlich einem fremden Mann mitzuteilen. Die Reden des Nikolaus hörten sich ungefähr so an: "Wo ist die kleine Vera?" Es meldete sich ein kaum zweijähriges kleines Mädchen mit einem arglosen, erwartungsvollen Blick. Sie schaute offen und neugierig in das Gesicht des Sankt Nikolaus.

Ja, Vera, das gefällt dem Nikolaus gar nicht, daß du deine Spielsachen nicht alleine aufräumen willst. Mutti hat keine Zeit dafür, du bist schon groß genug, um zu verstehen, daß du nach dem Spielen dein Spielzeug aufräumen mußt und daß du auch schön mit deinem Brüderchen teilen und nicht alles für dich alleine haben sollst. Das muß sich schon noch bessern im nächsten Jahr, das wollen wir hoffen. Der Sankt Nikolaus wird in dein Zimmer hineinschauen und sehen, ob du dich gebessert hast. Er hat aber auch gute Sachen festgestellt: du hilfst deiner Mutter beim Aufräumen nach dem Essen, und du kannst auch schön alleine spielen und manchmal auch zeichnen, ohne daß Mutti dabeisitzen muß. Das ist sehr gut, denn Mutti hat keine Zeit, immer bei dir zu sitzen, sie hat ja auch noch das Brüderchen und den Papa, und sie braucht eine Vera, die selber etwas machen kann. So, Vera, hast du auch ein Liedchen auswendig gelernt für den Nikolaus?

Vera stand ganz verängstigt da, konnte kein Wort hervorbringen, so daß die Mutter an ihrer Stelle das Liedchen sang, das Vera vorbereitet hatte. Am Schluß bekam das Kind ein Päckchen aus dem Sack.

Nun war das nächste Kind an der Reihe:

So, so, Stefan, du brauchst immer noch den Schnuller, da bist du ja viel zu groß dafür (Stefan ist kaum zweieinhalb Jahre alt). Hast du den Schnuller mitgebracht, dann kannst du ihn gleich dem Nikolaus geben (die anderen Kinder lachen). Nein, du hast ihn nicht mitgebracht? Dann legst du ihn heute abend auf deinen Nachttisch oder gibst ihn deinem kleinen Bruder. Du brauchst keinen Schnuller mehr, du bist viel zu groß dafür. Der Nikolaus hat auch beobachtet, daß du am Tisch nicht sehr artig bist, immer dreinredest, wenn die Erwachsenen miteinander sprechen, du mußt aber die Großen reden lassen, du bist noch viel zu klein, um ständig die anderen zu stören.

Der kleine Stefan schien mir den Tränen nahe, er stand völlig verängstigt da, vor allen beschämt, und ich versuchte, ihm das Gefühl zu geben, daß er nicht völlig rechtlos ist. Ich sagte: "Vorher grad meinten Sie, er sei zu groß für den Schnuller, und jetzt sagen Sie, er sei zu klein, um am Tisch zu sprechen. Stefan wird selber ganz genau wissen, wann er den Schnuller nicht mehr braucht." Da wurde ich von einigen Müttern unterbrochen, weil meine Worte nicht im geringsten in diese heilige Zeremonie paßten, und eine Mutter wies mich in die Schranken: "Hier sagt aber der Sankt Nikolaus, was Stefan machen muß."

So gab ich meine guten Absichten auf und beschränkte mich darauf, die Szene mit einem kleinen Gerät aufzunehmen, weil ich meinen Ohren kaum trauen konnte. Die Szene lief genau so weiter, wie sie begonnen hatte: Niemandem fiel die Grausamkeit auf, niemand sah die verstörten Gesichter (obwohl die Väter ständig mit Blitzlichtern fotografierten), niemandem fiel es auf, daß jedes der ausgeschimpften Kinder am Schluß seinen Text für das Gedichtchen oder die Lieder nicht mehr erinnern konnte, überhaupt seine Stimme nicht mehr fand, auch kaum danke sagen konnte, daß keines der Kinder frei lächelte, daß sie alle wie in Angst erstarrt wirkten. Niemand merkte, daß hier im Grunde ein übles Machtspiel mit den Kindern gespielt wurde.

So mußte sich zum Beispiel ein kaum zweijähriger Junge folgendes anhören:

So, so, Kaspar, ich habe gesehen, daß du dein Spielzeug herumwirfst. Das ist sehr gefährlich, du könntest deine Mutter am Kopf treffen, dann muß sie ins Bett gehen und kann nicht mehr für euch sorgen, kann nicht mehr kochen, und dann bekommst du nichts zu essen. Oder du kannst deinen Bruder treffen oder deinen Papa und dann müssen beide ins Bett gehen, Mutti ist mit ihnen beschäftigt und muß ihnen das Essen bringen. Dann kannst du nicht mehr spielen, du mußt Mutti helfen.
Und in diesem Stil ging es weiter.

Ich war gar nicht sicher, ob dieser kleine Junge überhaupt etwas verstanden hatte, weil er sehr verwirrt dreinschaute. Wenn er aber etwas aufnehmen konnte, dann war es der unzufriedene Ton und die Information, daß er Unheil über seine Familie bringen könnte und als Strafe dafür seine Mutter entbehren müßte. Ob er wirklich verstanden hat, was ihn zu dieser Familiengefahr machte, ist sehr zu bezweifeln. Doch sein Unbehagen war mehr als deutlich. Seine lächelnde Mutter schien das aber nicht wahrgenommen zu haben.

Jedes der Kinder wollte dem Nikolaus gefallen, wollte etwas Gutes hören, aber bevor es das "Gute" vernahm, hörte es, was es schlecht gemacht hatte. Damit waren seine Offenheit und Aufmerksamkeit bereits gestört. Denn die Rüge erzeugte Angst, und diese Angst mußte verdrängt werden, um die Feier in guter Erinnerung behalten zu können – ganz so, wie es die Eltern von diesen Kindern erwarteten. Das Unbewußte wird zwar nie von der Gewißheit loskommen, daß bereits das kleine Kind bösartig war, aber sein Bewußtsein wird an der schönen Version dieser Feier jahrzehntelang festhalten. Deshalb werden die späteren Eltern ihre Kinder genauso behandeln und von ihnen ebenfalls die große Freude an der schönen Feier erwarten, ohne sich die Frage zu stellen, weshalb man ein Kind einer solchen Prozedur überhaupt aussetzt.

Die größte Tugend, die Sankt Nikolaus in seiner Eigenschaft als Sprachrohr der Eltern den einzelnen Kindern attestierte, war ihre Fähigkeit, alleine spielen zu können und ihre Mütter nicht zu brauchen. Bei einem Kind hieß es sogar wörtlich:

Da hab ich etwas Gutes von dir zu berichten: Du hilfst deiner Mama beim Tischabräumen, das ist auch nötig, weil Mama nicht alles alleine machen kann; aber vergiß nicht, deine Spielsachen schön aufzuräumen, da kann Mama dir nicht helfen, das mußt du alleine machen.

Auch diese Argumentation erschien dem Nikolaus logisch: Dem dreijährigen Kind muß die Mama nicht helfen, das Kind muß der Mama helfen. Die Hilfsbereitschaft war ebenfalls eine der wenigen positiven Leistungen der Kinder: Du kannst gut allein sein, du kannst schön dein Spielzeug aufräumen, du kannst mit deinem kleinen Brüderchen teilen, und du brauchst deine Mutter nicht. Gerügt wurden hingegen das Reden, das Sichwehren, das Noch-nicht-Erwachsen-Sein und die natürlichen Bedürfnisse des Kindes nach Hilfe, nach Zuwendung und nach Trost. Denn der Schnuller ist für den dreijährigen Jungen, der ein kleines Brüderchen hat und diesem beim Gestilltwerden zuschauen muß, häufig nichts anderes als ein Trost in seiner Einsamkeit. Er ist eine Hilfe bei seiner Anstrengung, seine Gefühle der Eifersucht, die er ja seiner Mutter ersparen möchte, zu unterdrücken.

Auf den ersten Blick ist es erstaunlich, daß hier keinem Erwachsenen die Angst der Kinder und die Bedrohlichkeit des Sankt Nikolaus aufgefallen ist. Die Mütter wirkten keineswegs lieblos; sie gaben sich Mühe, den Kindern zu helfen, ihr Lied zu singen oder das Gedichtchen aufzusagen. Sie waren sichtbar bemüht, ihren Kindern ein schönes Fest zu bereiten, ein Erlebnis, an das die Kinder mit Freude, Rührung und Dankbarkeit zurückblicken sollten. Vielleicht haben sie ihr Ziel sogar erreicht, wenn es all den Kindern gelungen ist, nur die schöne Erinnerung im Bewußtsein zu behalten. Doch zweifellos mußten sie dazu intensive Gefühle verdrängen: die Angst vor diesem fremden Mann, der alle ihre Vergehen so genau zu kennen schien wie der allwissende Gott, die ohnmächtige Wut, sich als Kind nirgends verstecken zu können, und die Scham wegen der öffentlichen Rüge. Das Schlimmste schien mir jedoch, daß die Kinder mit all diesen Gefühlen allein gelassen wurden; die lächelnden Mütter hatten ganz offensichtlich kein Verständnis dafür, denn sonst hätten sie ihre Kinder niemals dieser Situation ausgesetzt.

Warum fehlte diesen Müttern das Verständnis? Warum haben sie alle bis auf eine Ausnahme ihr Kind einem Fremden ausgeliefert, ihre Verantwortung an ihn delegiert, ihr Kind denunziert und zugelassen, daß es öffentlich von einer ihm unbekannten Person gerügt wurde? Warum haben sie zugelassen, daß andere Kinder es auslachten? Warum haben sie ihrem Kind all diese Gefühle zugemutet und es nicht in Schutz genommen, sich nicht mit dem wehrlosen Kind identifiziert?

Die geläufigste Erklärung ist immer die Überforderung der Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder. Man denkt vielleicht: Die Hilfe des Sankt Nikolaus ist nun einmal institutionalisiert, warum sollte man nicht davon Gebrauch machen und Nützliches mit einer schönen Tradition verbinden? Doch der Sankt Nikolaus, auf den dieser Brauch zurückgeht, war ein Bischof, der in der Weihnachtszeit an arme Menschen Nahrung verteilte, aber keine erzieherischen Ratschläge damit verband und nicht mit der Rute drohte. Erst die erzieherischen Bemühungen der Eltern machten aus ihm eine strafende und lobende Instanz. Das ging so weit, daß noch im Nachkriegsdeutschland der Sankt Nikolaus manchmal mit einem Sack erschien, aus dem ein Kinderbein herausragte, damit das gerügte Kind gar keinen Zweifel daran hatte, daß es für seine Untaten in den Sack gesteckt werden kann.

Diese Information half mir unter anderem, die Haltung der heutigen Eltern zu verstehen. Eltern, die ihre Kinder noch vor dreißig Jahren einer solchen massiven Bedrohung ausgesetzt haben, gaben dem Kind gewiß keine Gelegenheit, sich gegen diese Grausamkeit zu wehren. Die Gefühle mußten verdrängt werden. Wenn diese ehemaligen Kinder heute Mütter oder Väter sind und ein Fest mit dem Sankt Nikolaus organisieren, dann muß man sich nicht wundern, daß ihr Mitgefühl für ihr Kind in diesem Moment blockiert ist, daß ihre panischen, vor dreißig Jahren verdrängten Ängste für sie heute eine Barriere bilden, die sie vom Gefühlsleben ihrer Kinder trennt. Was ich nicht sehen durfte, darfst auch du nicht sehen; was mir nicht geschadet hat, wird auch dir nicht schaden.

Aber stimmt es denn, daß es ihnen nicht geschadet hat, daß jede Tradition, nur weil sie in schönen Farben und Lichtern daherkommt, etwas Schönes, Gutes und Harmloses ist? Mit solchen Veranstaltungen und durch ihre Haltung erzeugen die Eltern im Kind die angstvolle Gewißheit, böse zu sein; eine Gewißheit, die es immer im Unbewußten behalten wird. Zugleich verunmöglichen sie ihm die Wahrnehmung der ihm zugefügten Grausamkeiten und verursachen seine spätere Blindheit. Wenn die Mütter vor dreißig Jahren nicht ähnliche Grausamkeiten hätten verdrängen müssen, hätten sie heute offene Augen und Ohren für die Situation ihrer Kinder und würden sicher nicht zulassen, daß diese bedroht, geängstigt, beschämt, öffentlich ausgelacht und allein gelassen werden. Sie würden sicher nicht das ganze Jahr die Hilfe des Sankt Nikolaus brauchen, um ihre Kinder damit zu erpressen und sie so wiederum zu Erpressern zu erziehen. Sie würden heute schon darum bemüht sein, daß ihre Kinder weniger verdrängen müssen und später als Erwachsene für das, was sie tun, mehr Verantwortung übernehmen können.

Es gibt Menschen, die mir Übertreibung vorwerfen, wenn ich von Kindesmißhandlungen spreche, wo es sich bloß um eine zwar strenge, aber "normale Erziehung" handelt, die "nichts Außergewöhnliches" aufweist. Doch gerade weil diese Art der Erziehung so verbreitet ist, muß unbedingt davor gewarnt werden.

Morden für die Unschuld der Eltern

Je eindeutiger ich in meinen Äußerungen werde, um so mehr lerne ich von den Reaktionen anderer. Manche Reaktionen fordern mich heraus und regen mich zum Weiterdenken und Präzisieren an. So erging es mir auch mit den häufig geäußerten Fragen nach der Unschuld der Eltern, die sich etwa so zusammenfassen lassen:

Aber Sie meinen doch nicht, die Eltern seien schuldig, wenn sie ihr Kind aus Verzweiflung mißbrauchen? Sie haben doch selbst geschrieben, daß die Eltern unter dem Zwang stehen, die unbewußten Traumen ihrer Kindheit auf ihre eigenen Kinder zu übertragen, und deshalb ihre Kinder mißhandeln, vernachlässigen, sexuell mißbrauchen.

Solche Argumente machten mir klar, daß ich jetzt einen Schritt tun muß, den ich in meinen ersten Büchern noch nicht zu tun wagte. Ich gehe dabei von der ganz einfachen Erkenntnis aus, die eigentlich von niemandem bezweifelt werden kann und die lautet: Jeder, der menschliches Leben zerstört, macht sich schuldig. Diese Erkenntnis steht im Einklang mit unserer Gesetzgebung, nach diesem Prinzip werden Menschen zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt, und niemand wird mir widersprechen, wenn ich dies als allgemeinen ethischen Grundsatz unserer Gesellschaft bezeichne. Auch wenn ich für "jeder" verschiedene berufliche Bezeichnungen einsetze, verliert dieser Satz nicht an Gültigkeit, außer vielleicht für die Berufe "General" und "Politiker". Denn diesen Berufsgruppen wird es ohne weiteres zugebilligt, daß sie Menschen in den Tod schicken, ohne dafür die Verantwortung tragen zu müssen. Aber in Zeiten des Friedens ist es nicht erlaubt, Menschenleben zu zerstören, und dieses Verbrechen wird geahndet. Mit einer Ausnahme: Eltern dürfen das Leben ihrer Kinder straflos zerstören. Obwohl es sich um eine Zerstörung handelt, die sich in den meisten Fällen in der nächsten Generation wiederholt, ist sie durchaus nicht verboten, es ist nur verboten, dies als einen Skandal zu bezeichnen. Dieses Tabu hat mich lange daran gehindert, die Schuld der Eltern klar zu sehen und zu formulieren. Doch vor allem hatte ich Angst davor, auch meine Eltern in Frage stellen zu müssen, weil ich offenbar mein Leben lang das Gefühl fürchtete, das das Erlebnis meiner früheren Situation wecken würde: das Gefühl, von Eltern abhängig gewesen zu sein, die keine Ahnung von den Bedürfnissen des Kindes und von ihrer eigenen Verantwortung hatten. Für alles, was sie taten und an mir versäumten, fand ich immer unzählige Erklärungen, um nicht fragen zu müssen:

Warum habt ihr mir das angetan? Warum hast du, Mutter, mich nicht beschützt, dich nicht um mich gekümmert, warum hast du meine Äußerungen ignoriert, warum waren dir deine Versionen von mir wichtiger als die Wahrheit, warum hast du dich nie bei mir entschuldigt, nie meine Wahrnehmungen bestätigt? Warum hast du mich für das beschuldigt und bestraft, was eindeutig du verursacht hast?

All diese Fragen habe ich als Kind nie stellen können. Und später, im Erwachsenenleben, kannte ich ja die Antworten oder meinte sie zu kennen. Ich sagte mir: Meine Mutter hatte es als Kind schwer, hat alles verdrängt und ihre Eltern idealisiert, meine Mutter glaubte an die Erziehung, wie jeder damals an sie glaubte. Sie wußte nicht, wie ich litt, weil sie aus der eigenen Geschichte heraus gar keine Antennen für die kindliche Seele haben konnte und weil sie von der Gesellschaft in ihrer Meinung bestätigt wurde, das Kind müsse zum fügsamen Roboter erzogen werden, auf Kosten der Vernichtung seiner Seele. Kann man eine Frau beschuldigen, die nichts Besseres wußte? Heute würde ich sagen, daß man es nicht nur tun kann, sondern sogar muß, damit deutlich wird, was Kindern stündlich passiert, und damit auch die unglücklichen Mütter endlich einmal wahrnehmen dürfen, was ihnen in ihrer Kindheit zugefügt wurde. Denn die Angst, Eltern zu beschuldigen, verstärkt den Status quo: es bleibt bei der Ahnungslosigkeit und der Weitergabe kinderfeindlicher Haltungen. Dieser gefährliche Teufelskreis muß durchbrochen werden. Es sind ja gerade die unwissenden Eltern, die sich verschulden – den bewußten Eltern "passiert" es nicht.

Ein Kind, das nicht verletzt, nicht mißbraucht wird, kann seiner Mutter sagen oder zeigen, wenn sie es wütend macht und ihm weh tut. Diese Möglichkeit hatte ich nicht. Ich hätte beim leisesten Widerstand die schlimmsten Strafen befürchten müssen, und ich mußte nicht nur schweigen, ich mußte die Erinnerungen verdrängen und meine Gefühle abtöten. All das bemerkte meine Mutter nicht, sie konnte ruhig weiter ihre Methoden anwenden, deren "Wirksamkeit" feststellen und sie daher für richtig und harmlos halten. Sie mußte meine Reaktionen nie fürchten. Von mir erwartete sie, daß ich ihr jede Ungerechtigkeit verzeihe und ihr nichts nachtrage. Ich fügte mich, wie jedes Kind sich in meiner Situation gefügt hätte, es blieb mir nichts anderes übrig. Mein Vater wich der Auseinandersetzung mit meiner Mutter aus und hatte keinen Blick für das, was vor seinen Augen geschah. Er hat mich zwar nicht, wie es meine Mutter tat, leidenschaftlich erzogen, er gab mir in den seltenen Momenten seiner Gegenwart sogar etwas Wärme und Zärtlichkeit, aber er hat sich niemals für meine Rechte eingesetzt. Er hat mir nie das Gefühl gegeben, daß ich überhaupt irgendwelche Rechte hatte, er hat niemals meine Wahrnehmungen bestätigt und die Grausamkeit meiner Mutter zugegeben.

Das alles hätte ich meinem Vater als Kind nie sagen können, weil ich es gar nicht bewußt wahrgenommen habe. Wie hätte ich es mir leisten können zu merken, daß er seine Verantwortung als Vater gar nicht wahrgenommen hat? Ich hatte ja nichts anderes als meine tröstliche Vorstellung, daß seine warme Hand mich vor allen Gefahren des Lebens beschützen würde; daß mir nichts geschehen könnte, solange ich an seiner Seite gehe und seine Hand die meine hält.

An dieser Vorstellung hielt ich jahrzehntelang fest, um nicht erkennen zu müssen, daß auch diese Hand nur eine Hand war, die mir zwar die gute Erinnerung einer Verbindung mit einem anderen Menschen, mit meinem Vater, der früh gestorben ist, hinterließ, aber mehr auch nicht. Denn hätte mein Vater den Mut gehabt, zu sehen, was mir geschah, und mich zu verteidigen, wäre mein ganzes Leben anders verlaufen. Ich hätte es dann gewagt, meinen Wahrnehmungen zu trauen, mich besser zu schützen und mich nicht, ähnlich wie von meiner Mutter, von ignoranten Menschen schädigen zu lassen. Ich hätte gewagt, auf die Sprache meiner neugeborenen Kinder mit meinem Instinkt zu reagieren, statt mich von "besserwissenden" Krankenschwestern einschüchtern zu lassen, wenn ich als Kind die Chance gehabt hätte, meine Gefühle zu leben, sie nicht zu unterdrücken, sie auszusprechen und meine Rechte wahrzunehmen.

Es gibt Menschen, die auf solche Erkenntnisse mit dem Satz reagieren:

Jeder Mensch hat seinen eigenen Charakter, man kann den Eltern ihre Eigenarten nicht vorwerfen und sie für alles verantwortlich machen, was dem Kind versagt blieb.

Was ich geschildert habe, hat jedoch nichts mit individuellen Charakterzügen zu tun. Es handelt sich hier vielmehr um eine allgemeine Haltung dem Kind gegenüber, die sich einzig und allein aus der Verdrängung des eigenen Kindheitsleidens erklärt und die durchaus veränderbar ist. Denn jeder Mensch hat die Freiheit, die eigene Verdrängung aufzuheben und Informationen aufzunehmen: Informationen über die Bedürfnisse des kleinen Kindes, über dessen Gefühlsleben und über die Gefahren, die die Abtötung der kindlichen Gefühle in sich birgt.

Die Frage der Schuld ist also nicht zu umgehen, und ich möchte mich dieser Frage ausdrücklich stellen, der Klärung nicht länger ausweichen. Diese Klärung ist zwar längst fällig, aber möglicherweise heute erst möglich, weil es erst heute junge Menschen gibt, deren Kindheit positiver verlaufen ist und die infolgedessen keine Angst zu haben brauchen, ihre Eltern in Frage zu stellen. ...

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