Auszüge aus Noam Chomsky's
"Media Control"

Wie die Medien uns manipulieren

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Vorwort

Die im folgenden behandelten Probleme haben ihre Wurzeln in der Eigenart westlicher Industriegesellschaften und sind von Anfang an Gegenstand von Auseinandersetzungen gewesen. In kapitalistischen Demokratien ist die politische Macht in einem Spannungsfeld angesiedelt. Demokratie heißt im Prinzip Herrschaft des Volks. Aber die Entscheidungsbefugnis über zentrale Bereiche des Lebens liegt in privaten Händen, was weitreichende Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaftsordnung hat. Eine Möglichkeit, die Spannung zu vermindern, läge in der Ausdehnung des demokratischen Systems auf wirtschaftliche Investitionsentscheidungen, die Organisation von Arbeit usw. Das würde zu einer umfassenden sozialen Revolution führen, in der, zumindest meiner Ansicht nach, die politischen Revolutionen vergangener Zeiten ihre Vollendung fänden und einige der libertären Grundsätze, auf denen sie z.T. beruhten, verwirklicht werden könnten. Oder man vermindert die Spannung, indem man, wie es bisweilen geschieht, den Einfluß der Öffentlichkeit auf die staatliche und privatwirtschaftliche Macht beseitigt. In den fortgeschrittenen Industriegesellschaften bedient man sich im allgemeinen einer Vielzahl von Maßnahmen, um die demokratisch verfaßten Strukturen ihres wesentlichen Gehalts zu berauben, ohne ihre formale Funktionsweise anzutasten. Ein großer Teil dieser Aufgabe wird von ideologischen Institutionen übernommen, die Gedanken und Einstellungen so kanalisieren, daß einer potentiellen Opposition gegen die etablierten Mächte von vornherein der Stachel genommen wird. Mich interessiert dabei vor allem eine Frage: Auf welche Weise sorgen die nationalen Medien in den USA und mit ihnen zusammenhängende Elemente der elitären intellektuellen Kultur für die Kontrolle der Gedanken? Meines Erachtens wird diesen Dingen zuwenig Aufmerksamkeit gewidmet, und ich habe das lebhafte Empfinden, daß die Bürger demokratischer Gesellschaften Unterricht in intellektueller Selbstverteidigung nehmen sollten, um sich vor Manipulation und Kontrolle schützen und substantiellere Formen von Demokratie anstreben zu können. Diesem Zweck sollen die Materialien und Analysen des vorliegenden Bandes dienen.

Über die Grenzen der freien Meinungsäußerung

Auch wenn wir wissen, daß es nur wenig Neues unter der Sonne gibt, können wir einige Augenblicke festhalten, in denen traditionelle Ideen neue Gestalt annehmen, ein neues Bewußtsein sich herauskristallisiert und die zukünftigen Möglichkeiten in einem neuen Licht erscheinen. Die Erschaffung notwendiger Illusionen zur Steuerung der Gesellschaft ist so alt wie die Geschichte selbst, aber das Jahr 1917 kann in der Epoche der Moderne als Übergang begriffen werden. Die bolschewistische Revolution verlieh Lenins Konzeption einer Avantgarde-Partei radikaler Intellektueller konkreten Ausdruck: Er konnte die Kontroversen in der Bevölkerung ausnutzen, um zur Staatsmacht zu gelangen und, ganz wie Bakunin es vorausgesagt hatte, die Herrschaft der "roten Bürokratie" errichten. Fabrikräte, Sowjets und andere Formen revolutionärer Organisation der Massen wurden zerschlagen und die Bevölkerung zu einer "Arbeitsarmee" unter der Kontrolle weitsichtiger Führer transformiert, die die Gesellschaft voranbringen würden — natürlich mit den besten Absichten. Dazu bedarf es der Methode des "Agitprop", denn selbst totalitäre Staaten können auf die Mobilisierung und freiwillige Unterordnung der Massen nicht verzichten.

Eine bemerkenswerte Lehre der Sowjetpropaganda lautete, daß die von Lenin und Trotzki vorgenommene Beseitigung jeglicher Kontrolle der Produktion durch die Produzierenden und jeglicher Beteiligung der Massen an der sozialen Entwicklung den Triumph des Sozialismus ausgemacht habe. Diese Einübung in Orwells "Neusprech" sollte die moralische Anziehungskraft der realiter bereits erfolgreich demolierten Ideale ausbeuten. Die westliche Propaganda hat sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, die Zerschlagung des Sozialismus als seine Inthronisierung auszugeben, um linkslibertäre Ideale durch ihre Identifizierung mit den Praktiken der roten Bürokraten untergraben zu können. So nutzen beide Propagandasysteme die Terminologie für ihre jeweiligen Zwecke aus. Angesichts solcher Einigkeit ist es für Individuen ungewöhnlich schwer, den Tentakeln der Macht zu entkommen. Es war in aller Welt ein schwerer Schlag für freiheitliche und demokratische Bestrebungen. In eben diesem Jahr, 1917, nahm John Deweys Kreis liberaler Pragmatisten für sich in Anspruch, eine pazifistisch eingestellte Bevölkerung in den Krieg geführt zu haben. Dies geschah "unter dem Einfluß eines moralischen Urteils, das nach reiflichster Erwägung von den nachdenklicheren Mitgliedern der Gesellschaft gefällt wurde ... einer Klasse, die so umfassend wie locker als 'die Intellektuellen' bezeichnet werden kann". Diese Intellektuellen hatten, so meinten sie, "die entscheidende und entschiedene Arbeit für den Krieg ... geleistet". Diese Leistung hatte, auch wenn sie vielleicht nur in der Selbstwahrnehmung bestand, weitreichende Konsequenzen. Dewey, der geistige Mentor, erklärte, diese "psychologische und pädagogische Lektion" habe gezeigt, daß es "den Menschen möglich ist, ihre Angelegenheiten in die Hand zu nehmen und zu regeln". Die Menschen, die diese Lektion gelernt hatten, waren "die intelligenten Mitglieder der Gemeinschaft", also Lippmanns "Spezialistenklasse" und Niebuhrs "kühle Beobachter". Sie müssen nunmehr ihre Fähigkeiten einsetzen, um "eine neue und besser organisierte Gesellschaftsordnung hervorzubringen, was durch Planung, Überredung oder, falls notwendig, Gewalt geschehen kann", wobei Dewey nur den "verfeinerten, subtilen und indirekten Einsatz von Gewalt" gelten lassen wollte, nicht aber die "groben, augenfälligen und direkten Methoden", die vor dem "Fortschritt der Erkenntnis" üblich waren. Der verfeinerte Einsatz von Gewalt ist dann gerechtfertigt, wenn er "vergleichsweise effizient und ökonomisch" verfährt. Damit im Einklang stand die neue Methode der "Herstellung von Konsens", und in späteren Jahren war viel von "technokratisch und politisch orientierten Intellektuellen" die Rede, die alle Ideologie hinter sich gelassen haben und die noch vorhandenen sozialen Probleme durch die rationale Anwendung wissenschaftlicher Prinzipien lösen.

Seit jener Zeit haben sich die meisten Intellektuellen dem einen oder dem anderen dieser beiden Pole — Lenins Avantgardemodell oder der Sozialtechnologie — zugewandt, sich dabei aber in jedem Falle abschätzig über die "Dummheit des Durchschnittsmenschen" erhoben, der nicht fähig sei, seine eigenen Interessen zu erkennen und wahrzunehmen. Insofern fiel der Wechsel vom einen zum anderen Extrem leicht, weil die grundlegenden Doktrinen und Werte unverändert bleiben konnten, und man nur einschätzen mußte, welcher Weg am ehesten zu Macht und Privilegien führte: die Kämpfe der Massen, derer man sich bediente, oder die Tätigkeit im Dienst etablierter Autoritäten als Manager sozialer oder ideologischer Verhältnisse. Vor diesem Hintergrund läßt sich der Wandel vieler Leninisten, die irgendwann vom "Gott, der keiner war" Abstand nahmen, zu Dienern des Staatskapitalismus erklären.

In den frühen Stadien mögen solche Konversionen noch ein gewisses Maß an Authentizität besessen haben, später jedoch verkamen sie zur rituellen Farce. Besonders erfolgversprechend ist die Berufung auf eine böse Vergangenheit. So kann der reuige Sünder beichten, wie er den Einmarsch sowjetischer Truppen in die Tschechoslowakei begrüßte oder Kim II Sung unterstützte oder Martin Luther King als Verräter beschimpfte, um damit all jene, die seinerzeit unfähig waren, das Licht der Wahrheit zu erblicken, implizit zu teeren und zu federn. Eine Generation nach 1917 waren die UdSSR und die USA zu den Supermächten des ersten wirklich globalen Systems aufgestiegen und verkörperten die beiden Rollen des Intellektuellen in ihren jeweiligen Systemen von Hierarchie und Herrschaft. Dementsprechend unterscheiden sich auch die Indoktrinationssysteme je nach der Fähigkeit des Staats, Zwang und Kontrolle auszuüben. Das interessantere System ist dabei die kapitalistische Demokratie, die darauf setzt, daß der "freie Markt" für Konformität sorgt und die "Sonderinteressen" untergerodneter Gruppen der Gesellschaft marginalisiert.

Erstrangiges Ziel der Herstellung von Konsens sind diejenigen, welche sich als "Intellektuelle" oder"Meinungsführer" betrachten. Ein Beamter der Regierung Truman bemerkte: "Der allgemeinen Öffentlichkeit sind die Einzelheiten eines Programms mehr oder weniger egal. Was zählt, sind die Ansichten der führenden Persönlichkeiten." Wer "die Elite mobilisiert, mobilisiert damit auch die Öffentlichkeit", heißt es in einer wissenschaftlichen Untersuchung zu diesem Thema. Die "'öffentliche Meinung', die Truman und seine Berater ernstnahmen und sorgfältig pflegten", war die der "Meinungsführer", hebt der Historiker Thomas Paterson hervor.86 Das gilt nahezu uneingeschränkt, es sei denn, man muß eine "Krise der Demokratie" beheben und rigidere Maßnahmen anwenden, um die allgemeine Öffentlichkeit wieder auf den ihr zustehenden Platz zu verweisen. Ansonsten, so hofft man, ist die Bevölkerung durch Ablenkungen und eine regelmäßige Dosis patriotischer Propaganda zufriedenzustellen.
In der Demokratie können notwendige Illusionen den Menschen nicht durch Gewalt aufgezwungen, sondern müssen dem Bewußtsein der Öffentlichkeit durch subtilere Methoden nahegebracht werden. Ein totalitärer Staat muß auf die Gedanken der Leute weniger Rücksicht nehmen; ihm genügt es, wenn sie gehorchen. Aber in einer demokratischen Ordnung lauert immer die Gefahr, daß unabhängiges Denken in politisches Handeln umgesetzt wird, und diese Bedrohung muß schon an der Wurzel bekämpft werden.

Debatten und Diskussionen lassen sich nicht unterdrücken; vielmehr erfüllen sie in einem funktionierenden Propagandasystem ihre Aufgabe, wenn sie in angemessenen Grenzen bleiben. Es ist wichtig, diese Grenzen möglichst eng zu ziehen. Solange Kontroversen im Rahmen jener Voraussetzungen bleiben, die den Konsens der Eliten definieren, können sie sogar künstlich angeheizt werden, weil sie die Grenzen des Denkbaren, die nicht überschritten werden dürfen, befestigen und zugleich den Glauben an die Herrschaft der Freiheit befördern.

Es geht also, kurz gesagt, um die Macht, bestimmte Themen auf die Tagesordnung zu setzen. Wenn Kontroversen über den Kalten Krieg auf die Frage eingeengt werden können, wie die Eindämmung der sowjetischen Politik aussehen sollte, hat das Propagandasystem, unabhängig von den möglichen Antworten, seine Schlacht bereits gewonnen, denn die Grundannahme steht fest: Der Kalte Krieg ist eine Konfrontation zwischen zwei Supermächten, deren eine expansionistisch und aggressiv ist, während die andere den Status quo und die Werte der Zivilisation verteidigt. Damit ist das Problem, wie die amerikanische Politik eingedämmt werden könne, ebenso vom Tisch wie die Frage, ob nicht auch andere Interpretationen möglich wären, ob der Kalte Krieg nicht vielmehr aus dem Bestreben der Supermächte resultierte, sich ein je eigenes internationales System zu schaffen, das sie beherrschen können, wobei diese Systeme sich, was Umfang, Macht und Reichtum angeht, erheblich voneinander unterscheiden. Die sowjetischen Verstöße gegen die Abkommen von Jalta und Potsdam sind Gegenstand einer umfangreichen Literatur, und einer breiteren Öffentlichkeit bewußt, aber man muß sehr lange suchen, um Bücher über die amerikanische Verletzung solcher Abkommen zu finden, obwohl eine gründliche Untersuchung Jahre später zu dem Schluß kommt: "Tatsächlich unterschied sich das Verhalten der Sowjets [gegenüber den Abkommen von Jalta und Potsdam] qualitativ kaum von dem der Amerikaner." Wenn man die Themenwahl auf Arafats zweideutige Haltung, die Fehler und Vergehen der Sandinisten, den Terrorismus Irans und Libyens und andere sorgfältig ausgesuchte Probleme beschränkt, kann anderes nicht mehr zur Sprache kommen: nicht die unzweideutige Verweigerungshaltung Israels und der USA und nicht der Terrorismus der Vereinigten Staaten und ihrer Vasallen, der ein viel größeres Ausmaß hat und für die Amerikaner, die in der Lage wären, solche Verbrechen abzumildern oder zu beenden, auch von viel größerer moralischer Bedeutung ist. Eine entscheidende Doktrin, die in der Geschichte immer wieder vertreten worden ist, lautet, daß der Staat eine defensive Haltung einnimmt und Angriffe auf seine Ordnung und seine edlen Grundsätze tapfer abwehrt. So leisten die Vereinigten Staaten auch dann Widerstand gegen Aggression, wenn diese sich gar nicht direkt gegen sie richtet. Führende Gelehrte versichern uns, daß der Krieg in Vietnam "der Verteidigung eines freien Volks im Widerstand gegen die kommunistische Aggression" gedient habe, als die Vereinigten Staaten zu Beginn der sechziger Jahre Südvietnam angriffen, um die von ihnen unterstützte Diktatur gegen die südvietnamesischen Aggressoren zu verteidigen. Eine solche Wahrheit bedürfte keiner Rechtfertigung; einige Autoren beriefen sich sogar auf "die Strategie der Regierung Eisenhower [1954 in Indochina], mit dem Einsatz von Atomwaffen zu drohen", um die französischen Streitkräfte in Dien Bien Phu "vor der Niederlage im Kampf gegen die kommunistischen Viet Minh" zu bewahren, die unseren französischen Verbündeten angriffen, der Indochina (gegen die einheimische Bevölkerung) verteidigte.

Dementsprechend ist es logisch unmöglich, der US-Aggression Widerstand entgegenzusetzen, weil solche Kategorien gar nicht existieren. Kritiker sind, wie immer ihre Einwände beschaffen sein mögen, "Parteigänger Hanois" oder "Apologeten des Kommunismus", Verteidiger der "Aggressoren", die womöglich ihre "wahren Absichten" zu verbergen trachten.

In diesen Zusammenhang gehört noch eine weitere Doktrin: "Das Verlangen, eine Demokratie amerikanischen Stils in der ganzen Welt verbreitet zu sehen, ist schon immer das Leitmotiv der US-Außenpolitik gewesen", behauptete ein Auslandskorrespondent der New York Times, nachdem die von den USA gestützte Militärregierung auf Haiti die Wahlen mit Gewalt verhindert hatte, was vielfach erwartet worden war. Diese traurigen Ereignisse, bemerkte er, "erinnern uns erneut daran, wie schwierig es für die amerikanische Politik ist, ihren Willen, und sei es noch so wohlwollend, bei anderen Nationen durchzusetzen". Diese Doktrinen benötigen keine Argumente und widerstehen auch ganzen Bergen von Gegenbeweisen. Mitunter brechen sie zusammen, weil ihre Absurdität zu deutlich ins Auge fällt. Dann darf betont werden, daß wir nicht immer so wohlwollend und demokratieliebend waren, wie wir es heute sind. Die seit Jahren bewährte Technik, eine solche "Kursänderung" zu beschwören, ruft nicht etwa Spott hervor, sondern Lobeshymnen auf unser unfehlbares Wohlwollen, wenn wir erneut in die Welt hinausziehen, um "die Demokratie zu verteidigen".

Wir haben kein Problem damit, die sowjetische Invasion Afghanistans als brutale Aggression zu verurteilen, obwohl viele davor zurückscheuen würden, die afghanischen Guerillagruppen als "demokratische Widerstandskämpfer" zu bezeichnen (so Andrew Sullivan, Herausgeber des New Republic).91 Aber die Invasion in Südvietnam zu Beginn der sechziger Jahre, als der von den USA eingerichtete Terrorstaat die einheimische Bevölkerung nicht mehr durch Gewaltmaßnahmen kontrollieren konnte, war natürlich keine Aggression. Zwar waren US-Streitkräfte an umfangreichen Bombardierungen und Entlaubungsaktionen beteiligt, um die Bevölkerung in Auffanglager zu treiben, wo man sie vor dem Feind "schützen" konnte, den sie, wie zugestanden wurde, bereitwillig unterstützte. Zwar drangen später USExpeditionsstreitkräfte in das Land ein und verheerten Südvietnam und die angrenzenden Staaten, um die einzige politische Widerstandskraft, die eine Massenbasis besaß, zu zerstören und die Gefahr eines von allen Seiten geforderten Friedensabkommens zu bannen. Immer aber waren die USA auf der Seite der Demokratie und im Widerstand gegen die Aggression. Auch als sie, um die Genfer Abkommen zu unterlaufen und die in Aussicht gestellten Wahlen, bei denen die falsche Seite zu gewinnen drohte, blockierten, den mörderischen Diktator Diem protegierten, verteidigten sie die Demokratie. "Das Land ist in ein kommunistisches Regime im Norden und eine demokratische Regierung im Süden gespalten", berichtete die New York Times in einem Kommentar zu der Behauptung, daß "die kommunistischen Viet Minh Gewehre und Soldaten aus Rotchina beziehen und das 'freie Vietnam' bedrohen, nachdem sie ihr Land an Peking verkauft haben". Als in späteren Jahren die "Verteidigung der Demokratie" danebengegangen war, gab es eine hektische Auseinandersetzung zwischen den "Falken", die meinten, daß der Feind, wären wir nur entschlossen genug, noch in die Knie gezwungen werden könnte, und den "Tauben", die befürchteten, daß die fortgesetzte Gewaltanwendung zur Durchsetzung unserer noblen Ziele zu kostspielig würde. Einige distanzierten sich von beiden Gruppen und zogen es vor, "Eulen" zu sein.

Während des Kriegs galt es im Mainstream als ausgemacht, daß die Vereinigten Staaten Südvietnam verteidigten, und auch Jahre später blieb diese Doktrin unangefochten. Das gilt nicht nur für Kommentatoren, die in der Bombardierung dichtbesiedelter Gebiete lediglich "unglückliche Verluste an Menschenleben" sahen, hervorgerufen "durch die Bemühungen amerikanischer Militärkräfte, den Südvietnamesen gegen den Einfall Nordvietnams und seiner Partisanen beizustehen" — wie etwa im Mekong-Delta, wo es selbst nach der Ausdehnung der US-Angriffe auf Nordvietnam keine nordvietnamesischen Truppen gab. Aber die dortige Bevölkerung, die den USA und ihren Vasallen Widerstand leistete, bestand offensichtlich nicht aus Südvietnamesen. Wir sind also nicht überrascht, aus derlei Quellen, nach allem, was bekannt ist, zu erfahren, daß "das Volk von Südvietnam nicht von dem kommunistischem Land im Norden beherrscht werden wollte" und daß die "USA in Vietnam intervenierten ... um dem Prinzip Geltung zu verschaffen, daß Veränderungen in Asien nicht durch Gewaltanwendung fremder Mächte durchzusetzen sind". Interessanter noch ist die Tatsache, daß zwar viele US-Intellektuelle von der vulgären Rechtfertigung umfangreichster Greueltaten abgestoßen waren, ohne jedoch die grundlegende Einschätzung des Kriegs in Zweifel zu ziehen. Das spricht für die Effektivität der Gedankenkontrolle in demokratischen Systemen.

...

Über den fortwährenden Kampf um die Meinungsfreiheit

Wie Bundesrichter William Brennan einmal bemerkte, ist die Meinungsfreiheit selbst in den Vereinigten Staaten, die im internationalen Vergleichsmaßstab recht fortschrittlich sind, keine selbstverständliche Tradition.62 Das gilt auch für andere Rechte. In den dreißiger Jahren schrieb der Anarchist Rudolf Rocker:

"Politische Rechte entstehen nicht im Parlament, sie werden ihm vielmehr von außen aufgezwungen. Und selbst ihre Kodifizierung als Gesetz war lange Zeit keine Garantie für ihre Sicherheit. Sie existieren nicht, weil die Legislative sie auf ein Blatt Papier schrieb, sondern erst, wenn sie der Bevölkerung in Fleisch und Blut übergegangen sind und jeder Versuch, sie außer Kraft zu setzen, gewaltsamen Widerstand hervorruft."

Zahlreiche geschichtliche Beispiele bestätigen diese Auffassung. Bekanntlich wurde selbst das allgemeine Wahlrecht in den Vereinigten Staaten erst nach langen Kämpfen durchgesetzt. Die Frauen erhielten es erst nach 130 Jahren, und jenen, die von der amerikanischen Verfassung nur als Dreifünftel-Menschen angesehen wurden, verweigerte man es, bis die Bürgerrechtsbewegungen der letzten Generation das kulturelle und politische Klima veränderten. Während das Wahlrecht auf diese Weise ausgedehnt wurde, sinkt der Anteil derer, die davon Gebrauch machen, ständig. Wählen heißt, privilegiert sein — ein Zeichen für die allgemeine Entpolitisierung der Gesellschaft und den Zerfall einer alternativen, gegen die Vorherrschaft wirtschaftlicher Kräfte gerichteten Kultur. Was an formeller politischer Partizipation übrig bleibt, ist, vor allem auf den höheren Ebenen politischer Macht, oft wenig mehr als die inhaltlich begrenzte Geste der Ratifizierung. Das gilt auch für die Meinungsfreiheit. Obwohl das Recht darauf durch den ersten Verfassungszusatz (First Amendment) gesichert scheint, sah die Praxis etwas anders aus. Die liberale Interpretation ist immer noch die von Sir William Blackstone, die 1931 vom Präsidenten des Obersten Bundesgerichts, Charles Evans Hughes, bekräftigt wurde. Seine Entscheidung wurde als bedeutender Sieg für die Meinungsfreiheit gefeiert:

"Jeder freie Mann hat das unbezweifelbare Recht, jede ihm zusagende Meinung der Öffentlichkeit mitzuteilen; dies zu verbieten hieße, die Pressefreiheit zu zerstören; doch veröffentlicht er, was unangemessen, übelwollend oder ungesetzlich ist, muß er die Folgen seiner Unbesonnenheit tragen."

Es gibt also keine von vornherein gesetzten Beschränkungen, wohl aber die Bestrafung unannehmbarer Gedanken.

In einem Aufsatz über die "Geschichte und Wirklichkeit der Meinungsfreiheit in den Vereinigten Staaten" hebt David Kairys hervor:

"Weder in der Gesetzgebung noch in der Praxis gab es ein Recht auf Meinungsfreiheit, bis zu einer zwischen 1919 und 1940 bewirkten Veränderung der diesbezüglichen Legislation. Vor dieser Zeit stand die freie Meinungsäußerung im Ermessen lokaler, bisweilen auch bundeseigener, Behörden, die oftmals verboten, was sie, die lokale Geschäftswelt oder andere Gruppen mit Macht und Einfluß nicht hören wollten."

Kairys bezieht sich nicht auf die von mir diskutierten subtileren Mittel der Meinungskontrolle, sondern auf das verbriefte Recht zur Meinungsfreiheit, eine instabile Konstruktion, die keiner und sei es noch so geringen Bedrohung, geschweige denn einer Krise, standhalten konnte.

Wie umkämpft die Meinungsfreiheit war, wird auch daran deutlich, daß der Oberste Gerichtshof zwischen 1959 und 1974 mehr auf das First Amendment bezogene Fälle zu verhandeln hatte als in seiner ganzen bisherigen Geschichte; erst nach dem Ersten Weltkrieg hatte man ernsthafte Versuche unternommen, das Recht auf Meinungsfreiheit gesetzlich zu verankern. Das Anti-Aufruhr-Gesetz von 1798 wurde erst 1964 gerichtlich geprüft und für "mit dem First Amendment unvereinbar" erklärt. Richter Brennan wandte sich in seiner Begründung gegen eine Entscheidung, mit der die New York Times verurteilt wurde, weil sie eine von einer Menschenrechtsgruppe finanzierte Anzeige veröffentlicht hatte, die angeblich den Polizeichef von Montgomery (Alabama) verleumdete. Damit verkündete der Oberste Gerichtshof zum ersten Mal den Grundsatz, daß aufrührerische Verleumdung (seditious libel) — Kritik an der Regierung —

"in Amerika nicht als Verbrechen deklariert werden kann, und er sprach in diesem Zusammenhang von der 'zentralen Bedeutung des First Amendment'".

In einem Kommentar zu dieser Entscheidung hebt Harry Kalven hervor, daß aufrührerische Verleumdung "überall auf der Welt das Kennzeichen geschlossener Gesellschaften ist" und ihr Status in der Rechtsprechung "die Gesellschaft definiert": Wenn "Kritik an der Regierung als Verleumdung gewertet und als Verbrechen bestraft wird, handelt es sich nicht um eine freie Gesellschaft, wie immer sonst sie beschaffen sein mag". So konnten die Vereinigten Staaten einen wichtigen Test zur Kennzeichnung als "freie Gesellschaft" bestehen, als die Zweihundertjahrfeier der Unabhängigkeitserklärung näherrückte. Das Spionagegesetz von 1917 machte es bundesweit zum Verbrechen, während der Kriegszeit "willentlich falsche Berichte oder Behauptungen mit der Absicht zu verfertigen oder zu verbreiten, die Operationen oder den Erfolg der militärischen oder Seestreitkräfte der Vereinigten Staaten zu behindern oder den Erfolg ihrer Feinde zu befördern ... willentlich Insubordination, Untreue, Meuterei oder Dienstverweigerung [in den Streitkräften] hervorzurufen oder den Versuch dazu zu unternehmen" oder "willentlich den Rekrutierungs- oder Einberufungsdienst der Vereinigten Staaten zu behindern". 1918 kamen noch weitere Vergehen dazu; so war es verboten,

"illoyale, lästerliche, unflätige oder beleidigende Äußerungen, oder Äußerungen, die darauf abzielen, die Regierungsform der Vereinigten Staaten, die Verfassung, die Flagge sowie die Uniform von Armee oder Flotte mit Verachtung, Spott, Beleidigung oder Verleumdung zu behandeln, oder Äußerungen, die darauf abzielen, zum Widerstand gegen die Vereinigten Staaten anzustacheln oder die Sache ihrer Feinde zu befördern, mündlich, schriftlich, im Druck oder in Publikationen zu verbreiten".

Postminister Albert Burleson, dem die Pflicht oblag, nach regierungsfeindlichen Drucksachen zu fahnden, verkündete, niemand dürfe schreiben,

"daß diese Regierung sich mit dem Krieg ins Unrecht gesetzt hat oder aus falschen Gründen in ihn eingetreten ist; die Motive der Regierung für den Kriegseintritt dürfen nicht angezweifelt werden. Niemand darf behaupten, daß diese Regierung das Werkzeug der Wall Street oder der Munitionsfabrikanten ist ... oder gegen das Rekrutierungsgesetz zu Felde ziehen."

Wiederholt wurden seine Entscheidungen von den Gerichten gutgeheißen: "Mutig und guten Glaubens müssen wir die Gründe akzeptieren, die den Regierenden zur Rechtfertigung des Kriegs ausreichend schienen" (Richter Aldrich, District of New Hampshire). Burleson verbot eine Flugschrift über die von der britischen Herrschaft in Indien verursachten Leiden und ließ in einer katholischen Zeitschrift eine Äußerung des Papstes ein-schwärzen, die lautete:

"Niemand kann seinem Land treu dienen, wenn er nicht zuerst seinem Gewissen und seinem Gott treu dient."

Das Propagandabüro der Regierung namens Committee on Public Information durfte "das offizielle Porträt Lenins verbreiten", die Rand School in New York jedoch nicht seine Schriften. Und es gab noch weitaus mehr derartige Fälle.

Diese Repression wurde von (staatlicherseits gebilligten) Gewaltausbrüchen eines nationalistisch aufgehetzten Mobs begleitet und dehnte sich zum Kampf gegen Gewerkschaften und politische Organisationen aus. Eugene Debs landete wegen seiner pazifistischen Anschauungen im Gefängnis, und der Leiter des Bostoner Symphonieorchesters wurde interniert, weil er sich geweigert hatte, die Nationalhymne zu spielen. Dutzende von Zeitungen durften nicht mehr per Post versendet werden. Doch waren das, verglichen mit Wilsons bald folgender Kommunistenhatz, noch relativ geringfügige Unterdrückungsmaßnahmen. Es gab an die 2000 Strafverfolgungen wegen politischer Dissidenz. Zechariah Chafee von der Harvard Law School bemerkt dazu:

"Die Gerichte behandelten Meinungsäußerungen als Tatsachenbehauptungen und verurteilten sie als falsch, weil sie von der Rede des Präsidenten oder der Kriegserklärung des Kongresses abwichen ... Es galt als Verbrechen, höhere Steuern anstelle von Staatsobligationen zu befürworten, oder zu behaupten, die allgemeine Wehrpflicht sei verfassungswidrig ... oder es hätte vor der Kriegserklärung ein Referendum geben müssen, oder der Krieg sei mit den Lehren des Christentums nicht vereinbar. Manche wurden bestraft, weil sie das Rote Kreuz und den CVJM kritisiert hatten."

"Von den Verurteilungen aufgrund des Spionagegesetzes wurde keine vom Obersten Gerichtshof unter Hinweis auf das First Amendment widerrufen", hebt Kairys hervor. Dieser umfassende Angriff auf die Meinungsfreiheit fand, nebenbei bemerkt, zu einer Zeit statt, als das Land Reichtum und wachsende Macht genoß und sich keiner Bedrohung ausgesetzt sah.

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