Auszüge aus Bernt Engelmann's
"Du Deutsch?"

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Was sind "Ausländer"?

"Man ist in Europa einmal Staatsbürger und zweiundzwanzigmal Ausländer", hat schon Kurt Tucholsky vor mehr als einem halben Jahrhundert bemerkt und spöttisch hinzugefügt: "Wer weise ist, dreiundzwanzigmal. Ja, aber das kann man nur, wenn man in die Sparte ›Nationalität‹ schreibt: ›reich‹." Daran hat sich bis heute kaum etwas geändert.

In der heutigen Bundesrepublik Deutschland ist Ausländer, wer nicht die deutsche Staatsangehörigkeit hat. Diese erwirbt man nach den Bestimmungen eines Gesetzes, das in seinen Grundzügen noch aus der Regierungszeit Kaiser Wilhelms II., nämlich vom 22. Juli 1913, stammt, entweder durch Geburt – eheliche Abstammung von einem deutschen Vater oder uneheliche von einer deutschen Mutter – oder durch Legitimation seitens eines deutschen Vaters oder durch Erklärung einer Ausländerin bei der Eheschließung mit einem Deutschen, sie wolle deutsche Staatsangehörige werden, oder durch Einbürgerung.

Es kann auch doppelte und mehrfache Staatsangehörigkeiten geben: Ein Finanzmakler, beispielsweise, mag außer seiner durch Geburt erworbenen deutschen Staatsangehörigkeit auch noch – aus Gründen und auf Wegen, die niemanden etwas angehen – die von Mauritius und der Republik der Komoren sowie des souveränen Königreichs Tonga haben und durch entsprechende Reisepässe nachweisen können; für die Behörden der Bundesrepublik ist er, was seine Rechte betrifft, ein Deutscher. Er benötigt keine Aufenthaltsgenehmigung, keine Arbeitserlaubnis, genießt grundgesetzlich geschützte Freizügigkeit und kann weder ausgewiesen noch ausgeliefert werden.
Wer hingegen in Deutschland als Sohn einer deutschen Mutter und eines ehelichen Vaters anderer Nationalität geboren und aufgewachsen ist, mag sich als Deutscher fühlen, stets pünktlich seine Steuern zahlen, keine andere als seine Muttersprache sprechen und auch schon älter sein als die – ja erst 1949 auf Befehl dreier ausländischer Mächte hin gegründete und in ihrer Souveränität noch immer erheblich beschränkte – Bundesrepublik Deutschland. Für deren Behörden ist und bleibt er ein Ausländer, der um Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis einkommen muß, es sei denn, es wird ihm auf Antrag die Gnade der Einbürgerung zuteil.

Dies kann nach strenger Prüfung aller Voraussetzungen geschehen, wobei es dabei vor allem auf die Gewähr für seinen Lebensunterhalt, seine Unbescholtenheit und zu erwartende Verfassungstreue ankommt sowie auf die Laune des Sachbearbeiters. Denn einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung hat der Ausländer nicht. Die zuständige Behörde entscheidet, wie es im Gesetz heißt, "nach freiem Ermessen".

Hingegen galten die fast 17 Millionen Bürgerinnen und Bürger der früheren DDR schon vor dem 3. Oktober 1990 für die Behörden der Bundesrepublik als In-, nicht als Ausländer. Die DDR-Staatsbürgerschaft wurde von Bonn offiziell niemals anerkannt, was insofern zu absurden Situationen führte, als Erich Honecker zwar in Bonn als Staatsgast und wie ein ausländischer Regierungschef empfangen wurde, während in der Bundesrepublik gleichzeitig gegen ihn wegen des "Schießbefehls" strafrechtlich ermittelt wurde. Auch der diplomatische Status der Ständigen Vertretung der DDR in der Bundeshauptstadt mit einem akkreditierten Botschafter an der Spitze hielt die westdeutschen Behörden nicht davon ab, DDR-Bürger auf Besuch in der Bundesrepublik zum Dienst bei der Bundeswehr einzuberufen.

Wenn dies auch nur noch von historischer Bedeutung ist, so gilt doch weiterhin der Artikel 116 des Grundgesetzes, wonach als Deutscher (und mithin BRD-Staatsangehöriger) gilt, "wer als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat", auch wenn er oder sie mit einer fremden Staatsangehörigkeit oder als Staatenloser in die Bundesrepublik gekommen ist.

Von dieser Bestimmung haben in der ersten Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg annähernd zehn Millionen Menschen profitiert, die aus Ost- und Südosteuropa geflüchtet, vertrieben oder schon während des Krieges "umgesiedelt" worden waren. Auch die sogenannten "Aussiedler" – 1968-1974 kamen knapp 18.000 meist aus Ostblockstaaten sowie aus Jugoslawien in die Bundesrepublik, bis 1980 weitere 290.000 Personen und seither weitere annähernd 450.000 Menschen, vor allem aus der Sowjetunion und Rumänien – genießen diesen Vorteil und erhalten sofort die deutsche Staatsangehörigkeit (wie die im vorigen Kapitel erwähnte Ehefrau des aus Ägypten stammenden Taxifahrers, die nur Usbekisch sowie etwas Russisch sprechende, in Taschkent als Tochter eines – vermutlich – volksdeutschen Vaters geborene Mirjam Alexandrowa Köhler, die 1984 aus der Sowjetunion in die Bundesrepublik übersiedeln konnte).

Die Auslegung des Begriffs "volksdeutsch" wird recht großzügig gehandhabt, aber auch manche Nichtdeutsche, zumal Personen, die aus der Sowjetunion und anderen sozialistischen Ländern Europas aus politischen Gründen geflüchtet oder ausgebürgert worden sind oder als Juden eine Ausreisegenehmigung erhalten haben, werden in der Bundesrepublik meist ohne große Formalitäten eingebürgert.

Sie haben dann, auch wenn sie erst mühsam Deutsch lernen müssen, die deutsche Staatsangehörigkeit und erhalten einen Reisepaß der Bundesrepublik Deutschland, auf dessen erster Innenseite in drei Sprachen eingedruckt ist: "Der Inhaber dieses Passes ist Deutscher".

Eine deutsche Staatsangehörigkeit gibt es übrigens erst in neuerer Zeit. Bis 1934 gab es nur eine Angehörigkeit der einzelnen Länder des Deutschen Reichs. Die Reisepässe gaben als Staatsangehörigkeit des Inhabers "Preußen" oder "Bayern" oder "Lippe-Detmold" an. Und noch 1931 wies die preußische Staatsregierung ihr lästige "Ausländer" in die benachbarte Freie und Hansestadt Hamburg aus, ganz zu schweigen von dem Operettenmanöver, mit dem sich der vorbestrafte Ausländer Adolf Hitler seiner österreichischen Staatsangehörigkeit entledigte, um für das Amt des Reichspräsidenten kandidieren zu können: Am 25. Februar 1932, ein knappes Jahr vor seiner "Machtergreifung", ließ er sich von einem seiner Anhänger, der kurz zuvor Innenminister des Landes Braunschweig geworden war, zum braunschweigischen Regierungsrat ernennen. Dadurch wurde er automatisch braunschweigischer Staats- und damit Reichsangehöriger.

Solche Vorkommnisse, zu denen auch die gelegentliche Anwendung des Fremdenrechts durch bayerische Behörden gegen Staatsangehörige anderer Bundesländer, vor allem Preußens, zählte, waren Überbleibsel aus der Zeit vor der Gründung des Bismarck-Reichs und wurden schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zumindest vom aufgeklärten Bürgertum, als überholt und reformbedürftig angesehen.

Die "Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände", herausgegeben von F. A. Brockhaus in Leipzig, 1844, bemerkte bereits dazu:
"Erfreulich ist es, daß die ungleiche Behandlung der Fremden ... mehr und mehr schwindet ... Unnatürlich ist es, wenn in den Staaten des Deutschen Bundes Deutsche als Fremde behandelt werden."

Tatsächlich ging es in Deutschland bis weit ins 20. Jahrhundert hinein hinsichtlich der Einteilung in In- und Ausländer noch weit "unnatürlicher" zu, weil mindestens bis 1918 die Bewohner der deutschen Staaten in erster Linie als Untertanen ihrer jeweiligen Landesherren angesehen und behandelt wurden, wogegen ihre Nationalität, Muttersprache, erst recht ihr eigenes Zugehörigkeitsgefühl eine allenfalls zweitrangige Rolle spielten.

So gab es beispielsweise nach der Statistik des Deutschen Reiches, die auf der Volkszählung des Jahres 1900 beruhte, unter den rund 56 Millionen Bewohnern der deutschen Staaten nur ungefähr 780.000 Ausländer. Davon waren rund 370.000 Österreicher, 88.000 Niederländer, 70.000 Italiener, 55.000 Schweizer, knapp 50.000 Russen, 26.000 Dänen, 20.000 Franzosen, 20.000 Ungarn, je etwa 17.000 Nordamerikaner und Briten (wobei von den einzelnen Nationalitäten weit mehr Männer als Frauen in Deutschland lebten und nur unter den Briten die weiblichen Personen überwogen, was sich dadurch erklärt, daß es im kaiserlichen Deutschland bei Familien der Oberschicht häufig englische Gouvernanten gab, die für die Erziehung der Kinder zuständig waren).

Insgesamt scheinen die Ausländer einen erstaunlich geringen Anteil an der Gesamtbevölkerung des Deutschen Reichs von 1900 gehabt zu haben, nämlich nur 1,4 Prozent (wogegen es 1990 in der Bundesrepublik einschließlich West-Berlin einen Ausländeranteil von knapp zehn Prozent gab, und in absoluten Zahlen haben sich den amtlichen Statistiken zufolge die Ausländer zwischen 1900 und 1990, also innerhalb eines Menschenalters, ungefähr versechsfacht – von nur 780.000 im ganzen Deutschen Reich Kaiser Wilhelms II. auf über sechs Millionen im sehr viel kleineren Bundesgebiet und im Westteil Berlins!).

Indessen täuschen diese Vergleiche, vor allem deshalb, weil in der Statistik des Jahres 1900 der weitaus größere Teil der nichtdeutschen Bewohner Deutschlands fehlt, und zwar aus einem damals triftigen Grund: Diese Nichtdeutschen waren eben keine Ausländer!

So zählte zwar die englische Gouvernante einer vornehmen Familie der Zeit um die Jahrhundertwende zu den Ausländern, nicht aber die Französin aus Bourdonnaye in Lothringen, die im selben Haushalt angestellt war. Diese französische Sprachlehrerin war eine von rund 220.000 Personen, die als Inländer – Elsaß-Lothringen gehörte ja zum Deutschen Reich – zwar französischer Muttersprache waren, aber deutsche Staatsangehörige. Noch stärker ins Gewicht fällt der Umstand, daß es in der Ausländerstatistik von 1900 keine Polen gab. Sie erscheinen – der einstige polnische Staat war ja untergegangen, sein Gebiet zwischen den benachbarten Großmächten aufgeteilt worden – in der damaligen Statistik des Deutschen Reiches entweder als Ausländer mitunter österreichischer, häufiger russischer Staatsangehörigkeit oder aber als – in der großen Mehrheit preußische – Inländer.

Diese nicht als Ausländer, sondern als Reichsangehörige polnischer Nationalität und Muttersprache geltenden, insgesamt etwa 3,6 Millionen Menschen waren um die Jahrhundertwende im Deutschen Reichstag durch eine eigene Polen-Partei mit vierzehn, nach den Wahlen von 1903 sogar mit sechzehn Abgeordneten vertreten (wogegen Elsässer und Dänen zusammen nur zehn Mandate hatten, alle sonstigen nationalen Minderheiten – Litauer, Sorben, Tschechen, Slowaken, Wallonen und so weiter mit zusammen etwa 700.000 Menschen im Reichstag überhaupt nicht vertreten waren).

"Die Polen wohnen in den Provinzen Ost- und Westpreußen, Posen und Schlesien, in geringerer Zahl auch in Pommern (Köslin)", wußte "Meyers Großes Konversationslexikon" von 1908 darüber zu berichten. "Sie bilden in manchen dieser Gegenden 80 bis 90 Prozent der Landbevölkerung ... und unterscheiden sich in Großpolen, Masuren, Kassuben und Lechen oder Wasserpolen ... " Die polnische Oberschicht, zumal der hohe Adel, war in die Hohenzollern-Monarchie weitgehend integriert. Mitglieder der Fürstenhäuser Radziwill und Radolin, aber auch die Grafen v. Poninski, die v. Twardowski oder die Tortilovitz v. Batocki, hatten oft hohe Ämter am Hof Kaiser Wilhelms II., wichtige Botschafterposten und Schlüsselpositionen in der Ministerialbürokratie und der preußischen Verwaltung. Auch dem Offizierskorps, zumal dem der feudalen Kavallerieregimenter, gehörten zahlreiche polnische Adlige an, und die "Jahrbücher der Millionäre" in Preußen verzeichneten damals in den Ostprovinzen Dutzende von Multimillionären polnischer Nationalität, meist adlige Rittergutsbesitzer.

Die große Mehrheit der rund 3,6 Millionen polnischen Untertanen Kaiser Wilhelms II. war jedoch keineswegs wohlhabend. Im Gegenteil: Ihre breite Unterschicht – gutsabhängige Kleinbauern, Tagelöhner, Dienstboten, Gutshandwerker und Waldarbeiter – zählte zu denen im Deutschen Reich, die die niedrigsten Einkommen, die schlechtesten Arbeitsbedingungen, die primitivsten Behausungen und die geringste Bildung hatten. Wer von den Jüngeren unter dieser armen Landbevölkerung noch etwas Mut besaß, zog davon und suchte sich bessere Arbeit anderswo.

Über diese Landflucht berichtet "Meyers Großes Konversationslexikon" von 1908:

Der höhere Arbeitslohn und die Nachfrage nach Arbeitskräften hat in neuerer Zeit viele Polen nach Westfalen, Rheinland, Sachsen und Brandenburg gezogen ...

Diese dürftige Mitteilung verrät wenig von dem wahren Ausmaß der Ost-West-Wanderung, die um die Jahrhundertmitte begann und deren wichtigste Ziele Berlin, die Provinz Sachsen, vor allem aber das Ruhrgebiet waren. Allein das rheinisch-westfälische Industrierevier nahm bis 1914 etwa eine Million Zuwanderer aus dem Osten auf, wobei die Polen das Hauptkontingent bildeten. Die genaue Berechnung des polnischen Anteils ist außerordentlich schwierig, weil zu den schon erwähnten Mängeln der Statistik noch die deutliche Absicht einiger ihrer Interpreten kam, die Anzahl der ins Ruhrgebiet eingewanderten Polen so gering wie möglich erscheinen zu lassen.
Obwohl in Städten wie Oberhausen, Wanne-Eickel, Herne, Osterfeld, Sterkrade und vor allem in Hamborn der nichtdeutsche, überwiegend polnische Bevölkerungsanteil schon im Jahre 1905 bei über 50 Prozent – in Hamborn bei über 80 Prozent – gelegen hat, bemühten sich Forscher, zumal in den Jahren der Hitler-Diktatur, stets den hohen Anteil "deutschblütiger" Ostpreußen, Schlesier und Osterreicher hervorzuheben.

Doch was beispielsweise die ostpreußischen Zuwanderer angeht, deren Gesamtzahl 1905 bei etwa 250.000 lag, so war davon mindestens ein Drittel katholisch und polnischer Muttersprache, bei rund einem Viertel handelte es sich um evangelische Masuren, und je etwa zehn Prozent waren katholische Kassuben und evangelische Litauer.

Die Konfession spielte bei der Anwerbung der Arbeitskräfte aus dem Osten eine weit größere Rolle als die Nationalität, denn evangelische Unternehmer, an ihrer Spitze Emil Kirdorf und Friedrich Grillo, die Gründer der Gelsenkirchner Bergwerks-AG, bevorzugten evangelische Arbeiter. August Thyssen, zu dessen Konzern Großbetriebe in Mülheim, Hamborn, Dinslaken und Meiderich gehörten, stellte vorzugsweise Katholiken ein, ebenso der der katholischen Zentrumspartei nahestehende Klöckner-Konzern-Chef Peter Klöckner. Thyssen und Klöckner holten sich ihre Arbeiter aus Posen, Oberschlesien, Russisch- und Österreichisch-Polen sowie aus der Südsteiermark und der Kram. Die angeblich "deutschblütigen" Schlesier und Österreicher waren in Wirklichkeit Polen, zum geringen Teil Tschechen, Slowaken, Sorben und Ukrainer, soweit sie aus der Südsteiermark und aus Kram kamen, jedoch Slowenen.

Rund vierzigtausend dieser slowenischen, kaum ein Wort Deutsch sprechenden Österreicher, durchweg fromme Katholiken und erfahrene Bergleute, siedelten sich um 1905/06 am Niederrhein an, vor allem in Moers und Umgebung sowie zwischen Dinslaken und Duisburg.

Während die meisten anderen ausländischen Zuwanderer ihre fremden Staatsbürgerschaften so rasch wie möglich loszuwerden trachteten, behielten die Slowenen am Niederrhein ihre zunächst österreichischen, seit 1918 jugoslawischen Pässe. Sie und ihre Nachkommen glichen sich zwar den Deutschen völlig an und sprachen schon nach wenigen Jahren das Deutsch ihrer Umgebung, nur untereinander häufig Slowenisch, aber nur die wenigsten von ihnen ließen sich einbürgern. Die Kosten einer Naturalisation, mindestens 500 Mark, waren ihnen zu hoch. Erst seit etwa 1960 haben sich viele Niederrhein-Slowenen zur Aufgabe ihrer jugoslawischen Staatsbürgerschaft durchgerungen. Sie wollten nicht – wie es einer von ihnen, der Bergmann Karl Sapotnik, gegenüber einem Reporter der Lokalzeitung formulierte – "für Gastarbeiter gehalten" werden, denn "wir sind doch Einheimische" – im Gegensatz zu den Zigtausenden, darunter auch vielen Jugoslawen, die 1960 gerade erst in die Bundesrepublik gekommen waren.
Das größte Kontingent unter den Zuwanderern nichtdeutscher Nationalität, die annähernd eine Million Polen, hatte nur in geringem Maße Einbürgerungsprobleme. Die meisten von ihnen – alle, die aus Schlesien, Posen, Hinterpommern, West- und Ostpreußen ins Revier gekommen waren – hatten die preußische Staatsangehörigkeit und waren somit für die deutschen Behörden keine Ausländer.

Aber auch die zahlreichen Ruhrgebiets-Polen russischer oder österreichischer Staatsangehörigkeit paßten sich ihrer deutschen Umgebung sehr rasch an. Die zweite und dritte Generation, im Ruhrgebiet geboren und aufgewachsen, hatte außer dem Familiennamen und einigen polnischen Sprachkenntnissen keine Unterschiede von der übrigen Bevölkerung des Ruhrgebiets aufzuweisen. Durch Einbürgerung, nicht selten auch durch Heirat, hatten sie bald fast ausnahmslos deutsche Papiere.

Doch trotz dieser Verschmelzung mit der deutschen Umgebung hielten die Ruhrgebiets-Polen landsmannschaftlich zusammen. Dafür sorgten zahlreiche Turn-, Gesangs-, Taubenzüchter- und andere Vereine, Frauengruppen, Jugendverbände und kirchliche Organisationen, auch eine eigene Zeitung, "Glos polski", vor allem aber der Dachverband "Zwiazek Polakow Niemczech", der "Bund der Polen in Deutschland", dessen Mitglieder sämtlich deutsche Staatsangehörige waren.

Ein übriges tat die katholische Kirche, die ihre frommen polnischen Söhne und Töchter vielfach durch Geistliche betreuen ließ, die auch aus Polen stammten oder eigens für diese Aufgabe die polnische Sprache erlernt hatten. Die Polen-Kapläne und -Pfarrer veranstalteten mit ihren Gläubigen nicht nur Gottesdienste und Wallfahrten, vor allem zur Marienverehrung nach Kevelaer am Niederrhein, sondern auch – nach der Devise "Wie zum Tanz, so zum Rosenkranz" – Feste und Veranstaltungen aller Art.

Auch die Machtübernahme durch die Nazis im Jahre 1933 änderte wenig an diesen Verhältnissen. Erst 1939, gleich nach dem Ende des Polenfeldzugs, an dem auch viele Söhne von Ruhrgebiets-Polen als Soldaten der deutschen Wehrmacht teilgenommen hatten, wurde der "Bund der Polen in Deutschland" von den Behörden aufgelöst.

Nach dem Zweiten Weltkrieg lebte die polnische Volkstumspflege im rheinisch-westfälischen Industriegebiet wieder auf, teils durch eigene Initiative der früheren Funktionäre und Aktiven, teils inspiriert und gefördert von der Regierung in Warschau, wobei es zwischen den Vertretern gegensätzlicher Interessen heftige Konflikte gab.

Immerhin hatten die Polenvereine und der wiedererstandene Bund einigen Zulauf, wobei mancher, der sich nun wieder seiner polnischen Eltern oder Großeltern erinnerte, damit nur seine eigene braune Vergangenheit in Vergessenheit zu bringen trachtete. Die breite Masse der längst völlig integrierten Ruhr-Polen ließ die Streitigkeiten zwischen eifernden antikommunistischen Katholiken und angeblich von Warschau aus gesteuerten Verbandssekretären ebenso kalt wie die mitunter etwas dubiosen Motive derer, die plötzlich wieder ihr Herz für das polnische Vaterland schlagen ließen, obwohl sie nur wenige Jahre zuvor mit dem Hakenkreuz an der SA- oder SS-Uniform herumgelaufen waren.

Insgesamt waren es allenfalls fünfzigtausend Männer und Frauen, die als Söhne, Töchter, Enkel oder Urenkel der fast eine Million Zuwanderer aus Polen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts an polnischer Volkstumspflege noch ernsthaft interessiert waren. Den meisten "Westfalen-Polen" lag – wie ihren deutschstämmigen Nachbarn und Kollegen – am meisten der Fußballsport am Herzen.

Beim Fußball allerdings, zumal wenn einer der Spitzenspieler aus dem "Kohlenpott" Glanzleistungen vollbrachte – wie in den frühen fünfziger Jahren etwa Jupp Posipal, Toni Turek oder der Nationalelf-Torwart Kwiatkowski –, erinnerten sich die verlorenen Söhne Polens an Ruhr und Emscher. Das war einer aus ihren Reihen!

Aber solche gelegentlichen Reminiszenzen änderten nichts daran, daß sich die "Westfalen-Polen" längst völlig als Einheimische fühlten. Als in den frühen sechziger Jahren immer mehr "Gastarbeiter" ins Revier strömten – erst aus Italien, dann auch aus den anderen Mittelmeerländern, bald sogar aus Ostasien und Afrika –, verhielten sich die aus Polen stammenden Kumpel des Reviers den Neuankömmlingen gegenüber nicht anders als ihre deutsche Kollegen. Mit "denen", sagten sie, wollten sie "nix weiter zu tun" haben – abgesehen davon, daß sie den "Itakern" elende Quartiere im Keller oder auf dem Dachboden ihrer Kumpelhäuschen allzu teuer vermieteten, sich also auch in dieser Hinsicht von ihren deutschstämmigen Nachbarn nicht unterschieden.

Das untergegangene Deutsche Kaiserreich zählte, wie wir gesehen haben, nur sehr wenige "Ausländer" zu seinen Einwohnern. Die Millionen Arbeiter nichtdeutscher Nationalität waren zum größten Teil preußische Untertanen aus den Ostprovinzen, und das einzige nennenswerte Problem, das mit der Abwanderung der Landbevölkerung des Ostens in die Industriezentren Mittel- und Westdeutschlands in Pommern und Mecklenburg, West- und Ostpreußen, Posen und Schlesien entstand, war ein wachsender Arbeitskräftemangel während der Erntezeit. (In den Aufnahmegebieten der Abwanderer, vor allem in Berlin und im Ruhrgebiet, gab es Wohnungs- und gelegentlich auch erhebliche Integrationsprobleme, aber davon soll später die Rede sein.)

Die Gutsbesitzer versuchten sich dadurch zu helfen, daß sie Saisonarbeiter einstellten, die jenseits der Grenze des Zarenreichs, vor allem in Russisch-Polen, von daran gutverdienenden Vermittlern kolonnenweise angeworben wurden. Etwa von 1878 an kamen in jedem Sommer hunderttausend und mehr polnische "Schnitter" auf die ostelbischen Güter.

Zur selben Zeit herrschte jedoch in der deutschen Industrie eine ernste Krise, die einen erheblichen Rückgang der Beschäftigung und Massenarbeitslosigkeit zur Folge hatte. Allein in Berlin war fast die Hälfte der Belegschaften aller Betriebe entlassen worden.

"Der deutsche Arbeitsmarkt im Jahre 1878", berichtete der "Arbeiterfreund", "bietet ein Bild des Jammers. Die Zahl der unbeschäftigten Arbeiter war schon im vergangenen Jahr sehr bedeutend. An einen Abfluß der überschüssigen Arbeitskräfte in größeren Wellen nach anderen Ländern ..., namentlich in die Vereinigten Staaten, war nicht zu denken. Dort gab es bereits viele müßige Hände, die auf Arbeit warteten ... In den großen Städten ist die Zahl der dort stellensuchenden Personen geradezu erschreckend groß. Unter den Stellensuchenden befinden sich namentlich auch solche, die früher mit einigen hundert Talern aus der Heimat in die Großstadt gekommen waren, ihr Geld meist in kleineren Restaurationen oder Produktengeschäften angelegt, infolge schlechten Geschäftsganges aber alles verloren hatten und schließlich Hausarbeit oder irgendeine Stellung zu erhaschen suchen. Hieraus geht hervor, daß vor Zuzug nach den großen Städten, in denen ohnehin alles überfüllt ist, nicht genug gewarnt werden kann. Das Drängen nach den großen Städten während der jetzigen Krisis wird nur dann begreiflich, wenn man von dem Elend und dem Mangel in den kleineren Städten und auf dem platten Lande hört ..."

Angesichts dieser katastrophalen Beschäftigungslage, die sich während der folgenden anderthalb Jahrzehnte kaum besserte und 1886-88 und dann noch einmal um die Mitte der neunziger Jahre ihre Tiefpunkte hatte, verbot die preußische Regierung wiederholt die Einreise von Saisonarbeitern aus Russisch-Polen – sehr zum Ärger der ostelbischen Rittergutsbesitzer, die weder für die Arbeitsmarktlage noch für die von Berlin aus unter Reichskanzler Bismarck betriebene Germanisierung der Ostprovinzen Verständnis hatten, "denn das Arbeiterdefizit war auch in den Jahren der Krise ... in den Ostprovinzen sehr groß", berichtet J. Nichtweiß in einer 1959 erschienenen grundlegenden Arbeit über "Die ausländischen Saisonarbeiter in der Landwirtschaft" der wilhelminischen Epoche, und er fährt fort: "Während in den Städten Tausende von Arbeitslosen darbten, rissen die heftigen Klagen der Gutsbesitzer über den Arbeitsmangel nicht ab. So schreibt zum Beispiel ein westpreußischer Rittergutsbesitzer in der nationalistischen ›Täglichen Rundschau‹ im Februar 1892: ›Selbst jetzt im Winter ist es kaum möglich, Arbeiter aufzutreiben. Im Sommer müßte die Ernte auf dem Feld verfaulen, wenn es nicht polnisch-russischen Arbeitern gestattet wäre, bei uns in Arbeit zu treten. Bedauerlicherweise kann man sie nicht auch über Winter behalten, da ihnen die dauernde Niederlassung nicht gestattet wird. Auf meinem Rittergut stehen zum ersten Male seit 25 Jahren drei Familienwohnungen leer, und ich bin nicht imstande, sie zu besetzen, und kenne sogar Güter, wo die Hälfte aller Wohnungen leer steht. Seit 1872 sind 20 v. H. der jetzt ortsanwesenden Bevölkerung meines Gutes nach Amerika ausgewandert. Das benachbarte deutsche Kirchspiel ist infolge der Abwanderung jetzt ganz von Polen und Masuren besetzt. Dienstboten sind kaum noch zu erhalten und laufen im Frühjahr wieder weg ..."

Trotz dieser bewegten Klagen waren die ostelbischen Großagrarier aber nicht bereit, die Einstellung arbeitsloser Industriearbeiter aus den Großstädten und Revieren auch nur zu erwägen, und umgekehrt lehnten es selbst die darbenden Erwerbslosen Berlins, erst recht die des Ruhrgebiets, entschieden ab, auf den Gütern der Ostprovinzen zu arbeiten; die Behandlung und Beköstigung waren ihnen dort zu schlecht.

Warum sich die ostelbischen Rittergutsbesitzer dagegen sträubten, deutsche Arbeitslose aus den Industriegebieten einzustellen, schilderte mit großer Offenheit der Regierungspräsident von Stettin in seinem Bericht an das Landwirtschaftsministerium in Berlin:

"Die Ergänzung der nicht ausreichenden einheimischen Arbeitskräfte wird durch den beliebten, unschwer zu bewerkstelligenden Zuzug von Arbeitern ... aus Rußland und Polen bewirkt. Diese Leute verdienen den Vorzug vor den arbeitslosen deutschen Industriearbeitern, da sie mit landwirtschaftlicher Arbeit vertraut und mit dem hier ortsüblich gezahlten Lohn einverstanden und auch zufrieden sind ..." Und der Landrat von Greifswald in Pommern drückte es noch knapper und präziser aus: Die deutschen Arbeiter aus den Städten seien "verwöhnt und sozialdemokratisch verseucht": sie würden die "ruhigen und verständigen pommerschen Arbeiter gründlich verderben".

Auch in den übrigen preußischen Ostprovinzen zeigten die Gutsbesitzer nicht die geringste Neigung, deutsche Arbeitslose aus den Städten einzustellen. Lieber hätten sie chinesische Kulis beschäftigt, wie die Eingabe eines ostpreußischen Gutsbesitzers aus dem Jahre 1894 zeigt. Im Februar 1893 schlug ein führender Agrarier, Dr. Kaerger, auf einer Versammlung sogar vor, "Neger aus den deutschen Kolonien" in Ostelbien als Landarbeiter einzusetzen.

"Es entspricht den Tatsachen", so berichtet auch J. Nichtweiß in seiner schon erwähnten Studie, "daß im Jahre 1889 westpreußische Gutsbesitzer den Vorschlag machten, chinesische Kulis einzuführen ... Der gleiche Antrag wurde während einer Versammlung des Landwirtschaftlichen Vereins zu Stettin und auf einer Sitzung des Baltischen Zentralvereins zur Beförderung der Landwirtschaft in Greifswald gestellt ... Das preußische Landwirtschaftsministerium interessierte sich ernsthaft für diese Angelegenheit. Es ließ über das Ministerium des Auswärtigen am 19. August 1890 einen Bericht über Arbeitsverträge der chinesischen Kulis an der Ostküste Sumatras beschaffen und führte über das Ministerium des Innern einen Briefwechsel mit dem Oberpräsidenten von Pommern über die Einführung von Chinesen zu landwirtschaftlichen Arbeiten."

Aber das Projekt wurde von den anfangs begeisterten Gutsbesitzern dann nur noch halbherzig unterstützt. Sie hätten die Kulis ja auch den Winter über unterhalten müssen, was nicht ihrem Interesse entsprach. Außerdem schreckten sie die Transportkosten, die Ungewißheit über die Eignung und Anpassungsfähigkeit der Chinesen. So wurde der Plan im preußischen Ostelbien zunächst nicht weiterverfolgt.

Doch der für die Junker verlockende Gedanke, mit Hilfe der sprichwörtlich genügsamen Kulis den Forderungen der einheimischen Arbeiter nach besseren Arbeitsbedingungen und höheren Löhnen einen Riegel vorzuschieben, wurde dann im benachbarten Mecklenburg wieder aufgegriffen. Am 12. April 1891 erschien in den "Mecklenburgischen Nachrichten" eine Anzeige folgenden Wortlauts:

"Diejenigen Herren, welche zum Frühjahr 1892 gewillt sind, chinesische Arbeiter zu engagieren, werden gebeten, ihren Bedarf, d. h. die Anzahl männlicher Arbeiter, bei mir anzumelden. Die Kosten beim 10-jährigen Kontrakt werden bei genügender Beteiligung franco Bremen zirka 200 Mark pro Kopf betragen. – Alt-Portsdorf bei Kirch-Mulsow C. Knaudt."

Zwar machte dann das Innenministerium in Schwerin, mit dem sich Gutsbesitzer Knaudt zuvor ausführlich beraten hatte, am Ende doch nicht mit und drohte mit Ausweisung der Chinesen, falls sie nach Mecklenburg gebracht würden. Aber die Rittergutsbesitzer erreichen dennoch, was sie wollten: Das Einwanderungsverbot für Arbeiter aus Russisch-Polen wurde endlich aufgehoben, wenn auch zunächst nur für drei Jahre und allein für die Ostprovinzen.

Als dann gegen Ende des Jahrhunderts die Einreise der polnischen Arbeiter wieder erschwert worden war, kam es im preußischen Abgeordnetenhaus zu leidenschaftlichen Debatten. Die konservativen Junker argumentierten, das Wasser stehe ihnen schon bis zum Hals; ohne die polnischen Arbeiter würde die ostelbische Landwirtschaft in Kürze ruiniert sein, und das bedeute zugleich den Ruin Preußens und den Untergang des Reiches!

Als eines ihres wichtigsten Argumente führten die Ost-Elbier an, daß nur durch importierte Landarbeiter aus Russisch-Polen und Österreichisch-Galizien die "Verseuchung" der deutschen Arbeiter verhindert werden könnte. Was sie damit meinten, erläuterte der Abgeordnete Szmula:

Wer die Leute kennt, den niedrigen geistigen Standpunkt, auf dem sie sich befinden – die Hälfte von ihnen kann kaum lesen und schreiben, die Leute denken an nichts anderes als an ihre Arbeit! Es sind die ordentlichsten Leute von der Welt, die unseren Leuten absolut als Vorbild dienen könnten!

Sie wetzten sogar, führte der Abgeordnete weiter aus, ihre Sensen schon auf dem Weg zum Feld, um ja keine Zeit zu verlieren. Von Politik sei bei ihnen keine Spur zu finden, sie seien "reine politische Nullen".

Ein anderer Agrarier pflichtete dem Abgeordneten Szmula bei und erklärte, den Polen sei es bei ihm "heimlich", weil er selbst Polnisch mit ihnen spreche, sie auch zum Beichten und zur Kommunion gehen ließe. Und er fügte hinzu: "Dumme sind mir lieber wie (sic!) Sozialdemokraten!"

Ganz ähnliche Auffassungen hatten auch die Ruhrindustrieilen, die zu Hunderttausenden die Landarbeiter der Ostprovinzen nach Westdeutschland geholt hatten, nur gab es für die Herren Thyssen, Klöckner, Kirdorf und Grillo kaum "Ausländer"-Probleme. Die Polen, Masuren, Kassuben, Litauer, Slowaken, Tschechen und Sorben, die von den ostelbischen Gütern ins rheinisch-westfälische Industriegebiet strömten, waren ja in der überwältigenden Mehrzahl Inländer, vor allem preußische Staatsangehörige, die übrigen zumeist "Österreicher", die von der Ausländerbehörde wohlwollend behandelt wurden. Solange es das Arbeitskräftereservoir der von den Hohenzollern und den Habsburgern unterjochten Slawen gab, war der Ruhrindustrie um die Deckung ihres Bedarfs an fleißigen, genügsamen und für sozialistische Agitation wenig anfälligen Bergleuten und Stahlarbeitern nicht bange.

Deutschland – ein Einwanderungsland?

Das Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland, das seit dem 3. Oktober 1990 auch das Territorium der früheren DDR umfaßt, erstreckt sich über eine Fläche von rund 350.000 Quadratkilometern von List auf Sylt im äußersten Norden bis Oberstdorf im Allgäu im extremen Süden, von Selfkant an der niederländischen Grenze im Westen bis zur Oder und Lausitzer Neiße im Osten.

Dieses Land im Herzen Europas wird gegenwärtig von rund 78 Millionen Menschen bewohnt, von denen etwa 6,5 Millionen nichtdeutscher Staatsangehörigkeit sind und rund zwei bis drei Millionen aus nichtdeutschen Kulturen und Sprachgebieten stammen.

Der Bevölkerungszahl, erst recht der Fläche nach unbedeutend, etwa im Vergleich mit den USA, der Sowjetunion, Kanada, Indien oder gar China, gehört die Bundesrepublik zu den führenden Industriestaaten der Welt. Am Weltmarkt nimmt sie mit dem Export ihrer industriellen Erzeugnisse den ersten Platz ein; die USA und Japan stehen erst an zweiter und dritter Stelle. Auch hinsichtlich des durchschnittlichen Lebensstandards ihrer Bevölkerung zählt die Bundesrepublik zur internationalen Spitzengruppe des Wohlstands.

Kein Industriestaat Europas, ausgenommen Belgien und Holland, ist so dicht bevölkert wie die Bundesrepublik. Außer den Japanern lebt keine Industrienation der Erde so eng zusammengedrängt wie die Bürger der Bundesrepublik. Diese Tatsache und der Umstand, daß gegenwärtig mehr als vier Millionen Einwohner arbeitslos sind, – die auf sogenannte "Kurzarbeit Null" gesetzten Bewohner der neuen Bundesländer eingeschlossen –, bilden die Grundlage der seit Beginn der achtziger Jahre von meist konservativen Politikern aufgestellten Behauptung, die Bundesrepublik Deutschland sei kein Einwanderungsland.

Klopft man diese Behauptung auf ihren Zweck hin ab, so kommt eine Forderung zum Vorschein, die von den Alldeutschen und Völkischen des Bismarck-Reichs erhoben und von den Nazis zu verwirklichen versucht worden ist – mit katastrophalen Folgen für ganz Europa, besonders aber für Deutschland selbst. Diese Forderung lautete: Deutschland den Deutschen!

Das gefährlichste an dieser Forderung ist, daß die darin enthaltenen Begriffe alles andere als klar sind. Denn was ist "Deutschland"? Wer ist "Deutscher"? Was ist "deutsch"? Reicht "Deutschland", wie es die von Sehnsucht nach nationaler Einheit erfüllten Bürger hierzulande im frühen 19. Jahrhundert begeistert sangen, "so weit die deutsche Zunge klingt und Gott im Himmel Lieder singt"?

Sind "Deutsche" alle, die "deutscher Zunge" sind, Deutsch als ihre Muttersprache sprechen? Sollen es nur "Eingeborene", also in einem noch genauer zu definierenden Gebiet namens "Deutschland" zur Welt Gekommene sein? Genügt es, wenn sie sich diesem Territorium als ihrem Vaterland verbunden fühlen? Müssen die Grenzen des Vaterlands, der Heimat, genau bestimmt sein?

Der liberale Historiker Veit Valentin schrieb in der Einleitung zu seiner "Geschichte der Deutschen": "Irgendwo in Mitteleuropa liegt Deutschland. Jede genauere Bestimmung verwirrt mehr als sie erklärt. Deutschland hat schwankende, fliehende Grenzen wie kein anderes Land ..." Er beschrieb dann die Schönheit und bunte Vielfalt der Landschaften, die "Deutschland" bilden oder gebildet haben, und er kam zu dem Ergebnis: "Man könnte nicht sagen, was allen diesen Landschaften gemeinsam war – es hatte ja auch mit der äußeren Erscheinungsform wenig zu tun. Das Wesentliche war das Gefühl der Verwurzelung und der Verbundenheit. Die deutsche Seele klammerte sich an die mütterliche Wärme gerade dieses Flecks Erde, ihre Sehnsucht fand sich selbst und beruhigt sich an der Schlichtheit, der ewigen Echtheit des Heimatbodens. So ein lebendiges, von den Poeten und Musikern gesteigertes und geformtes Gefühl vermochte sich wohl auf die lokale Herrschaft, auch in einem politischen Sinne, zu übertragen – es versagte aber gerade gegenüber jener staatlichen Bildung, die nun einmal das deutsche Schicksal wurde: gegenüber der Territorialherrschaft."

Halten wir aus dieser Erklärung der Unerklärbarkeit der für unsere Fragen wesentlichen Begriffe einen Satz fest:

"... Das Wesentliche war das Gefühl der Verwurzelung und der Verbundenheit ..." – eine Wahrheit, die Deutsche unseres Jahrhunderts nicht daran gehindert hat, Millionen von Menschen ihrer Heimat zu berauben, willkürlich zu verpflanzen oder gar physisch zu vernichten, sei es, weil diese Menschen Deutsche waren, aber nach Meinung der damaligen Regierung nicht am richtigen Ort, sei es, daß sie angeblich keine Deutschen waren, aber das – von ihnen ursprünglich durchaus nicht so empfundene – Unglück hatten, in Deutschland zur falschen Zeit zu leben.

Damit sind wir zwar an dem Punkt, an dem wir erkennen, welches Unheil durch die Forderung "Deutschland den Deutschen!" schon angerichtet worden ist und wieder angerichtet werden könnte. Aber wir sind der Antwort auf die Ausgangsfrage, nämlich ob "Deutschland" ein Einwanderungsland sei, keinen Schritt nähergekommen.

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