Auszüge aus Bernt Engelmann's
"Trotz alledem"

Deutsche Radikale 1777–1977

Die Geschichte der deutschen "Radikalen" ist von auffallenden Widersprüchen gekennzeichnet: Während man die einen verschwieg und vergaß, setzte man den anderen – unter Ignorierung ihrer Radikalität – später Denkmäler. Gemein ist ihnen lediglich, daß man sie zu Lebzeiten verfolgte, unterdrückte, einkerkerte oder zumindest "maßregelte". So wurde der Dichter Christian Friedrich Daniel Schubert 1777 auf Befehl des Herzogs von Württemberg entführt und anschließend zehn Jahre auf der Festung Hohenasperg gefangen gehalten. Immanuel Kant legte die preußische Obrigkeit Zurückhaltung nahe – "widrigenfalls Ihr Euch bei fortgesetzter Renitenz unangenehmer Verfügungen zu gewärtigen habt". Und Johann Gottlieb Fichte hatte vorsorglich auf das Titelblatt einer Veröffentlichung schreiben lassen: "Eine Schrift , die man erst zu lesen bittet, ehe man sie confiszirt".

Im 19. Jahrhundert verfuhr man nicht zimperlicher mit denen, die demokratische Freiheiten und soziale Gerechtigkeit forderten: Georg Büchner mußte ins Ausland fliehen, Robert Blum wurde erschossen, die bevorzugte Strafe für andere Liberale und Linke war die Festungshaft . "Für einen Witz: ein Jahr Gefängnis, für ’ne Erzählung: dritthalb Jahr’ - so trüb stand niemals dein Verhängnis, so hoch flog, Deutschland, nie dein Aar", dichtete der Dramatiker Oskar Panizza. In unserem Jahrhundert eskalierte dann vollends die Gewalt gegen den Geist: Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Gustav Landauer und Erich Mühsam wurden ermordet, Carl von Ossietzky zu Tode gequält und 1933 schließlich, was Rang und Namen in der deutschen Literatur und Kunst hatte, ins Exil getrieben. Indem Bernt Engelmann die Geschichte jener Männer und Frauen erzählt, die in den letzten 200 Jahren wegen ihrer freiheitlichen Gesinnung verfolgt wurden, zeigt er nicht nur die Geistlosigkeit, Intoleranz und Überheblichkeit der jeweiligen Obrigkeiten, er macht auch deutlich, wie vergeblich deren Anstrengungen letztlich waren. Denn – wie Goethe 1831 sagte – es geht "am Ende doch nur vorwärts".

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Was wäre, wenn …? Anstelle einer Einleitung

Zunächst wäre es sehr still im Raum; man hörte das Summen der Klimaanlage und das Rascheln des Papiers, das der Kandidat, ein Mann von etwa fünfzig Jahren, beiseite schöbe. Denn er spräche frei, seine Worte sorgsam wählend: "Der Erfolg für meine Person ist mir gleichgültig … Selbst wenn ich wüßte, daß ich bestimmt sei, die unzähligen Opfer, welche schon für die Wahrheit fielen, um eines zu vermehren, so müßte ich doch meine letzte Kraft aufbieten, um Grundsätze in das Publikum bringen zu helfen, welche wenigstens diejenigen sichern und retten könnten, die nach mir dieselbe Sache verteidigen werden …"

"Aber, Verehrtester, wir leben doch nicht im Mittelalter!"

"In einem jeden Zeitalter ist die größere Menge unwissend, verblendet und gegen neue Belehrungen verstockt. Jedes Zeitalter würde das Verfahren des vorhergehenden gegen diejenigen, welche alte Irrtümer bestreiten, in allen Stücken nachahmen, wenn man sich doch nicht zuweilen schämte, selbst zu tun, was man soeben an den Vorfahren laut mißbilligt hat …"

"Darf man erfahren, was Sie damit meinen? Vielleicht die Karlsbader Beschlüsse von 1819 zur Unterdrückung der demagogischen Umtriebe, Bismarcks Sozialistengesetze,
Hitlers Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat? Oder wollen Sie womöglich mit noch weiter zurückliegenden Dingen aufwarten?"

Doch der Kandidat ließe sich durch diese Zwischenfragen nicht beirren, sondern führe fort: "Die Zeitgenossen Jesu errichteten den Propheten Denkmäler und sagten: Wären sie in unsern Tagen gekommen, wir hätten sie nicht getötet! Und so tut bis auf diesen Augenblick jedes Zeitalter an den Märtyrern der vorhergehenden. Jedes hat darin ganz recht, daß es dieselben Personen, wenn sie wiederkämen, nicht verfolgen würde, indem diese ja nun größtenteils ihre untrüglichen Heiligen geworden sind; sie verfolgen jetzt nur die, welche jene nicht für untrüglich anerkennen wollen. Aber darin muß man ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß sie es doch allmählich … mit besserm Anstande tun lernen …"

"… vor allem mit einem Höchstmaß an Objektivität und nur mit rechtsstaatlichen Mitteln, wie Sie gerechterweise hinzufügen sollten! Bei uns wird niemand gesteinigt oder verbrannt! Unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung garantiert jedem das Recht auf eigene Meinung und auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er damit nicht die Rechte anderer verletzt und soweit er nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung verstößt. Deshalb, Verehrtester, sind Ihre Bemerkungen hier und heute gänzlich überflüssig!"

"War es je notwendig, dergleichen Grundsätze zur Verteidigung der Glaubens- und Gewissensfreiheit in das Publikum zu bringen, so ist es gegenwärtig dringende Notwendigkeit. Verteidigen wir nicht jetzt, nicht auf der Stelle unsere Geistesfreiheit, so möchte es gar bald zu spät sein!"

Damit schlösse der Kandidat seine Ausführungen und sähe nun die Herren am anderen Ende des langen Konferenztisches der Reihe nach an: die beiden, recht ratlos
wirkenden Ministerialräte; den Herrn Staatssekretär, der sein Temperament nicht hatte zügeln können und ihm mehrfach ins Wort gefallen war; den Herrn Minister, der
in diesem besonderen Fall selbst den Vorsitz führte und etwas verlegen in seiner Taschenbuch-Ausgabe des "Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949" blätterte, um den Kandidaten jetzt nicht ansehen zu müssen; und auch den Vertreter des Personalrats, der den Vorschriften entsprechend an der Sitzung teilnähme und von allen Anwesenden am unglücklichsten wirkte. "Ich hatte dergleichen befürchtet", ließe sich schließlich der Minister vernehmen, nachdem er seufzend die Lektüre der Artikel 2 bis 5 des Grundgesetzes beendet hätte. "Es liegen uns ja eine ganze Reihe von Erkenntnissen der Staatsschutzorgane vor, die" – er deutete dabei auf die vor dem Staatssekretär auf dem Tisch aufgeschlagene, ziemlich dicke Akte mit dem roten Querbalken auf dem Deckel und dem Aufdruck 'Geheim!' – "leider deutlich zeigen, daß Sie, Herr Kandidat, in der Kritik bestehender Verhältnisse ziemlich weit über das für einen zur Wiedereinstellung in den öffentlichen Dienst vorgeschlagenen Hochschullehrer eben noch zulässige Maß hinausgehen und daß Sie sogar offen den Umsturz propagieren! Sie sind ferner für eine Verstaatlichung des gesamten Eigentums an Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln, was zwar – wie ich mir habe sagen lassen – mit dem Grundgesetz noch vereinbar, aber auch wohl symptomatisch ist für die geradezu anarchistischen Ideen, die Sie vertreten. Das Schlimmste scheint mir jedoch" – der Minister seufzte – "daß Sie jede Staatsverfassung, also auch die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland, schlankweg für veränderbar halten – oder?" Er sähe dann den Kandidaten über den Brillenrand hinweg scharf an, und dieser erwiderte ohne Zögern:

"Keine Staatsverfassung ist unabänderlich. Es ist in ihrer Natur, daß sie sich alle ändern: eine schlechte, die gegen den notwendigen Endzweck aller Staatsverfassungen streitet, muß abgeändert werden; eine gute, die ihn befördert, ändert sich selbst ab … Die Klausel im gesellschaftlichen Vertrage, daß er unabänderlich sein solle, wäre mithin der härteste Widerspruch gegen den Geist der Menschheit."

"Sie machen es uns wirklich sehr schwer", riefe an dieser Stelle der Minister aus, "und ich bedauere dies, zumal im Hinblick auf Ihre hohe fachliche Qualifikation. Deshalb möchte ich Sie fragen, ob Sie nicht wenigstens uns versprechen wollen, sich fest auf den Boden unseres Grundgesetzes zu stellen und dessen Unverletzlichkeit jederzeit zu verteidigen – nun, Herr Kandidat, wäre das nicht möglich?"

Aber der ganz allein am unteren Ende des langen Tisches sitzende Bewerber schüttelte nur den Kopf, besänne sich einen Augenblick lang und erklärte den versammelten Herren dann mit fester Stimme:

"Ich verspreche, an dieser Staatsverfassung nie etwas zu ändern oder ändern zu lassen, heißt: Ich verspreche, kein Mensch zu sein noch zu dulden, daß, soweit ich reichen kann, irgendeiner ein Mensch sei. Ich begnüge mich mit dem Rang eines geschickten Tiers … Nein, verlaß uns nicht, tröstender Gedanke … daß an der Stelle, wo wir uns jetzt abmühen und – was schlimmer ist als das – gröblich irren und fehlen, einst ein Geschlecht blühen wird, welches immer darf, was es will, weil es nichts will als Gutes!"

"Das sagen sie alle, diese Systemveränderer", flüsterte nun der Staatssekretär seinem Minister zu und führe dann, an den Kandidaten gewandt, laut fort:

"Sie haben soeben, wenn ich Sie richtig verstanden habe, den Verdacht mangelnder Verfassungstreue, der sich schon aus den uns vorliegenden Erkenntnissen ergibt, voll bestätigt. Sie haben es für richtig befunden, dazu aus Ihrer 1793 anonym erschienenen Schrift , 'Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution', einiges zu zitieren. Im Jahr darauf ließen Sie, wiederum anonym, eine Broschüre erscheinen, betitelt 'Zurückforderung der Denkfreiheit'. Darin setzten Sie sich erneut für die angebliche Rechtmäßigkeit des gewaltsamen Umsturzes ein. Fünf Jahre später – man kann über die Langmut Ihrer damaligen Dienstaufsichtsbehörde wirklich nur staunen! – kam es endlich, auf Drängen einer anderen, pflichtbewußteren deutschen Landesregierung hin, zu einem Disziplinarverfahren gegen Sie. Nachdem Sie dann – noch als Beamter! – Ihrem Dienstherrn eine Art Rechtfertigungsschrift überreicht hatten, die Sie 'Appellation an das Publikum. Eine Schrift , die man erst zu lesen bittet, ehe man sie konfisziert' zu nennen beliebten, verloren Sie Ihre Professur in Jena. Übrigens, gleich auf der ersten Seite dieser 'Appellation' heißt es: 'Sie haben da schon so manches Buch verboten und werden noch so manches verbieten, und es ist keine Schmähung, in dieser Reihe mit aufgeführt zu werden. Ich schreibe und gebe heraus nur für diejenigen, die unsere Schriften lesen wollen. Ich begehre keinen zu zwingen, und ob die einzelnen selbst oder ob in ihrer aller Namen die Regierung versichert, daß sie meine Schriften nicht mögen, ist mir ganz einerlei …' – ein reichlich respektloser Ton, den Sie da anschlugen! Nun, Sie schieden aus dem Staatsdienst aus und mußten Jena dann verlassen, wurden auch in Rudolstadt nicht geduldet und fanden erst in Berlin bedingt Aufnahme, wobei Sie sich verpflichten mußten, keinen Anlaß zu Beanstandungen mehr zu geben. Doch schon wenige Jahre später, im Winter 1807/08, machten Sie den Behörden von neuem Schwierigkeiten. Ihre gedruckten 'Reden an die deutsche Nation' durften zwar zunächst erscheinen, weil es wegen der besonderen Zeitumstände nicht opportun gewesen wäre, sie zu verbieten. Aber Neuauflagen konnten später für lange Zeit nicht mehr zugelassen werden; noch 1832 hielt das Berliner Oberzensurkollegium am Verbot dieser aufrührerischen Publikation fest – oder stimmt das etwa nicht?"

Der Kandidat, obzwar schon 1814 verstorben, müßte diesen Sachverhalt bestätigen, auch zugeben, daß er seinerzeit eine staatssozialistische, später häufig mißverstandene und von rechten Ultras mißbrauchte Theorie entwickelt hatte. Man belehrte ihn dann, daß alle vorliegenden Erkenntnisse, sein politisches Verhalten in der Vergangenheit betreffend, zusammen mit seinen Äußerungen im jetzigen Anhörungsverfahren, von der Kommission sorgsam zu prüfen und zu würdigen seien. Sollten sie insgesamt erhebliche Zweifel an der Verfassungstreue des Bewerbers erwecken, so könnte dieser nicht Beamter, also auch nicht Hochschulprofessor, werden.

Der Minister schlösse damit die Sitzung, und sein Staatssekretär ließe nun die dicke Akte, in der er noch ein wenig geblättert hätte, seufzend zufallen. Wir könnten dann auf
ihrem Deckel endlich den Namen des Kandidaten lesen, der derweilen kühl verabschiedet würde mit dem Bemerken, er erhielte demnächst schriftlichen Bescheid: FICHTE,
JOHANN GOTTLIEB. Und kaum hätte Professor Fichte, nicht sonderlich optimistisch gestimmt hinsichtlich des schließlichen Ergebnisses dieses 'Einstellungsgesprächs', den Konferenzraum verlassen, bäte man den nächsten Kandidaten herein: einen Naturwissenschaftler von internationalem Rang, um den sich die Universitäten und Technischen Hochschulen des Landes förmlich rissen. Der Herr Kultusminister – nehmen wir einmal an, es sei der des Landes Baden-Württemberg, Professor Dr. D. Wilhelm Hahn – ließe es sich nicht nehmen, den begehrten Wissenschaftler mit baltischem Charme auf das liebenswürdigste zu begrüßen, ihn zum unteren Ende des langen Tisches zu geleiten und ihm den Sessel selbst zurechtzurücken.

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