Auszüge aus Erich Fromm's
"Authentisch leben"

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Aus dem Vorwort von Rainer Funk

Sozialpsychologisch gesehen hat die heute um sich greifende Attraktivität inszenierter Wirklichkeit ihren Grund vor allem in dem durch das allgegenwärtige Marketing bestimmten Bedürfnis des gegenwärtigen Menschen, sich zu vermarkten, "gut drauf" zu sein, beim anderen gut ankommen zu wollen und sich gleichzeitig einer schwierig, konflikthaft, destruktiv, enttäuschend oder sonstwie unpäßlich erlebten Wirklichkeits- und Selbstwahrnehmung zu entziehen.

Von besonderer Bedeutung ist dabei die Möglichkeit, auch die eigene Wirklichkeit – das Selbst und das Selbsterleben – zu inszenieren. Die Wahrnehmung des eigenen Selbst orientiert sich dann nicht mehr am eigenen So-Sein, sprich an den eigenen Bedürfnissen, Befindlichkeiten, Gefühlen und Fähigkeiten; vielmehr gilt es, die eigene Persönlichkeit und den eigenen Charakter zu inszenieren und sich eine Ich-Identität von außen anzueignen. Man zieht sich ein bestimmtes Persönlichkeitsprofil über, die Rolle des Erfolgreichen, Selbstbewußten, Selbstsicheren, Einfühlsamen, Rationalen, mit Charisma Ausgestatteten usw. und bringt diese möglichst perfekt zur Darstellung.

Die Identifizierung mit dem inszenierten Selbsterleben kann so weit gehen, daß für den Betreffenden wie für seine Umwelt nur noch mit Mühe erkennbar ist, wer er nun wirklich ist und was an ihm echt ist, weil er die Rolle so "authentisch" spielen kann, daß sein authentisches So-Sein völlig verschwunden ist. Sein Selbsterleben ist das eines hypnotisierten Menschen, der sein Tun als aus seinem eigenen Wollen, Fühlen und Denken resultierend erlebt. Er hat meist keinen direkten Zugang mehr dazu, daß er ein Opfer von suggestiven Kräften geworden ist. Im Gegenteil, er wird die Frage danach, was er in Wirklichkeit sei, als altmodisch zurückweisen, weil es so etwas wie eine "Natur" oder ein "Wesen" des Menschen oder ein authentisches Selbstsein in Wirklichkeit nicht gebe. Wirklich ist nur, was inszeniert ist. Warum noch nach einem authentischen Leben suchen?

Das Problem verschärft sich, wenn das entfremdete Selbsterleben das Ergebnis von kollektiven Suggestionen ist, weil dann viele Menschen das gleiche Selbsterleben haben. Es gibt dann kaum noch einen Anlaß, das, was sie als ihr ureigenstes Denken, Fühlen und Handeln erleben, als Produkt kollektiver Suggestionen in Frage zu stellen, weil ja alle davon überzeugt sind, ganz authentisch zu leben, wenn sie ihre Rolle perfekt spielen.

Daß ein Leben aus einem inszenierten Selbst nicht glatt und bruchlos möglich ist, verdanken wir vor allem unserer Psyche, die – zum Glück und für viele leidvoll erfahrbar – nicht alles mit sich machen läßt. Wir alle haben ein besseres Wissen um das menschliche Gelingen. Doch dieses kann ignoriert, das heißt verdrängt und verleugnet werden. Dieses bessere Wissen hat Erich Fromm mit verschiedenen Begriffen zu fassen versucht. Er sprach von Spontaneität und spontanem Tätigsein oder von der produktiven Orientierung, um deutlich zu machen, daß, was immer der Mensch denkt, fühlt und handelt, aus eigenem Antrieb (sua sponte) und mit Hilfe der dem Menschen eigenen geistigen, psychischen und körperlichen Fähigkeiten aus ihm herausgeführt (pro-ducere) wird. Er sprach vom "ursprünglichen" Menschen und vom "kreativen", um gegen alle Fremdbestimmung und Suggestion zu verdeutlichen, daß die Lebensäußerungen etwas "Selbsttätiges" sind, also ihren "Ursprung" im eigenen "Sein" (und nicht im "Haben" und Aneignen) haben müssen und so eine "schöpferische" Qualität haben. Nur wenn diese Eigengesetzlichkeit menschlichen Lebens und psychischen Wachstums beachtet wird, kommt es zu einem authentischen Selbsterleben und lebt der Mensch authentisch, weil er der Autor, der Urheber, das Subjekt seines Menschseins ist.

Wird gegen diese Grundoption für ein authentisches Leben verstoßen, dann kommt es zu Störungen und Leidenszuständen: Menschen fühlen sich gelangweilt, phantasielos, depressiv, innerlich leer und antriebslos. Spürt man diesen negativen Gefühlen des Selbsterlebens nach, so zeigt sich ein tiefreichendes Ohnmachtsgefühl, das umso ausgeprägter ist, je weniger ein Mensch aus seiner ihm eigenen Stärke zu leben imstande ist. Aber auch das Erleben dieser ohnmächtigen Gefühle kann aus dem Bewußtsein verbannt werden, indem man sich beleben läßt durch die Erlebnisangebote inszenierter Wirklichkeit. Oft brechen die Ohnmachtsgefühle erst dann durch, wenn das inszenierte Leben nachläßt oder Schwächen zeigt und die kollektive Hypnose nicht mehr richtig wirkt. Manchmal kehren sie in psychosomatischen Erkrankungen wieder, die einen dann die ganze Ohnmacht spüren lassen, oder werden in zwanghaften, phobischen, suchthaften, kontrollierenden neurotischen Verhaltensweisen gebunden. Solche neurotischen oder psychosomatischen Symptombildungen zwingen einen nicht, das unerträgliche Ohnmachtsgefühl spüren zu müssen. Der Preis aber sind psychische und körperliche Leidenszustände.

Solche Leidenszustände sind meist schmerzvolle Hinweise darauf, daß Menschen nicht authentisch leben und keinen Zugang mehr zu ihrem besseren Wissen um sich selbst haben. Dieses ist verdrängt worden und spricht oft nur noch in den Träumen der Menschen eine eindeutige Sprache. Und doch läßt sich authentisches Leben wiedererlernen, indem man sich auf seine ursprünglichen Kräfte besinnt, ihnen Raum gibt, sie praktiziert. ...

Der heutige Mensch ist vom Gefühl einer tiefen Ohnmacht erfüllt

Der gegenwärtige Mensch hat mehr als der Mensch irgendeiner früheren Geschichtsepoche den Versuch gemacht, das Leben der Gesellschaft nach rationalen Prinzipien zu ordnen, es in der Richtung des größten Glückes für die größte Zahl der Menschen zu verändern und den einzelnen aktiv an dieser Veränderung zu beteiligen. Er hat gleichzeitig die Natur in einem bisher nie gekannten Maß bezwungen. Seine technischen Leistungen und Erfindungen stehen einer Verwirklichung aller Träume nahe, die je von der Herrschaft des Menschen über die Natur und seiner Macht geträumt worden sind. Er hat einen bisher ungeahnten Reichtum geschaffen, der zum ersten Mal in der Geschichte die Möglichkeit eröffnet, die materiellen Bedürfnisse aller Menschen zu befriedigen. Nie zuvor ist der Mensch so Meister der materiellen Welt gewesen.

Andererseits aber weist der gegenwärtige Mensch gerade schroff entgegengesetzte Charakterzüge auf. Er produziert eine Welt der großartigsten und wunderbarsten Dinge; aber diese seine eigenen Geschöpfe stehen ihm fremd und drohend gegenüber; sind sie geschaffen, so fühlt er sich nicht mehr als ihr Herr, sondern als ihr Diener. Die ganze materielle Welt wird zum Monstrum einer Riesenmaschine, die ihm Richtung und Tempo seines Lebens vorschreibt. Aus dem Werk seiner Hände, bestimmt, ihm zu dienen und ihn zu beglücken, wird eine ihm entfremdete Welt, der er demütig und ohnmächtig gehorcht. ...

In den neurotischen Fällen wird der Inhalt des Ohnmachtsgefühls etwa folgendermaßen beschrieben: Ich kann nichts beeinflussen, nichts in Bewegung setzen, durch meinen Willen nicht erreichen, daß irgend etwas in der Außenwelt oder in mir selbst sich ändert, ich werde nicht ernstgenommen, bin für andere Menschen Luft. Folgender Traum einer Analysandin gibt eine schöne Illustration des Ohnmachtsgefühls:

Sie hatte in einem Drugstore etwas getrunken und eine Zehndollarnote in Zahlung gegeben. Nachdem sie ausgetrunken hatte, verlangt sie vom Kellner den Restbetrag. Er antwortet ihr, den habe er ihr doch längst gegeben und sie solle nur richtig in ihrer Tasche nachsehen, dann werde sie ihn schon finden. Sie kramt alle ihre Sachen durch und findet natürlich den Betrag nicht. Der Kellner antwortet in kühl überlegenem Ton, es sei nicht seine Sache, wenn sie das Geld verloren habe, und er könne sich nicht weiter damit befassen. Voller Wut rennt sie auf die Straße, um einen Polizisten zu holen. Sie findet zunächst eine Polizistin, der sie die Geschichte erzählt. Diese geht auch in den Drugstore und verhandelt mit dem Kellner. Als sie zurückkommt, sagt sie der Träumerin lächelnd überlegen, es sei ja klar, daß sie das Geld bekommen habe, "sehen Sie nur richtig nach, und Sie werden es schon finden". Die Wut steigert sich, und sie läuft zu einem Polizisten, um ihn zu bitten einzuschreiten. Dieser gibt sich kaum Mühe zuzuhören und antwortet ganz von oben herab, um solche Sachen könne er sich nicht kümmern und sie solle machen, daß sie weiterkomme. Endlich geht sie in den Drugstore zurück. Da sitzt der Kellner in einem Lehnsessel und fragt sie grinsend, ob sie sich nun endlich beruhigt hätte. Sie gerät in ohnmächtige Wut. ...

Den Unterschied zwischen dem Authentischen und dem Fassadenhaften sehen

Wir alle sollten den Unterschied zwischen dem, was authentisch und echt ist, und dem, was pure Fassade ist, zu erkennen lernen. Die Fähigkeit, diese beiden Dinge unterscheiden zu können, hat heute merklich abgenommen. Die meisten Menschen halten Worte für die Realität, was bereits eine für verrückte Menschen typische Verwechslung ist. Die meisten Menschen sehen aber auch nicht mehr den Unterschied zwischen dem Authentischen und dem Fassadenhaften, obwohl sie unbewußt den Unterschied sehr wohl wahrnehmen.

Nehmen wir an, jemand sieht eine Rose und stellt fest: "Das ist eine Rose" oder "Ich sehe eine Rose". Sieht er die Rose wirklich? Manche tun es wirklich, aber die meisten tun es nicht. Welche Erfahrung machen sie? Sie sehen einen Gegenstand (die Rose) und stellen fest, daß der von ihnen gesehene Gegenstand unter den Begriff "Rose" fällt und daß ihre Feststellung: "Ich sehe eine Rose" aus diesem Grund richtig ist. Obgleich es den Anschein hat, daß der Nachdruck hier auf dem Akt des Sehens liegt, handelt es sich in Wirklichkeit um ein rein kognitives Erfassen und dessen Verbalisierung. Der Mensch, der auf diese Weise feststellt, daß er eine Rose sieht, stellt in Wirklichkeit nur fest, daß er sprechen gelernt hat. Er hat gelernt, einen konkreten Gegenstand zu erkennen und mit dem richtigen Wort zu klassifizieren. Das Sehen ist hier kein wirkliches Sehen, sondern seinem Wesen nach ein verstandesmäßiger Akt. Was ist Sehen dann aber in der wirklichen Bedeutung des Wortes?

Vielleicht kann ich es am besten erklären, wenn ich ein konkretes Beispiel anführe. Eine Frau, die in der Küche Erbsen enthülst hat, sagt zu einem Bekannten, den sie später am Morgen trifft, voller Begeisterung: "Ich habe heute morgen etwas Wunderbares erlebt: Ich habe zum erstenmal gesehen, daß Erbsen rollen." Viele, die so etwas hören, werden sich etwas unbehaglich fühlen und fragen, was mit der Frau los ist, die das sagt. Sie nehmen es als selbstverständlich hin, daß Erbsen rollen, und wundern sich nur darüber, daß jemand sich darüber wundern kann. Aber was sie wirklich erleben, wenn sie Erbsen rollen sehen, ist nur eine Bestätigung ihres verstandesmäßigen Wissens, daß runde Körper auf einer geneigten und relativ glatten Fläche rollen. Für sie bedeutet es, wenn sie Erbsen rollen sehen, nur eine Bestätigung ihres Wissens und keine vollständige Wahrnehmung der rollenden Erbsen durch den ganzen Menschen.

Auffallend ist der Unterschied zwischen dem Benehmen der Erwachsenen und der Einstellung eines zweijährigen Kindes zu einem rollenden Ball. Das Kind kann den Ball immer und immer wieder auf den Boden werfen und ihn hundertmal rollen sehen, ohne sich zu langweilen. Weshalb? Wenn man einen Ball rollen sieht und dies nur mit seinem Verstand aufnimmt, dann genügt das einmalige Erlebnis. Wenn man es zwei-, drei- oder fünfmal erlebte, würde es nichts Neues bringen. Mit anderen Worten, es langweilt uns, es immer wieder zu sehen. Für das Kind dagegen handelt es sich primär nicht um eine verstandesmäßige Erfahrung, sondern um den Spaß, den Ball rollen zu sehen, wie es ja auch manchen von uns noch immer Spaß macht, bei einem Tennisspiel den Ball hin- und herhüpfen zu sehen.
Wenn wir uns eines Baumes, den wir sehen, voll bewußt sind, wenn wir ihn in seiner vollen Wirklichkeit, in seinem So-Sein sehen und auf sein So-Sein mit unserer ganzen Person antworten, dann machen wir eine Erfahrung, die die Voraussetzung dafür ist, den Baum malen zu können. Ob wir die technische Fertigkeit besitzen, das zu malen, was wir erleben, ist eine andere Frage, aber kein gutes Gemälde ist je geschaffen worden, wenn der Maler sich nicht zunächst seines besonderen Gegenstandes voll bewußt war und entsprechend darauf antwortete.

Um den Unterschied noch von einer anderen Seite aus zu verdeutlichen: Bei der rein begrifflichen Wahrnehmung besitzt der Baum keine Individualität, sondern ist nur ein Beispiel für die Gattung "Baum". Er ist nur die Repräsentanz einer Abstraktion. Beim vollen Gewahrwerden dagegen gibt es keine Abstraktion. Der Baum behält seine volle Konkretheit und damit seine Einzigartigkeit. Es gibt dann auf der Welt nur diesen einen Baum, mit dem ich in Beziehung trete, den ich sehe und auf den ich antworte. Der Baum wird zu meiner eigenen Schöpfung.

Normalerweise unterscheidet sich das, was wir erleben, wenn wir Menschen sehen, nicht von dem, was wir erleben, wenn wir Gegenstände sehen. Was geht vor sich, wenn wir einen bestimmten Menschen zu sehen glauben? Wir sehen zunächst nur nebensächliche Dinge: seine Hautfarbe, die Art, wie er gekleidet ist, seine soziale Stellung und Erziehung, ob er freundlich oder unfreundlich ist, ob er uns nützlich sein kann oder nicht. Was wir zuerst wissen wollen, ist, wie er heißt. Sein Name erlaubt uns, ihn zu klassifizieren, genauso wie wir eine Blume klassifizieren, indem wir sagen, daß es eine Rose ist. Die Art, wie wir ihn wahrnehmen, unterscheidet sich nicht allzusehr von der Art, wie er sich selbst wahrnimmt. Fragen wir ihn, wer er sei, wird er uns zunächst antworten, er heiße Jones. Geben wir ihm zu verstehen, daß wir damit immer noch nicht recht über ihn Bescheid wüßten, wird er vielleicht sagen, daß er verheiratet, Arzt und Vater von zwei Kindern sei. Wer dann immer noch nicht das Gefühl hat, diesen Mann zu kennen, dem fehlt es offensichtlich am nötigen Scharfsinn, oder er ist ungewöhnlich indiskret.

Wir sehen in der konkreten Person eine Abstraktion, genauso wie er in sich selbst und in uns eine Abstraktion sieht. Mehr wollen wir auch gar nicht sehen. Wir teilen die allgemeine Phobie, wir könnten einem Menschen zu nahe kommen, wir könnten durch die Oberfläche zu seinem Kern vorstoßen, deshalb sehen wir lieber nur wenig von ihm, nicht mehr als wir unbedingt für unser jeweiliges Vorhaben mit ihm sehen müssen. Diese Art des flüchtigen Kennens entspricht einem inneren Zustand der Gleichgültigkeit unserer Gefühle dem anderen Menschen gegenüber.

Aber das ist noch nicht alles. Wir sehen nicht allein den Betreffenden nur am Rande und auf eine oberflächliche Weise: Wir sehen ihn auch in vieler Hinsicht unrealistisch. Hieran sind in erster Linie unsere Projektionen schuld. Wir sind zornig, projizieren unseren Zorn auf die andere Person und glauben, sie sei zornig. Wir sind eitel und empfinden den anderen als eitel. Wir haben Angst und bilden uns ein, er habe Angst, und so weiter. Wir machen ihn zum Aufhänger für die vielen Kleider, die wir selbst nicht tragen möchten, und glauben trotzdem, das sei alles er, und merken nicht, daß es nur die Kleider sind, die wir ihm anziehen. Aber wir projizieren nicht nur, wir entstellen auch das Bild des anderen, weil unsere eigenen Emotionen uns unfähig machen, den anderen so zu sehen, wie er ist. Die drei wichtigsten Eigenschaften, die zu diesem Resultat führen, entsprechen den drei Grund-"Sünden" der buddhistischen Ethik: Gier, Torheit und Zorn. Es erübrigt sich, eigens zu betonen, daß wir einen anderen Menschen nicht objektiv sehen können, wenn wir aus Gier etwas von ihm haben wollen. Wir sehen ihn dann entstellt, ganz so wie ihn unsere Gier haben möchte, unser Zorn ihn zu sein zwingt und unsere Torheit ihn sich vorstellt.

Einen anderen Menschen wirklich sehen, heißt ihn objektiv, ohne Projektionen und ohne Entstellungen sehen, und das bedeutet, daß man in sich selbst jene neurotischen "Laster" überwindet, die unausweichlich zu Projektionen und Entstellungen führen. Es bedeutet, zur Wahrnehmung der inneren und äußeren Wirklichkeit voll zu erwachen. Nur wer jene innere Reife erreicht, wer seine Projektionen und Entstellungen auf ein Minimum reduzieren kann, wird kreativ leben.
Das Erlebnis, einen Menschen in seiner ganzen Wirklichkeit zu sehen, erscheint uns manchmal wie eine plötzliche Erfahrung und kann uns überraschen. Wir können einen Menschen schon hundertmal gesehen haben, und plötzlich, beim hundertsten Mal, sehen wir ihn ganz und haben das Gefühl, als hätten wir ihn zuvor nie richtig gesehen. Sein Gesicht, seine Bewegungen, seine Augen, seine Stimme gewinnen eine neue intensivere und konkretere Wirklichkeit durch den Unterschied, der zwischen unserem neuen Bild von ihm und dem früheren besteht. So können wir den Unterschied zwischen "sehen" und "sehen" lernen. Die gleiche Erfahrung können wir bei einer vertrauten Landschaft, einem weltbekannten Gemälde oder bei einem sonstwie bekannten Gegenstand machen.

Einen Menschen oder einen Gegenstand in seiner Totalität, in seiner ganzen Wirklichkeit zu sehen, ist die Voraussetzung für ein wirklichkeitsgerechtes Antworten. Die meisten Antworten sind – wie die Wahrnehmungen – unwirklich und rein verstandesmäßig. Wenn ich in der Zeitung von einer Hungersnot in Indien lese, reagiere ich kaum darauf, oder ich reagiere nur mit einem Gedanken – mit dem Gedanken, daß das einfach furchtbar ist, mit einem Gedanken des Bedauerns oder bestenfalls des Mitgefühls. ...

Inhaltsverzeichnis

Einleitung von Rainer Funk
1. Der Mensch erlebt sich selbst nicht mehr als etwas Eigenes
2. Die Fragen, nicht die Antworten machen das Wesen des enschen aus
3. Freiheit – die authentische Realisierung der Persönlichkeit
4. Das Selbst ist in dem Maße stark, wie es aktiv tätig ist
5. Der Mensch verkauft nicht nur Waren, er verkauft sich selbst
6. Der heutige Mensch ist vom Gefühl einer tiefen Ohnmacht erfüllt
7. Den Unterschied zwischen dem Authentischen und dem Fassadenhaften sehen
Literaturnachweise
Quellenvermerke

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